12.100 Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 19. Dezember 2012

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Übereinkommens vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

19. Dezember 2012

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-2487

661

Übersicht Das Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellt ein wichtiges Instrument dar, um die Diskriminierung der weltweit über eine Milliarde Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu bekämpfen und ihre selbstständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu fördern. Das Übereinkommen wurde am 13. Dezember 2006 von der UNO-Generalversammlung angenommen und bis zum 1. November 2012 von 154 Staaten unterzeichnet und von 126 Staaten (inkl. der EU) ratifiziert. Bereits heute erfüllt die Schweiz die Anforderungen des Übereinkommens weitgehend.

Das Übereinkommen gäbe dem bestehenden schweizerischen Behindertengleichstellungsrecht einen kohärenten Rahmen und erhöhte Sichtbarkeit.

Das Übereinkommen verbietet jede Form der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Es basiert auf den Grundprinzipien der bestehenden internationalen Menschenrechtsabkommen und garantiert deren Anwendung auf behinderte Menschen. Es ist das erste internationale Übereinkommen, welches spezifisch die Rechte von Menschen mit Behinderung verbindlich aufführt. Das Übereinkommen geht hierbei zeitgemäss von einer breit gefassten Definition von «Behinderung» aus, was gewährleisten soll, dass grundsätzlich keine behinderte Person vom Schutz des Übereinkommens ausgeschlossen wird: «Menschen mit Behinderungen» im Sinn der Konvention sind Personen, die aufgrund des Zusammenspiels einer langfristigen körperlichen, psychischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigung und verschiedenartiger Beschränkungen durch die Mehrheitsgesellschaft in ihrer vollen, tatsächlichen und gleichwertigen Teilnahme in der Gesellschaft behindert sind. Die Behinderung wird also als Folge einer Wechselwirkung zwischen einem Individuum und seiner Umwelt begriffen, die sich nicht an die persönlichen Unterschiede anpasst. In der Schweiz leben rund 1,2 Millionen Menschen (ab 16 Jahren) mit einer Behinderung (17 % der Bevölkerung); davon müssen rund 300 000 (5 %) als stark behindert betrachtet werden. Nach wie vor stossen Menschen mit Behinderung auf Vorurteile und Barrieren, die sie daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Ziel des Übereinkommens ist der volle Genuss der grundlegenden Menschenrechte durch behinderte Menschen und deren aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Leben sowie die Förderung der Achtung der ihnen innewohnenden Würde. Das Übereinkommen verbietet jede Diskriminierung von Behinderten in allen Lebensbereichen und bezweckt, die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Es garantiert unter anderem das Recht auf ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben, Schutz von Frauen und Mädchen mit Behinderungen vor Mehrfachdiskriminierungen, gleiches Recht auf eine eigene Familie, das Recht auf Beschäftigung, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz, gleicher Zugang zu Bildung, gleiches Recht auf Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben sowie Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch. Das Übereinkommen schafft dabei grundsätzlich keine Sonderrechte, sondern konkretisiert vielmehr die universellen Menschenrechte aus der

662

Perspektive der Menschen mit Behinderungen und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenslagen.

Die Mehrzahl der Bestimmungen des Übereinkommens beinhalten Rechte mit programmatischem Charakter. Es handelt sich dabei um Verpflichtungen, die die Vertragsstaaten progressiv ­ unter Berücksichtigung ihrer Mittel ­ im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung umzusetzen haben. Die Vorschriften des Übereinkommens richten sich daher primär an den Gesetzgeber, welcher sie als Richtlinien für seine Tätigkeit zu beachten hat.

Zwar verfügt die Schweiz bereits über wichtige Vorschriften zugunsten von Menschen mit Behinderungen, welche in ihrer Gesamtheit das Behindertengleichstellungsrecht darstellen; dieses ist jedoch fragmentiert und nicht einfach greifbar: Auf Bundesebene besteht das Behindertengleichstellungsrecht insbesondere aus dem verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV) und einem Gesetzgebungsauftrag an Bund und Kantone (Art. 8 Abs. 4 BV), dem Behindertengleichstellungsgesetz sowie aus zahlreichen weiteren Vorschriften in der Spezialgesetzgebung (etwa im Sozialversicherungsrecht, im Radio- und Fernsehgesetz, im Berufsbildungsgesetz oder in der Steuergesetzgebung). Zusätzlich gilt in den Bereichen, in denen die Kantone zuständig sind, die jeweils anwendbare kantonale Gesetzgebung (namentlich im Bildungs-, Bau-, Sozial-, Gesundheits- und Dienstleistungswesen).

Das Übereinkommen gäbe dem schweizerischen Behindertengleichstellungsrecht einen einheitlichen Rahmen und würde dessen Sichtbarkeit erhöhen. Dank seiner identischen Zielsetzung ­ die Beseitigung der Benachteiligungen, mit denen Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen nach wie vor konfrontiert sind ­, seiner weitgehend inhaltlichen Deckungsgleichheit mit dem nationalen Recht und seinem umfassenden Ansatz stellt das Übereinkommen eine wertvolle Basis für die Auslegung, Ausgestaltung und Umsetzung des schweizerischen Behindertengleichstellungsrechts dar.

Das Übereinkommen ist ein klares Bekenntnis zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderungen und ihrer Integration in die Gesellschaft. Ein Beitritt zum Übereinkommen stellt einen konsequenten und logischen Schritt dar, um die Gleichstellung und Integration der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz aktiv zu fördern und die bereits bestehenden rechtlichen
Rahmenbedingungen zu konkretisieren und deren Umsetzung zu erleichtern. Schliesslich entspräche der Beitritt der bisherigen Menschenrechtsaussenpolitik und der auch dem Ausland gegenüber vertretenen Gleichstellungspolitik der Schweiz, insbesondere der Überzeugung, die Rechte von Menschen mit Behinderungen als unveräusserlicher, integraler und unabtrennbarer Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte weltweit zu fördern.

663

Inhaltsverzeichnis Übersicht

662

1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.2 Überblick über den Inhalt des Vertrags 1.3 Das Vernehmlassungsverfahren 1.4 Würdigung

665 665 666 668 670

2 Das Übereinkommen und die schweizerische Rechtsordnung 2.1 Art der völkerrechtlichen Verpflichtungen 2.2 Zur Justiziabilität der Verpflichtungen des Übereinkommens nach schweizerischer Praxis

673 673

3 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens 3.1 Leitlinien des Übereinkommens (Art. 1­3) 3.2 Allgemeine Verpflichtungsklausel (Art. 4) 3.3 Spezifische Rechte (Art. 5­30) 3.4 Massnahmen und Strukturen zur Umsetzung des Übereinkommens (Art. 31­40) 3.5 Schlussbestimmungen (Art. 41­50)

676 676 679 682

4 Auswirkungen 4.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund 4.2 Auswirkungen auf die Kantone 4.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft 4.4 Auswirkungen auf die Gesellschaft

719 719 719 720 720

5 Verhältnis zur Legislaturplanung

720

6 Rechtliche Aspekte 6.1 Verfassungsmässigkeit 6.2 Erlassform

720 720 721

Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Entwurf)

723

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

725

664

674

712 718

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Das Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen1 (BRK) stellt ein wichtiges Instrument dar, um die Diskriminierung der Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu bekämpfen und ihre selbstständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu fördern.

Das Übereinkommen ist auf internationaler Ebene die konsequente Weiterentwicklung von Bestrebungen, Menschen mit Behinderungen in den vollen Genuss der Menschenrechte kommen zu lassen. Während das «Weltaktionsprogramm für Menschen mit Behinderungen» (1982)2 und die «Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen» (1993)3 der UNO rechtlich noch nicht verbindlich waren, unterstreicht das Übereinkommen den menschenrechtlichen Charakter des Anspruchs von Menschen mit Behinderungen auf Gleichbehandlung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Zwar gelten bereits die Menschenrechtsverträge der UNO für jeden Menschen, einschliesslich der Menschen mit Behinderungen. Eine von der UNO in Auftrag gegebene Studie kam jedoch zu dem Schluss, dass die Vertragsstaaten und die UNVertragsorgane die besondere Menschenrechtssituation von Menschen mit Behinderungen nur ungenügend beachten. Bei der innerstaatlichen Umsetzung von Menschenrechtsverträgen würden Menschen mit Behinderungen zudem nicht oder nur in sozial- bzw. gesundheitspolitischen Zusammenhängen berücksichtigt4.

Die fehlende Thematisierung von Behinderung im Kontext der Menschenrechte ist vor allem auf ein Verständnis von Behinderung zurückzuführen, das diese ausschliesslich als individuelles Lebensbewältigungsproblem betrachtete. Erst Mitte der 1960er-Jahre setzte ein Prozess ein, der zu einem Verständnis von Behinderung als Zusammenwirken von individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führte. Damit setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass die ­ nach wie vor wichtigen ­ medizinischen und sozialen Massnahmen, die auf die Behebung oder Kompensation von individuellen Beeinträchtigungen abzielen, durch menschenrechtliche Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen ergänzt werden müssen.

Die Generalversammlung entschied vor diesem Hintergrund mit ihrer Resolution vom 19. Dezember 20015, ein Ad-Hoc-Komitee einzurichten, das Vorschläge für ein umfassendes und in sich geschlossenes internationales
Übereinkommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen erwägen sollte. Gestützt auf die Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe erarbeitete das Komitee unter Einbezug von Betroffenen bis Ende August 2006 den Entwurf des Übereinkommens und des dazugehörigen Fakultativprotokolls.

1 2 3 4 5

Convention on the Rights of Persons with Disabilities (ICRPD).

Am 3. Dezember 1982 von der UNO-Generalversammlung angenommen (Res. 37/52).

GA Res. 48/96.

Gerard Quinn/Theresia Degener, Menschenrechte und Behinderungen, 2002.

GA 56/168.

665

Die Generalversammlung nahm am 13. Dezember 2006 den Text des Übereinkommens und des Fakultativprotokolls an. Am 30. März 2007 wurden beide Dokumente in New York den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Unterzeichnung und Ratifikation aufgelegt. Das Übereinkommen ist am 3. Mai 2008 nach der zwanzigsten Ratifikation in Kraft getreten6 und bis am 1. November 2012 von 154 Staaten unterzeichnet und von 126 Staaten (inkl. der EU) ratifiziert worden.

Das Übereinkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der bereits bestehende Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert.

Ziel des Übereinkommens ist, die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, dem zuständigen Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in einem regelmässigen Turnus Staatenberichte vorzulegen. Der Vertragsausschuss prüft als Kontrollorgan die Berichte und ist berechtigt, Stellungnahmen und Empfehlungen dazu abzugeben.

Die Schweiz zählte zwar nicht zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens, erachtete aber bereits im damaligen Zeitpunkt dessen Unterzeichnung als grundsätzlich wünschenswert (vgl. Ziff. 1.4).

Das gleichzeitig mit dem Übereinkommen verabschiedete Fakultativprotokoll (Optional Protocol to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities) sieht vor, dass der Vertragsausschuss individuelle Mitteilungen prüfen und Untersuchungsverfahren durchführen. Dieses Fakultativprotokoll ist ein eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag. Es wurde bislang von 91 Staaten unterzeichnet und von 76 Staaten ratifiziert und ist am 3. Mai 2008 nach Artikel 13 des Fakultativprotokolls in Kraft getreten. Der Bundesrat beabsichtigt nicht, dieses Instrument zu ratifizieren, bevor die Schweiz mit ihren Staatenberichten erste Erfahrungen über die Praxis des Vertragsorgans gesammelt hat. Bisher hat der Ausschuss eine Empfehlung aufgrund einer individuellen Mitteilung abgegeben7.

1.2

Überblick über den Inhalt des Vertrags

Das Übereinkommen beruht auf der unstrittigen Feststellung, dass Menschen mit Behinderungen weltweit nach wie vor unter Vorurteilen leiden, ausgegrenzt werden sowie in überdurchschnittlicher Weise unter äusserst prekären Bedingungen leben8 und daher in besonderem Mass auf Schutz vor Diskriminierung und Beachtung ihrer grundlegenden Rechte angewiesen sind.

Das Übereinkommen verfolgt entsprechend zwei Ziele. In erster Linie strebt es an, den vollen und gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten, mithin die aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben durch Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Dadurch soll es zugleich einen Beitrag an die Entwicklung einer 6 7 8

666

Für eine aktualisierte Übersicht des Geltungsbereichs vgl. die Internetseite der UN: Treaty Section, treaties.un.org/Pages/Home.aspx?lang=en.

CRPD/C/7/D/3/2011, H.M. v Sweden, abrufbar unter: www.ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/Jurisprudence.aspx.

Vgl. für eine aktuelle Darstellung der Situation von Menschen mit Behinderungen weltweit WHO/Weltbank (Hrsg.), World Report on Disability, 2011, abrufbar unter: www.who.int/disabilities/world_report/2011/en/index.html.

Gruppe von Menschen leisten, die, sofern keine finanzielle Absicherung besteht, weltweit zu den Ärmsten gehört.

Als Menschenrechtsübereinkommen beruht die BRK auf dem bestehenden menschenrechtlichen Instrumentarium der UNO und formuliert zentrale Bestimmungen dieser Dokumente für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen9. Sie verbietet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen und garantiert ihnen die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Das Übereinkommen beruht auf den Grundprinzipien der bestehenden internationalen Menschenrechtsabkommen und garantiert deren Anwendung auf Menschen mit Behinderungen. Das Übereinkommen geht hierbei von einer breit gefassten Definition von Behinderung aus, was gewährleisten soll, dass grundsätzlich kein Mensch mit Behinderung vom Schutz des Übereinkommens ausgeschlossen wird. Unter Menschen mit Behinderungen werden jene Menschen verstanden, die langfristig körperliche, psychische, geistige oder SinnesBeeinträchtigungen haben, die im Zusammenspiel mit verschiedenartigen Beschränkungen durch die Mehrheitsgesellschaft ihre volle, tatsächliche und gleichwertige Teilnahme in der Gesellschaft behindern können (vgl. Präambel Bst. e und Art. 1 zweiter Satz).

Eingeleitet wird das Übereinkommen von einer Präambel, die den generellen Kontext aufführt, in dem die Behindertenrechtskonvention erarbeitet wurde. Sie ist für die Vertragsstaaten nicht verpflichtend. Es folgen sodann in Artikel 1 die Zielbestimmung und in Artikel 2 die Begriffsbestimmung, welche Kernbegriffe der Behindertenrechtskonvention umschreibt: Kommunikation, Sprache, Diskriminierung aufgrund einer Behinderung, angemessene Vorkehrungen sowie universelles Design.

Daran schliessen in Artikel 3 allgemeine Grundsätze an, welche auf alle Rechte des Übereinkommens Anwendung finden, wie insbesondere der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Von grundlegender Bedeutung ist sodann der nachfolgende Artikel 4, der die allgemeinen Verpflichtungen für die Vertragsparteien umschreibt. Die spezifischen Rechte sind in den Artikeln 5­30 enthalten: Hier werden sowohl bürgerliche und politische als auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aufgelistet und ihre besondere Tragweite für Menschen mit Behinderungen hervorgehoben10. Das
Übereinkommen hebt dabei die Rechte von Frauen und Kindern mit Behinderung ganz besonders hervor (so insbesondere in den Art. 6 und 7). Schliesslich folgen Vorschriften über Massnahmen und Strukturen zur Umsetzung des Übereinkommens 9

10

Zu den Menschenrechtsübereinkommen, auf die Bezug genommen wurde und die auch für die Schweiz als Vertragsstaat verbindlich sind, zählen im Wesentlichen: der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (UNO-Pakt I; SR 0.103.1), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (UNO-Pakt II; SR 0.103.2), das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 (ICERD; SR 0.104), das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (CEDAW; SR 0.108), das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (CAT; SR 0.105), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK; SR 0.107).

Z.B. das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung (Art. 19); das Recht auf Barrierefreiheit, mithin den gleichberechtigten Zugang zu Einrichtungen und Diensten, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind oder bereitgestellt werden (Art. 9); das Recht auf persönliche Mobilität (Art. 20); das Recht auf gleichberechtigten Zugang zu Informationen (Art. 21); das Recht auf angemessene Bildung (Art. 24); das Recht auf ein erreichbares Höchstmass an Gesundheit ohne Diskriminierung (Art. 25) oder das Recht auf gleichberechtigte Ausübung des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung (Art. 27).

667

(Art. 31­40), insbesondere die Schaffung eines UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und einer Konferenz der Vertragsstaaten, die Pflicht zur Berichterstattung und zur internationalen Zusammenarbeit. Abgerundet wird das Übereinkommen durch die Schlussbestimmungen, welche die Unterzeichnung/Ratifikation, das Inkrafttreten sowie andere Verfahrensfragen regeln.

Das Übereinkommen schafft grundsätzlich keine Sonderrechte, sondern konkretisiert und spezifiziert vielmehr die bestehenden Menschenrechtsgarantien aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenslagen. Im spezifischen Kontext des Übereinkommens erhalten einige Garantien, die eine spezifische Ausprägung einer bestehenden Menschenrechtsgarantie sind, faktisch neue materielle Elemente11. Hinzu kommen einzelne Garantien, die neue Rechte darstellen, welche nicht aus bestehenden menschenrechtlichen Verpflichtungen abgeleitet werden können, aber Aspekte beschlagen, die für Menschen mit Behinderungen von zentraler Bedeutung sind, so zum Beispiel das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Art. 19).

Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich bei diesen Garantien um völkerrechtliche Minimalstandards handelt, die in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen schon lange zum bewährten Rechtsgut gehören können.

Das Übereinkommen unterscheidet sich folglich weniger durch die Art der in ihr verankerten Rechte von den übrigen Menschenrechtsübereinkommen als vielmehr durch die spezifische Perspektive auf die Situation von Menschen mit Behinderungen. In der überwiegenden Mehrheit der Bestimmungen geht es darum, die Geltung bestehender Standards für die geschützten Personen zu konkretisieren und den Vertragsstaaten Orientierung und Übersetzungshilfen zu geben, um den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen bei der Verwirklichung ihrer Gleichstellung gerecht zu werden. Das Übereinkommen richtet sich daher auch in erster Linie an die Vertragsstaaten und beinhaltet in der Mehrzahl Bestimmungen mit programmatischem Charakter (vgl. Ziff. 2). Es handelt sich dabei um Verpflichtungen, die die Vertragsstaaten progressiv ­ unter der Berücksichtigung ihrer Mittel ­ im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung umzusetzen haben. Die Vertragsstaaten treffen
dabei alle ihnen geeignet scheinenden Massnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen oder Praktiken, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen und berücksichtigen den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderung in der Politik und in allen Programmen (vgl. Art. 4 Abs. 1 Bst. a­f und Abs. 2 ). Qualifizierte, sachliche Gründe setzen der staatlichen Leistungspflicht allerdings Grenzen.

1.3

Das Vernehmlassungsverfahren

Am 17. Dezember 2010 beschloss der Bundesrat auf Antrag des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein Vernehmlassungsverfahren über den Bericht zum Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durchzuführen. Das Vernehmlassungsverfahren 11

668

So können etwa die Rechte auf Zugänglichkeit und auf persönliche Mobilität nach Artikel 9 und 20 als spezifische Ausprägung der Bewegungsfreiheit, das Recht auf Sicherheit und Schutz während Notlagen (Art. 11) oder das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Art. 30) als solche des Rechts auf Leben resp. des Rechts auf Teilnahme am kulturellen Leben eingestuft werden.

dauerte vom 22. Dezember 2010 bis zum 15. April 2011. Die Kantone, die politischen Parteien, die gesamtschweizerischen Dachverbände der Gemeinden, Städte, Berggebiete und der Wirtschaft sowie weitere Organisationen und interessierte Kreise wurden eingeladen, innerhalb der dreimonatigen Vernehmlassungsfrist Stellung zu nehmen.

Insgesamt gingen beim EDA 85 Stellungnahmen zu den Vernehmlassungsunterlagen ein12. Stellung nahmen sämtliche Kantone, sechs Parteien (CVP-Frauen, FDP, SP, SVP, CSP, Grüne) acht gesamtschweizerische Dachverbände und lokale Sektionen sowie 45 Organisationen und andere interessierte Kreise. Von den direkt begrüssten Vernehmlassungsadressaten verzichtete einer ausdrücklich auf eine Stellungnahme (das Bundesgericht); 23 Vernehmlassungsteilnehmerinnen (die SP sowie Hilfswerksorganisationen, NGO, Interessen- und Dachverbände) schlossen sich der Eingabe von Égalité Handicap an oder stützen ihre Stellungnahme auf diese ab.

Andere koordinierten ihre Stellungnahmen oder stimmten diese aufeinander ab.

Die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer (75) begrüsst vollumfänglich oder zumindest im Grundsatz die Absicht des Bundesrates, das Übereinkommen zu ratifizieren. Allerdings gehen die Einschätzungen und die Erwartungen, welche an eine Ratifikation geknüpft werden, auseinander: Eine grosse Zahl der Befürworter einer Ratifikation erhoffen sich wichtige Impulse zur Überwindung bestehender Umsetzungslücken im Bereich der Behindertengleichstellungsgesetzgebung, während viele der ablehnenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Ratifikation diesbezüglich schlicht als überflüssig betrachten. Weitere verschliessen sich einer Ratifikation nicht grundsätzlich und gehen davon aus, dass das Übereinkommen keine zusätzlichen Rechtspflichten enthält, welche über die bereits heute für Bund und Kantone bestehenden Verpflichtungen hinausgehen.

Mit Ausnahme der Kantone Appenzell Innerrhoden, Nidwalden, Thurgau und Waadt, die eine Ratifikation aufgrund bereits ausreichender Legiferierung als überflüssig erachten und daher ablehnen, begrüssen alle Kantone eine Ratifikation ausdrücklich oder verschliessen sich ihr zumindest nicht grundsätzlich. Die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien, welche sich vernehmen liessen, sprechen sich mehrheitlich ebenfalls für eine Ratifikation
aus. Dagegen sind die FDP. Die Liberalen (FDP), welche grundsätzliche Vorbehalte äussert, und die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die Ratifikation als unnötig ablehnt. Die meisten Dachverbände und weiteren interessierte Kreise sprechen sich für die Ratifikation aus.

Eine Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer (51) geht davon aus, dass die bisherigen Verpflichtungen zugunsten der Menschen mit Behinderungen aufgrund der nationalen Gesetzgebung noch immer Lücken aufweisen und daher im Falle einer Ratifikation des Übereinkommens noch legislativer und administrativer Handlungsbedarf bestünde. Dabei wurden insbesondere die Bereiche der Bildung (Art. 24 BRK) sowie der Arbeit und Beschäftigung (Art. 27 BRK) genannt.

