13.094 Botschaft über die Teilrevision des Obligationenrechts (Schutz bei Meldung von Unregelmässigkeiten am Arbeitsplatz) vom 20. November 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen eine Änderung des Obligationenrechts (Schutz bei Meldung von Unregelmässigkeiten am Arbeitsplatz).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2003

M 03.3212

Gesetzlicher Schutz für Hinweisgeber von Korruption (N 13.6.2005, Gysin; S 22.3.2006; N 22.6.2007)

2003

P

Schutzmassnahmen für «Whistleblowers» (S 2.10.2003, Marty)

03.3344

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

20. November 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-1392

9513

Übersicht Mit dieser Vorlage wird der Auftrag der Motion Gysin (03.3212) umgesetzt. Die Voraussetzungen, unter denen eine unerlaubte Handlung oder eine andere Unregelmässigkeit gemeldet werden kann, werden im Obligationenrecht geregelt. Die von der Rechtsprechung vorgegebenen Kriterien werden berücksichtigt und näher ausgeführt. Der Schutz vor einer Kündigung nach einer rechtmässigen Meldung wird nicht ausgebaut. Die Vorschläge des Bundesrates zur Verbesserung des Kündigungsschutzes wurden sehr unterschiedlich beurteilt. Es werden weitere Überlegungen zu dieser Frage angestellt.

Ausgangslage Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die an ihrem Arbeitsplatz Unregelmässigkeiten feststellen, sehen sich mit divergierenden Interessen konfrontiert: Im Hinblick auf eine einwandfreie Abwicklung der Geschäftstätigkeit der Organisation wie auch angesichts des öffentlichen Interesses an der Einhaltung der Gesetze und der öffentlichen Debatte in der Demokratie sowie aus ethischen Überlegungen ist es notwendig, dass festgestellte Unregelmässigkeiten gemeldet werden. Doch durch eine solche Meldung an die Behörden und insbesondere an die Medien werden die Interessen des Arbeitgebers unter Umständen in schwerwiegender Weise beeinträchtigt.

Ausserdem wird durch die Meldung die Persönlichkeit der verdächtigten Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen verletzt. Die Meldung einer Unregelmässigkeit kann auch zu Spannungen und Konflikten am Arbeitsplatz führen.

Gemäss dem geltenden Recht hängt die Rechtmässigkeit der Meldung einer Unregelmässigkeit von einer Abwägung zwischen diesen verschiedenen Interessen ab.

Diese Abwägung wird gegenwärtig von der Rechtsprechung vorgenommen. Eine Meldung ausserhalb der Organisation fällt in den Rahmen der den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen eingeräumten Meinungsäusserungsfreiheit. Diese gilt indessen nicht absolut. Sie muss vielmehr gegen die vertraglichen Verpflichtungen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und gegen die Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers abgewogen werden. Die Treuepflicht und die Schweigepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin wie auch die Geheimhaltungspflicht, deren Verletzung durch das Strafrecht sanktioniert wird, stehen einer Meldung ausserhalb der Organisation entgegen. Diese Pflichten gelten jedoch ebenfalls nicht absolut.
Für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich an die vorgegebenen Voraussetzungen für eine Meldung halten, dürfen sich daraus keine Nachteile ergeben. Der Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ergibt sich derzeit aus den allgemeinen Bestimmungen des Arbeitsrechts. Insbesondere eine nach einer rechtmässigen Meldung ausgesprochene Kündigung wird als missbräuchlich beurteilt. Eine missbräuchliche Kündigung bleibt gültig, doch der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hat Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von maximal sechs Monatslöhnen.

9514

Inhalt der Vorlage Mit der Vorlage wird vorgeschlagen, die Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten im Gesetz zu regeln. Die Interessenabwägung würde somit durch den Gesetzgeber erfolgen. Da es dabei um sehr unterschiedliche und bedeutende Interessen geht, ist dies gerechtfertigt. Damit wird die Rechtmässigkeit einer Meldung bestätigt, und es wird festgelegt, innerhalb welcher Grenzen sie zulässig ist. Mit der Regelung im Gesetz ist eine bessere Vorhersehbarkeit verbunden, wobei der Richter in bestimmten Fällen weiterhin über einen gewissen Ermessensspielraum verfügt. Ebenfalls behandelt wird die Koordination zwischen dem Arbeitsrecht und dem Strafrecht.

Die von der Rechtsprechung vorgegebenen Grundsätze (überwiegendes Interesse, Verhältnismässigkeit) werden in der Vorlage übernommen und näher ausgeführt. Es gilt die Regel, dass eine Meldung zulässig ist, wenn sie zuerst an den Arbeitgeber, anschliessend an eine Behörde und erst als ultima ratio an die Öffentlichkeit erfolgt.

Priorität wird somit der internen Behandlung von Meldungen eingeräumt. Der Arbeitgeber muss die Möglichkeit haben, selbst gegen Unregelmässigkeiten vorzugehen und diese zu beseitigen. Die Meldung an eine Behörde ist nicht zulässig, wenn der Arbeitgeber ein internes Meldesystem geschaffen hat. Ist kein solches System vorhanden, darf der Sachverhalt nicht gegen aussen offengelegt werden, ausser wenn der Arbeitgeber auf die Meldung nicht reagiert oder wenn seine Reaktion offensichtlich ungenügend ist. Die Meldung an eine Behörde ist überdies auf Straftaten und Verstösse gegen das öffentliche Recht beschränkt. In den in der neuen Norm festgelegten Fällen ist eine direkte Meldung an eine Behörde zulässig. Eine direkte Meldung an die Öffentlichkeit ist hingegen nicht gestattet. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin muss sich in allen Fällen an die zuständige Behörde wenden.