12

www.admin.ch/ch/d/gg/pc/ind2010.html#EDA

669

1.4

Würdigung

Das Übereinkommen stellt einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Rechte behinderter Menschen weltweit dar. Es ist das erste universelle Rechtsinstrument, das bestehende Menschenrechte bezogen auf die Lebenssituation behinderter Menschen konkretisiert. Es würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens und überwindet damit das noch in vielen Ländern vorherrschende defizitorientierte Verständnis. Nach neuesten Schätzungen machen Menschen mit Behinderung rund 15 Prozent der Weltbevölkerung aus13. Aufgrund der bereits hohen Anzahl an Vertragsstaaten werden dem Grossteil dieser weltweit mehr als einer Milliarde behinderten Menschen durch das Übereinkommen erstmalig universell verbriefte spezifische Rechte aufgrund ihrer Behinderung zuerkannt. In der Schweiz leben rund 1,2 Millionen Menschen (ab 16 Jahren) mit einer Behinderung14, wovon rund 300 000 als stark behindert betrachtet werden müssen15. Auch in der Schweiz stossen Menschen mit Behinderungen noch immer auf Benachteiligungen, welche sie daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Beseitigung dieser Benachteiligungen, mit welchen diese Menschen in vielen Lebensbereichen nach wie vor konfrontiert sind, ist ein Ziel des schweizerischen Rechts (vgl. Art. 8 Abs. 2 und Abs. 4 BV sowie das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 200216 [BehiG]).

Der Bundesrat war daher bereits im Zeitpunkt der Erstauflage zur Unterzeichnung bereit, die Frage der Unterzeichnung bzw. Ratifikation des Übereinkommens zu prüfen17 und bekräftigte dies in der Folge in seinen Stellungnahmen zu diversen parlamentarischen Anfragen und Vorstössen18. Zudem wurde die Botschaft zum Übereinkommen als Richtliniengeschäft bereits in die Legislaturplanung 2007­ 2011 aufgenommen (vgl. Ziff. 5).

Allerdings schienen zum Zeitpunkt der Erstauflegung des Übereinkommens dessen Tragweite und die Folgen seiner Umsetzung für den Bund und die Kantone noch schwer abschätzbar. Zwar wurde bereits im Rahmen einer ersten Analyse des EDA die grundsätzliche Vereinbarkeit des Übereinkommens mit dem Landesrecht festgestellt. Der Bundesrat hielt es aber in Einklang mit der Praxis bei der Unterzeichnung von internationalen Abkommen19 für angezeigt, die Auswirkungen eines Beitritts auf die schweizerische Rechtsordnung vertieft zu überprüfen. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) gab zu diesem Zweck bei der Universität Bern eine Studie in Auftrag, um die Tragweite des 13 14 15

16 17

18

19

670

Vgl. WHO/Weltbank (Hrsg.), World Report on Disability, 2011, abrufbar unter: www.who.int/disabilities/world_report/2011/en/index.html, S. 29.

Vgl. dazu die aktuellen statistischen Angaben des Bundesamtes für Statistik, abrufbar unter: www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/20/06/blank/key/01.html.

Als stark beeinträchtigt gelten namentlich jene Personen, die in Heimen oder spezialisierten Institutionen leben, da es für sie nicht mehr möglich oder zu schwierig ist, selbständig zuhause zu leben (rund 2 % der Wohnbevölkerung).

SR 151.3 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates zur Motion Bruderer Wyss (NR 06.3820, «UNO-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Ratifikation») vom 20. Dezember 2006.

Namentlich in seiner Antwort auf die Interpellation Aubert «UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» (NR IP 12.3066) vom 1. März 2012 oder auf eine Frage im Rahmen der APK-S vom 2. Februar 2012 (SR Liliane Maury Pasquier).

Vgl. etwa den Neunten Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarates vom 21. Mai 2008, BBl 2008 4533.

Übereinkommens und die Folgen seiner Umsetzung für die schweizerische Rechtsordnung in ausgewählten Bereichen zu ermitteln. Die Ergebnisse der Studie lagen im September 2008 vor20. Dabei bestätigte sich die Einschätzung der grundsätzlichen Übereinstimmung der schweizerischen Rechtsordnung mit dem Übereinkommen. Das Gutachten hielt allerdings auch nicht überraschend fest, dass es zur Umsetzung der programmatischen Vorgaben des Übereinkommens in verschiedenen Bereichen eines weiteren Efforts bedarf, so namentlich in der Bildung. Gemäss dem Gutachten entspricht die schweizerische Rechtsordnung zudem im Bereich der Berufstätigkeit von Menschen mit Behinderungen den präzisen Vorgaben des Übereinkommens noch nicht, da eine Lücke beim Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt besteht.

Die Schweiz verfügt heute über ein gehaltvolles, aus verschiedenen Elementen bestehendes Recht zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Noch verhältnismässig neu ist das Behindertengleichstellungsrecht. Auf Bundesebene ist das fundamentale verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV) und ein Gesetzgebungsauftrag an Bund und Kantone (Art. 8 Abs. 4 BV) verankert.

Konkretisiert werden die verfassungsrechtlichen Vorgaben im BehiG, das seit dem 1. Januar 2004 in Kraft ist, und dessen Umsetzungsverordnungen21 sowie in zahlreichen weiteren Vorschriften in der Spezialgesetzgebung, etwa im Bundesgesetz vom 24. März 200622 über Radio und Fernsehen (RTVG), im Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 200223 (BBG) oder in der Steuergesetzgebung. Auf die jeweils einschlägigen normativen Grundlagen wird im Kontext der Erläuterungen der einzelnen Bestimmungen des Übereinkommens verwiesen (vgl. Ziff. 3).

Das BehiG bezweckt, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, und Rahmenbedingungen zu setzen, die Menschen mit Behinderungen eine autonome Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtern24. Insbesondere sieht das Gesetz vor, dass sämtliche öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, die neu gebaut oder erneuert werden, hindernisfrei ausgestaltet werden müssen. Weiter müssen Dienstleistungen des Gemeinwesens sowie der öffentliche Verkehr behindertengerecht ausgestaltet werden. Das Gesetz verbietet zudem auch Privaten, die Dienstleistungen, die
grundsätzlich von jedermann in Anspruch genommen werden können25, Diskriminierungen wegen einer Behinderung. Um den von Benachteiligungen betroffenen Menschen die Durchsetzung ihrer Rechte zu erleichtern, sieht das Gesetz schliesslich Beschwerde- und Klagerechte vor.

20

21

22 23 24 25

Walter Kälin (et al.), Mögliche Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz, Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI/Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB.

Behindertengleichstellungsverordnung vom 19. November 2003 (BehiV; SR 151.31); Verordnung vom 12. November 2003 über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV; SR 151.34); Verordnung des UVEK vom 22. Mai 2006 über die technischen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VAböV; SR 151.342).

SR 784.40 SR 412.10 Vgl. Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1715, hier 1773 f.

Gemäss Art. 6 BehiG stehen dabei der Detailhandel, Restaurants, Hotels, Bäder sowie kulturelle Angebote im Vordergrund, vgl. Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1780.

671

Weiter konkretisieren zahlreiche Vorschriften in der Spezialgesetzgebung den Gehalt des verfassungsrechtlichen Verbotes der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung und stellen somit ebenfalls Inhalte des Behindertengleichstellungsrechts dar.

Einen wichtigen Beitrag zur Integration von Menschen mit Behinderung leisten auf Bundesebene schliesslich die Sozialversicherungen, insbesondere die Krankenpflegeversicherung, die Invalidenversicherung, die Unfallversicherung und die Arbeitslosenversicherung. Diese Versicherungen stellen verschiedene Massnahmen zur Verfügung, mit denen den betroffenen Versicherten eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht wird. Zusätzlich gilt in jenen Bereichen, in denen die Kantone zuständig sind, die anwendbare kantonale Gesetzgebung (namentlich im Bildungs-, Bau-, Sozial-, Gesundheits- und Dienstleistungswesen sowie im Bereich der Institutionen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen).

Unter Berücksichtigung der seit dem Inkrafttreten des BehiG erfolgten rechtlichen und faktischen Entwicklungen, etwa im Bildungsbereich, und aufgrund des programmatischen Charakters der Bestimmungen des Übereinkommens, welche im Sinne von Leistungspflichten eine progressive Realisierung der Vorgaben des Übereinkommens vorsehen, kann konstatiert werden, dass zwischen dem Übereinkommen und dem Landesrecht sowohl in der Zielsetzung als auch in dessen inhaltlichen Ausgestaltung weitgehende Deckungsgleichheit besteht. Zugleich verbindet sich mit dem Querschnitt- und Rahmencharakter des Übereinkommens ein besonderer Mehrwert und spezieller Nutzen für die Schweiz: Das Übereinkommen, das Gleichstellung umfassend und konkret behandelt, gäbe dem bestehenden, fragmentierten schweizerischen Behindertengleichstellungsrecht einen einheitlichen Rahmen und würde seine Sichtbarkeit erhöhen. Dank seinem umfassenden Ansatz bietet es eine wertvolle Basis für die Auslegung, Ausgestaltung und Umsetzung des bestehenden Behindertengleichstellungsrechts.

Zwar verfügt die Schweiz, wie gezeigt, bereits über wichtige Vorschriften zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Trotzdem stossen diese Menschen nach wie vor auf Vorurteile und Barrieren, welche sie daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Übereinkommen kann hier wichtige Impulse für die Umsetzung
der bestehenden Gesetzgebung geben, indem es etwa die konkrete Tragweite einzelner, heute bereits für die Schweiz verbindlicher Menschenrechtsgarantien für Menschen mit Behinderungen verdeutlicht und dadurch die Suche nach Umsetzungsmassnahmen und besseren Lösungen in der Schweiz erleichtert. Ein Beitritt zum Übereinkommen stellt daher einen notwendigen und logischen Schritt dar, um die Gleichstellung und Integration der Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft aktiv zu fördern und die bereits bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen zu konkretisieren und deren Umsetzung zu erleichtern.

Schliesslich entspräche der Beitritt zum Übereinkommen der bisherigen Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz, insbesondere der Überzeugung, die Rechte von Menschen mit Behinderungen als unveräusserlicher, integraler und untrennbarer Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte zu fördern26.

26

672

Vgl. etwa das Engagement der Schweiz im Rahmen des Expertenausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CS-RPD), das namentlich für die Umsetzung des Aktionsplans des Europarates zugunsten von Menschen mit Behinderungen zuständig ist.

Es ist daher die Absicht des Bundesrates, mit der Ratifikation dieses Übereinkommens ein weiteres wichtiges politisches Signal zur ernsthaften Würdigung der Anliegen der Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen zu senden.

2

Das Übereinkommen und die schweizerische Rechtsordnung

2.1

Art der völkerrechtlichen Verpflichtungen

Mit der Ratifikation der UNO-Menschenrechtsübereinkommen verpflichten sich die Vertragsstaaten zur innerstaatlichen Verwirklichung der darin garantierten Menschenrechte. Eine Frage, die dabei regelmässig zu klären ist und sich auch im Falle der BRK stellt, ergibt sich aus dem überwiegend programmatischen Charakter des Übereinkommens: Wie bereits zuvor in Ziffer 1.2 festgehalten wurde und nachfolgend in den Erläuterungen zu Artikel 4 BRK zu vertiefen sein wird, zeichnet sich das Übereinkommen, abgesehen von einer geringen Anzahl unmittelbar anwendbarer Bestimmungen, namentlich dem selbstständigen Diskriminierungsverbot in Artikel 5 Absatz 1 BRK und den spezifischen Unterlassungspflichten (vgl. Ziff. 2.2), durch seinen überwiegend programmatischen Charakter aus, um den Vertragsparteien einen grossen Spielraum zu lassen. Artikel 4 des Übereinkommens definiert dabei im sog. «Chapeau» in Absatz 1 in allgemeiner Weise die aus den materiellen Garantien des Übereinkommens fliessenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte hält Artikel 4 Absatz 2 BRK, der sich diesbezüglich an der allgemeinen Verpflichtungsklausel von Artikel 2 UNO-Pakt I orientiert, die Vertragsstaaten konkret an, «unter Ausschöpfung [ihrer] verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Massnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung der» Rechte von Menschen mit Behinderungen zu erreichen. Obwohl den Vertragsstaaten damit ein weiter Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl und des Umfangs der eingesetzten Mittel zur Erreichung des Ziels der vollen Erfüllung der Garantien des Übereinkommens zukommt, stehen die Umsetzungsmodalitäten nicht im freien Belieben der Staaten. Vielmehr setzt Artikel 4 Absatz 2 BRK den Vertragsstaaten in dieser Hinsicht folgende verbindlichen Leitplanken: Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die volle Verwirklichung dieser Rechte: ­

ab dem Zeitpunkt der Ratifikation des Übereinkommens,

­

unter Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten, d.h. unter Einsatz ihrer vorhandenen Ressourcen,

­

und unter Benutzung aller geeigneten Mittel, inklusive der Inanspruchnahme internationaler Unterstützung sicherzustellen.

Eng damit verknüpft, jedoch nicht völlig deckungsgleich mit der Frage nach dem unmittelbaren oder progressiven Verpflichtungsgehalt, präsentiert sich die Frage, ob eine spezifische Menschenrechtsgarantie (und ihre Teilgehalte) dem begünstigten Individuum eigentliche Rechte zuspricht oder ob damit einzig der Vertragsstaat verpflichtet wird, ohne dass gleichzeitig dem (mittelbar angesprochenen) Individuum ein individuelles bzw. justiziables Recht eingeräumt wird.

673

2.2

Zur Justiziabilität der Verpflichtungen des Übereinkommens nach schweizerischer Praxis

Entschliesst sich die Schweiz zu einem Beitritt zum Übereinkommen, so wird dieses gemäss dem Grundsatz des Monismus wie alles übrige Völkerrecht automatisch Bestandteil des schweizerischen Landesrechts. Zu klären wäre sodann die Frage, ob die Verpflichtungen des Übereinkommens direkt anwendbar bzw. self-executing sind und sich Einzelpersonen wegen einer Verletzung des Übereinkommens direkt an die Verwaltungs- bzw. Gerichtsbehörden wenden könnten. Über diese primär im Umfeld sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte strittige Fragestellung entscheidet nicht das Völkerrecht, sondern grundsätzlich das Verfassungsrecht der Vertragsstaaten. Es ist Sache der rechtsanwendenden Behörden, in jedem Einzelfall über die Frage der Justiziabilität einer Bestimmung des Übereinkommens zu entscheiden.

Gemäss der konstanten bundesgerichtlichen Praxis zur Einschätzung der Justiziabilität einer völkerrechtlichen Norm kann sich eine Einzelperson auf eine Bestimmung des Völkerrechts berufen, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind27: 1.

Die Bestimmung betrifft die Rechtsstellung Privater,

2.

sie ist justiziabel und

3.

sie richtet sich an die rechtsanwendenden Behörden.

Nicht an rechtsanwendende Behörden im Sinne des drittgenannten Kriteriums richten sich namentlich Gesetzgebungsaufträge; dies selbst, wenn sie dem Staat keinen oder nur einen geringen Ermessensspielraum bieten und unmittelbar verpflichtend sind. Auch Menschen mit Behinderungen können daher kein subjektives Recht auf gesetzgeberisches Aktivwerden, etwa zur Beseitigung oder Revision von Gesetzen, «die eine Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung darstellen» (Art. 4 Abs. 1 Bst. b BRK) geltend machen.

Nicht justiziabel im Sinne der zweiten Voraussetzung sind ferner Gehalte von Menschenrechten, die zu wenig präzise abgefasst sind, um von einer gerichtlichen Behörde auf eine Rechtssache angewendet werden zu können oder die auf der Rechtsfolgeseite einen zu grossen Ermessensspielraum offenlassen und sich daher indirekt an den Gesetzgeber richten. Dadurch werden zweifellos die programmatisch umzusetzenden Gehalte der Menschenrechte von einer direkten Anwendbarkeit ausgeschlossen. Umgekehrt dürften aber direkt anspruchsbegründende Schichten der Menschenrechte, ungeachtet der Frage ihrer Zugehörigkeit zu bürgerlichen und politischen oder wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Rechten, diese Voraussetzung erfüllen. So ist etwa das aus dem Recht auf Gesundheit (Art. 25 BRK) fliessende Verbot der Vornahme medizinischer Eingriffe ohne Einwilligung von Menschen mit Behinderungen zweifellos unmittelbar umsetzbar.

Letztlich ist bei jeder Garantie im Sinne einer Einzelfallbetrachtung zu prüfen, ob eine und gegebenenfalls welche Massnahme für die Verwirklichung des Rechts im konkreten Einzelfall zu ergreifen und welchem Verpflichtungsgrad der Staat (Unterlassungs-, Schutz- oder Gewährleistungspflicht) dabei unterworfen ist. Bei dieser Prüfung können verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sein wie etwa die Natur der Garantie (Freiheitsrecht oder Sozialrecht), die Art der Behinderung (körperlich, 27

674

Vgl. z. B. BGE 124 III 91 E. 3a und 118 Ia 116 f. E. 2b.

geistig, psychisch) und die daraus resultierenden Bedürfnisse, die Bandbreite möglicher Massnahmen (von der Anpassung der Gesetzgebung bis zu individuell angepassten faktischen Massnahmen), die Berücksichtigung der durch die Massnahmen allenfalls entstehenden unverhältnismässigen oder unbilligen Belastungen (für den Staat und/oder Private), entgegenstehende qualifizierte, sachliche Gründe (z.B.

Sicherheit, faktische Machbarkeit usw.). So erscheinen alle aus den Garantien der BRK fliessenden Unterlassungspflichten ohne Weiteres direkt anwendbar28. Das Gleiche gilt für Schutzpflichten, soweit sie kein gesetzgeberisches Aktivwerden erfordern29. Schutzpflichten gelten jedoch nie absolut, sondern beinhalten eine gewisse Verpflichtungsflexibilität: Der Staat verletzt seine Schutzpflichten nur, wenn er trotz bestehendem Wissen seiner Organe um eine konkrete Gefährdung und zusätzlich bei bestehender faktischer und rechtlicher Möglichkeit, gegen diese Gefährdung vorzugehen, passiv bleibt. Ebenfalls justiziabel erscheint im Bereich der Leistungsgehalte die Verpflichtung zur Erfüllung des harten Kerns aller Garantien, unabhängig von ihrer Rechtsnatur. So können auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte einen «harten Kern» im Sinne von Minimalansprüchen des Individuums besitzen, ohne deren Gewährleistung das betroffene Recht ausgehöhlt und seines Sinnes beraubt würde30. Schliesslich erscheinen auch die Ansprüche auf adäquate Verwirklichung dieser Rechte gegenüber Personen in staatlichem Gewahrsam justiziabel. Personen, die ihre Subsistenzbedürfnisse nicht mehr selbstständig befriedigen können, weil sie etwa in staatlichem Gewahrsam sind, haben, wie die Praxis diverser menschenrechtlicher Überwachungsorgane belegt31, einen unmittelbaren Anspruch auf sozialrechtlich gebotene Leistungen, welche über das Minimum des harten Kerns (genügende Nahrung, Unterbringung, Bekleidung und medizinische Versorgung) hinausgehen können. Dies muss auch für Menschen mit Behinderungen gelten, die in einer staatlichen Institution leben oder unter Vormundschaft stehen.

Das Bundesgericht anerkennt regelmässig die Justiziabilität bürgerlicher und politischer Menschenrechte, d.h. etwa der materiellen Garantien des UNO-Pakts II oder der EMRK. Insofern kann nach der Meinung des Bundesrates davon ausgegangen werden, dass nach
einer Ratifikation der BRK die Justiziabilität bürgerlicher und politischer Rechte unter den zuvor genannten Kriterien anerkannt werden wird. Im Unterschied dazu bejaht das Bundesgericht die Möglichkeit einer direkten Berufung durch Einzelne auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte und damit deren subjektiv-rechtlichen Gehalt jedoch nur mit grösster Zurückhaltung. Das Bundesgericht macht etwa regelmässig geltend, die Garantien von Pakt I richteten sich abgesehen von wenigen Ausnahmen nicht an Einzelpersonen, sondern infolge ihrer rein programmatischen Natur primär an den Gesetzgeber. Folglich würden die Paktgarantien, die folgerichtig oft nicht als Rechte, sondern als Leitlinien bezeichnet werden, gleich wie die Sozialrechte der KRK in der Schweiz keine subjektiven, 28

29 30

31

Unterlassungspflichten sind grundsätzlich immer justiziabel, wie etwa das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung (Art. 15 BRK) oder das Recht auf Achtung der Privatsphäre (Art. 22 BRK).

Dazu zählen etwa offenkundige Schutzpflichten wie das Recht auf Leben (Art. 10 BRK) oder die Freiheit von Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch (Art. 16 BRK).

Dies wird durch die Aufnahme der zentralen Subsistenzrechte in der BRK (z.B. in Art. 25 Bst. f) oder durch die spezifische Regelung von Artikel 11 BRK illustriert, welche die Staaten auffordert, in Notsituationen spezifische Massnahmen zum Schutz und zur Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu ergreifen.

Vgl. etwa EGMR. Taïs v. France, 39922/03 [2006], Ziff. 93 ff.; Anguelova v. Bulgaria, Reports 2002-IV, Ziff. 123 ff.

675

einklagbaren Rechte begründen. Diese Schlussfolgerung gilt gemäss bundesgerichtlicher Praxis selbst für das akzessorische Diskriminierungsverbot von Artikel 2 Absatz 2 UNO-Pakt I.

Entgegen der Kritik eines Teils der juristischen Lehre, hält das Bundesgericht auch in seiner neueren Rechtsprechung an dieser Auffassung fest. Es zeigt sich aber neuerdings bereit, den Gehalt der Paktrechte im Rahmen der Auslegung des einschlägigen Verfassungsrechts mitzuberücksichtigen. Gestützt auf diese höchstrichterliche Praxis bestätigte der Bundesrat im Jahr 2008 in seinem Bericht an den UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte32 seine ablehnende Haltung zur direkten Anwendbarkeit wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte und führte aus, er sei auch als Folge der Gewaltenteilung an die bundesgerichtliche Haltung gebunden. Ähnlich deutlich nahm er zu dieser Frage in den Jahren 2008 und 2012 während der jeweiligen universellen periodischen Prüfung der Menschenrechtslage der Schweiz durch den Menschenrechtsrat Stellung und wies Forderungen nach einer Anerkennung der Justiziabilität gewisser Gehalte wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte zurück. Der Bundesrat hält seine Auffassung zur Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte und entsprechender Teilgehalte in diesem Übereinkommen auch weiterhin aufrecht. In diesem Sinne verzichtet er bewusst darauf, das eigenständige Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zu ratifizieren.

Aber obwohl die Bestimmungen des Übereinkommens kein subjektives Recht begründen, bilden sie integralen Bestandteil der Rechtsordnung. Mit andern Worten: Die internationalen Verpflichtungen bleiben bestehen, ob sie nun gegenüber den staatlichen Behörden geltend gemacht werden können oder nicht. Als Vertragspartei des Übereinkommens muss die Schweiz dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UNO innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Übereinkommens detailliert Bericht erstatten einerseits über die Massnahmen, die sie ergriffen hat, um ihre Verpflichtungen gemäss Übereinkommen zu erfüllen, und andererseits über die entsprechenden Fortschritte; danach muss sie mindestens alle vier Jahre einen Zusatzbericht abliefern (Art. 35 Abs. 1 und 2).

3

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens

3.1

Leitlinien des Übereinkommens (Art. 1­3)

Art. 1

Zweck

Das Übereinkommen bezweckt gemäss Artikel 1 erster Satz, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten.

Artikel 1 zweiter Satz enthält die Begriffserläuterung Menschen mit Behinderungen, um die Träger der im Übereinkommen formulierten Rechte zu umschreiben. Indem diese Umschreibung zugleich auf die Barrieren verweist, die einer gleichberechtig32

676

Zweiter und dritter Bericht der Schweiz über die Umsetzung des Internationalen Paktes über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (UNO-Pakt I), April 2008, Ziff. 40; abrufbar unter: www.eda.admin.ch/eda/de/home/topics/human/humri/humrtr/humrep/pact1.html.

ten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen entgegenstehen können, dient der Behinderungsbegriff zugleich der Verdeutlichung der Zielsetzung des Übereinkommens.

Gemäss dem Übereinkommen bezieht sich der Begriff Menschen mit Behinderungen auf Menschen, die langfristige körperliche, psychische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Bereits in der Präambel, Buchstabe e wird auf den Begriff Behinderung Bezug genommen. Dort wird beschrieben, dass sich das Verständnis von Behinderung ständig weiterentwickelt, und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Diese Umschreibung stimmt überein mit der «International Classification of Functioning, Disability and Health» der Weltgesundheitsorganisation WHO und zeichnet sich durch die Wechselwirkung zwischen individuellen Voraussetzungen und externen Faktoren aus.

Dasselbe Verständnis von Behinderung als Zusammenspiel von individuellen Voraussetzungen und externen Rahmenbedingungen liegt auch dem schweizerischen Behindertengleichstellungsrecht zugrunde33. Der Behinderungsbegriff des Übereinkommens existiert nicht im Sozialversicherungsrecht. Dieses verwendet insbesondere den Begriff der Invalidität und der Hilflosigkeit34. Die Ratifikation der BRK impliziert aber nicht, dass die Definition dieser Begriffe im Sozialversicherungsrecht geändert werden muss. Das Übereinkommen verwendet eine sehr weit gefasste Definition der Behinderung, um möglichst viele Personen zu schützen, während die Sozialversicherungen ein klar definiertes versichertes Risiko verhindern, vermindern oder beheben und/oder die ökonomischen Folgen eines Versicherungsfalls ausgleichen sollen.

Art. 2

Begriffsbestimmungen

Artikel 2 enthält Definitionen, die für die Auslegung und das Verständnis der entsprechenden Begriffe in den jeweiligen Artikeln des Übereinkommens heranzuziehen sind. Im Einzelnen zählen folgende Begriffe dazu: ­

Kommunikation,

­

Sprache,

­

Diskriminierung aufgrund von Behinderung,

­

angemessene Vorkehrungen und

­

universelles Design.

In Artikel 2 definiert das Übereinkommen bereichsspezifisch den Begriff der Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Danach ist Diskriminierung aufgrund von Behinderung «jede Unterscheidung, Ausschliessung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Beanspruchen oder Ausüben aller Men33 34

Vgl. Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1715, hier 1723 f. und 1776 f. zur Begriffsbestimmung in Art. 2 Abs. 1.

Vgl. Art. 8 (Invalidität) und Art. 9 (Hilflosigkeit) des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1).

677

schenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird».

Umfasst sind hierbei auch die Fälle der mittelbaren Diskriminierung.

Angemessene Vorkehrungen zur Verhinderung von Diskriminierung sind gemäss Artikel 2 notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismässige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten beanspruchen oder ausüben können.

Dies entspricht der schweizerischen Rechtsordnung: Wird eine Diskriminierung gemäss Artikel 8 Absatz 2 BV festgestellt, folgt die Pflicht, diese zu beseitigen. Dies kann angemessene Vorkehrungen erfordern, auf die der betroffene behinderte Mensch im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit einen Anspruch hat.

Die Pflicht zum Ergreifen von Massnahmen zur Unterlassung oder Beseitigung einer Benachteiligung im Rahmen der Verhältnismässigkeit wird zudem auch im BehiG für einzelne Bereiche verankert und konkretisiert (Art. 7, 8, 11 und 12 BehiG).

Gemäss dem UNO-Handbuch für Parlamentarierinnen und Parlamentarier, welches die Gesetzgebung diverser Staaten rechtsvergleichend heranzieht35, können für die Beurteilung der Frage, ob eine unverhältnismässige oder unbillige Belastung vorliegt, etwa folgende Faktoren eine Rolle spielen: die Praktikabilität der Vorkehrungen, Kosten, Grösse und Ressourcen des betroffenen Gemeinwesens, die Verfügbarkeit alternativer finanzieller Unterstützung, Gesundheitsund Sicherheitsüberlegungen und die Auswirkungen der Anpassungen auf die Allgemeinheit. Dieses Konzept der Interessenabwägung liegt auch dem Bundesverfassungsrecht (Art. 5 und 36 BV) zugrunde und wird etwa in den Materialien zu Art. 11 BehiG illustriert. So muss die Beseitigung einer Benachteiligung wirtschaftlich in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen für Behinderte stehen (Art. 11 Abs. 1 Bst. a BehiG) und können überwiegende öffentliche Interessen des Umweltschutzes und des Natur- und Heimatschutzes, einschliesslich der Denkmalpflege (Abs. 1 Bst.

b) oder der Verkehrs- und Betriebssicherheit (Abs. 1 Bst. c) der Durchsetzung der
Rechtsansprüche Grenzen setzen. Ferner ist auch die zeitliche Dimension in die Interessenabwägung einzubeziehen und hängt die Zumutbarkeit von Anpassungen, insbesondere im öffentlichen Verkehr, wesentlich vom Faktor Zeit ab36.

Art. 3

Allgemeine Grundsätze

Artikel 3 bestimmt die für das Übereinkommen geltenden allgemeinen Grundsätze.

Sie dienen dem Verständnis der Vorschriften des Übereinkommens und sind bei der Umsetzung des Übereinkommens heranzuziehen. Die Grundsätze des Übereinkommens sind: ­

Die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschliesslich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit im Sinne von Selbstbestimmung,

­

die Nichtdiskriminierung,

35

36

678

United Nations/Interparliamentary Union (Eds.), From Exclusion to Equality, Handbook for Parliamentarians No 14 (2007), Geneva 2007, S. 61 ff.; abrufbar unter: www.un.org/disabilities/documents/toolaction/ipuhb.pdf.

Vgl. Botschaft zum BehiG BBl 2001 1715, hier 1781 f.

­

die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft,

­

die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit,

­

die Chancengleichheit,

­

die Zugänglichkeit,

­

die Gleichberechtigung von Mann und Frau,

­

die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.

Die allgemeinen Grundsätze verdeutlichen die Stossrichtung des Übereinkommens.

Neben Prinzipien, welche die Menschenrechte insgesamt prägen, nennt Artikel 3 Leitlinien, denen im spezifischen Kontext von Behinderung überragende Bedeutung zukommt, wie etwa der Zugänglichkeit als Voraussetzung für den Genuss der Menschenrechte und die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen sowie der Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt.

Die allgemeinen Grundsätze unterstreichen das Ziel des Übereinkommens, Behinderung aus einer defizitorientierten Sicht zu lösen, sie als normalen Bestandteil des menschlichen Lebens zu zeigen und das gemeinsame Zusammenleben als Bereicherung darzustellen, und dienen als Leitlinie bei der Auslegung der Konvention.

3.2

Allgemeine Verpflichtungsklausel (Art. 4)

Art. 4

Allgemeine Verpflichtungen

Das Übereinkommen enthält in Artikel 4 eine allgemeine Verpflichtungsklausel, die für das Verständnis der Verpflichtungen des Übereinkommens zu zentraler Bedeutung ist. Dieses zeichnet sich durch seinen überwiegend programmatischen Charakter aus, der den Vertragsparteien einen grossen Spielraum bei der Umsetzung lässt.

Artikel 4 des Übereinkommens definiert in Absatz 1 Buchstabe a­e zunächst in allgemeiner Weise die aus den materiellen Garantien des Übereinkommens fliessenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten. Diese Verpflichtungen werden in den Buchstaben f­i teilweise in detaillierter Form konkretisiert.

Nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Massnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen. Diese Verpflichtung entspricht üblichen Regelungen in anderen Menschenrechtsverträgen37.

Mit der Ratifikation wird die Verpflichtung der Staaten begründet, das beschriebene Ziel des Übereinkommens, die Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, zu erreichen. Buchstabe b illustriert dies dadurch, dass er die Vertragsparteien anhält, «alle geeigneten Massnahmen einschliesslich gesetzgeberischer Massnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen,

37

Vgl. Art. 2 Abs. 1 UNO-Pakt I.

679

Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen».

In der Folge schärft Buchstabe c den Blick für die Tatsache, dass die Förderung von Menschenrechten von Menschen mit Behinderungen nicht nur im Bereich einer Behindertenpolitik in einem eng verstandenen Sinn geschehen soll, sondern dass die Implementierung der Vorgaben des Übereinkommens eine staatliche Querschnittsaufgabe darstellt. Wenn die Bestimmung in diesem Sinn die Vertragsstaaten anhält, diese Aufgabe «in allen politischen Konzepten und allen Programmen zu berücksichtigen», stipuliert sie damit, dass als Reflex gleichsam alle Gesetzgebungsvorhaben, aber auch andere staatliche Aktivitäten, auf ihre Konformität mit den Vorgaben des Übereinkommens hin zu überprüfen sind (sog. Mainstreaming).

Gemäss Buchstabe d sind alle Handlungen oder Praktiken, die mit dem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen. Der Vertragsstaat hat zudem dafür zu sorgen, dass staatliche Behörden und öffentliche Einrichtungen im Einklang mit dem Übereinkommen handeln. Über das Unterlassen hinaus verankert der folgende Buchstabe e in allgemeiner Weise Schutzpflichten des Staates bei Verletzungen des Diskriminierungsverbots durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen38. Der Staat wird dabei in grundsätzlicher und programmatischer Weise zur Ergreifung geeigneter Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung durch Private angehalten39. Dies entspricht dem verfassungsrechtlichen Grundsatz in Artikel 35 Absatz 3 BV, welcher festhält, dass die Behörden dafür zu sorgen haben, dass die Grundrechte je nach Eignung auch unter Privaten wirksam werden40: Der Gesetzgeber ist verpflichtet, mit einer entsprechenden Ausgestaltung der Rechtsordnung dafür zu sorgen, dass diskriminierende Herabsetzungen insbesondere dann unterbleiben, wenn zwischen den Privaten ein Machtungleichgewicht besteht (z.B.

im Miet- und Arbeitsrecht). Ein weiteres Beispiel ist Artikel 6 BehiG, welcher vorsieht, dass private Anbieter Menschen mit Behinderungen bei öffentlich angebotenen Dienstleistungen nicht diskriminieren dürfen41.

Anschliessend an diese allgemeinen Massnahm benennt das Übereinkommen in Absatz 1 Buchstaben f­i spezifische Massnahmen, die geeignete Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstige Massnahmen darstellen.
Im Einzelnen verpflichten sich Staaten, die Forschung und Entwicklung für Güter, Dienstleistungen, Geräte und Einrichtungen (Bst. f) oder Technologien (Bst. g) zu fördern, die den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen dienen, 38 39

40

41

680

Vgl. analoge Verpflichtungen in Art. 2 Abs. 1 Bst. d ICERD und Art. 2 Bst. d CEDAW.

In einzelnen Bestimmungen werden entsprechende Schutzpflichten genauer konkretisiert.

So verpflichtet z.B. Art. 9 Bst. b BRK die Vertragsstaaten mit geeigneten Massnahmen sicherzustellen, «dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen.» Vgl. ferner die Pflicht der Staaten, Diskriminierungen in der Kranken- und Lebensversicherung mit geeigneten gesetzgeberischen Massnahmen zu verbieten (Art. 25 Bst. e BRK); das Ergreifen geeigneter Schritte, um die Diskriminierung auf dem privaten Arbeitsmarkt und in privaten Arbeitsverhältnissen zu verbieten (Art. 27 Abs. 1 BRK) oder die programmatische Förderung der Verwirklichung des Rechts auf angemessenen Lebensstandard ohne Diskriminierung (Art. 28 Abs. 1 BRK).

Mit Ausnahme der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann gilt das Diskriminierungsverbot nicht unmittelbar zwischen Privaten, sondern sind diese nur dann direkt an die Grundrechte gebunden, soweit sie staatliche Aufgaben wahrnehmen.

Vgl. Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1715, hier 1780.

Menschen mit Behinderungen Informationen über «Mobilitätshilfen, Geräte und unterstützende Technologien, einschliesslich neuer Technologien, sowie andere Formen von Hilfe, Unterstützungsdiensten und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen» (Bst. h) und schliesslich die Ausbildung von Fachkräften und anderem mit behinderten Menschen arbeitendem Personal im Bereich des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen zu fördern (Bst. i).

Ungeachtet der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind, enthält Artikel 4 Absatz 2 den expliziten Vorbehalt der progressiven Realisierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Rahmen des Übereinkommens. Hinsichtlich dieser Rechte verpflichtet sich der Vertragsstaat einzig, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Massnahmen zu treffen, um progressiv die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen. Absatz 2 BRK entspricht Artikel 2 Absatz 1 UNO-Pakt I und Artikel 4 zweiter Satz KRK und räumt den Vertragsstaaten einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl und des Umfangs der eingesetzten Mittel zur Erreichung des Ziels der vollen Erfüllung der Garantien des Übereinkommens ein.

Die Verpflichtung der progressiven Realisierung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Verwirklichung aller wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums erreicht werden kann. Der Vertragsstaat ist dennoch verpflichtet, so schnell und wirksam wie möglich Schritte zur Verwirklichung dieser Rechte einzuleiten. Zu den Verpflichtungen, die nach Absatz 2 unberührt bleiben, zählen die Vorschriften betreffend das Verbot der Diskriminierung des Übereinkommens. Die Pflicht zur rechtlichen Gleichbehandlung besteht unmittelbar für die Vertragsstaaten.

Absatz 3 bestimmt, dass die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen, einschliesslich Kinder mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung des Übereinkommens eng beteiligen und sie aktiv mit einbeziehen. Über den Verweis in Artikel 34 Absatz 3 und in Artikel 35 Absatz 4 gilt diese Regelung ebenfalls bei der Benennung von Kandidaten oder Kandidatinnen für den
Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und bei Erstellung der Staatenberichte durch die Vertragsstaaten. Zudem bestimmt Artikel 33 Absatz 3, dass die Zivilgesellschaft, insbesondere Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisationen, in den Überwachungsprozess einbezogen wird und in vollem Umfang daran teilnimmt.

Absatz 4 bestimmt im Sinne einer Günstigkeitsklausel, dass das Übereinkommen Bestimmungen des Landesrechts oder des für einen Vertragsstaat sonstigen verbindlichen Völkerrechts, die besser für die Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen geeignet sind, unberührt lässt. Ferner wird das Verbot ausgesprochen, die in einem Vertragsstaat anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Begründung zu beschränken oder ausser Kraft zu setzen, dass dieses Übereinkommen derartige Rechte oder Freiheiten nicht oder nur in geringerem Mass anerkennt. Das Verbot wiederholt entsprechende Regelungen aus Artikel 5 Absatz 2 UNO-Pakt I und Artikel 5 Absatz 2 UNO-Pakt II.

Absatz 5 stellt klar, dass die Bestimmungen des Übereinkommens ohne Einschränkung oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaates und somit in der Schweiz auch für die Kantone gelten.

681

3.3

Spezifische Rechte (Art. 5­30)

Art. 5

Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung

Nach Artikel 5 Absatz 1 anerkennen die Vertragsstaaten, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf den gleichen Schutz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben. Dieser allgemeine Nichtdiskriminierungsgrundsatz findet sich bereits in Artikel 1 Absatz 3 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 194542 und in Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)43 und ähnelt entsprechenden Garantien in weiteren internationalen Übereinkommen, namentlich Artikel 3 UNO-Pakt I, den Artikeln 2, 3 und 26 UNO-Pakt II, den Artikeln 1 Absatz 4 und 2 Absatz 2 ICERD, Artikel 2 Absatz 1 KRK und Artikel 14 EMRK44.

Dabei ist jedoch zu vermerken, dass die Diskriminierungsverbote in Artikel 14 EMRK, Artikel 2 KRK, Artikel 2 Absatz 2 Pakt I und Artikel 2 Absatz 1 Pakt II als sog. akzessorische Diskriminierungsverbote vor Diskriminierung lediglich im Hinblick auf die Wahrnehmung der anderen materiellen Garantien des jeweiligen Abkommens schützen. Demgegenüber schützen die selbstständigen Diskriminierungsverbote gegen Benachteiligungen durch rechtsetzende oder rechtsanwendende staatliche Akte auch in Bereichen, für welche die anderen Garantien des betreffenden Abkommens keinen Schutz bieten. Zu dieser Art von Diskriminierungsverboten zählt insbesondere Artikel 26 Pakt II, der zudem auch die Garantie der Rechtsgleichheit in Gesetz und Rechtsanwendung enthält. Ebenfalls ein selbstständiges und umfassendes Diskriminierungsverbot enthält Artikel 1 des zwölften Zusatzprotokolls zur EMRK vom 4. November 2000 (in Kraft seit dem 1. April 2005)45.

Indem sich das selbstständige Diskriminierungsverbot der BRK auf die gesamte Rechtsordnung bezieht und direkt angewendet werden kann, verstärkt seine klare auf die spezifische Personengruppe bezogene Umschreibung die Rechte der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Da auch das Verweigern angemessener Vorkehrungen eine Diskriminierung darstellen kann, ist davon auszugehen, dass hier auch auf der Ebene der Rechtsprechung der Schutz vor Diskriminierung verstärkt würde; dies auch angesichts der bisherigen Praxis des Bundesgerichts zu Leistungspflichten im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot.

Absatz 2 verankert in Einklang mit Artikel 4 Absatz 1 ein spezifisches Verbot der
Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch den Staat und garantiert einen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung, unabhängig auf welchem Grund eine solche beruht46. Absatz 2 enthält damit auch einen Gesetzgebungsauftrag zur Bekämpfung von Diskriminierung durch Private. Dieser Verpflichtung des Staates in Absatz 2 kommt jedoch keine unmittelbare Geltung zwischen Privaten zu und ist vor Gericht auch nicht 42 43 44 45

46

682

SR 0.120 Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948.

SR 0.101 Zu Artikel 26 Pakt II hat die Schweiz einen Vorbehalt erklärt, welcher die Anwendung des Artikels ausdrücklich auf die Paktgarantien beschränkt; das zwölfte Zusatzprotokoll zur EMRK hat sie nicht ratifiziert.

Die Funktion dieser (justiziablen) Garantie entspricht der Rechtsgleichheit und dem Diskriminierungsverbot, wie sie in Artikel 8 Absätze 1 und 2 BV verankert sind.

direkt anrufbar, sondern verlangt von Vertragsstaaten vielmehr Regulierungen, mit welchen die Diskriminierung durch Private bekämpft werden soll. In der Schweiz sind vor allem die Verfahren nach dem BehiG, zivil- und strafrechtlicher Persönlichkeitsschutz und das Arbeitsvertragsrecht relevant.

Absatz 3 verpflichtet sodann die Vertragsstaaten zu geeigneten Schritten, um angemessene Vorkehrungen mit dem Ziel der Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierungen zu treffen. Diese generalklauselhafte Bestimmung ist programmatisch und kann als eigentlicher Auffangtatbestand verstanden werden.

Nach Absatz 4 werden besondere Massnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, nicht als Diskriminierung angesehen. Eine ähnliche Regelung mit Bezug zur Herbeiführung der de-facto-Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau findet sich in Artikel 4 Absatz 1 CEDAW und im Kontext der Behinderung in Artikel 5 Absatz 2 BehiG.

In der Schweiz sehen zahlreiche Vorschriften einen Schutz vor Diskriminierung vor.

Grundlegend ist zunächst das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot in Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung, wonach niemand wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung benachteiligt werden darf. Artikel 8 Absatz 2 BV erfüllt, in Ergänzung zur allgemeinen Gleichheitsgarantie von Artikel 8 Absatz 1 BV und durch Verknüpfung mit der Menschenwürde47 (Art. 7 BV), die Funktion eines besonderen Gleichheitssatzes. Dabei stellt die Diskriminierung eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmale anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung untersagt aber nicht jede Unterscheidung aufgrund eines der in Artikel 8 Absatz 2 BV erwähnten Kriterien, sondern eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung48. Eine solche Ungleichbehandlung kann nur gerechtfertigt werden, wenn sie unter Angabe ernsthafter und triftiger Gründe
erfolgt49. Artikel 8 Absatz 2 BV untersagt nicht nur die direkte, sondern auch die indirekte Diskriminierung. Eine solche Diskriminierung liegt vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung einer bestimmten Gruppe enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre50.

Artikel 8 Absatz 4 BV enthält sodann einen Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen im Speziellen. Diese Bestimmung geht von ihrem Wortlaut her zwar noch weniger weit als die Vorgaben des Übereinkommens, das auf die Förderung, den Schutz und die Gewährleistung der «volle[n] und gleichberechtigte[n] Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten» abzielt. Demgegenüber verfolgt das BehiG, welches in Umsetzung von 47

48 49 50

Jörg Paul Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, S. 1); Bernhard Waldmann, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, Bern 2003, S. 234 ff.

Vgl. BGE 138 I 205 E. 5.4.

Vgl. BGE 135 I 49 E. 4.1 m.w.H.

Vgl. BGE 138 I 205 E. 5.4.

683

Artikel 8 Absatz 4 BV erlassen wurde, ­ deckungsgleich mit dem Übereinkommen ­ ebenfalls einen umfassenden Gleichstellungsansatz: Gemäss Artikel 2 BehiG liegt eine Benachteiligung vor, wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders behandelt werden und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung notwendig ist.

Art. 6

Frauen mit Behinderungen

Nach Artikel 3 Buchstabe g zählt die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu den allgemeinen Grundsätzen des Übereinkommens und sind die Vertragsstaaten auf der Grundlage von Artikel 6 verpflichtet, die Geschlechterperspektive bei der Umsetzung der Vorschriften des Übereinkommens zu berücksichtigen. Mit Artikel 6 Absatz 1 anerkennen die Vertragsstaaten insbesondere, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen aufgrund der Kriterien der Behinderung und des Geschlechts mehrfach benachteiligt werden können. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, in dieser Hinsicht Massnahmen zu ergreifen und zu gewährleisten, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt beanspruchen können. Dazu zählen nach Absatz 2 auch alle geeigneten Massnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen, hier verstanden als Empowerment der Frauen.

Dazu zählen insbesondere die besonderen Massnahmen nach Artikel 5 Absatz 4 BRK. Absatz 2 enthält eine Querschnittsverpflichtung, die mit jedem im Übereinkommen genannten Recht zu lesen und umzusetzen ist.

Um Frauen und Mädchen mit Behinderungen möglichst effektiv vor Diskriminierungen zu schützen, werden sie neben dem eigenständigen Artikel 6 in einzelnen Vorschriften des Übereinkommens nochmals ausdrücklich erwähnt: So macht etwa bereits die Präambel Buchstabe p auf die besondere Gefährdungslage von Menschen mit Behinderungen, bei denen weitere Statusmerkmale ­ u.a. das Geschlecht ­ hinzutreten, aufmerksam, und in Buchstabe s wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es notwendig ist, bei der Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten die Geschlechterperspektive einzubeziehen. Die Präambel Buchstabe q anerkennt ferner, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch ausserhalb ihres häuslichen Umfelds oft in stärkerem Masse durch Gewalt, Verletzung oder Missbrauch, Nichtbeachtung oder Vernachlässigung, Misshandlung oder Ausbeutung gefährdet sind.