Seine oder ihre Rolle beschränkt sich darauf, die Information an die betreffende Behörde weiterzuleiten. Wenn das Vorgehen der Behörde unzureichend ist oder keine Auswirkungen auf das gemeldete unerlaubte Verhalten hat, darf sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nicht an die Öffentlichkeit wenden. Hingegen muss die Behörde innerhalb der Grenzen der Vertraulichkeit des Verfahrens den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin über ihr weiteres
Vorgehen in Kenntnis setzen.

Eine missbräuchliche oder ungerechtfertigte Kündigung im Anschluss an eine Meldung, die nicht gegen die Treuepflicht verstösst, wird weiterhin nach dem geltenden Recht sanktioniert. Im Hinblick auf eine Verbesserung des Kündigungsschutzes wurde ein Vorentwurf in die Vernehmlassung gegeben. Diese Vorschläge wurden sehr unterschiedlich beurteilt und sind auf starken Widerstand gestossen. Aus diesem Grund werden die Überlegungen zu dieser Problematik unabhängig von der vorliegenden Vorlage fortgesetzt. Der Kündigungsschutz muss gesamthaft betrachtet werden. Ein erweiterter Kündigungsschutz nur für den Fall der Meldung einer Unregelmässigkeit lässt sich im Vergleich mit anderen Gründen für eine missbräuchliche Kündigung nicht rechtfertigen.

9515

Inhaltsverzeichnis Übersicht

9514

1

9518 9518 9518 9520 9523 9538 9542 9543 9544 9548 9548 9549 9560

Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Problemstellung 1.1.2 Beispiele und Zahlen 1.1.3 Geltendes Recht 1.1.4 Lücken im geltenden Recht und Regelungsbedarf 1.1.5 Parlamentarische Vorstösse 1.1.6 Vorentwürfe und Vernehmlassungen 1.2 Vorgeschlagene Bestimmungen 1.3 Beurteilung der gewählten Lösung 1.3.1 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 1.3.2 Berücksichtigte Lösung 1.3.3 Andere geprüfte Lösungen 1.4 Vergleich mit dem ausländischen, vor allem mit dem europäischen Recht 1.4.1 Europäische Union 1.4.2 Vereinigte Staaten 1.4.3 Vereinigtes Königreich 1.4.4 Frankreich 1.4.5 Deutschland 1.5 Umsetzung 1.6 Abschreibung parlamentarischer Vorstösse

9561 9561 9562 9564 9566 9569 9570 9570

2

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

9571

3

Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.1.1 Finanzielle Auswirkungen 3.1.2 Auswirkungen auf den Personalbestand 3.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete 3.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und auf die Gesellschaft

9583 9583 9583 9583

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

9584

5

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungs- und Gesetzmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.2.1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 5.2.2 Internationale Verpflichtungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung 5.3 Erlassform 5.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 5.5 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

9584 9584

9516

9583 9584

9584 9585 9586 9587 9587 9587

5.6

Vereinbarkeit mit der Datenschutzgesetzgebung

9587

Anhang: Ablauf des Meldeverfahrens

9588

Obligationenrecht (Schutz bei Meldung von Unregelmässigkeiten am Arbeitsplatz) (Entwurf)

9589

9517

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Problemstellung

Mit der Meldung von am Arbeitsplatz festgestellten Unregelmässigkeiten sind divergierende Interessen verbunden: Der Arbeitnehmer möchte den Sachverhalt aus Pflichtgefühl und aus ethischen Gründen offenlegen. Diese Offenlegung dient der einwandfreien Abwicklung der Geschäftstätigkeit der Organisation1, für die er tätig ist. Die Allgemeinheit hat ebenfalls ein Interesse daran, dass Handlungen, die gesetzeswidrig oder aus anderen Gründen von allgemeinem Interesse sind, aufgedeckt werden. Andererseits werden unter Umständen Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen, Vorgesetzte oder der Arbeitgeber selbst durch eine gemeldete Unregelmässigkeit diskreditiert. Wenn der betreffende Sachverhalt gegen aussen offengelegt wird, wird auch das Ansehen der Organisation beeinträchtigt. Im Übrigen ist die Meldung von Unregelmässigkeiten nicht immer positiv zu bewerten. Unwahre, missbräuchliche und verleumderische Meldungen dürfen nicht gefördert werden.

Diese Interessenkonflikte bestehen in gleicher Weise in der Rechtsordnung. Dem Interesse an der Aufdeckung von Unregelmässigkeiten stehen verschiedene gesetzlich verankerte Verpflichtungen entgegen, die dem Schutz der betroffenen Organisation wie auch von Privatpersonen dienen: die Treue- und Schweigepflicht im privaten Sektor und für Angestellte der öffentlichen Hand, das Geschäftsgeheimnis, das Berufsgeheimnis, der Persönlichkeitsschutz, der Schutz der gemeldeten Person vor Verleumdung sowie der Schutz der Organisation vor einer Beeinträchtigung ihres Ansehens.

Da diese Probleme den Organisationen bekannt sind, haben viele bereits freiwillige Massnahmen getroffen. Sowohl in Privatunternehmen als auch in öffentlichen Organisationen ist die Einrichtung eines internen Kontrollsystems heutzutage ein allgemein anerkannter Grundsatz der Good Governance. Mit einem solchen Kontrollsystem wird insbesondere überprüft, ob die Aktivitäten der Organisation den Rechtsvorschriften entsprechen.2 Die Meldung von Unregelmässigkeiten durch Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ist auch als Instrument anerkannt, mit dem widerrechtliche Handlungen aufgedeckt werden können. In diesem Zusammenhang wurden interne Verfahren entwickelt, damit solche Informationen nicht verloren gehen und potenzielle Konflikte innerhalb der Organisation vermieden werden können. Auf diese Weise kann eine interne
oder externe Anlaufstelle bestimmt werden, welche die Hinweise zu Unregelmässigkeiten direkt entgegennimmt.