Weitere spezifische Vorschriften finden sich in Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe b (Bekämpfung von Klischees, Vorurteilen und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, einschliesslich derjenigen aufgrund des Geschlechts), Artikel 16 Absatz 1 (Schutz vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und
Missbrauch), Artikel 16 Absatz 2 (Gewährleistung von Hilfe, Unterstützung und Schutzdiensten) sowie Artikel 16 Absatz 5 (Rechtsvorschriften und politische Konzepte für das Erkennen, Untersuchen und strafrechtliche Verfolgung von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch). Ferner soll der Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten (Art. 25) und Programmen für sozialen Schutz und der Armutsbekämpfung gesichert werden (Art. 28 Abs. 2 Bst. b). Schliesslich soll nach Artikel 34 Absatz 4 bei der Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen u.a. auf eine ausgewogene, geschlechtergerechte Besetzung geachtet werden.

684

Die gleiche Stossrichtung wie Artikel 6 des Übereinkommens verfolgt bereits Artikel 5 BehiG, der Bund und Kantone dazu anhält, bei den Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen den besonderen Bedürfnissen von Frauen mit Behinderungen Rechnung zu tragen.

Art. 7

Kinder mit Behinderungen

Artikel 7 anerkennt, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten beanspruchen können und verpflichtet die Vertragsstaaten, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um dies zu gewährleisten. Absatz 1 basiert auf Artikel 2 Absatz 1 KRK, welcher hervorhebt, dass Kinder mit Behinderungen eines besonderen Schutzes bedürfen51. Absatz 2 bestimmt das Kindeswohl zum vorrangigen Kriterium für alle Massnahmen, die Kinder betreffen. Die Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelung von Artikel 3 Absatz 1 KRK.

Um Kinder mit Behinderungen möglichst effektiv vor Diskriminierungen zu schützen, ergänzen weitere konkrete Vorschriften des Übereinkommens die allgemeine Vorgabe von Artikel 7. So gehört zu den allgemeinen Grundsätzen der BRK nach Artikel 3 Buchstabe h die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen (evolving capacities) und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität. Gemäss Artikel 4 Absatz 3 gehört es ferner zu den allgemeinen Verpflichtungen der Vertragsstaaten, die Interessen von Kindern mit Behinderungen bei der Umsetzung des Übereinkommens aktiv mit einzubeziehen.

Spezielle Beachtung finden die Rechte von Kindern sodann in Artikel 16 (Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), Artikel 18 (Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit)52, Artikel 23 (Achtung der Wohnung und der Familie), Artikel 24 (Bildung), Artikel 25 (Gesundheit) sowie Artikel 30 (Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport).

Die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist bereits heute in der schweizerischen Rechtsordnung stark verankert.

Dabei ist wie im Übereinkommen auch in der schweizerischen Rechtsordnung das Wohl des Kindes der vorrangig zu beachtende Gesichtspunkt. Neben den bereits erwähnten Verpflichtungen in der Kinderrechtskonvention räumt zunächst Artikel 11 BV Kindern und Jugendlichen in allgemeiner Weise einen Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung ein.

Wie bei den Erläuterungen zu den einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens ausgeführt wird, trägt die schweizerische Rechtsordnung auch in den spezifisch erwähnten Bereichen den Bedürfnissen von Kindern mit Behinderung Rechnung. Im Rahmen der kantonalen Schulhoheit nimmt ferner das Recht auf Bildung eine besondere Stellung ein (vgl. Erläuterungen zu Art. 24).

Art. 8

Bewusstseinsbildung

Das Bild von Behinderung bzw. von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor stark geprägt von einer Defizitorientierung, die ausschliesslich auf individuelle Beeinträchtigungen abstellt und behindernde Rahmenbedingungen ausklammert.

51 52

Art. 23 KRK enthält einen eigenständigen Artikel für die Rechte von Kindern mit Behinderungen.

Diese Regelungen wiederholen Art. 24 Abs. 2 und 3 UNO-Pakt II sowie Art. 7 KRK.

685

Auch darüber hinaus sind stereotype Vorstellungen weit verbreitet. Diese Vorstellungen prägen den Umgang mit Menschen mit Behinderungen und tragen entscheidend dazu bei, die Möglichkeiten dieser Personen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einzuschränken.

Vor diesem Hintergrund verpflichtet Artikel 8 die Vertragsstaaten zu sofortigen, wirksamen und geeigneten Massnahmen der Bewusstseinsbildung. Ziel ist es, in der Gesellschaft das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Die Massnahmen sollen dazu beitragen, dass Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, auch aufgrund des Geschlechts oder des Alters, in allen Lebensbereichen bekämpft werden und dass das Bewusstsein für die Fähigkeiten und für den Beitrag von Menschen mit Behinderungen gefördert wird. Absatz 2 konkretisiert die zu treffenden Massnahmen und konzentriert sich dabei auf vier Bereiche. Dazu gehören die dauerhafte Durchführung wirksamer Öffentlichkeitskampagnen, die Förderung einer respektvollen Einstellung auf allen Ebenen des Bildungssystems, die Aufforderung an die Medien, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck des Übereinkommens entsprechender Weise darzustellen, und die Förderung von Schulungsprogrammen zur Schärfung des Bewusstseins für Menschen mit Behinderungen und für deren Rechte.

Der Bedeutung der Bewusstseinsbildung für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen trägt auch das Behindertengleichstellungsgesetz Rechnung. Das Bereitstellen von Informationen und die Beratung von Behörden und Privaten gehört zu den zentralen Aufgaben des mit diesem Gesetz geschaffenen Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB). Die Artikel 16 und 17 BehiG, welche dem Bund die Möglichkeit geben, Programme und Projekte durchzuführen oder zu unterstützen, wie auch Artikel 18 BehiG, der dem Bund die Möglichkeit einräumt, Informationskampagnen durchzuführen, um das Verständnis der Bevölkerung für die Probleme der Gleichstellung und der Integration von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen und den betroffenen Kreisen die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, sind weitere Instrumente, die zu einem besseren Verständnis und Zusammenleben von Menschen mit Behinderungen beitragen sollen.

Art. 9

Zugänglichkeit

Teilhabe am öffentlichen, sozialen und wirtschaftlichen Leben bedingt Zugang zu den Orten und den Medien, an und in denen sich dieses abspielt. Der Zugänglichkeit der gebauten Umwelt, den Transport- und den Informations- und Kommunikationssystemen kommt daher für die Gewährleistung des Genusses aller Menschenrechte durch Menschen mit Behinderungen ein überragender Stellenwert zu.

Absatz 1 verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Massnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen den Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschliesslich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Die Massnahmen schliessen nach Absatz 1 zweiter Satz die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren ein. Absatz 2 konkretisiert die zu treffenden Massnahmen. Danach treffen die Vertragsstaaten z.B. geeignete Massnahmen, um 686

Mindeststandards und Leitlinien zur Zugänglichkeit von öffentlichen Einrichtungen zu schaffen oder um den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu fördern. Der eigenständige Artikel 9 zur Zugänglichkeit verdeutlicht, dass die Verwirklichung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen entscheidend von einer zugänglichen Umwelt abhängt. Neben der Generalklausel von Artikel 9 unterstreichen weitere Bestimmungen des Übereinkommens die Bedeutung der Zugänglichkeit.

Die Zugänglichkeit bzw. der Abbau von Hindernissen beim Zugang zu Bauten und Anlagen, bei der Inanspruchnahme des öffentlichen Verkehrs, von Dienstleistungen und von Aus- und Weiterbildungsangeboten bildet das zentrale Anliegen des BehiG und einer Vielzahl einschlägiger kantonaler Regelungen. So müssen Gebäude und Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, im Falle eines bewilligungspflichtigen Neubaus oder einer Erneuerung hindernisfrei gestaltet werden53. Ausnahmslos alle kantonalen Gesetzgebungen enthalten heute bereits zumindest einen Hinweis auf das behindertengerechte Bauen54.

Dazu verpflichten das Gesetz und die Verordnung, Menschen mit Behinderungen die Inanspruchnahme von staatlichen (in abgeschwächter Weise auch von privaten), grundsätzlich von jedermann beanspruchbaren Dienstleistungen55 und die Benutzung des öffentlichen Verkehrs56 ohne erschwerende Bedingungen zu ermöglichen.

In diesen drei Bereichen räumt das BehiG den von einer Benachteiligung betroffenen Personen und unter gewissen Voraussetzungen auch Behindertenorganisationen einen Anspruch auf Unterlassung oder Beseitigung ein. Im Fall einer Diskriminierung durch Private besteht nur ein Anspruch auf Entschädigung bis höchstens 5000 Franken (Art. 8 Abs. 3 und 11 Abs. 2 BehiG).

Das Gesetz trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass aufgrund der langen Lebensdauer vorhandener (vor Inkrafttreten des BehiG noch nicht barrierefrei konzipierter) Infrastruktureinrichtungen und im Bereich des öffentlichen Verkehrs der Nachholbedarf nur schrittweise erfüllt werden kann57. So besteht eine Verpflichtung zum Abbau von Hindernissen bei Bauten und Anlagen nur bei Neubauten und bewilli-

53

54

55 56

57

Vgl. Art. 2 Abs. 3; Art. 3 Bst. a, c, d; Art. 7 Abs. 1; Art. 9 Abs. 3 Bst. b; Art. 11; Art. 12 Abs. 1, 3 und Art. 15 Abs. 2­5 BehiG; Anpassung von öffentlich zugänglichen Bauten, Gebäuden mit mehr als acht Wohneinheiten oder mehr als 50 Arbeitsplätzen an die Bedürfnisse Behinderter im Falle einer genehmigungspflichtigen Erneuerung oder eines genehmigungspflichtigen Neubaus. Ferner Art. 6, 7 und 8 BehiV.

Das Bundesgericht fordert für die kantonale Ebene eine gesetzliche Grundlage für behindertengerechtes Bauen, stellt jedoch hinsichtlich der Art der gesetzlichen Grundlage keine Bedingungen und wendet in der Praxis die Bestimmungen des BehiG an (vgl. etwa Urteil vom 10. Juni 2011, 1C_394/2010). Vgl. auch BBl 2001 1715, hier 1749 f. und 1803 f.

Vgl. Art. 2 Abs. 4; Art. 3 Bst. e; Art. 6; Art. 8 Abs. 1 und 3; Art. 9 Abs. 3 Bst. a und d; Art. 11; Art. 12 Abs. 3 und Art. 14 BehiG; Art. 2 Bst. d; Art. 6, 9, 10 und 11 BehiV.

Art. 2 Abs. 3; Art. 3 Bst. b, e; Art. 7 Abs. 2; Art. 8 Abs. 1; Art. 9 Abs. 3 Bst. c und d; Art. 11; Art. 12 Abs. 2 und 3; Art. 22 und 23 BehiG; Art. 6 BehiV; vgl. ferner die Verordnung vom 12. November 2003 über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV; SR 151.34) sowie die Verordnung des UVEK vom 22. Mai 2006 über die technischen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VAböV.; SR 151.342). Ebenfalls zu beachten sind Verpflichtungen der Schweiz aus internationalen Verkehrsübereinkommen.

So verlangt das BehiG z.B. Anpassungen an Haltestellen des ÖV bis 2023. Dazu gehört etwa der niveaugleiche Einstieg in ein Fahrzeug. Zu diesem Zweck haben z.B. die Kantone Basel-Stadt und Baselland sowie die Baselland Transport AG (BLT) und die Basler Verkehrs-Betriebe (BVB) ein gemeinsames Umsetzungskonzept erarbeitet.

687

gungspflichtigen Umbauten58. Zudem setzt auch in diesen Fällen der Verhältnismässigkeitsgrundsatz nach den Artikeln 11 und 12 BehiG dem Anspruch auf Beseitigung von Benachteiligungen eine Grenze.

Regeln zur Gewährleistung des Zugangs zu spezifischen Dienstleistungen finden sich in weiteren Erlassen. So sieht etwa das revidierte Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG)59 vor, dass Fernsehveranstalter mit nationalen und sprachregionalen Angeboten einen angemessenen Anteil der Sendungen in einer für hör- und sehbehinderte Personen geeigneten Weise aufbereiten müssen (Art. 7 Abs. 3 RTVG)60. Den Anforderungen einer behindertengerechten Ausgestaltung des Fernmeldewesens ist zudem durch Anpassungen der rechtlichen Grundlagen im Fernmeldegesetz und der Verordnung über Fernmeldedienste Rechnung getragen worden.

Zur Gewährleistung des Zugangs zum öffentlichen Raum und zu Information und Kommunikation tragen zudem die Eingliederungsmassnahmen und weitere Leistungen im Rahmen der Sozialversicherungen bei, insbesondere die Hilfsmittel.

Weiter ist die Förderung des chancengleichen, barriere- und diskriminierungsfreien Zugangs von Menschen mit Behinderungen zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ein Ziel der Strategien des Bundesrats für eine Informationsgesellschaft von Januar 2006 und März 201261.

Art. 10

Recht auf Leben

Nach Artikel 10 bekräftigen die Vertragsstaaten, dass jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben hat. Diese Vorschrift greift Artikel 6 UNO-Pakt II und Artikel 3 AEMR auf und bekräftigt diese. Ausdrücklich fordert Artikel 10 die Vertragsstaaten auf, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um den wirksamen Genuss dieses Rechts durch Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen zu gewährleisten.

Hintergrund dieser Regelung steht die Erfahrung, dass insbesondere zu Beginn und zu Ende des Lebens der Wert bzw. die Qualität des Lebens von Menschen mit Behinderung in diskriminierender Weise droht, in Frage gestellt zu werden. Artikel 10 stellt klar, dass der Schutz des Rechts auf Leben für Menschen mit Behinderungen gleichermassen gewährleistet ist wie für andere Menschen.

Den Zeitpunkt, ab dem der Schutz des Lebens greift, wird in den universellen Menschenrechtskonventionen nicht definiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat diese Frage bewusst nicht entschieden, da diesbezüglich keine einheitliche Position der Staaten festzustellen sei. Der Entscheid ist damit im Rahmen der nationalen Rechtsordnung zu treffen.

Nach dem geltenden Schweizer Recht ist dieser Schutz schon auf verfassungsrechtlicher Ebene durch Artikel 10 Absatz 1 BV umfassend gewährleistet. Strafrechtlich ist das Recht auf Leben durch die Artikel 111­136 des Strafgesetzbuches (StGB)62 58 59 60

61 62

688

Weiter geht die Regelung im öffentlichen Verkehr, wo Art. 22 BehiG Anpassungsfristen vorsieht.

SR 784.40 In der laufenden Revision des RTVG ist vorgesehen, auch regionale Anbieter zu verpflichten, Informationssendungen zu untertiteln; vgl. Art. 7 Abs. 4 des Entwurfs vom 10.04.2012.

Abrufbar unter: www.bakom.admin.ch/themen/infosociety/00695/index.html SR 311.0

geschützt. Die Frage nach dem Beginn des Lebens wird von der Bundesverfassung nicht eindeutig beantwortet. Unbestritten ist, dass schon vor der Geburt ein gewisser verfassungsrechtlicher Schutz greift. Eine Konkretisierung auf Gesetzesstufe ist die Regelung für den Schwangerschaftsunterbruch in den Artikeln 118­120 StGB.

Art. 11

Gefahrensituationen und humanitäre Notlagen

Artikel 11 verpflichtet die Vertragsstaaten, alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um in Gefahrensituationen, einschliesslich bewaffneter Konflikte, humanitärer Notlagen, und in Naturkatastrophen, im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.

Hintergrund dieser Regelung ist die Erfahrung, dass Menschen mit Behinderungen wegen ihrer Einschränkungen in diesen Situationen zu den gefährdetsten Personen gehören und Gefahr laufen, bei der Bereitstellung von notwendigen Gütern und Dienstleistungen in ungerechtfertigter Weise benachteiligt zu werden.

Die Regelungen über den Schutz der Bevölkerung im Zivilschutzfall erfassen ohne Unterscheidung Menschen mit wie ohne Behinderungen; aus dem Behindertengleichstellungsrecht ergibt sich zudem der Anspruch, der besonderen Situation von Menschen mit Behinderungen Rechnung zu tragen. Insoweit entspricht die bestehende Rechtslage dem Artikel 11. Gleiches gilt für den Bereich des Schutzes der Bevölkerung im Katastrophenfall oder bei sonstigen schweren Unglücksfällen, der im Zuständigkeitsbereich der Kantone und Gemeinden liegt. In bestimmten Bereichen sind Massnahmen erforderlich, um zu gewährleisten, dass dieser Anspruch in optimaler Weise eingelöst werden kann. Zurzeit laufen beispielsweise Bemühungen, um die Alarmierung von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.

Art. 12

Gleiche Anerkennung vor dem Recht

Nach Absatz 1 bekräftigen die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden. Damit wird ausdrücklich das Recht von Menschen mit Behinderungen anerkannt, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Diese Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelungen des Artikels 16 UNO-Pakt II und des Artikels 6 AEMR.

Mit Absatz 2 anerkennen die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit beanspruchen können. Absatz 2 findet ein Vorbild in Artikel 15 Absätze 2 und 3 CEDAW. Mit Rechts- und Handlungsfähigkeit beschreibt Absatz 2 die Fähigkeit von Menschen mit Behinderungen, rechtswirksam zu handeln. Dies gilt für alle Lebensbereiche. Gleichberechtigt mit anderen bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen unter denselben Voraussetzungen wie andere Menschen Rechts- und Handlungsfähigkeit beanspruchen können. Sie sind uneingeschränkt rechtsfähig.

Sie können aber wie Menschen ohne Behinderung aufgrund ihres jugendlichen Alters oder wegen fehlender Willens- und Einsichtsfähigkeit in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt sein. Sowohl die Geschäftsfähigkeit als auch die Deliktfähigkeit setzen voraus, dass ein Mensch in der Lage ist, die Bedeutung eines Verhaltens zu beurteilen und auch nach dieser Einsicht zu handeln. Nur dann kann ihm die Rechtsordnung auch die Folgen seines Verhaltens zurechnen, d.h. ihn als geschäftsoder deliktfähig ansehen. Absatz 5 nennt Beispiele für die Rechts- und Handlungs689

fähigkeit. Dazu zählen das Recht, Eigentum zu haben und durch Erbfall zu erwerben, das Recht, die eigenen finanziellen Angelegenheiten zu regeln, und der Zugang zu Bankdarlehen, Hypotheken und anderen Finanzkrediten. Absatz 5 enthält darüber hinaus das ausdrückliche Verbot, Menschen mit Behinderungen willkürlich ihr Eigentum zu entziehen. Das Recht, Eigentum zu haben, und das Verbot des willkürlichen Entzugs finden sich bereits in Artikel 17 AEMR.

Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten zu geeigneten Massnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Nach Absatz 4 stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Massnahmen, die die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit betreffen, im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen geeignete und wirksame Sicherungen vorgesehen werden, um Missbräuche zu verhindern. Diese Sicherungen sollen gewährleisten, dass die Rechte, der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden, dass Interessenkonflikte und missbräuchliche Einflussnahme verhindert werden, dass die Massnahmen verhältnismässig, auf die Umstände der betreffenden Person zugeschnitten sowie von möglichst kurzer Dauer sind und dass sie einer regelmässigen Überprüfung durch eine zuständige, unabhängige und unparteiische Behörde oder gerichtliche Stelle unterliegen.

Diese Regelungen sind darauf ausgerichtet, Menschen mit Behinderungen, die auf Hilfe angewiesen sind, bei der Ausübung der eigenen Rechte nur im unbedingt erforderlichen Mass einzuschränken und ihnen primär Unterstützung zukommen zu lassen, statt sie dabei vertreten zu lassen (supported decision-making statt substituted decision-making).

Die noch aus dem Jahr 1913 stammenden einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches63 entsprechen diesem Grundsatz kaum mehr. Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht, welches vom Parlament am 19. Dezember 200864 verabschiedet wurde und am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist, wurde dieser Perspektivenwechsel auch im nationalen Recht vollzogen. Durch das Bereitstellen von Instrumenten, die auf die individuelle Situation zugeschnitten sind, kann den konkreten Bedürfnissen der betroffenen Personen in optimaler Weise und unter bestmöglicher Wahrung ihrer Autonomie Rechnung getragen werden.

Art. 13

Zugang zur Justiz

Absatz 1 verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen einen wirksamen Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Ausdrücklich benennt Absatz 1 dafür verfahrensbezogene und das Alter berücksichtigende Vorkehrungen, um die wirksame unmittelbare und mittelbare Teilnahme in allen vorgerichtlichen Verfahren und Gerichtsverfahren zu erleichtern. Weiterhin sollen nach Absatz 2 die Vertragsstaaten geeignete Schulungen für Personen, die im Justizwesen tätig sind, fördern.

63 64

690

SR 210 BBl 2009 141

Die Gewährleistung des gleichen Zugangs zur Justiz ist ein zentrales Prinzip der schweizerischen Rechtsordnung und findet seine Verankerung in den Verfahrensgarantien der Bundesverfassung65. Verschiedene Vorschriften im schweizerischen Recht halten sodann entsprechende Ansprüche von Menschen mit Behinderungen explizit fest. Auf Bundesebene sieht etwa Artikel 143 Absatz. 7 der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Schweizer Strafprozessordnung66 ausdrücklich vor, dass die Einvernahme sprech- und hörbehinderter Personen schriftlich oder unter Beizug einer geeigneten Person durchzuführen ist. Spezifisch für die Durchsetzung von Ansprüchen auf Beseitigung oder Unterlassung von Benachteiligungen aufgrund einer Behinderung (Art. 7 und Art. 8 BehiG) sieht das BehiG die Unentgeltlichkeit von Verfahren vor (Art. 10 BehiG)67.

Der Bund hat das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) beauftragt, den Zugang zur Justiz im Fall von Diskriminierungen zu untersuchen.

Dabei wird unter anderem die Frage geprüft, inwiefern aus dem Fehlen einer Beweislastregelung im BehiG, das anders als das Gleichstellungsgesetz vom 24. März 199568 (GlG), keine Beweislastumkehr vorsieht, eine Einschränkung des Zugangs zur Justiz resultiert.

Bezüglich Artikel 13 Absatz 2 BRK ist festzuhalten, dass die Organisation von Justiz- und Polizeibehörden in die Zuständigkeit der Kantone fällt. Eine besondere Schulung der im Justizwesen tätigen Personen für die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen besteht nicht; sollten Lücken bestehen, wäre diesen Anliegen im Sinn eines Disability Mainstreaming im Rahmen der ordentlichen Ausund Weiterbildungen seitens der Kantone Rechnung zu tragen.

Art. 14

Freiheit und Sicherheit der Person

Nach Absatz 1 Buchstabe a gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit geniessen. Diese Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelungen des Artikels 9 UNO-Pakt II, des Artikels 5 EMRK und des Artikels 3 AEMR.

Nach Absatz 1 Buchstabe b gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird und dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt. Diese Vorschrift bezieht sich auf Artikel 9 Absatz 1 zweiter Satz UNO-Pakt II. Absatz 1 Buchstabe b BRK stellt dabei ausdrücklich fest, dass eine Freiheitsentziehung allein aufgrund des Vorliegens einer Behinderung in keinem Fall gerechtfertigt ist. Sowohl aus Absatz 1 Buchstabe b als auch aus Absatz 2 ergibt sich, dass eine Freiheitsentziehung auch bei behinderten Menschen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass zur Behinderung besondere Umstände hinzutreten müssen, die die Entziehung der Freiheit erforderlich machen. Das ist etwa der Fall, wenn nur mittels der Freiheitsentziehung eine Selbst- oder Fremdgefährdung vermieden werden kann.

Sofern also zusätzliche Umstände vorliegen, die eine Freiheitsentziehung rechtferti65

66 67 68

Art. 29 (allgemeine Verfahrensgarantien); Art. 29a (Rechtsweggarantie); Art. 30 (Garantien im gerichtlichen Verfahren); Art. 31 (Garantien bei Freiheitsentzug) und Art. 32 BV (Strafverfahren). Vgl. auch die jeweiligen Garantien in Art. 5 und 6 Ziff. 1­3 EMRK.

SR 312.0 Vgl. auch die direkten Verweise auf das BehiG in Art. 113 Abs. 2 Bst. b und Art. 114 Bst. b der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272).

SR 151.1

691

gen, kann diese auch dann zulässig sein, wenn die die Freiheitsentziehung begründenden Umstände mit einer Behinderung zusammenhängen.

Nach Absatz 2 gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen bei einem Freiheitsentzug gleichberechtigt mit anderen einen Anspruch auf die in internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien haben. Diese Regelung nimmt Bezug auf die in den Artikeln 9 und 10 UNO-Pakt II vorgesehenen Verfahrensgarantien. Ausdrücklich verlangt Absatz 2, dass Menschen mit Behinderungen bei einem Freiheitsentzug im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen dieses Übereinkommens, einschliesslich der Bereitstellung angemessener Vorkehrungen, behandelt werden.

Auf nationaler Ebene ist das Recht auf persönliche Freiheit explizit in Artikel 10 Absatz 2 BV garantiert. Weiter enthält Artikel 31 BV präzise Regelungen zum Freiheitsentzug. Im gerade für Menschen mit einer psychischen Behinderung relevanten Bereich des fürsorgerischen Freiheitsentzugs ist auf die Revision des Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) hinzuweisen.

Diese Änderung des ZGB passt das seit 1912 nahezu unverändert gebliebene Vormundschaftsrecht den heutigen Verhältnissen an. Die neuen gesetzlichen Massnahmen sind entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der betroffenen Personen zugeschnitten69.

Die Revision betrifft auch den fürsorgerischen Freiheitsentzug in den Artikeln 397a bis 397f ZGB (neu: «fürsorgerische Unterbringung»: Art. 426­439 ZGB). In diesem Bereich wird bezweckt, den Rechtsschutz der Personen zu verstärken, die gegen ihren Willen in einer Einrichtung untergebracht oder zurückbehalten werden, weil sie eine Gefahr für sich selbst oder für andere darstellen. Diese Änderungen treten am 1. Januar 2013 in Kraft.

Art. 15

Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe

Artikel 15 wiederholt und bekräftigt das bereits in Artikel 7 UNO-Pakt II, Artikel 5 AEMR sowie in der UNO-Konvention gegen Folter festgeschriebene Verbot der Folter und der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Auf nationaler Ebene ist das Folterverbot in Artikel 10 Absatz 3 BV verankert.

Lücken in der heutigen Gesetzgebung, beispielsweise zur Frage der Forschung an urteilsunfähigen Personen, werden mit dem neuen Artikel 118b BV und mit dem vom Bundesrat im Jahr 2009 an das Parlament überwiesenen Bundesgesetz über die Forschung am Menschen geschlossen70.

Art. 16

Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch

Nach Absatz 1 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alle geeigneten Massnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschliesslich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen.

Zu den Massnahmen werden unter anderem Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozialund Bildungsmassnahmen gezählt. Absatz 2 konkretisiert geeignete Massnahmen.

So sollen die Vertragsstaaten geeignete Formen von Hilfe und Unterstützung für 69 70

692

BBl 2006 7001 BBl 2009 6649

Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und Betreuungspersonen gewährleisten. Dies schliesst auch die Bereitstellung von Information und Aufklärung darüber ein, wie Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch verhindert, erkannt und angezeigt werden können. Die Formen von Hilfe und Unterstützung sollen das Geschlecht und das Alter berücksichtigen. Ebenfalls sollen Schutzdienste das Alter, das Geschlecht und die Behinderung der betroffenen Personen berücksichtigen.

Nach Absatz 3 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, mit dem Ziel der Verhinderung von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch sicherzustellen, dass alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, von unabhängigen Behörden überwacht werden. Nach Absatz 4 sind die Vertragsstaaten zu geeigneten Massnahmen verpflichtet, um die Genesung, die Rehabilitation und die soziale Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen, die Opfer von Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch geworden sind, zu fördern. Dazu zählt auch die Bereitstellung von Schutzeinrichtungen. Die Genesung und Wiedereingliederung muss in einer Umgebung stattfinden, die der Gesundheit, dem Wohlergehen, der Selbstachtung, der Würde und der Autonomie des Menschen förderlich ist. Diese Umgebung soll geschlechts- und altersspezifischen Bedürfnissen Rechnung tragen.

Absatz 5 verpflichtet die Vertragsstaaten zur Schaffung wirksamer Rechtsvorschriften und politischer Konzepte, die sicherstellen, dass Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch gegenüber Menschen mit Behinderungen erkannt, untersucht und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt werden. Die Rechtsvorschriften und Programme sollen dabei auch auf Frauen und Kinder ausgerichtet sein.

Durch Artikel 16 wird anerkannt, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen in besonderem Masse durch Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch in allen Formen gefährdet sind. In der Schweiz wurde in den letzten Jahren der Schutz von Kindern vor Misshandlung durch Anpassungen der gesetzlichen Grundlagen (u.a. Revision des ZGB und StGB) ausgebaut. Ebenfalls wurden auf Bundesebene die gesetzlichen Grundlagen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bzw. von Gewalt im sozialen Nahraum verbessert71. Diese gesetzlichen Vorgaben erlauben es, auch den besonderen Bedürfnissen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen Rechnung zu tragen. Insbesondere bei flankierenden Massnahmen wird jedoch darauf zu achten sein, diese besonders verletzliche Zielgruppe konsequent einzubeziehen.

Art. 17

Schutz der Unversehrtheit der Person

Artikel 17 bekräftigt, dass jeder Mensch mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Achtung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit hat. Diese Regelung bezieht sich auf Behandlungen von Menschen mit Behinderungen ohne deren Einwilligung. Nach den Prinzipien des Übereinkommens darf eine Behandlung ohne Einwilligung nicht allein aufgrund einer Behinderung erfolgen.

Hierzu gelten die Ausführungen zu Artikel 14 Absatz 1 entsprechend.

71

Vgl. den Bericht über Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen (in Erfüllung des Postulats Stump 05.3694 vom 7. Oktober 2005), vom 13. Mai 2009, www.ebg.admin.ch/themen/00009/00089/index.html?lang=de.

693

Art. 18

Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit

Nach Absatz 1 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen auf Freizügigkeit, auf freie Wahl ihres Aufenthaltsortes und auf eine Staatsangehörigkeit an. Absatz 1 wiederholt und bekräftigt die Regelungen von Artikel 12 UNO-Pakt II sowie der Artikel 13 und 15 AEMR.

Nach Absatz 1 Buchstabe a gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben oder diese zu wechseln. Sie gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihre Staatsangehörigkeit nicht willkürlich oder aufgrund von Behinderung entzogen wird. Dies entspricht Artikel 15 AEMR und betont ausdrücklich, dass das Vorliegen einer Behinderung nicht den Entzug der Staatsbürgerschaft rechtfertigt. Das Recht auf Staatsangehörigkeit wird durch Absatz 1 Buchstabe b ergänzt, nach dem die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung die Möglichkeit versagt wird, Dokumente zum Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit oder andere Identitätsdokumente zu erhalten, zu besitzen und zu verwenden. Weiterhin darf Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung versagt werden, einschlägige Verfahren, wie etwa Einwanderungsverfahren in Anspruch zu nehmen, die gegebenenfalls erforderlich sind, um die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit zu erleichtern. Nach Absatz 1 Buchstabe c gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen die Freiheit haben, jedes Land, einschliesslich ihres eigenen zu verlassen. Diese Vorschrift entspricht Artikel 12 Absatz 2 UNO-Pakt II und Artikel 13 Ziffer 2 AEMR, Nach Absatz 1 Buchstabe d gewährleisten die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen nicht willkürlich oder aufgrund von Behinderung das Recht entzogen wird, in ihr eigenes Land einzureisen. Dies entspricht Artikel 12 Absatz 4 UNO-Pakt II und betont ausdrücklich, dass das Vorliegen einer Behinderung nicht ein Verbot der Einreise rechtfertigt.

Nach Absatz 2 sind Kinder mit Behinderungen unverzüglich nach ihrer Geburt in ein Register einzutragen. Weiterhin haben Kinder mit Behinderungen das Recht auf einen Namen von Geburt an und das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben.

Ebenso verbürgt Absatz 2 das Recht von Kindern mit Behinderungen, ihre Eltern zu kennen und von ihnen
betreut zu werden. Diese Regelungen entsprechen Artikel 24 Absätze 2 und 3 UNO-Pakt II sowie Artikel 7 KRK.

Artikel 24 BV schützt das Recht aller natürlichen Personen mit Schweizer Bürgerrecht auf Freizügigkeit innerhalb der Schweiz, Ausreise oder Auswanderung aus der Schweiz und Rückkehr in die Schweiz. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 135 I 49 ff.) kommt im Einbürgerungsverfahren den Menschen mit einer Behinderung bereits heute ein besonderer Schutz zu. So kann es angebracht sein, bei Menschen mit Behinderungen von gewissen Integrationskriterien abzusehen, wenn diese aufgrund einer Behinderung nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllt werden können. Im Rahmen der laufenden Revision des Bürgerrechtsgesetzes ist vorgesehen, diese Regelung ausdrücklich zu verankern72.

72

694

Botschaft zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes, BBl 2011 2825, hier 2832 und 2850 f.

Art. 12 Abs. 2 des Entwurfs vom 03.04.2011 sieht unter den Integrationskriterien vor, es sei der «Situation von Personen, welche die Integrationskriterien von Absatz 1 Buchstabe c und d aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder aufgrund einer chronischen Krankheit nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen.» (S. 2876).

Art. 19

Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft

Nach Artikel 19 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, für die Verwirklichung des Rechts auf selbstbestimmte Lebensführung sowie auf volle Einbeziehung in und Teilhabe an der Gemeinschaft wirksame und geeignete Massnahmen zu treffen.

Diese Garantie wendet sich dagegen, Menschen mit Behinderungen zwangsweise in Institutionen unterzubringen oder zumindest die Möglichkeit, über die eigene Wohnund Lebensform zu entscheiden, faktisch einzuschränken, etwa dadurch, dass gewisse Leistungen ausschliesslich in spezialisierten Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden oder nur dort zu finanziell tragbaren Konditionen bezogen werden können.

Diese Massnahmen sollen unter anderem gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen. Sie sollen weiterhin entscheiden dürfen, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sein, in besonderen Wohnformen zu leben. Weiterhin soll gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen haben. Dies schliesst auch die persönliche Assistenz ein, die das Leben in der Gemeinschaft und die Einbeziehung in die Gemeinschaft unterstützt und Isolation und Ausgrenzung verhindert. Gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen, die der Allgemeinheit offenstehen, sollen Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen. Die explizit genannten Massnahmen ­ insbesondere die Wahlfreiheit der Wohnform in Buchstabe a ­ verdeutlichen, dass eine unabhängige Lebensführung nicht als allgemeiner Anspruch auf Unabhängigkeit verstanden wird. Vielmehr sollen die genannten Massnahmen verhindern, dass Personen mit Behinderungen zu einer Lebensform gezwungen werden, die sie nicht selbst gewählt haben und dadurch vom Leben in der Gesellschaft ausgeschlossen werden, bzw. an einer selbstgewählten Lebensform gehindert werden, die sie selbst bewältigen können73.

Der Anspruch auf unabhängige Lebensführung und Einbezug in die Gesellschaft kann in verschiedene Aspekte aufgegliedert werden, die bereits durch das schweizerische Verfassungsrecht
garantiert werden (Bewegungsfreiheit, Diskriminierungsverbot, Recht auf Privatleben, persönliche Freiheit). Auch die EMRK und der UNOPakt II bieten hier Schutz. Das Übereinkommen bündelt und konkretisiert diese Rechte im Hinblick auf die spezifische Situation von Menschen mit Behinderungen und schafft insofern Klarheit über die Tragweite dieser Ansprüche.

Der diskriminierungsfreie Zugang zu gemeindenahen Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit und die Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse wird bereits durch Artikel 8 Absatz 2 und 4 BV gewährleistet; eine Konkretisierung erfahren diese allgemeinen Vorgaben im Behindertengleichstellungsgesetz, das die Beseitigung von Benachteiligungen bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen des Gemeinwesens verlangt.

73

Der Vertragsausschuss äusserte sich in seiner ersten Mitteilung ebenfalls zur Tragweite von Art. 19 Abs. 2 BRK; Communication No. 3/2011, Ziff. 8.9., CRPD/C/7/D/3/2011, (www.ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/Jurisprudence.aspx.

695

Die Leistungen der schweizerischen Sozialversicherungen sowie die Massnahmen der Kantone ermöglichen das Wohnen zu Hause wie auch das Wohnen in spezialisierten Einrichtungen und gewährleisten die verlangte freie Wahl der Wohnform.

Zum Beispiel kann eine hilflose Person, die schon zu Hause wohnt oder dies tun möchte, einen Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung beantragen (Art. 42quater bis 42octies des Bundesgesetzes vom 19. Juni 195974 über die Invalidenversicherung [IVG]), mit dem sie eine Assistenzperson einstellen kann, die regelmässig die von der versicherten Person benötigten Hilfeleistungen erbringt. Generell werden die Hilfe und die Pflege, die im Einzelfall erforderlich sind, vom betreffenden Sozialversicherer übernommen, sei dies nun zu Hause oder in einer Institution.

Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 200675 über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) stellt zugleich sicher, dass die Kantone weiterhin ein bedarfsgerechtes Angebot für Menschen mit Behinderungen aufrechterhalten. Die Interkantonale Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) regelt die Finanzierungsmodalitäten für den Aufenthalt von Personen mit speziellen Betreuungs- und Förderungsbedürfnissen in sozialen Einrichtungen ausserhalb ihres Wohnkantons.

Artikel 108 Absatz 4 BV verpflichtet den Bund, die Interessen von Menschen mit Behinderungen bei der Wohnbauförderung zu berücksichtigen. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt, dass bei Wohngebäuden mit mehr als acht Einheiten eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen unterlassen und in gewissen Fällen beseitigt werden muss. Nach Artikel 19 des Übereinkommens besteht kein Anspruch darauf, dass jede Wohnung mit baulichen Massnahmen auf die Bedürfnisse von Mietern mit Behinderungen angepasst wird. Immerhin muss aber doch ein genügend grosses Angebot von zugänglichen Wohnungen bestehen, damit überhaupt von Wahlfreiheit gesprochen werden kann.

Art. 20

Persönliche Mobilität

Artikel 20 zielt darauf, die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen mit grösstmöglicher Unabhängigkeit im Sinne von Selbstbestimmung sicherzustellen, und verpflichtet die Vertragsstaaten mit Blick darauf zu wirksamen Massnahmen. Beispielhaft zählt Artikel 20 einzelne Massnahmen auf. So sollen die Vertragsstaaten die persönliche Mobilität zu erschwinglichen Kosten und mit Wahlmöglichkeiten, die sich auf die Art und Weise sowie den Zeitpunkt beziehen, erleichtern. Weiterhin soll der Zugang zu hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten, unterstützenden Technologien, menschlicher und tierischer Hilfe sowie zu Mittelspersonen erleichtert werden; auch dadurch, dass die vorgenannte Unterstützung zu erschwinglichen Preisen erfolgt. Für Menschen mit Behinderungen und für Fachkräfte, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten, sollen Schulungen in Mobilitätsfertigkeiten angeboten werden. Hersteller von Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien sollen ermutigt werden, alle Aspekte der Mobilität für Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen.

Diese Bestimmung geht inhaltlich über andere Menschenrechtsübereinkommen hinaus bzw. beschlägt einen Aspekt, dem nur gerade im Kontext von Behinderung eine spezifische Bedeutung zukommt. Für die Gewährleistung des Genusses aller 74 75

696

SR 831.20 SR 831.26

Menschenrechte durch Menschen mit Behinderungen ist Artikel 20 jedoch von sehr grosser Bedeutung. Mobilität ist eine unabdingbare Voraussetzung, um die Freiheiten, welche die Menschenrechte schützen, und die Teilhabe am Leben der Gesellschaft auch tatsächlich realisieren zu können. Während Artikel 9 BRK darauf ausgerichtet ist, mit dem Abbau von Barrieren die Zugänglichkeit des öffentlichen Raums zu gewährleisten, ist Artikel 20 in erster Linie darauf ausgerichtet, optimale individuelle Voraussetzungen zu schaffen.

In der Schweiz tragen verschiedene Leistungen der Sozialversicherungen zur Erhaltung und zur Förderung der persönlichen Mobilität von Menschen mit Behinderungen bei. Neben den medizinischen Massnahmen gilt dies für die Abgabe von Hilfsmitteln, aber auch für die finanziellen Leistungen wie insbesondere die Integritätsentschädigung oder die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung76, die Hilflosenentschädigung oder den Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung77 oder die Hilflosenentschädigung der Altersversicherung78.

Art. 21

Recht der freien Meinungsäusserung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen

Nach Artikel 21 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit hinderungen auf Meinungsäusserung und Meinungsfreiheit, einschliesslich Freiheit, sich Informationen und Gedankengut zu beschaffen, zu empfangen weiterzugeben. Diese Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelungen Artikel 19 UNO-Pakt II und Artikel 19 AEMR.

Beder und von

Die Bestimmung konkretisiert zudem die Tragweite der Kommunikationsmenschenrechte für Menschen mit Behinderungen und unterstreicht, dass in diesem Kontext die Bereitstellung von Informationen in einer Weise, die sie auch für Menschen mit Behinderung zugänglich und damit erst nutzbar macht, eine unabdingbare Voraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsäusserung und Meinungsfreiheit darstellt.

Die Vertragsstaaten sind nach Artikel 21 verpflichtet, geeignete Massnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Meinungsäusserung und Meinungsfreiheit gleichberechtigt mit anderen durch die von ihnen gewählten Formen der Kommunikation ausüben können. Buchstaben a­e zählen beispielhaft geeignete Massnahmen auf. So sollen Informationen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, rechtzeitig und ohne zusätzliche Kosten in zugänglichen Formaten und Technologien zur Verfügung gestellt werden. Die Verwendung von Gebärdensprache, Braille, ergänzenden oder alternativen Kommunikationsformen soll im Umgang mit Behörden akzeptiert und erleichtert werden. Private Rechtsträger sollen aufgefordert werden, Informationen und Dienstleistungen in Formaten zur Verfügung zu stellen, die für Menschen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar sind.

Massenmedien, einschliesslich Anbieter von Informationen über das Internet, sollen dazu aufgefordert werden, ihre Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten. Die Verwendung von Gebärdensprache soll anerkannt und gefördert werden.

76 77 78

Vgl. Art. 24 ff. des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung, UVG; SR 832.20 Vgl. Art. 42 ff. des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, IVG; SR 831.20 Vgl. Art. 43bis des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHVG, SR 831.10

697

Über den allgemeinen Schutz von Artikel 16 BV hinaus, der die Meinungs- und Informationsfreiheit schützt, sieht das BehiG für sämtliche staatlichen Dienstleistungen ­ und damit auch für Informations- und Kommunikationsdienstleistungen ­ ein Benachteiligungsverbot vor. Dienstleistungen, unter anderem auch Informations- und Kommunikationsdienstleistungen, sind im Rahmen der Verhältnismässigkeit so anzubieten, dass sie von Menschen mit Behinderungen in gleicher Weise in Anspruch genommen werden können wie von anderen Nutzerinnen und Nutzern. Dabei gilt, dass Dienstleistungen grundsätzlich ohne besonderen Anlass an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung anzupassen sind; das BehiG sieht in diesem Bereich keine Übergangsfristen vor. Artikel 14 BehiG sowie die Behindertengleichstellungsverordnung konkretisieren die allgemeinen Vorgaben für Dienstleistungen des Bundes. Sie halten fest, dass die Behörden im Verkehr mit der Bevölkerung Rücksicht auf die besonderen Anliegen von seh-, hör- und sprachbehinderten Personen Rücksicht nehmen (Art. 11 BehiV) und dass die im Internet angebotenen Dienstleistungen für Menschen mit Sehbehinderungen ohne erschwerende Bedingungen zugänglich sein müssen (Art. 10 BehiV; vgl. auch Art. 7 Abs. 3 RTVG und Art. 7 und 8 RTVV).

Art. 22

Achtung der Privatsphäre

Nach Artikel 22 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Privatsphäre. Nach Absatz 1 dürfen Menschen mit Behinderungen keinen willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in ihr Privatleben, ihre Familie, ihre Wohnung, ihren Schriftverkehr oder andere Arten der Kommunikation oder in ihre Ehre oder ihres Rufes ausgesetzt werden. Gegen rechtswidrige Eingriffe haben Menschen mit Behinderungen Anspruch auf rechtlichen Schutz. Artikel 22 findet sein Vorbild in Artikel 17 UNO-Pakt II und Artikel 12 AEMR.

Diese Regelungen zum Schutz der Privatsphäre sind für die Situation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert worden, und zwar im Hinblick auf den Schutz vor Eingriffen in andere Arten der Kommunikation und die Feststellung, dass der Schutz der Privatsphäre unabhängig vom Aufenthaltsort oder der Wohnform, in der Menschen mit Behinderungen leben, gilt. Weiterhin wurde ergänzend aufgenommen, dass die Vertragsstaaten nach Absatz 2 verpflichtet sind, die Vertraulichkeit von Informationen über die Person, die Gesundheit oder die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen zu schützen.

Nach dem geltenden schweizerischen Recht ist der Schutz der Privatsphäre auf verfassungsrechtlicher Ebene durch Artikel 13 BV umfassend gewährleistet. Strafrechtlich ist das Rechtsgut der Ehre durch die Artikel 173­178 und der persönliche Lebens- und Geheimbereich durch die Art. 179­179novies StGB geschützt.

Art. 23

Achtung der Wohnung und der Familie

Erfahrungsgemäss prägen Vorurteile, nicht zuletzt eugenische Vorstellungen, den Umgang mit den Themen Ehe und Familienleben von Menschen mit Behinderungen. Eheverbote, Unterbindung von sexuellen Kontakten, zwangsweise Sterilisationen wie auch die Trennung von Eltern und Kindern sind Praktiken, die nach wie vor weit verbreitet sind.

698

Artikel 23 setzt hier an und verpflichtet die Vertragsstaaten, wirksame und geeignete Massnahmen zu treffen, um die Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft zu beseitigen. Damit soll gewährleistet sein, dass Menschen mit Behinderungen die in Artikel 23 genannten Rechte gleichberechtigt mit anderen in Anspruch nehmen können.