Zudem wird ein Verfahren für die Bearbeitung von gemeldeten Fällen festgelegt.

Solche internen Verfahren wurden mittlerweile in verschiedenen Unternehmen und anderen Organisationen eingerichtet. Sie beseitigen die Schwierigkeiten, wie sie sich 1 2

Der Begriff Organisation wird hier für Rechtsträger verwendet, die als Arbeitgeber in Frage kommen: private und öffentliche Unternehmen, Verbände usw.

Siehe beispielsweise «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance», Juli 2002 und 2007, Ziff. 19, 20, 23 und 24 sowie Art. 39 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 2005 über den eidgenössischen Finanzhaushalt (FHG; SR 611.0).

9518

bei einem hierarchischen Organisationsaufbau ergeben ­ beispielsweise wenn sich die Meldung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin auf den Vorgesetzten bezieht. Mit Hilfe solcher Verfahren können auch die Interessen der Person, welche die Unregelmässigkeiten meldet, sowie die Interessen des mutmasslichen Urhebers oder der mutmasslichen Urheberin der Unregelmässigkeiten gewährleistet werden.

Mit diesen freiwilligen Massnahmen werden jedoch nicht alle Probleme beseitigt.

Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor können potenzielle Konflikte nicht immer auf angemessene Weise gelöst werden. Der Arbeitnehmer wird somit nicht in allen Fällen eine Lösung innerhalb der betreffenden Organisation finden. Da nicht alle Organisationen eine zuständige Anlaufstelle oder ein entsprechendes Meldeverfahren eingerichtet haben, bleibt dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin manchmal nichts anderes übrig, als die festgestellte Unregelmässigkeit auf dem Dienstweg zu melden. Da sich der festgestellte Sachverhalt unter Umständen direkt auf die Vorgesetzten oder auf hierarchisch höher positionierte Personen innerhalb der Organisation bezieht, kann es für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin mit einem gewissen Risiko verbunden oder unzweckmässig sein, wenn er die Unregelmässigkeit auf dem Dienstweg meldet oder sich an eine organisationsinterne Anlaufstelle wendet. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind oftmals mit einer heiklen Ausgangslage konfrontiert, weil sie sich nicht sicher sind, ob überhaupt eine widerrechtliche Handlung begangen wurde. In solchen Fällen haben sie entweder nur einen Verdacht, oder sie wissen nicht mit Gewissheit, dass die festgestellten Handlungen strafbar sind. Letztlich kann eine organisationsinterne Behandlung der Meldung einer Unregelmässigkeit nur dann zu einem positiven Ergebnis führen, wenn eine solche Meldung unabhängig und effizient bearbeitet werden kann. Dazu ist auch eine entsprechende Unternehmenskultur innerhalb der Organisation erforderlich, in deren Rahmen gerechtfertigte Meldungen ernst genommen und gefördert werden.

Eine feindselige Reaktion des Umfelds oder der Organisation ist nicht auszuschliessen. Unter Umständen sehen sich die Arbeitnehmenden Vergeltungsmassnahmen ausgesetzt. Sie laufen Gefahr, ihre Stelle zu verlieren oder mit anderen Sanktionen auf
beruflicher Ebene konfrontiert zu werden. Je nach Sachlage müssen sie sogar mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Die potenziell negativen Auswirkungen sind nicht auf die erwähnten Nachteile oder auf den Verlust des Arbeitsplatzes beschränkt. Im Falle einer Kündigung sind die Chancen, eine neue Stelle zu finden, eher gering oder sogar gleich null. Durch einen schwierigen Entscheid, der aus ethischen Überlegungen getroffen wird und beträchtlichen Mut erfordert, setzt der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmer unter Umständen die Stelle oder sogar die gesamte berufliche Karriere aufs Spiel.

Häufig sehen sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmer daher veranlasst, Stillschweigen zu bewahren und Tatsachen und Handlungen zu verschweigen, die rechtswidrig, strafbar oder für die Allgemeinheit von Interesse sind. Eine andere Reaktion kann darin bestehen, die Information direkt ausserhalb der Organisation offenzulegen, indem man sich an eine Behörde oder direkt an die Medien wendet.

Trotz der zentralen Stellung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen darf nicht vergessen werden, dass im Zusammenhang mit der Meldung einer Unregelmässigkeit verschiedene Interessen bestehen und dass diese angemessen gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Meldung einer Unregelmässigkeit kann übertrieben und unklug sein und die Stellung und das Ansehen des Arbeitgebers unnötig beeinträchtigen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn mit der Meldung zwar eine gute 9519

Absicht verbunden ist und sie begründet ist, aber die Meldung direkt an die Medien gerichtet wird. Eine Meldung kann auch unbegründet und unwahr sein und nur mit der Absicht verbreitet werden, dem Arbeitgeber oder einer bestimmten Person zu schaden.