Absatz 1 Buchstabe a schützt das Recht von Menschen mit Behinderungen, eine Ehe zu schliessen und eine Familie zu gründen. Diese Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelungen von Artikel 23 Absatz 2 UNO-Pakt II und Artikel 16 Ziffer 1 AEMR. Absatz 1 Buchstabe b schützt das Recht von Menschen mit Behinderungen auf eine freie und verantwortungsbewusste Entscheidung darüber, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen möchten. Zur Verwirklichung dieser Entscheidungsfreiheit zählt das Recht auf Zugang zu altersgemässer Information und Aufklärung. Die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte sollen zur Verfügung gestellt werden. Die Vertragsstaaten gewährleisten nach Absatz 1 Buchstabe c, dass Menschen mit Behinderungen, einschliesslich Kinder, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten. Weiterhin sollen nach Absatz 2 Rechte und Pflichten von Menschen mit Behinderungen in familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gewahrt werden, wobei das Wohl des Kindes ausschlaggebend ist.

Dazu nennt das Übereinkommen Fragen der Vormundschaft, Beistandschaft, Personen- und Vermögenssorge und der Adoption von Kindern. Die Vertragsstaaten unterstützen Menschen mit Behinderungen angemessen in der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung. Absatz 3 gewährleistet die gleichen Rechte von Kindern mit Behinderungen in Bezug auf das Familienleben. Dafür sollen die Vertragsstaaten unter anderem frühzeitig Informationen, Dienste, und Unterstützung zur Verfügung stellen, um zu vermeiden, dass Kinder vernachlässigt oder ausgegrenzt werden.

Absatz 4 verbietet, dass eine Behinderung des Kindes oder der Eltern ein Grund für eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist, sofern sie nicht auf einer nachprüfbaren gerichtlichen Entscheidung der zuständigen Behörden zum Wohle des Kindes beruht. Absatz 5 enthält den Grundsatz der familiären oder familienähnlichen
Betreuung: Sofern nahe Familienangehörige nicht für das Kind sorgen können, soll mit allen Anstrengungen die Betreuung innerhalb der weiteren Familie gesichert werden. Wenn das nicht möglich ist, soll die Betreuung innerhalb der Gemeinschaft in einem familienähnlichen Umfeld gewährleistet werden.

In der Schweiz stehen nach Artikel 14 BV Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Noch bis 1998 waren Geisteskranke in keinem Fall ehefähig;79 seit der Revision des Eherechts bildet neben der Mündigkeit die Urteilsfähigkeit Voraussetzung für die Ehefähigkeit.

Lücken im Schutz vor Zwangssterilisationen, die bis in die 1980er-Jahre zu heute als missbräuchlich erscheinenden Eingriffen führten, sind mit dem Sterilisationsgesetz vom 17. Dezember 200480 geschlossen worden. Das Gesetz regelt die Voraussetzungen, unter denen ein medizinischer Eingriff zur Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit einer Person von nun an zulässig ist. Die Sterilisation dauernd urteilsunfähiger Personen ist nur ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen zulässig; 79

80

Vgl. dazu die Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Personenstand, Eheschliessung, Scheidung, Kindesrecht, Verwandtenunterstützungspflicht, Heimstätten, Vormundschaft und Ehevermittlung), BBl 1996 I 1, hier 62.

SR 211.111.1

699

zudem muss die Vormundschaftsbehörde ihre Zustimmung erteilt haben. Die Sterilisation von mündigen, urteilsfähigen Personen darf nur vorgenommen werden, wenn diese über den Ablauf und die Folgen des Eingriffs umfassend aufgeklärt wurden und diesem frei und schriftlich zugestimmt haben.

Art. 24

Bildung

Dem Recht auf Bildung kommt im Übereinkommen eine besondere Bedeutung zu.

Es erfasst nicht allein Kinder, sondern auch Erwachsene, und ist darauf ausgerichtet, Menschen mit Behinderungen ein selbstverantwortliches Leben, die Entfaltung ihres Potentials und die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Artikel 24 legt daher den Akzent auf gleichwertige, die besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigende Bildungsangebote und auf ein gemeinsames Lernen von Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Wie in den entsprechenden Garantien des UNO-Pakts I (Art. 13 Abs. 1 und 2 Bst. a ) und der Kinderrechtskonvention (Art. 23, 28 Abs. 1 Bst. a und 29 Abs. 1 Bst. a) kommt auch im Übereinkommen dem Recht auf einen unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht (Abs. 2 Bst. a) im Rahmen des Rechts auf Bildung für Menschen mit Behinderungen ein zentraler Stellenwert zu.

Bei der Verwirklichung des Rechts auf Bildung stellen die Staaten nach dem Wortlaut der Konvention mit angemessenen Massnahmen (Pädagogik, Zugänglichkeit, Kommunikationsmittel, Erleichterungen usw.) sicher: ­

dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden (Bst. a);

­

dass Kinder nicht aufgrund ihrer Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Sekundarschulunterricht ausgeschlossen werden (Bst. a);

­

dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit andern Menschen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Grundschulunterricht und einer entsprechenden Sekundarschulbildung haben (Bst. b);

­

dass auf persönliche Bedürfnisse Rücksicht genommen wird (Bst. c): Das behinderte Kind hat bereits aufgrund des schweizerischen Rechts einen direkt justiziablen Anspruch darauf, dass es einen ausreichenden Grundschulunterricht erhält, der seinen besonderen Bedürfnissen entspricht;

­

dass behinderte Menschen die notwendige Unterstützung im Rahmen des allgemeinen Bildungssystems erhalten: Ziel dieser Bemühungen muss es sein, ein inklusives Bildungsangebot zu schaffen, welches die Grundlage für eine maximale/optimale schulische und soziale Entwicklung bietet («consistent with the full goal of inclusion», Bst. d und e).

Das Recht auf Bildung umfasst sowohl direkt anwendbare als auch programmatische Verpflichtungen. Direkt anwendbar ist das Verbot der Diskriminierung beim Genuss des Rechts auf Bildung (Abs. 1). Stellt der Staat Bildungsangebote zur Verfügung, muss er den Zugang zu diesen diskriminierungsfrei gestalten und darf niemanden aus diskriminierenden Gründen von der Nutzung ausschliessen (vgl. Art. 2 Abs. 3 und 4 BRK ). Darüber hinaus ist Artikel 24 jedoch grundsätzlich programmatischer Natur: Er konkretisiert, an welchen Grundsätzen sich das Bildungssystem auszurich-

700

ten hat, damit das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen schrittweise realisiert und Chancengleichheit erreicht werden kann.

Für das Schulwesen sind in der Schweiz grundsätzlich die Kantone zuständig (Art. 62 Abs. 1 BV). Bei der Regelung des Grundschulwesens steht diesen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Sie müssen jedoch eine den individuellen Fähigkeiten und der Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen entsprechende, unentgeltliche Grundschulausbildung sicherstellen (Art. 19 und 62 Abs. 2 BV) und das Diskriminierungsverbot von Artikel 8 Absatz 2 BV beachten. Der Unterricht muss für die und den Einzelnen angemessen und geeignet sein und genügen, um die Schülerinnen und Schüler angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten81.

Für die meisten Kinder mit besonderem Bildungsbedarf erfolgen angemessene Massnahmen im Rahmen der heilpädagogischen Früherziehung im familiären Kontext oder der Regelschule während der obligatorischen Schulzeit. Erweisen sich solche Massnahmen als nicht oder nicht mehr genügend, können von der zuständigen Schulbehörde ­ nach Durchführung eines standardisierten Abklärungsverfahrens zur Ermittlung des individuellen Bedarfs ­ weitergehende Massnahmen angeordnet werden. Zur Koordination dieser Prozesse haben zahlreiche Kantone spezifische Institutionen eingerichtet. Gemäss der Praxis des Bundesgerichts muss eine behinderungsbedingte Nichteinschulung in die Regelschule qualifiziert begründet werden.

Massgebend ist stets das Wohl des behinderten Kindes im Rahmen des effektiv Möglichen, wobei den Kantonen im Rahmen dieser Grundsätze ein erheblicher Gestaltungsspielraum zukommt.

Über das direkt anwendbare Diskriminierungsverbot hinaus ergibt sich eine Präferenz für die integrierte Sonderschulung aus dem kantonalen Recht wie auch aus Artikel 8 Absatz 2 BV und Artikel 20 Absatz 2 BehiG. Danach sorgen die Kantone dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist (Art. 20 Abs. 1 BehiG). Sie fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule (Art. 20 Abs. 2 BehiG). Insbesondere sorgen sie dafür, dass wahrnehmungs-
oder artikulationsbehinderte Kinder und Jugendliche und ihnen besonders nahestehende Personen eine auf die Behinderung abgestimmte Kommunikationstechnik erlernen können (Art. 20 Abs. 3 BehiG). Diese Bestimmung konkretisiert die Grundsätze der Artikel 19 und 62 Absatz 3 BV, geht aber kaum über sie hinaus.

Den Kantonen kommt bei der Ausgestaltung der Schule, wie bereits ausgeführt, ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu82. Das gilt auch für die Sonderschulung. Der verfassungsrechtliche Anspruch umfasst ein angemessenes, erfahrungsgemäss ausreichendes Bildungsangebot an öffentlichen Schulen. Den Zielsetzungen des BehiG wird heute in den meisten Kantonen durch eine mit angemessenen Fördermassnahmen begleitete Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen in die Regelschule Rechnung getragen, welche den Kontakt zu andern Gleichaltrigen erleichtern soll. Ein darüber hinausgehendes Mass an individueller Betreuung, das theoretisch immer möglich wäre, kann, wie das Bundesgericht in seiner ständigen

81 82

Vgl. etwa BGE 133 I 156 E. 3.1 S. 158 f.; 129 I 35 E. 7.3 S. 38 f.

BGE 133 I 156 E. 3.1 S. 158 f.; 130 I 352 E. 3.2 S. 354.

701

Praxis ausführt, mit Rücksicht auf das staatliche Leistungsvermögen nicht unmittelbar gefordert werden83.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Übereinkommen im Bereich der obligatorischen Schule von den Kantonen nicht mehr verlangt als die erwähnten Garantien der Bundesverfassung und als Artikel 20 BehiG: Das Übereinkommen zielt ebenfalls primär auf die Integration von behinderten Kindern, was aber nicht bedeutet, dass nicht mehr auf die spezifischen Interessen des einzelnen Kindes im Rahmen einer Sonderschule eingegangen werden kann. Im Rahmen der aufgeführten Grundsätze haben behinderte Kinder, welche auf eine besondere schulische Infrastruktur angewiesen sind, auch weiterhin einen Anspruch darauf. Zentral ist das Wohl des Kindes.

Aus den Materialien zu den Übereinkommensentwürfen geht hervor, dass mit Artikel 24 Absatz 2 Buchstabe b keine Pflicht zum Besuch der Regelschule geschaffen werden soll, wenn dies mit den Bedürfnissen der Kinder nicht vereinbar ist. Die Konvention statuiert ebenso wenig wie Artikel 28 KRK ein absolutes Recht der Eltern, die Schulform für ihre Kinder auszuwählen; die Wahl der Eltern steht zudem unter dem Vorbehalt des Kindesinteresses (Art. 3 KRK).

In zahlreichen Kantonen werden denn auch seit einigen Jahren Kinder mit Behinderungen in die Regelschule integriert, wenn sie dort mit sonderpädagogischer Unterstützung ihren Bedürfnissen entsprechend gefördert werden können. Im Oktober 2007 hat die EDK-Plenarversammlung eine neue Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (Sonderpädagogik-Konkordat) verabschiedet. Damit wurde erstmals ein gesamtschweizerischer Rahmen für die relevantesten Massnahmen im sonderpädagogischen Bereich erarbeitet. Die wichtigsten Grundsätze dieses Konkordats sind: ­

Die Sonderpädagogik ist Teil des öffentlichen Bildungsauftrags.

­

Alle in der Schweiz wohnhaften Kinder und Jugendlichen (ab Geburt bis zum vollendeten 20. Altersjahr) mit besonderem Bildungsbedarf haben ein Anrecht auf angemessene sonderpädagogische Massnahmen.

­

Die Unterscheidung zwischen IV-Versicherten und Nicht-IV-Versicherten entfällt.

­

Nach Möglichkeit sollen im sonderpädagogischen Bereich ­ unter Beachtung der Verhältnismässigkeit ­ integrierende Massnahmen den separierenden vorgezogen werden, gemäss der Vorgabe im BehiG.

­

Das Recht auf Unentgeltlichkeit ist ­ wie bei der obligatorischen Schule ­ gewährleistet.

­

Die Erziehungsberechtigten werden in den Prozess zur Anordnung der Massnahmen einbezogen.

Im Konkordat wird das Grundangebot im sonderpädagogischen Bereich festgelegt, das jeder Vereinbarungskanton selber oder in Zusammenarbeit mit anderen Kantonen anbieten muss. Dieses Angebot beinhaltet einerseits Beratung und Unterstützung, heilpädagogische Früherziehung, Logopädie und Psychomotorik, andererseits sonderpädagogische Massnahmen in einer Regelschule oder Sonderschule. Hinzu kommt bedarfsweise die Möglichkeit einer Betreuung in einer Tagesstruktur oder einer stationären Unterbringung in einer sonderpädagogischen Einrichtung. Die 83

702

Urteil 2C_971/2011 vom 13. April 2012, E. 3.2, E. 4.6.2; BGE 130 I 352 E. 3.3 S. 354 f.; 129 I 12 E. 6.4 S. 20.

Kantone organisieren im Weiteren die notwendigen Transporte und übernehmen deren Kosten für Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung den Weg zur Schule oder Therapiestelle nicht selbstständig bewältigen können. Dieses Leistungsangebot deckt sich mit den Vorgaben des Übereinkommens.

Auch im Bereich der nachobligatorischen Schulzeit sowie in der Berufsbildung besteht nach heutiger Rechtslage in der Schweiz die Pflicht zur Ermöglichung des Zugangs zu schulischen Einrichtungen und zur Anpassung an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen (insbesondere Art. 8 Abs. 2 BV sowie für die Bildungsangebote des Bundes Art. 2 Abs. 5 und 3 Bst. f BehiG). Auch hier können Anpassungen an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingefordert werden (exemplarisch Art. 2 Abs. 5 BehiG sowie allgemein das Urteil des Bundesgerichts 2D_7/2011 (2011) E3.2.). Dies entspricht Artikel 24 Absatz 5 BRK.

Auf Bundesebene sehen im Bereich der Berufsbildung das Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 200284 (BBG) und die dazugehörige Berufsbildungsverordnung vom 19. November 200385 (BBV) verschiedene Massnahmen vor, die Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Berufsbildung ermöglichen wie Stützkurse, Verlängerung der Lehrzeit, eine fachkundige individuelle Begleitung und Prüfungserleichterungen (Art. 18 BBG und Art. 35 BBV). Zudem besteht mit den zweijährigen Grundbildungen ein Ausbildungsgefäss, welches zu einfacheren beruflichen Qualifikationen führt. Dieses trägt den individuellen Voraussetzungen der Lernenden mit einem besonders differenzierten Lernangebot und angepasster Didaktik Rechnung (Art. 10 BBV). Die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung ist verpflichtet, den besonderen Bedürfnissen von Behinderten Rechnung zu tragen (Art. 57 BBV). Nicht zuletzt sieht auch die Invalidenversicherung Massnahmen im Bereich der Berufsbildung vor: Personen, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, haben Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten der Person entspricht. Auch unterstützt die Invalidenversicherung eine berufliche Weiterausbildung und eine Umschulung, sofern diese Massnahmen geeignet und angemessen sind und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten
oder verbessert werden kann (Art. 16 und 17 IVG).

Die Grundziele der schweizerischen Bildungsverfassung, insbesondere Chancengleichheit, Kindeswohl und Integration, weisen einen intensiven Bezug zur Behindertengleichstellung auf. Mit der Umsetzung der NFA und der neuen Bildungsverfassung sind weite Teile des Bildungsbereichs gerade auf kantonaler Ebene stark im Umbau; diese Ausgangslage eröffnet die Chance, Systeme zu überdenken, integrative Strukturen aufzubauen und die Koordination zu verbessern und damit die auch vom Übereinkommen vorgesehene schrittweise Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems anzugehen.

Art. 25

Gesundheit

In Artikel 25 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf den Genuss des erreichbaren Höchstmasses an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, durch geeignete Massnahmen zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen 84 85

SR 412.10 SR 412.101

703

Zugang haben zu Gesundheitsdiensten, einschliesslich gesundheitlicher Rehabilitation, die die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern berücksichtigen. In den Buchstaben a­f zählt das Übereinkommen beispielhaft zu treffende Massnahmen auf. Die Vertragsstaaten stellen wie anderen Menschen auch den Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung, einschliesslich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens. Weiterhin bieten sie Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden, einschliesslich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen. Gesundheitsleistungen sollen so gemeindenah wie möglich angeboten werden, auch in ländlichen Gebieten.

Angehörige der Gesundheitsberufe sollen Menschen mit Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen angedeihen lassen, und zwar auf der Grundlage der freien und informierten Einwilligung. Die Vertragsstaaten verbieten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung. Sie verbieten weiterhin die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder -leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund einer Behinderung.

Diese Regelungen wiederholen und bekräftigen die Regelungen des Artikels 12 UNO-Pakt I, des Artikels 24 KRK und des Artikels 12 CEDAW. Aus Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe b BV geht hervor, dass Bund und Kantone sich ­ zusätzlich zu individueller Verantwortlichkeit und Privatinitiative ­ verpflichten, dass jedem Menschen die notwendige Gesundheitsversorgung zuteil wird.

In genereller Weise verpflichtet bereits das BehiG zum diskriminierungsfreien Zugang zu angebotenen Dienstleistungen ohne Benachteiligungen: Dadurch sind auch Dienstleistungen im Gesundheitsbereich erfasst. Die Verpflichtung, die Leistungen im Gesundheitswesen diskriminierungsfrei zu erbringen, bindet als Folge der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen jedoch nur den Bund und Private, während Kantone und
Gemeinden gemäss Artikel 8 Absatz 2 BV dazu verpflichtet sind.

Auf gesetzlicher Ebene sieht das Bundesgesetz vom 18. März 199486 über die Krankenversicherung (KVG) vor, dass die gesamte in der Schweiz wohnhafte Bevölkerung obligatorisch im Rahmen der Krankenversicherung für die im Gesetz definierte Krankenpflege (insbesondere ambulante Behandlung und Spitalpflege) versichert ist. Darüber hinaus setzt sich auf Ebene des Bundes das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Zusammenarbeit mit Bundesstellen, Kantonen und weiteren Partnern im In- und Ausland für die Weiterentwicklung, Begleitung, Umsetzung und Evaluation einer kohärenten schweizerischen Gesundheitspolitik ein und trägt dabei zur Realisierung der Vorgaben von Artikel 25 BRK bei (so z. B. im Bereich der Früherkennung und Frühintervention bei gefährdeten Kindern und Jugendlichen mit Fokus auf Suchtfragen).

86

704

SR 832.10

Art. 26

Habilitation und Rehabilitation

Artikel 26 legt den Vertragsstaaten die Pflicht auf, umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme zu organisieren, zu stärken und zu erweitern, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste. Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt werden, ein Höchstmass an Unabhängigkeit im Sinne von Selbstbestimmung, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Dieses Ziel soll auch durch die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen (Peer Support) gefördert werden. Leistungen und Programme sollen im frühestmöglichen Stadium einsetzen und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen.

Weiterhin sollen die Leistungen und Programme die Einbeziehung in und die Teilhabe an der Gesellschaft unterstützen, wohnortnah zur Verfügung stehen und auf Freiwilligkeit beruhen. Die Vertragsstaaten fördern die Entwicklung der Aus- und Fortbildung der Fachkräfte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Habilitationsund Rehabilitationsdiensten. Ebenso fördern die Vertragsstaaten die Verfügbarkeit, die Kenntnis und die Verwendung unterstützender Geräte und Technologien, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind.

Im schweizerischen Recht kann in dieser Beziehung auf die verschiedenen, in letzter Zeit zudem verstärkt auf die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen ausgerichteten Leistungen der Sozialversicherungen verwiesen werden. Insbesondere die Arbeitslosenversicherung bietet arbeitsmarktliche Massnahmen an, die die berufliche Wiedereingliederung von Versicherten fördern sollen, die schwer zu vermitteln sind. Und die Invalidenversicherung hat mit der 5. und 6. IVG-Revision ihre Eingliederungsorientierung weiter verstärkt. Nach dem Grundsatz Eingliederung vor Rente soll mithilfe von Massnahmen eine Invalidität verhindert, vermindert oder behoben werden. Auch sollen verstärkt Bezügerinnen und Bezüger einer IV-Rente schrittweise an den ersten Arbeitsmarkt geführt werden (Eingliederung statt Rente).

Art. 27

Arbeit und Beschäftigung

Das in Artikel 27 enthaltene Recht auf Arbeit und Beschäftigung soll Menschen mit Behinderungen einen diskriminierungsfreien Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen, damit ihre wirtschaftliche Existenz gesichert werden kann, sie vor Armut geschützt werden, nicht in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten und ihre Persönlichkeitsrechte wahrnehmen können. Dieses Recht schliesst die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Durch geeignete Schritte (appropriate steps), einschliesslich Erlass von Rechtsvorschriften, sollen die Vertragsstaaten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit sichern und fördern. Die Vertragsstaaten anerkennen damit das grundsätzliche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Zugang zu Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen. Dieser Regelungsgehalt wiederholt die Vorgaben von Artikel 6 Absatz 1 UNO-Pakt I, Artikel 11 CEDAW und Artikel 23 Ziffer 1 AEMR und bekräftigt sie für Menschen mit Behinderungen. Artikel 27 beinhaltet keinen eigenständigen Anspruch auf einen Arbeitsplatz.

705

Das Übereinkommen enthält in Absatz 1 Buchstaben a­k einen nicht abschliessenden Katalog von möglichen Massnahmen der Vertragsstaaten im Bereich des Erwerbslebens. Eine Vielzahl dieser Massnahmen greift Regelungen aus anderen zentralen Menschenrechtsverträgen auf und bekräftigt sie für Menschen mit Behinderungen.

­

Verbot der Diskriminierung: Buchstabe a enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot von Menschen mit Behinderungen in allen Angelegenheiten von Beschäftigung und Beruf.

­

Arbeitsbedingungen: Die Vertragsstaaten werden aufgefordert, Menschen mit Behinderungen in ihren Rechten am Arbeitsplatz zu schützen (Schutzpflicht). Dazu zählen u.a. gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschliesslich gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, sowie sichere und gesunde Arbeitsbedingungen (Bst. b). Ergänzend zu Artikel 7 Buchstaben a und b UNO-Pakt I und Artikel 23 Ziffern 1 und 2 AEMR nimmt die BRK hier den Aspekt der Chancengleichheit sowie den Schutz vor Belästigungen und Abhilfe bei Missständen auf. Ferner sollen Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen ihre Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte ausüben können (Bst. c; vgl. Art. 8 UNO-Pakt I und Art. 23 Ziff. 4 AEMR).

­

Angemessene Vorkehrungen: Die Vertragsstaaten haben durch gesetzgeberische und andere Massnahmen sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden (Bst. i).

­

Das Übereinkommen enthält diverse Vorgaben zur Förderung der Erwerbstätigkeit: Gefördert werden sollen etwa der Zugang zu Beratung, Stellenvermittlung sowie Berufsbildung (Bst. d; vgl. Art. 6 Abs. 2 UNO-Pakt I), die Möglichkeiten für eine selbstständige und unselbstständige Erwerbstätigkeit (Bst. e und f) und die Beschäftigung im öffentlichen und privaten Sektor (Bst. g und h). Ferner sollen das Sammeln von Arbeitserfahrung (Bst. j), die berufliche Rehabilitation, der Erhalt des Arbeitsplatzes und der Wiedereinstieg (Bst. k) gefördert werden.

Absatz 2 verlangt, dass die Staaten sicherstellen müssen, dass Menschen mit Behinderungen nicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten und sie gleichberechtigt mit anderen vor Zwangs- und Pflichtarbeit geschützt werden. Diese Vorschrift wiederholt und bekräftigt die Regelungen von Artikel 8 UNO-Pakt II, Artikel 6 UNO-Pakt I und Artikel 4 AEMR. Ebenfalls relevant ist in diesem Zusammenhang das Übereinkommen Nr. 29 vom 28. Juni 193087 über Zwangs- und Pflichtarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation, das die Schweiz ratifiziert hat.

Die Schweiz setzt bei der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen in erster Linie und auch im internationalen Vergleich erfolgreich auf die Erhaltung und Förderung der individuellen Arbeitsmarktfähigkeit sowie auf ein gerade in den letzten Jahren noch ausgebautes Set von Massnahmen. So wurde die Invalidenversicherung in den letzten Jahren zweimal revidiert, hauptsächlich um sicherzustellen, dass der IV-Grundsatz Eingliederung vor Rente auch tatsächlich eingehalten wird.

Mit der fünften IV-Revision88 wurden einerseits Massnahmen zur Früherfassung 87 88

706

SR 0.822.713.9 Inkrafttreten am 1. Januar 2008.

und Frühintervention eingeführt, mit denen die Versicherten und die Arbeitgeber bei Fragen zu Weiterbeschäftigung, Wiedereingliederung und beruflicher Eingliederung rasch, unkompliziert und professionell unterstützt werden können; u andererseits wurden Integrationsmassnahmen geschaffen, mit denen Versicherte, die stark eingeschränkt sind und deshalb noch nicht in den normalen Arbeitsmarkt eingegliedert werden können, wieder ihre Grundfähigkeiten einüben und sich für eine anschliessende berufliche Eingliederung vorbereiten können. Das erste Massnahmenpaket der sechsten IV-Revision (Revision 6a)89 legt den Schwerpunkt auf die berufliche Wiedereingliederung von Rentenbezügerinnen und -bezügern. Die Arbeitslosenversicherung und die Unfallversicherung bieten unter anderem ebenfalls einen Massnahmenkatalog an, mit dem die Versicherten ihre Chancen auf die (Wieder-) Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhöhen können. Schliesslich sehen die Unfallversicherung genau so wie die Invaliden- und die Krankenversicherung die Finanzierung von Hilfsmitteln und/oder die Anpassung des Arbeitsplatzes vor und tragen so ebenfalls zur Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen bei.

Ergänzt wird diese Schiene der beruflichen Integration einerseits durch das Behindertengleichstellungsrecht, das mit Verbesserung von allgemeinen Rahmenbedingungen (Zugänglichkeit, Inanspruchnahme des öffentlichen Verkehrs) gerade auch die Erleichterung der Ausübung eines Berufs bezweckt, und andererseits durch Bestimmungen des Fachhochschulgesetzes und des Berufsbildungsgesetzes, die ebenfalls der Förderung der beruflichen Integration und Beschäftigungsmöglichkeiten dienen, wie sie die Konvention verlangt.

Im internationalen Vergleich weniger ausgeprägt ist in der Schweiz der Schutz vor Diskriminierung. Zwar findet Artikel 8 Absatz. 2 BV auch auf staatliche Arbeitsverhältnisse Anwendung und durch die Verpflichtung von Artikel 35 Absatz 1 BV, Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zum Tragen zu bringen, indirekt auch im Verhältnis zwischen Privaten. Anders als das Gleichstellungsgesetz (GlG) ist im BehiG jedoch kein spezifisches Diskriminierungsverbot in Beschäftigung und Beruf verankert. Dabei ist ferner zu beachten, dass das BehiG nur die Arbeitsverhältnisse nach Bundespersonalgesetz erfasst, während der Bereich der privaten
Arbeitsverhältnisse und jene der Kantone und Gemeinden ausgeklammert wurden.

Auch das Arbeitsvertragsrecht sieht keinen expliziten Schutz vor Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung vor. Als eine der zwingenden Bestimmungen im Arbeitsrecht gilt jedoch die Pflicht des Arbeitgebers, die Persönlichkeit der Arbeitnehmer zu schützen (Art. 328 Abs. 1 OR). Die Arbeitgeber sind verpflichtet, präventiv und aktuell die Persönlichkeit jedes Arbeitnehmers und jeder Arbeitnehmerin zu schützen und im Rahmen des Arbeitsverhältnisses entsprechende Eingriffe von Vorgesetzten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder Dritten (Kundinnen, Lieferanten) abzuwehren. Zu den Persönlichkeitsgütern gehören insbesondere Leben und Gesundheit, körperliche und geistige Integrität, persönliche und berufliche Ehre, Stellung und Ansehen im Betrieb, Geheimsphäre, die Freiheit der persönlichen Meinungsäusserung und die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisation. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, Verhaltensweisen, welche gegenüber Menschen mit Behinderungen als verletzend, abwertend und ausgrenzend wirken, entgegenzutreten und zu unterbinden.

89

Inkrafttreten am 1. Januar 2012.

707

Das geltende Arbeitsvertragsrecht schützt Menschen mit Behinderungen in privaten Arbeitsverhältnissen somit einerseits durch die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers in Artikel 328 OR, aus der auch ein Gleichstellungsgebot abgeleitet wird, andererseits durch den Schutz in Artikel 336 Absatz 1 Buchstabe a OR vor missbräuchlicher Kündigung aufgrund einer Behinderung. Damit kommt es den Vorgaben von Artikel 27 Absatz 1 Buchstabe a des Übereinkommens insoweit nach, als es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderungen gegenüber ihren privaten Arbeitgebern punktuell vor Diskriminierung schützt. Insbesondere schützt das Arbeitsvertragsrecht nicht vor Diskriminierung bei der Anstellung, d.h. beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Vielmehr wird in diesem Bereich der Abschlussfreiheit bzw. der Vertragsfreiheit beider Vertragsparteien besondere Berücksichtigung geschenkt und als wesentlicher Teil der persönlichen Freiheit betrachtet90: Sie umfasst neben der Freiheit zur Gestaltung des Vertragsinhaltes innerhalb der gesetzlichen Schranken auch die Abschlussfreiheit, also die Freiheit, die andere Vertragspartei auszuwählen. Im Falle einer Nichteinstellung stehen dem oder der Betroffenen nach geltendem Recht einzig eine schriftliche Begründung zu.

Wie der Bundesrat bereits im erläuternden Bericht für das Vernehmlassungsverfahren (Ziff. 3.2.27) festgehalten hat und wie es auch in der schweizerischen Lehre teilweise vertreten wird91, trifft es zu, dass die gegenwärtigen Regelungen im Bereich der privaten Arbeitsverhältnisse, namentlich das Fehlen eines Schutzes vor Diskriminierung bei der Anstellung, den präzisen Vorgaben des Übereinkommens noch nicht in allen Punkten entsprechen mag. Der Bundesrat ist jedoch der Ansicht, dass mit der gegenwärtigen Regelung ein ausreichender Schutz vor Diskriminierung im Sinne des Übereinkommens gewährleistet ist. Diese Position wird der Bundesrat auch im ersten Schweizer Staatenbericht und bei dessen Präsentation vor dem zuständigen Vertragsorgan vertreten (vgl. die Erläuterungen zu Art. 35 und 36 BRK).

Das Arbeitsgesetz vom 13. März 196492 und die Verordnung 3 vom 18. August 199393 zum Arbeitsgesetz gewährleisten die in Artikel 27 BRK vorgesehenen Anforderungen an sichere und gesunde Arbeitsbedingungen. Nicht spezifisch vorgesehen sind Bestimmungen über die «angemessenen
Vorkehrungen» am Arbeitsplatz, mit welchen die Arbeitgeber den spezifischen Bedürfnissen und Risiken von Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen sollen. Einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen leisten darüber hinaus auch die Sozialversicherungen (beispielsweise die Unfallversicherung). Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich eine Präzisierung dieser «angemessenen Vorkehrungen» erübrigt, da die zu treffenden Massnahmen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die konkrete Person zu beziehen sind.

Aus dem Übereinkommen ergibt sich keine Pflicht zur Einführung von Quoten, welche private Unternehmen verpflichtet würden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zu reservieren. Dies deckt sich mit der schweizerischen Rechtsordnung und der politischen Überzeugung, wie sie letztmals am 16. Dezember 2010 durch den Nationalrat im Rahmen der

90 91 92 93

708

Vgl. Botschaft zum BehiG BBl 2001 1715, hier 1829.

Kälin et al., Gutachten (Fn. 20), S. 127; Kurt Pärli, Vertragsfreiheit, Gleichbehandlung und Diskriminierung im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, Bern 2009, S. 179.

SR 822.11 SR 822.113

6. IV-Revision mit der klaren Ablehnung solcher Quoten zum Ausdruck gebracht worden ist94.

Art. 28

Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz

In Absatz 1 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und ihre Familien sowie die stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, zur Verwirklichung dieses Rechts geeignete Schritte zu unternehmen. Diese Regelungen wiederholen und bekräftigen die Regelungen von Artikel 11 Absatz 1 UNOPakt I und Artikel 25 Ziffer 1 AEMR.

In Absatz 2 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf sozialen Schutz. Grundlagen dieser Vorschrift sind Artikel 9 UNO-Pakt I und Artikel 22 AEMR. Absatz 2 verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Massnahmen zum Schutz und zur Förderung des Rechts auf sozialen Schutz zu unternehmen. Dafür zählt Absatz 2 Buchstaben a­e beispielhaft Massnahmen auf, die in erster Linie darauf zielen, den diskriminierungsfreien Zugang zu Leistungen und Programmen zu sichern. So sollen nach Buchstabe a der Zugang zur Versorgung mit sauberem Wasser und der Zugang zu geeigneten und erschwinglichen Dienstleistungen und anderen Hilfen im Zusammenhang mit einer Behinderung gewährleistet sein. Nach Buchstabe b soll der Zugang zu Programmen des sozialen Schutzes und der Armutsbekämpfung für Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen und Mädchen sowie ältere Menschen, gesichert sein. In Armut lebenden Menschen mit Behinderungen und ihren Familien soll nach Buchstabe c der Zugang zu staatlicher Hilfe bei behinderungsbedingten Aufwendungen, einschliesslich Schulung, Beratung, finanzieller Unterstützung und Kurzzeitbetreuung gewährleistet sein. Nach Buchstabe d soll der Zugang zu Programmen des sozialen Wohnungsbaus für Menschen mit Behinderungen gesichert sein. Der Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung soll nach Buchstabe e gewährleistet sein.

Artikel 12 BV garantiert jedem, der in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, einen Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Leben unerlässlich sind. Einen entscheidenden Beitrag zur Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards erbringen vor allem die Leistungen der Sozialversicherungen (Alters- und Hinterlassenenversicherung, Invalidenversicherung, berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, Krankenversicherung,
Unfallversicherung, Erwerbsersatz bei Mutterschaft, Arbeitslosenversicherung und Familienzulagen). Gerade für einkommensschwache Haushalte leisten die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung und die obligatorische Krankenversicherung, bei der einkommensschwachen Versicherten durch Subventionen der öffentlichen Hand Prämienreduktionen gewährt werden, eine wichtige Rolle95. Schliesslich haben Personen, die keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherungen haben oder ungenügende Leistungen der Sozialversicherungen erhalten, Anrecht auf Sozialhilfeleistungen.

94 95

AB NR 2010 2090 Vgl. auch die «Gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung», welche vom Bundesrat am 31. März 2010 in Erfüllung der Motion 06.3001 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats SGK-N verabschiedet wurde. Abrufbar unter: www.bsv.admin.ch/themen/gesellschaft/00074/01973/index.html?lang=de.

709

Art. 29

Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben

Nach Artikel 29 garantieren die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte und die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen beanspruchen zu können. Die Vertragsstaaten sind danach verpflichtet sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. Diese Regelung bezieht sich auf Artikel 25 UNO-Pakt II und Artikel 19 AEMR. Konkretisierend legt Artikel 29 bezüglich des aktiven Wahlrechts fest, dass Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen sowie zu handhaben sein müssen. Bei der Stimmabgabe sollen die Vertragsstaaten erlauben, dass sich Menschen mit Behinderungen im Bedarfsfall auf ihren Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer eigenen Wahl unterstützen lassen. Das passive Wahlrecht soll gegebenenfalls durch die Erleichterung der Nutzung unterstützender und neuer Technologien für die Wahrnehmung eines Amtes geschützt sein. Die Vertragsstaaten sollen sich nach Buchstabe b aktiv für ein Umfeld einsetzen, in dem Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten mitwirken können, und die Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen an öffentlichen Angelegenheiten begünstigen. Zur Mitwirkung zählt Buchstabe b die Beteiligung in Nichtregierungsorganisationen und in Parteien sowie die Bildung von und den Beitritt zu Organisationen von Menschen mit Behinderungen96.

Artikel 136 BV hält fest, dass die politischen Rechte in Bundessachen allen Schweizerinnen und Schweizern zustehen, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind. Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht ist eine Änderung des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 197697 über die politischen Rechte (BPR), in Kraft getreten, das die Tragweite von Artikel 136 auf den Ausschluss von den politischen Rechten auf Personen beschränkt, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft (Art. 398 ZGB) stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden (Art. 363 ZGB). Verschiedene Bestimmungen gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte tatsächlich wahrnehmen können. So sieht etwa Artikel 5 BPR vor, dass schreibunfähige
Stimmberechtigte den Stimm- oder Wahlzettel durch einen Stimmberechtigten ihrer Wahl nach ihren Anweisungen ausfüllen lassen können. Weitere Erleichterungen ergeben sich durch die briefliche Stimmabgabe und insbesondere durch das Projekt Vote électronique, der Stimmabgabe via Internet, die insbesondere für Bürgerinnen und Bürger mit Sehbehinderungen Erleichterungen verspricht. Schon heute wird zudem in den Kantonen in unterschiedlicher Weise die Abgabe von Stimm- und Wahlunterlagen in verschiedenen Formaten praktiziert. Der Einbezug von Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen in den politischen Prozess ist im schweizerischen System gewährleistet98.

96

97 98

710

Zum Stellenwert der Teilhabe am politischen Leben vgl. etwa Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte, Das Recht von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen und Menschen mit geistiger Behinderung auf politische Teilhabe, Wien 2011; Deutsches Institut für Menschenrechte, Gleiches Wahlrecht für alle?, Berlin 2011; Thematic study by the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights on participation in political and public life by persons with disabilities, Geneva 2011.

SR 161.1 Vgl. auch Art. 27a­27q der Verordnung vom 24. Mai 1978 über die politischen Rechte (SR 161.11).

Art. 30

Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

Artikel 30 widmet sich der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Kultur, Erholung und Freizeit. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten zur Ergreifung von Massnahmen, um Fernsehprogramme, Filme, Theatervorstellungen und andere kulturelle Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen und in einigen Bereichen angepasste Formate anzubieten. Mit accessible formats sind Übertragungen und Darstellungen gemeint, die auch für Menschen mit Behinderungen (insbesondere Sinnesbehinderungen) wahrnehmbar sind. Ob diese Angebote flächendeckend und für Menschen mit den unterschiedlichsten Arten von Behinderungen zugänglich gemacht werden müssen, geht aus dem Wortlaut des Übereinkommens nicht klar hervor.

In Absatz 1 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzuhaben. Diese Regelung wiederholt und bekräftigt die Regelungen von Artikel 15 UNO-Pakt I und Artikel 27 AEMR. Zur Verwirklichung dieses Rechts sind die Vertragsstaaten zu geeigneten Massnahmen verpflichtet. Diese sollen den Zugang zu kulturellen Materialien in zugänglichen Formaten, den Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten sowie den Zugang zu Orten kultureller Darbietung oder Dienstleistungen sicherstellen.

Nach Absatz 2 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, geeignete Massnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen.

Nach Absatz 3 unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um sicherzustellen, dass Gesetze zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu kulturellen Materialien darstellen (vgl. auch Art. 24c des Urheberrechtsgesetzes vom 9. Oktober 199299).

Nach Absatz 4 haben Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Menschen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Einheit, einschliesslich der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur.

Absatz 5 verpflichtet die Vertragsstaaten zu geeigneten Massnahmen, um die gleichberechtigte Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an
Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten zu ermöglichen. Die geeigneten Massnahmen zielen auf die Förderung in verschiedenen Bereichen. Zu diesen Bereichen zählen die Teilnahme am Breitensport, die Möglichkeit von Menschen mit Behinderungen, behinderungsspezifische Sport- und Erholungsaktivitäten auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen zu organisieren, die Sicherstellung des Zugang zu Sport-, Erholungs- und Tourismusstätten und des Zugang zu Dienstleistungen der Organisatoren von Erholungs-, Tourismus-, Freizeit- und Sportaktivitäten sowie die Sicherstellung, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern an Spiel-, Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten teilnehmen.

99

SR 231.1

711

Die Möglichkeit, selbstständig und gleichberechtigt am kulturellen Leben teilzunehmen, stellt eine zentrale Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit und für ein aktives und angeregtes Miteinander von Menschen dar. Wie das Übereinkommen misst daher auch das schweizerische Behindertengleichstellungsrecht der kulturellen Teilhabe eine grosse Bedeutung zu. In genereller Weise schaffen die Vorgaben des BehiG zur Zugänglichkeit des öffentlichen Raums wie auch diejenigen zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, zentrale Voraussetzungen, indem sie gewährleisten, dass auch kulturelle, sportliche und touristische Orte, Einrichtungen und Angebote Menschen mit Behinderungen offenstehen stehen (vgl. auch die Erläuterungen zu Art 9). Auf Bundesebene hat zudem die Zugänglichkeit der Angebote in Radio und Fernsehen für Sinnesbehinderte im Bundesgesetz über Radio und Fernsehen eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erfahren100.

Wie das laufende Schwerpunktprogramm des EBGB zeigt, laufen zudem in verschiedensten Bereichen Initiativen und Massnahmen, die auf die Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben ausgerichtet sind.

3.4 Art. 31

Massnahmen und Strukturen zur Umsetzung des Übereinkommens (Art. 31­40) Statistik und Datensammlung

Nach Artikel 31 verpflichten sich die Vertragsstaaten zur Sammlung geeigneter Informationen, einschliesslich statistischer Angaben und Forschungsdaten. Die Datensammlung soll es ermöglichen, politische Konzepte zur Durchführung des Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen. Zweck der Erhebung und Verwendung soll die Beurteilung der Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen und die Ermittlung der Hindernisse für die Ausübung der Rechte durch Menschen mit Behinderungen sein. Dabei muss die Sammlung und Aufbewahrung der Daten mit den gesetzlichen Schutzvorschriften, den international anerkannten Normen zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den ethischen Grundsätzen für die Sammlung und Nutzung statistischer Daten in Einklang stehen.

Die Statistiken sollen verbreitet und Menschen mit Behinderungen zugänglich gemacht werden.

Die rechtlichen Grundlagen einer Statistik zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen finden sich explizit in Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d des Bundesstatistikgesetzes vom 9. Oktober 1992101. Demnach dient die Bundesstatistik der «Beurteilung der Erfüllung des Verfassungsauftrages zur Gleichstellung (...) von Behinderten und Nichtbehinderten». Das Bundesamt für Statistik hat in Erfüllung dieses Auftrags auf der Grundlage der Daten, die gegenwärtig in den verschiedenen Bereichen der öffentlichen Statistik verfügbar sind, ein statistisches Basisangebot zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen entwickelt. Dieses soll die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz beschreiben und den Vergleich mit den Lebensbedingungen von nicht behinderten Menschen 100

Art. 7 Abs. 3 und 24 Abs. 3 RTVG; Art. 7 und 8 RTVV sowie Art. 16 Abs. 1bis Fernmeldegesetz (FMG, SR 784.10) sowie Art. 33 Fernmeldeverordnung (FDV, SR 784.101.1).

101 SR 431.01

712

ermöglichen. Bis Dezember 2008 ist ein erstes statistisches Angebot realisiert worden. Mittelfristig wird die Entwicklung eines erweiterten Indikatorsystems angestrebt, das eine Sozialberichterstattung (Social Reporting) über die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen und deren Entwicklung ermöglicht. Die Entwicklung dieser zweiten Etappe soll schrittweise erfolgen. Dabei müssen die nicht abgedeckten Bedürfnisse, die Verbesserungen im Bereich der Datengrundlagen und die Entwicklungen auf internationaler Ebene berücksichtigt werden.

Art. 32

Internationale Zusammenarbeit

Mit Artikel 32 anerkennen die Vertragsstaaten die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und ihrer Förderung zur Unterstützung einzelstaatlicher Anstrengungen zur Umsetzung des Übereinkommens. Die Vertragsstaaten treffen dafür geeignete und wirksame Massnahmen, sowohl zwischenstaatlich als auch, soweit angebracht, in Partnerschaft mit internationalen und regionalen Organisationen und der Zivilgesellschaft. Letzteres gilt insbesondere für Organisationen von Menschen mit Behinderungen. In Absatz 1 Buchstaben a­d werden geeignete Massnahmen aufgezählt. Nach Buchstabe a soll sichergestellt werden, dass die internationale Zusammenarbeit, einschliesslich Entwicklungsprogramme, Menschen mit Behinderungen einbezieht und für diese zugänglich ist. Der Aufbau von Kapazitäten soll nach Buchstabe b erleichtert und unterstützt werden. Dies kann etwa durch den Austausch und die Weitergabe von Informationen, Erfahrungen, Ausbildungsprogrammen und vorbildlichen Praktiken erfolgen. Die Forschungszusammenarbeit und der Zugang zu wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen soll nach Buchstabe c erleichtert werden. Soweit angebracht soll nach Buchstabe d technische und wirtschaftliche Hilfe geleistet werden. Unter anderem soll dafür der Zugang zu zugänglichen und unterstützenden Technologien, ihr Austausch und ihre Weitergabe erleichtert werden. Ausdrücklich legt Absatz 2 fest, dass die Anerkennung der Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und ihre Förderung durch die Vertragsstaaten nicht die Pflicht jedes Vertragsstaates berührt, seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zu erfüllen. Damit kann ein Vertragsstaat seine Pflicht zur Umsetzung des Übereinkommens nicht an die Vorbedingung einer internationalen Zusammenarbeit binden.

Rund 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern.

Sie sind in höherem Ausmass von Armut, Arbeitslosigkeit oder fehlendem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung betroffen als andere Menschen. Die einzelstaatliche Umsetzung des Übereinkommens stellt mithin auch einen wichtigen Beitrag zur Armutsreduzierung dar und somit zur Erreichung der international vereinbarten Millenniumsentwicklungsziele und der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen.