1.1.2

Beispiele und Zahlen

Zahlreiche Beispiele zeugen von der Relevanz der vorliegenden Problematik. So führten beispielsweise die folgenden Fälle zu einer Entlassung oder Strafverfolgung: Im Jahr 1967 wurde von einem Detektiv-Wachtmeister der Stadtpolizei Zürich der Verdacht geäussert, dass prominente Persönlichkeiten bei Fällen von Diebstahl und bei Widerhandlungen im Strassenverkehr von den Polizeibehörden Zürichs privilegiert behandelt würden. 1973 setzte ein Angestellter eines pharmazeutischen Unternehmens die europäischen Behörden über eine Preisabsprache und über Rabatte für treue Kunden in Kenntnis. 1992 deckten zwei Beamte einen Korruptionsfall im Zusammenhang mit der Entsorgung von Klärschlamm der Stadt Zürich auf. 1997 rettete Christoph Meili Dokumente im Zusammenhang mit nachrichtenlosen Vermögen vor der Vernichtung und liess sie der Öffentlichkeit zukommen.3 Ebenso zu erwähnen sind die Aufdeckung des Vorhandenseins von Asbestfasern durch Temporärangestellte, von falschen Verfalldaten bei Lebensmitteln, einer Kampagne eines Bundesamtes gegen eine Volksinitiative und der Speicherung von Dateien mit kinderpornographischem Inhalt auf dem Computer eines Mitarbeiters.4 Kürzlich durchgeführte Gerichtsverfahren haben bestätigt, dass die Problematik weiterhin besteht. Diesbezüglich können insbesondere die folgenden Fälle angeführt werden: Enthüllungen gegenüber den Medien durch Kantonsbeamte bezüglich widerrechtlicher Entscheide des Migrationsamtes St. Gallen, des Stadtzürcher Sozialdepartements und der Zürcher Stadtpolizei, die beschuldigt wurde, die Medien über eine Strafverfolgung gegen den Chef der Armee zum Zeitpunkt von dessen Nominierung in Kenntnis gesetzt zu haben.5 Während die ersten beiden Fälle zu strafrechtlichen Verurteilungen wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses führten, wurde der dritte Fall bis vor das Bundesgericht gezogen. Im Weiteren läuft ein Verfahren wegen Mobbing in Verbindung mit internen Meldungen im Zusammenhang mit der Lebensmittelsicherheit in einem grossen privaten Unternehmen.6 Abgesehen von den oben erwähnten Fällen betrifft die Problematik den Privatsektor auch im Zusammenhang mit der Anforderung, dass jede Organisation die gesetzlichen Vorschriften einhalten muss. So stellt beispielsweise die Bestechung für den privaten Sektor ein echtes Risiko dar, insbesondere für die Exportindustrie. Der
Bribe Payers Index (2011) der Organisation «Transparency International» gibt die Bereitschaft von Unternehmen an, Bestechungszahlungen im Ausland zu leisten, wofür Führungskräfte von Unternehmen aus den betreffenden Ländern befragt 3 4 5

6

BGE 94 IV 68; 104 IV 175; L'Hebdo, 19. Oktober 2006; L'Hebdo, 19. Oktober 2006 und BGE 129 III 320; Fall Meili: beispielsweise La Liberté, 11. November 2006, S. 3.

Beobachter, 1.9.2006, S. 26; L'Hebdo, 19. Oktober 2006; NZZ am Sonntag, 20.8.2006; Le Temps, 9. Juli 2008.

Die Weltwoche, 14.6.2012; Sankt-Galler Tagblatt Online, 15.6.2012; Urteil des Bundesgerichts 6B_305/2011 vom 12.12.2011 und zahlreiche Presseberichte; Limmattalerzeitung, 16.4.2013.

Handelszeitung, 29.10.2012; Radio Télévision Suisse, 15.05.2012; Le Monde, 16.05.2012.

9520

werden. Mit einem Index von 8,8 auf einer Zehnerskala ist die Schweiz in diesem Index gut positioniert.7 Doch mehrere Schweizer Unternehmen, sowohl Grosskonzerne als auch KMU, wurden in der Vergangenheit in den Vereinigten Staaten wegen Bestechung strafrechtlich verfolgt und bezahlten Bussen in Höhe von mehreren Millionen Franken.8 In der Schweiz werden zweifellos weniger solche Fälle gerichtlich beurteilt. Doch im Jahr 2011 erfolgte die erste direkte strafrechtliche Verurteilung eines Unternehmens durch die Bundesanwaltschaft.9 Im Jahr 2011 wurde ausserdem eine Studie mit 510 Schweizer Unternehmen unterschiedlicher Grösse durchgeführt, die in verschiedenen Branchen auf internationaler Ebene tätig sind. Diese Studie hat ergeben, dass 40 % dieser Unternehmen bereits mit Bestechung in Berührung gekommen waren. 56 % von diesen 40 % räumten ein, schon einmal informelle Zahlungen geleistet zu haben.10 Die Korruption ist jedoch nur ein Aspekt der Wirtschaftskriminalität. In einer jährlichen Erhebung der in der Schweiz abgeschlossenen und laufenden Strafverfahren mit einer Schadenssumme ab 50 000 Franken wurden 59 Fälle im Jahr 2009, 52 Fälle im Jahr 2010, 69 Fälle im Jahr 2011 und 64 Fälle im Jahr 2012 verzeichnet.11 Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Urhebern und Urheberinnen der strafbaren Handlungen in 20, 23, 25 beziehungsweise 35 Fällen um Angestellte mit oder ohne Führungsfunktion handelte. Die gesamte Schadenssumme belief sich auf 1,575 Milliarden Franken im Jahr 2009, auf 365 Millionen im Jahr 2010, auf 519,6 Millionen im Jahr 2011 und auf 497,5 Millionen im Jahr 2012. Umfragen bei Schweizer Unternehmen bestätigen, dass sie täglich mit rechtswidrigem Verhalten konfrontiert sind. In einer dieser Umfragen gaben 17 % der befragten Organisationen an, im Jahr 2009 mit einem solchen Verhalten konfrontiert worden zu sein ­ im Jahr 2011 betrug der entsprechende Anteil 18 %.12 Bei den Urhebern und Urheberinnen handelte es sich 2009 in 46 % der Fälle und 2011 in 40 % der Fälle um interne Angestellte der Organisation: einfache Angestellte, Kaderangehörige und leitende Führungskräfte. Die Aufdeckung erfolgte im Jahr 2009 in 18 % der Fälle durch Zufall und im Jahr 2011 in 36 % der Fälle durch Faktoren, die ausserhalb des Einflusses der Geschäftsleitung stehen (Zufall, Intervention einer Behörde,
andere Gründe). Im Jahr 2009 wurde kein einziger Fall im Rahmen eines WhistleblowingSystems aufgedeckt, im Jahr 2011 waren es 12 % der Fälle. In einer anderen Studie, die 2012 mit 130 Schweizer Unternehmen durchgeführt wurde (30 der 100 grössten Unternehmen und 100 KMU), gaben 47 % der befragten Grossunternehmen an, in den vorangegangenen zwei Jahren von Wirtschaftskriminalität betroffen gewesen zu sein, während sich der entsprechende Anteil bei den KMU auf 13 % belief.13 Bei 7 8 9 10 11 12