Die Schweiz unterstützt die Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele und fördert dabei die
Eigenanstrengungen in den Partnerländern. Diese Bemühungen beinhalten auch den Aufbau funktionstüchtiger Gesundheitssysteme. Sie engagiert sich insbesondere dafür, dass alle Menschen Zugang haben zu qualitativ guter Basisversorgung in der Gesundheitsförderung, Prävention, Behandlung und Rehabilitierung. Eng damit verknüpft ist der verbesserte Zugang zu Trinkwasser und Hygiene. Gestützt auf die Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit

713

2013­2016102 konzentriert die DEZA ihre Massnahmen auf einkommensschwache und besonders verletzbare Bevölkerungsgruppen und auf die Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- und Transitionsländern. Die zwischen 2006 und 2010 von der DEZA geleistete Unterstützung im Gesundheitsbereich betrug 100 bis 110 Millionen Franken pro Jahr. Die DEZA unterstützt Entwicklungs- und Transitionsländer zudem beim Aufbau von wirksamen, effizienten und demokratischen staatlichen Institutionen (gute Regierungsführung), die alle, auch ausgegrenzte und ärmste Bevölkerungsgruppen, einbeziehen und fördern. Dies betrifft sowohl den gleichgestellten Zugang zu Dienstleistungen z.B. der Munizipalbehörden als auch die politische Mitbestimmung. Menschenrechte, inklusive das Diskriminierungsverbot, sind ein wichtiger Teil dieser Bemühungen.

Art. 33

Innerstaatliche Durchführung und Überwachung

Artikel 33 stellt verfahrensmässige Anforderungen an die Umsetzung des Übereinkommens auf nationaler Ebene auf und beinhaltet vier Grundsätze. Dabei sollen die Vertragsstaaten jedoch ausdrücklich frei jene Massnahmen wählen, die ihren Bedürfnissen und ihrem System am besten entsprechen.

Gemäss Absatz 1 haben die Vertragsstaaten auf nationaler Ebene zunächst eine oder mehrere staatliche Anlaufstellen im Sinne von Focal Points (Kompetenzstellen/Fachstellen) im Zusammenhang mit der Durchführung des Übereinkommens zu schaffen. Diese Anlaufstellen sollen als Ansprechpartner und Kontaktstellen dienen.

Ferner prüfen die Vertragsstaaten die Schaffung oder Bestimmung eines staatlichen Koordinierungsmechanismus, der die Durchführung der entsprechenden Massnahmen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen erleichtern soll.

Dieses Erfordernis unterstützt in verfahrensmässiger Hinsicht das Prinzip des Disability Mainstreaming, d. h. die Berücksichtigung der Behinderungsthematik in allen relevanten Politikfeldern.

Absatz 2 bezieht sich auf die Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1993103 betreffend den Status von innerstaatlichen Einrichtungen zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten und bestimmt, dass die Vertragsstaaten auf einzelstaatlicher Ebene eine Struktur unterhalten, stärken, bestimmen oder schaffen müssen, die einen oder mehrere unabhängige Mechanismen einschliesst. Dabei sollen die Vertragsstaaten die Grundsätze betreffend die Rechtsstellung und die Arbeitsweise der einzelstaatlichen Institutionen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte berücksichtigen Nach Absatz 3 muss die Zivilgesellschaft, insbesondere Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisationen, in den Überwachungsprozess einbezogen werden und in vollem Umfang daran teilnehmen können.

Auf Bundesebene nimmt bereits heute das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen teilweise Funktionen des Focal Point (Kompetenzstelle/Fachstelle) wahr. Auch auf kantonaler Ebene bestehen ebenfalls

102 103

714

BBl 2012 2485 Res. 48/134

vereinzelt solche Focal Points, die für die innerstaatliche Durchführung der Konvention wünschenswert, jedoch nicht erforderlich sind104.

Um den Anforderungen des Übereinkommens nach einer Struktur nachzukommen, welche die Förderung, den Schutz und die Überwachung des Übereinkommens gewährleisten kann und die sich insbesondere mit den erforderlichen Aktivitäten auseinandersetzt und diese koordiniert, sind die vorhandenen Strukturen mittelfristig zu überdenken. Unabdingbar ist ein moderater Ausbau der personellen Ressourcen (ein wissenschaftlicher Mitarbeiter) des EBGB.

Inwiefern im Rahmen dieser Umsetzungsstruktur auch ein oder mehrere unabhängige Mechanismen vorzusehen sind, ist eine Frage, die nicht losgelöst von der allgemeinen Diskussion nach der Einrichtung solcher Strukturen im Bereich der Menschenrechte beantwortet werden kann. Das EDA und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement haben im Herbst 2010 einem Verbund von vier Universitäten das Mandat für die Gründung eines Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) erteilt. Das SKMR ist ein Dienstleistungszentrum, das den Prozess der Umsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz auf allen Stufen unseres Staatswesens fördern und erleichtern soll. Es ist seit dem 1. April 2011 operativ tätig und wird bis Ende 2015 als Pilotprojekt geführt. Danach wird die Arbeit des SKMR evaluiert, und es wird geprüft, ob es in eine unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution umgewandelt werden soll, die den international gültigen «Pariser Prinzipien» entspricht.

Der Einbezug der Zivilgesellschaft in den Überwachungsprozess kann im selben Rahmen wie bei der innerstaatlichen Durchführung anderer Übereinkommen gewährleistet werden.

Art. 34

Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Artikel 34 regelt die Einsetzung des Ausschusses für Menschen mit Behinderungen und die Wahl seiner Mitglieder. Der Ausschuss hat seinen Sitz in Genf und wurde nach Inkrafttreten des Übereinkommens mit der zwanzigsten Ratifikation eingerichtet. Er umfasste zunächst zwölf Sachverständige und wurde, nach sechzig weiteren Ratifikationen, mit sechs weiteren Mitgliedern erweitert. Die Sachverständigen werden in einer geheimen Listenwahl an der Sitzung der Konferenz der Vertragsstaaten für vier Jahre mit der Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl gewählt. Die Vertragsstaaten können aus dem Kreis ihrer Staatsangehörigen Kandidatinnen oder Kandidaten für die Wahl benennen. Die Ausschussmitglieder sind in persönlicher Eigenschaft tätig, müssen Persönlichkeiten von hohem sittlichen Ansehen sein sowie anerkannte Sachkenntnis und Erfahrung auf dem vom Übereinkommen erfassten Gebiet haben. Bei der Benennung von Kandidaten oder Kandidatinnen sollen die Vertragsstaaten die Organisationen behinderter Menschen aktiv mit einbeziehen.

Der Ausschuss hat in Genf erstmals vom 23. bis 27. Februar 2009 getagt. Zum Abschluss seiner ersten Session verabschiedete der Ausschuss seine erste Deklaration, in welcher er festhielt, dass er allen Menschen mit Behinderungen dieselbe Priorität geben will, allerdings mit einem Fokus auf diejenigen, welche besonders verletzbar sind. Erwähnt werden etwa Frauen, Kinder, ältere Menschen, Behinderte 104

So hat etwa der Kanton Basel-Stadt bereits 2003 eine Fachstelle für die Gleichstellung und Integration von Menschen mit einer Behinderung geschaffen. In der Stadt Bern hat eine entsprechende Fachstelle am 1. Juni 2010 ihre Arbeit aufgenommen.

715

in ländlichen Gebieten oder in Kriegsgebieten, Personen mit mehrfachen Behinderungen, Behinderte, welche einer indigenen Bevölkerungsgruppen zugehörig sind, Migranten und Asylsuchende. Besonders dringend erachtete der Ausschuss die Überleitung vom medizinischen Verständnis der Behinderung (welches den behinderten Menschen als unzureichend auffasst) zum Menschenrechts- und sozialen Verständnis (Diversity-Ansatz).

Art. 35

Berichte der Vertragsstaaten

Artikel 35 verpflichtet die Vertragsstaaten, dem Ausschuss einen umfassenden Bericht vorzulegen. Dieses Staatenberichtsverfahren folgt weitgehend dem Modell der anderen UNO-Menschenrechtsübereinkommen, welche die Schweiz bereits heute zur Berichterstattung verpflichten, und die Pflichten sind im wesentlichen die gleichen wie bei diesen anderen Übereinkommen. Konkret muss die Schweiz insbesondere: ­

einen umfassenden ersten Bericht vorbereiten, welcher in Hinblick auf jeden Artikel ausführt, (a) welches die faktische Situation ist (inkl. detaillierten statistischen Angaben), (b) welche Massnahmen gesetzgeberischer und administrativer Art bereits getroffen wurden, (c) welche Probleme weiterhin bestehen, und (d) welche Massnahmen die Behörden planen, um diese Probleme anzugehen. Der Bericht muss in einem offenen und transparenten Verfahren unter Einbezug der Behinderten und ihrer Organisationen innert zwei Jahren nach Inkrafttreten des Übereinkommens dem Ausschuss eingereicht werden;

­

die Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses in der Schweiz publik machen und prüfen, ob und in welchem Umfang die Empfehlungen umgesetzt werden, und den Ausschuss darüber im Nachgang zur Berichtsprüfung gegebenenfalls informieren.

Im Bereich der Pflicht zur Berichterstattung würde die Schweiz mit gleichartigen Verpflichtungen konfrontiert, welche sie bereits im Rahmen der anderen UNOÜbereinkommen übernommen hat. Die daraus entstehenden Synergien gehen relativ weit im Bereich der Rechte behinderter Kinder, sind sonst aber eher begrenzt.

Art. 36

Prüfung der Berichte

Artikel 36 beschreibt das Verfahren zur Prüfung der Staatenberichte. Dieses Berichtsprüfungsverfahren entspricht dem üblichen Verfahren zur Prüfung von Staatenberichten zu anderen UNO-Menschenrechtsübereinkommen. Nach Absatz 1 kann der Ausschuss Vorschläge und Empfehlungen nach Prüfung der Berichte gegenüber dem Vertragsstaat abgeben. Der Ausschuss kann den Vertragsstaat auch um weitere Angaben ersuchen. Absatz 2 enthält Vorschriften für den Fall, dass ein Vertragsstaat in erheblichem Rückstand mit der Vorlage des Berichts ist. Der Ausschuss ist in diesem Fall berechtigt, dem Vertragsstaat offiziell mitzuteilen, dass die Umsetzung des Übereinkommens auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden zuverlässigen Informationen geprüft wird, es sei denn, der Bericht wird innerhalb von drei Monaten nach Erhalt der offiziellen Mitteilung vorgelegt. Die Berichte sind nach Absatz 3 allen Vertragsstaaten zur Verfügung zu stellen. Nach Absatz 4 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, ihren Bericht im eigenen Land bekannt zu machen und den Zugang zu den Vorschlägen und Empfehlungen des Ausschuss zu dem Bericht zu erleich716

tern. Falls Vertragsstaaten in ihrem Bericht um fachliche Beratung und Unterstützung ersuchen oder der Ausschuss einen Hinweis auf ein solches Anliegen erkennt, kann er den Bericht nach Absatz 4 an die Sonderorganisationen, die Fonds und Programme der Vereinten Nationen und an andere zuständige Stellen übermitteln, damit dieses Anliegen aufgegriffen werden kann.

Bezüglich der Ergebnisse des Staatenberichtsverfahrens gilt es zu beachten, dass die Auffassungen und Empfehlungen des Ausschusses für die Regierung des betroffenen Vertragsstaates ­ im Gegensatz etwa zu den völkerrechtlich verbindlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ­ juristisch nicht bindend, sondern politischer Natur sind. Die gemäss den UNO-Übereinkommen ins Leben gerufenen Aufsichtsorgane sind unabhängige Gremien von Sachverständigen, jedoch nicht Gerichte im Sinne des EGMR, des Internationalen Gerichtshofs (IGH) oder des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC).

Selbstverständlich können ­ und sollen ­ sich gegebenenfalls Auswirkungen des Übereinkommens auch auf das schweizerische Rechtssystem und die Rechtspraxis durch etwaige Empfehlungen des Ausschusses beim konstruktiven Dialog im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens ergeben. Der Bundesrat wird entsprechend seiner bisherigen Praxis im Umgang mit den Empfehlungen der verschiedenen Vertragsorgane und aufgrund der Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, solche Empfehlungen sorgfältig unter Beteiligung aller zuständigen Stellen prüfen.

Die meisten Bereiche, in welchen die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen ist, fallen in den Aufgabenbereich der Kantone. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip soll die Koordination in erster Linie horizontal zwischen den Kantonen erfolgen; gemäss Artikel 43a Absatz 1 BV übernimmt der Bund nur diejenigen Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen105. Der Bund überwacht die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge im Rahmen der Bundesaufsicht. Zudem besteht eine allgemeine stillschweigende Zuständigkeit des Bundes zur Umsetzung völkerrechtlicher Verträge, wenn «dies für die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen unerlässlich oder aufgrund der Vertragsinhalte angezeigt ist»106.

Der Bundesrat hat in der Vergangenheit
mehrfach Empfehlungen anderer Vertragsorgane umgesetzt und wird dies, wenn immer möglich, auch in Zukunft tun. Falls diese Empfehlungen aus Sicht des Bundesrates nicht sachgerecht oder praktikabel sind oder ihr Ziel durch andere Massnahmen besser erreicht werden kann, erläutert er dies in der Regel gegenüber dem betreffenden Vertragsorgan.

Art. 37

Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten und dem Ausschuss

Artikel 37 verpflichtet die Vertragsstaaten zur Zusammenarbeit mit dem Ausschuss und zur Unterstützung seiner Mitglieder bei der Erfüllung ihres Mandats. Der Ausschuss hat im Gegenzug die Möglichkeiten zur Stärkung der jeweiligen einzelstaatlichen Fähigkeiten zur Durchführung des Übereinkommens, einschliesslich der internationalen Zusammenarbeit, zu prüfen.

105 106

Botschaft zur NFA, 2002 2458 f.

Botschaft über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 229 f.

717

Art. 38

Beziehungen des Ausschusses zu anderen Organen

Artikel 38 regelt das Verhältnis des Ausschusses zu anderen Sonderorganisationen und Organen der Vereinten Nationen und umgekehrt. Sonderorganisationen oder Organe der UNO haben das Recht, bei der Erörterung der Durchführung von Bestimmungen durch den Ausschuss, die in ihren Aufgabenbereich fallen, vertreten zu sein. Der Ausschuss kann Sonderorganisationen oder Organe der Vereinten Nationen um Stellungnahmen und um die Vorlage von Berichten auf den Gebieten ersuchen, die in ihren Tätigkeitsbereich fallen und die Durchführung des Übereinkommens betreffen. Der Ausschuss kann, sofern angebracht, die Vertragsausschüsse der anderen Menschenrechtsverträge konsultieren mit dem Ziel der Kohärenz der Berichterstattung und der Vermeidung von Doppelungen und Überschneidungen.

Art. 39

Bericht des Ausschusses

Artikel 39 bestimmt, dass der Ausschuss der Generalversammlung und dem Wirtschafts- und Sozialrat alle zwei Jahre über seine Tätigkeit berichtet. Er kann dabei Vorschläge und Empfehlungen auf der Grundlage der Prüfung der eingegangenen Berichte und Auskünfte abgeben. Etwaige Stellungnahmen der Vertragsstaaten werden ebenfalls in den Bericht des Ausschusses aufgenommen.

Art. 40

Konferenz der Vertragsstaaten

Die Vertragsstaaten treten in der Konferenz der Vertragsstaaten zusammen, um Angelegenheiten bei der Durchführung des Übereinkommens zu behandeln. Nach Absatz 2 beruft der Generalssekretär die Konferenz ein. Die erste Konferenz wurde am 3. November 2008 ­ sechs Monate nach Inkrafttreten des Übereinkommens mit der zwanzigsten Ratifikation am 3. Mai 2008 ­ einberufen; die folgenden Konferenzen werden alle zwei Jahre oder auf Beschluss der Konferenz der Vertragsstaaten einberufen werden.

3.5

Schlussbestimmungen (Art. 41­50)

Das Übereinkommen enthält die auch in den anderen Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen üblichen Modalitäten hinsichtlich Depositar (Art. 41), Unterzeichnung (Art. 42), Inkrafttreten (Art. 45), dem Verfahren zu Änderungen des Übereinkommens (Art. 47) sowie der Regelung der verbindlichen Wortlaute (Art. 50). Es soll zudem in zugänglichen Formaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 49).

Der Beitritt steht neben allen Staaten auch Organisationen der regionalen Integration offen, was insbesondere durch Verfahrensmodalitäten in den Artikeln 43 (Zustimmung, gebunden zu sein) und 44 (Organisationen der regionalen Integration) berücksichtigt wird. Diese Modalitäten sind auf die Europäische Union zugeschnitten und nötig, da diese per definitionem nicht Vertragsstaat werden kann, da ihr die Staatsqualität fehlt. Ferner sind gemäss Artikel 46 Vorbehalte, die mit dem Ziel und Zweck des Übereinkommens unvereinbar sind, nicht zulässig. Vorbehalte können jederzeit von den Staaten zurückgenommen werden. Schliesslich kann das Übereinkommen mittels schriftlicher Notifikation an den Generalsekretär der Vereinten Nationen jederzeit gekündigt werden. Die Kündigung wird ein Jahr nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär wirksam (Art. 48).

718

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund

Das Übereinkommen zeichnet sich dadurch aus, dass es auf internationaler Ebene in erster Linie Minimalstandards definiert, die die Vertragsstaaten bei der Integration von Menschen mit Behinderungen zu beachten haben. Durch die weitgehende inhaltliche Deckungsgleichheit des Übereinkommens mit den bestehenden Normen und angesichts seines weitgehend programmatischen Charakters sind für den Bund nur geringfügige finanzielle oder personelle Auswirkungen zu erwarten.

Wo das Übereinkommen den Bund in die Pflicht nimmt, ergeben sich weitgehend deckungsgleiche Verpflichtungen und entsprechende Kosten bereits heute aus anderen Übereinkommen oder dem Landesrecht107. Entsprechende Erhebungen bei den Vertragsstaaten, welche dem Übereinkommen beigetreten sind, lassen keine zusätzlichen Kosten aufgrund der Annahmeerklärung erwarten. Für die Berichterstattung und für die dazu erforderlichen Abklärungen ist in der Bundesverwaltung von einem geringen personellen Mehrbedarf von einer wissenschaftlichen Stelle auszugehen.

Die Vertragsstaaten sind gemäss Artikel 35 des Übereinkommens verpflichtet, dem Kontrollorgan des Übereinkommens, dem Ausschuss für Menschen mit Behinderungen, in einem regelmässigen Turnus Staatenberichte über die Massnahmen vorzulegen, die sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Übereinkommen getroffen haben. Bereits heute hat die Bundesverwaltung im Rahmen der Umsetzung weiterer internationaler Menschenrechtsübereinkommen eine entsprechende Pflicht, regelmässig Bericht über die Massnahmen, welche die Schweiz zur praktischen Umsetzung der jeweiligen Übereinkommen ergriffen hat, abzuliefern108. Etwaige ergänzende Hinweise in den Staatenberichten im Zusammenhang mit den sog.

Follow-up-Mechanismen lösen somit keine zusätzlichen Massnahmen aus.

4.2

Auswirkungen auf die Kantone

Die Kantone sind bereits seit Jahren für die Anliegen der Menschen mit Behinderungen sensibilisiert und tragen diesen in Gesetzgebung, administrativen Abläufen und politischen Massnahmen in teils fortschrittlicher Weise Rechnung.

So nehmen die Kantone seit dem Inkrafttreten der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) am 1. Januar 2008 die integrale Verantwortung für die Sonderschulung, Heime, Tagesstätten und geschützte Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wahr. Die Kantone sind gemäss Artikel 197 Ziffer 4 BV verpflichtet, für die ihnen neu übertragenen Aufgabenbereiche entsprechende Vollzugskonzepte zu erstellen (SonderpädagogikKonzept für Kinder und Jugendliche, Behindertenkonzept für den Erwachsenenbereich). Mit nennenswerten finanziellen Mehrbelastungen durch eine Ratifikation des Übereinkommens ist nicht zu rechnen.

107 108

Vgl. Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1715, hier 1796­1801.

Vgl. Art. 9 ICERD; Art. 16 UNO-Pakt I; Art. 40 UNO-Pakt II; Art. 18 CEDAW; Art. 19 CAT; Art. 44 KRK.

719

Hinsichtlich der Berichterstattung ist auch bei den Kantonen von einem geringen personellen Mehraufwand auszugehen, insbesondere in den ersten Jahren nach der Ratifikation.

4.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Ratifikation hat keine direkten volkswirtschaftlichen Auswirkungen: Das Übereinkommen und das bestehende nationale Regelwerk des Behindertengleichstellungsrechts sind, wie bereits bei den einzelnen Bestimmungen deutlich geworden ist, weitgehend deckungsgleich. Die bereits im BehiG vorgesehenen volkswirtschaftlichen Auswirkungen109 und die mittelbaren strukturellen Kosten, welche sich durch eine konsequente Umsetzung der bereits geltenden nationalen Vorgaben ergeben, lassen sich nicht dem Übereinkommen zurechnen.

4.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Wie bereits im 1. Kapitel dargelegt worden ist, stellt das Übereinkommen ein politisches Bekenntnis zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Es hat damit eine wichtige Signalwirkung an die Menschen mit Behinderungen und die Gesellschaft insgesamt und fördert die gesellschaftliche Stabilität und die Solidarität zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern.

5

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage war bereits in der Botschaft vom 23. Januar 2008110 zur Legislaturplanung 2007­2011 und im Bundesbeschluss vom 18. September 2008111 über die Legislaturplanung 2007­2011 angekündigt. Das Vernehmlassungsverfahren konnte jedoch erst vom 22. Dezember 2010 bis zum 15. April 2011 durchgeführt werden.

Daher ist die Vorlage nochmals in der Botschaft vom 25. Januar 2012112 zur Legislaturplanung 2011­2015 und im Bundesbeschluss vom 15. Juni 2012113 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

6

Rechtliche Aspekte

6.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die 109 110 111 112 113

720

Botschaft zum BehiG, BBl 2001 1715, hier 1803­1808 BBl 2008 753, hier 807 und 826 BBl 2008 8544, hier 8549 BBl 2012 481, hier 556 und 611 BBl 2012 7155, hier 7159

Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 7a Abs. 1 RVOG; SR 172.010).

6.2

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 (SR 171.10) sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das Übereinkommen enthält einzelne Bestimmungen, die sowohl unmittelbar verbindlich als auch generell-abstrakt sind. Es begründet Rechte und Pflichten, die gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV auf nationaler Ebene nur in der Form eines formellen Gesetzes erlassen werden können. Der Beitritt zum vorliegenden Übereinkommen bedingt jedoch keine Anpassungen des schweizerischen Rechts. Die Vertragsstaaten verpflichten sich aber, dem Mindeststandard des Übereinkommens landesrechtlich zu entsprechen und dazu allenfalls gesetzgeberische und andere geeignete Massnahmen zu treffen. Würde die schweizerische Gesetzgebung die notwendigen Regelungen nicht enthalten, so wäre zur Umsetzung dieser Bestimmungen der Erlass von Bundesgesetzen erforderlich.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Vertrags ist deshalb dem fakultativen Staatsvertragsreferendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

721

722