13

Verfügbar unter http://bpi.transparency.org/bpi2011 L'Hebdo, 6.12.2012, «Sociétés suisses: Pots-de-vin: Les petits arrangements des sociétés suisses»; La Liberté, 16.10.2010, Amendes amères aux Etats-Unis.

Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft, 22.11.2011, «Strafverfahren gegen AlstomGesellschaften abgeschlossen».

Siehe Becker, Katharina/Hauser, Christian/Kronthaler, Franz, Auslandskorruption bei Schweizer Unternehmen, Die Volkswirtschaft, 10-2012, S. 63 ff., 64.

KPMG, Forensic Fraud Barometer, Pressemitteilungen vom 24.1.2012 und vom 1.2.2013.

PriceWaterhouseCoopers, Swiss economic crime survey 2009 und 2011, verfügbar unter www.pwc.ch/fr/dyn_output.html?content.void=25416&collectionpageid= 619&comeFromOverview=true. 140 befragte Organisationen im Jahr 2011, davon 34 % börsenkotiert, und 129 Organisationen im Jahr 2009, davon 41 % börsenkotiert.

KPMG, Wirtschaftskriminalität, Deutschland, Österreich, Schweiz im Vergleich ­ Wirtschaftskriminalität in Grossunternehmen und dem Mittelstand, veröffentlicht im Jahr 2013.

9521

den Grossunternehmen waren die Urheber der strafbaren Handlungen in 57 % der Fälle Angestellte der Organisation, bei den KMU war es 40 %. Während die Aufdeckung zu einem beträchtlichen Teil auf spontanen Meldungen innerhalb der Organisation beruhte (64 % der Grossunternehmen und 40 % der KMU gaben diese Quelle an), resultierte sie auch aus Umständen, die nicht unter der Kontrolle des betreffenden Unternehmens stehen. Diesbezüglich wurde der Zufall von 43 % der Grossunternehmen und von 31 % der KMU angegeben, die Medien von 14 bzw. 8 % und das Einschreiten von Behörden von 7 bzw. 8 %.

Diese Studien beruhen zugegebenermassen auf kleinen Stichproben und führen in Bezug auf das Ausmass der Probleme zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wahrscheinlich ist dies unter anderem auf die Verschiedenartigkeit der befragten Unternehmen, auf die unterschiedlichen Zeiträume der Umfragen und auf die Definition von Wirtschaftskriminalität zurückzuführen. Ausserdem geht aus diesen Studien nicht das ganze Ausmass der Probleme hervor, da unter Umständen gewisse Fälle nicht aufgedeckt wurden oder festgestellte Fälle nicht als Unregelmässigkeiten wahrgenommen werden. Im Weiteren kann die Auslegung der Fälle unterschiedlich ausfallen. Die Studien bestätigen indessen das Vorhandensein des Problems und geben einen Überblick über die Art und Weise, wie es behandelt wird. Es bestehen zwar ein Risikobewusstsein und entsprechende Massnahmen innerhalb der Organisationen, doch ein Teil der Fälle wird aufgrund spontaner interner Meldungen und ein weiterer Teil infolge von Faktoren aufgedeckt, die nicht von der Kontrolle abhängen, welche von der Organisation selbst ausgeübt wird.

Die Implementierung interner Whistleblowing-Verfahren ist ein Hinweis auf die Absicht, interne Meldungen zu berücksichtigen und entsprechende Massnahmen zu treffen. Doch dies ist nicht das einzige Element der internen Kontrolle. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2005 haben 42 % der grössten Schweizer Unternehmen ein Whistleblowing-Verfahren eingerichtet.14 In einer Studie aus dem Jahr 2011, in der es um die Korruptionsbekämpfung ging und in die 19 Schweizer Grossunternehmen des Swiss Market Index (SMI) einbezogen waren, gaben 17 der befragten Unternehmen an, dass sie über ein internes Meldesystem verfügten, welches den Schutz vor Vergeltungsmassnahmen
gewährleiste.15 In dieser Studie wurde jedoch festgehalten, dass die Modalitäten der Umsetzung sehr unterschiedlich sind und dass sowohl die Art der Nutzung des Meldesystems als auch dessen Geltungsbereich nicht ausreichend genau definiert sind. Daraus geht hervor, dass die Unternehmen auf freiwilliger Basis gewisse Massnahmen treffen, obwohl diese von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich und überdies nicht vollständig ausgearbeitet sind.

Ausserdem gilt dies ausschliesslich für die grossen Unternehmen. Bei den KMU, welche die grosse Mehrheit der Schweizer Unternehmen bilden, kann sich die Sachlage anders darstellen. Angesichts ihrer beschränkten Mittel scheint beispielsweise im Bereich der Korruption die Realisierung von Präventionsmassnahmen und die Einrichtung eines internen Kontrollsystems ein schwierigeres Unterfangen zu sein.16 14 15

16

KPMG und Institut für Rechnungswesen und Controlling der Universität Zürich, Interne Kontrolle in der Schweizer Praxis, S. 55.

ETHOS/TRANSPARENCY INTERNATIONAL, Korruptionsbekämpfung in der Schweiz ­ Studie zur Rechtsgrundlage und Praxis der kotierten Unternehmen, Dezember 2011, S. 34­37, 36.

Siehe den Rapport de la phase 3 sur la mise en oeuvre de la convention de l'OCDE sur la lutte contre la corruption par la Suisse, Dezember 2011, Rz. 75, und Maurer, Barbara/ Siegenthaler, Lukas, OECD-Länderexamen: Die Schweiz im internationalen Vergleich, Die Volkswirtschaft 10-2012, S. 59 ff., 62.

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Daher besteht ein grösseres Risiko, dass es zu strafbaren Handlungen kommt. Vor diesem Hintergrund sind grössere Kapazitäten für die Aufdeckung und für Reaktionsmassnahmen erforderlich, zu denen auch ein angemessener Umgang mit Meldungen von Unregelmässigkeiten gehört.

1.1.3

Geltendes Recht

Relevante Vorschriften finden sich in verschiedenen Bereichen des Rechts: im Arbeitsrecht, im Gesellschaftsrecht, im Strafrecht, im Datenschutz. Sie lassen sich nach drei hauptsächlichen Regelungszielen gliedern: die Regelung der internen Meldeverfahren, die Regelung der Meldepflicht oder des Melderechts und der Schutz von Hinweisgebern vor allfälligen Vergeltungsmassnahmen.

Interne Meldeverfahren Keine Verpflichtung zur Einrichtung eines internen Verfahrens Im Rahmen des Gesellschaftsrechts muss geprüft werden, ob ein internes Kontrollsystem existiert. Dieses muss von der Revisionsstelle berücksichtigt werden (Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3 und Abs. 2 OR). Die Einrichtung eines internen Meldeverfahrens wird hingegen nicht verlangt. Eine solche Pflicht ist auch im öffentlichen Sektor nicht die Regel. Schweizer Unternehmen, die in den Vereinigten Staaten an einer Börse kotiert sind, und Schweizer Niederlassungen von kotierten amerikanischen Unternehmen unterstehen jedoch dem Sarbanes-Oxley-Gesetz. Dieses verlangt, dass Verfahren festgelegt werden, mit denen ungewöhnliche Vorgänge im Bereich der Buchführung und Buchprüfung gemeldet werden können.17 In Artikel 102 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs (StGB)18 ist eine primäre Verantwortlichkeit von Unternehmen im Zusammenhang mit bestimmten Straftaten (organisierte Kriminalität, Finanzierung von Terrorismus, Geldwäscherei und Korruption) vorgesehen, wenn das Unternehmen «nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat», um eine solche Straftat zu verhindern.

Aus der Verpflichtung, alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren zu treffen, könnte sich die Verpflichtung ergeben, ein Meldeverfahren einzurichten. Es besteht indessen keine Praxis, die in diese Richtung geht. Wie bereits erläutert wurde (siehe oben Ziff. 1.1.2), wurde 2011 eine erste Verurteilung auf der Grundlage von Artikel 102 Absatz 2 StGB in einem Korruptionsfall ausgesprochen.

Dem verurteilten Unternehmen wurde vorgeworfen, nichts gegen Praktiken unternommen zu haben, die gegen seine eigenen Richtlinien verstiessen und in seiner Compliance-Abteilung nicht angemessen qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl beschäftigt zu haben. Ausserdem wurde die Organisation dieses Unternehmens als inadäquat beurteilt, da die Compliance-Abteilung einer
Unternehmenseinheit am Hauptsitz angeschlossen war, welche die Vertriebsanstrengungen des Unternehmens unterstützte.

Was den Bankensektor anbelangt, wurde im Rundschreiben der Eidgenössischen Bankenkommission zur «internen Überwachung und Kontrolle bei Banken» vom 27. September 2006 nicht vorgesehen, ein Meldeverfahren einzuführen. Dies im 17 18

Sarbanes-Oxley Act aus dem Jahr 2002, sec. 301, m. 4. Das US-amerikanische Recht wird nachstehend in Ziff. 1.4.2 vorgestellt.

SR 311.0

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Unterschied zum Entwurf des gleichen Rundschreibens, der in Bezug auf diesen Punkt kritisiert worden war. Der Entwurf enthielt eine Ziffer 44, mit der die Einführung eines Meldeverfahrens für Unternehmen vorgesehen wurde, die über einen Prüfungsausschuss verfügen müssen.19 Das betreffende Rundschreiben wurde durch das Rundschreiben 2008/24 ersetzt, in dem die Einführung eines Meldeverfahrens ebenfalls nicht vorgesehen ist.20 Im Arbeitsrecht ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Persönlichkeit und die Gesundheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beispielsweise mit Hilfe eines internen Meldesystems zu schützen. Er muss sie insbesondere vor sexueller Belästigung und vor Mobbing bewahren (Art. 328 Abs. 1 OR, Art 6 Abs. 1 ArG21 und Art. 4­5 GlG22). Gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) besteht eine bedeutende Massnahme für die Verhinderung von sexueller Belästigung oder Mobbing darin, dass unternehmensintern oder -extern eine Vertrauensperson bestimmt wird.23 Laut dem SECO muss diese Vertrauensperson über die Kompetenzen verfügen, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Ausserdem müssen die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit dieser Person ein Vertrauensverhältnis aufbauen können. Dies wird insbesondere durch die Geheimhaltungspflicht und dadurch ermöglicht, dass zwischen der Vertrauensperson und den Mitarbeitenden des Unternehmens kein Subordinationsverhältnis besteht. Das Bundesgericht hat die Möglichkeit bestätigt, gestützt auf diese Grundlage die Bezeichnung einer Vertrauensperson ausserhalb der Unternehmenshierarchie zu verlangen, und zwar auch bei Unternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen.24 Im Übrigen muss gemäss Artikel 48 Absatz 1 Buchstabe a ArG und Artikel 10 Buchstabe a des Mitwirkungsgesetzes vom 17. Dezember 199325 über die Schutzmassnahmen informiert werden.

Vorgehen im Anschluss an eine Meldung Verschiedene gesetzliche Grundlagen verpflichten den Arbeitgeber, eine Meldung zu berücksichtigen und darauf zu reagieren. So muss der Arbeitgeber die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen innerhalb der Organisation gewährleisten. In Aktiengesellschaften muss der Verwaltungsrat die Einhaltung der Gesetze, Statuten, Reglemente und Weisungen überwachen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR). Diese Zuständigkeit gehört zu seinen
unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben. Für eine juristische Person besteht eine primäre strafrechtliche Verantwortlichkeit bei bestimmten Straftaten (Art. 102 Abs. 2 StGB), aber auch eine subsidiäre strafrechtliche Verantwortlichkeit (Art. 102 Abs. 1 StGB). Die ausservertragliche Haftung des Arbeitgebers für Verrichtungen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin (Art. 55 OR) umfasst heute auch eine Haftung für eine mangelhafte Arbeitsorganisation.26 Diese Haftung wie auch die vertragliche Haftung für Hilfspersonen (Art. 101 OR) 19

20 21 22 23 24 25 26

Der Entwurf ist www.finma.ch/archiv/ebk/d/archiv/2005/20050504/ 050504_02_d.pdf und die Stellungnahmen unter http://www.finma.ch/archiv/ebk/ d/regulier/stellungnahmen.html Verfügbar unter www.finma.ch/d/regulierung/Documents/finma-rs-2008-24.pdf.

Bundesgesetz vom 13. März 1964 über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel, SR 822.11 Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann, SR 151.1 SECO, Wegleitung zu den Verordnungen 3 und 4 zum Arbeitsgesetz, Mai 2011, Anhang, Art. 2 ArGV 3, S. 302 G ­ 302 H Urteil des BGer vom 9. Mai 2012, 2C_462/2011, E. 4 und 5 SR 822.14 BGE 110 II 456

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haben zudem eine Garantenstellung des Arbeitgebers zur Folge, aufgrund der er wegen Unterlassung strafrechtlich haftet.27 Ausserdem stellt die Meldung eine Verletzung der Persönlichkeit des beschuldigten Arbeitnehmers oder der beschuldigten Arbeitnehmerin dar. Dieser muss davor geschützt werden, insbesondere durch eine Überprüfung des vorgebrachten Sachverhalts. Diese Überprüfung ist auch eine notwendige Vorbedingung, falls eine Kündigung in Betracht gezogen wird. Eine gegen den Hinweisgeber oder die Hinweisgeberin ausgesprochene fristlose Kündigung lässt sich nur bei einer verleumderischen oder böswilligen Meldung rechtfertigen.28 Überdies ist eine gegen den beschuldigten Arbeitnehmer oder die beschuldigte Arbeitnehmerin ausgesprochene Kündigung auf der Grundlage eines bestrittenen und nicht erwiesenen Sachverhalts missbräuchlich.29 Ebenso ist eine fristlose Kündigung auf der Grundlage eines Verdachts ungerechtfertigt, wenn sich der Verdacht in der Folge nicht bestätigt, es sei denn, es handle sich um einen qualifizierten Verdacht, der sich auf eine schwere Straftat bezieht.30 Der Arbeitgeber hat somit die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zu überprüfen. Ein internes Meldeverfahren ist diesbezüglich ein nützliches Element, wobei keine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines solchen Verfahrens besteht.

Auch wenn kein solches Verfahren eingerichtet wurde, darf der Arbeitgeber die Meldung einer Unregelmässigkeit nicht ignorieren. Er ist vielmehr verpflichtet, die erhaltenen Informationen zu überprüfen. Zudem muss er Massnahmen ergreifen, wenn sich der Verdacht bestätigt.

Vorschriften zur Regelung des internen Meldeverfahrens und zur Behandlung der Meldung Der Arbeitgeber hat die Persönlichkeit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine Unregelmässigkeit melden, und jene der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die dabei beschuldigt werden, zu schützen (Art. 328 OR). Insbesondere der Datenschutz muss gewährleistet werden. Artikel 328b OR regelt die Frage des Datenschutzes im Arbeitsverhältnis. Es handelt sich um eine relativ zwingende Bestimmung (Art. 362 OR). Gestattet ist die Bearbeitung von Daten über den Arbeitnehmer oder die Arbeitnhemerin, welche die Eignung für das Arbeitsverhältnis betreffen oder zur Durchführung des Arbeitsvertrages erforderlich sind. Die Notwendigkeit,
den Verdacht in Bezug auf allfällige Unregelmässigkeiten zu bestätigen, entspricht diesen Bedingungen. Artikel 328b OR verweist ausserdem auf das Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG).31 Gemäss Artikel 4 Absatz 4 DSG müssen die Beschaffung von Personendaten und der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein. Dies bedeutet, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, über die eine Meldung erstattet wird, davon in Kenntnis gesetzt werden müssen. Die Informationspflicht beim Beschaffen von besonders schützenswerten Personendaten und Persönlichkeitsprofilen ist in Artikel 14 Absatz 1 DSG ausdrücklich vorgesehen. Diese Informationspflicht gilt unabhängig davon, ob die Daten direkt bei der betroffenen Person oder bei Dritten beschafft werden. Werden die Daten nicht direkt bei der betroffenen Person beschafft, hat 27 28 29 30 31

BGE 117 IV 130, E. 2a Urteil des BGer vom 20.5.2008, 4A_32/2008, E. 4.2 Urteil des BGer vom 1.12.2010, 4A_510/2010, E. 3.2 Urteil des BGer vom 3.8.1999, 4C.103/1999, E. 3, Praxis 2000 Nr. 11 SR 235.1

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deren Information spätestens bei der Speicherung der Daten oder, wenn die Daten nicht gespeichert werden, bei der ersten Bekanntgabe an Dritte zu erfolgen (Art. 14 Abs. 3 DSG). Die verdächtigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben ein Auskunftsrecht in Bezug auf die über sie vorhandenen Daten (Art. 8 DSG), und sie können verlangen, dass unrichtige Daten berichtigt werden (Art. 5 Abs. 2 DSG). Die Auskunft kann verweigert oder eingeschränkt werden, sofern ein Gesetz im formellen Sinne dies vorsieht oder wenn dies wegen überwiegender Interessen Dritter erforderlich ist (Art. 9 Abs. 1 DSG). Die in Artikel 14 DSG vorgesehene Information kann ebenfalls aus diesen Gründen verweigert oder eingeschränkt werden (Art. 14 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 und 4 DSG). Der Schutz der Persönlichkeit der verdächtigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnnen bedeutet auch, dass diese das Recht haben, zu den ihnen gemachten Vorwürfen angehört zu werden. Ein vertraulicher Umgang mit den Daten ist in Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung vom 14. Juni 199332 zum Bundesgesetz über den Datenschutz vorgesehen.

Legt der Arbeitgeber den Namen des Arbeitnehmers offen, der eine Meldung erstattet hat, wird dessen Persönlichkeit verletzt. Er ist daher nur dann berechtigt, den Namen offenzulegen, wenn ein Rechtfertigungsgrund im Sinne von Artikel 13 Absatz 1 DSG vorliegt. Ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers im Zusammenhang mit der nachfolgenden internen Untersuchung fällt insbesondere in Betracht, wenn beispielsweise eine Konfrontation mit dem verdächtigten Arbeitnehmer erforderlich ist. Das Interesse des verdächtigten Arbeitnehmers oder der verdächtigten Arbeitnehmerin allein sollte es dagegen nicht rechtfertigen, dass der Name offengelegt wird.

Eine allfällige interne Untersuchung im Anschluss an eine Meldung unterliegt verschiedenen Beschränkungen. So hat ein Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin überwachen will, um einen Verdacht zu bestätigen, mehrere Einschränkungen zu beachten. Aus Gründen des Gesundheitsschutzes dürfen Kontroll- und Überwachungssysteme nicht eingesetzt werden, wenn sie ausschliesslich oder hauptsächlich dazu dienen, das Verhalten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnnen am Arbeitsplatz zu überwachen (Art. 26 Abs. 1 ArGV 3).33 Die Rechtsprechung hielt ebenfalls als
zusätzliche Bedingung den allgemeinen und permanenten Charakter des Überwachungssystems fest.34 Eine Überwachung für einen anderen Zweck ist zulässig, wenn sie verhältnismässig ist und die betroffenen Arbeitnehmer vorgängig davon in Kenntnis gesetzt werden. Dies gilt auch für jene Fälle, in denen de facto das Verhalten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen überwacht wird.35 So wurde die Überwachung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin mit Hilfe von Spyware ohne vorgängige Inkenntnissetzung der betroffenen Person als rechtswidrig beurteilt. Im konkreten Fall ging es um die Erhärtung des Verdachts, dass der betreffende Arbeitnehmer Informatikressourcen für private Zwecke nutzt.36 Das Bundesgericht hat indessen in bestimmten Fällen die Rechtmässigkeit einer verborgenen Überwachung anerkannt, wenn diese darauf ausgerichtet ist, den Verdacht bezüglich einer Straftat zu bestätigen, und sie weder

32 33 34 35 36

SR 235.11 Verordnung 3 vom 18. August 1993 zum Arbeitsgesetz, SR 822.113; BGE 130 II 425, E. 4.4 Urteil des BGer vom 12.11.2009, 6B_536/2009, E. 3.6.2 BGE 130 II 425, E. 4.4 BGE 139 II 7, E. 5.5

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umfassend noch permanent sowie nur von kurzer Dauer ist.37 Die Rechtmässigkeit einer Überwachung wirkt sich auf die Beweismittel aus, die mit Hilfe dieses Instruments beschafft werden. Rechtswidrig beschaffte Beweismittel können in einem späteren Verfahren grundsätzlich nicht verwertet werden (Art. 141 StPO; Art. 152 Abs. 2 ZPO), und sie können gegebenenfalls nicht für eine Kündigung aus wichtigen Gründen herangezogen werden.38 Ausserdem muss die Überwachung gemäss den Artikeln 328 und 328b OR und dem DSG durchgeführt werden. Laut der Rechtsprechung entsprechen die Bedingungen für den Persönlichkeitsschutz und den Datenschutz den Bedingungen in Artikel 26 Absatz 3 ArGV 3.39 Der Persönlichkeitsschutz und der Datenschutz sind weiterhin massgebend für Überwachungs- und Untersuchungsmassnahmen, bei denen kein Überwachungssystem im Sinne von Artikel 26 ArGV 3 eingesetzt wird.

Der Zugriff auf den Inhalt des Schriftverkehrs der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und auf ihre Fernmeldegespräche ist überdies in den Artikeln 179­179quinquies StGB geregelt, die den Geheimbereich und den Privatbereich jeder Person schützen.

So muss beispielsweise für eine Videoüberwachung die Einwilligung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin eingeholt werden. Wenn es sich um eine verborgene Überwachung handelt, darf sie sich nicht auf den Geheimbereich oder auf Sachverhalte des Privatbereichs beziehen, die nicht für jedermann ersichtlich sind (Art. 179quater StGB).

Im Übrigen sind im Rahmen der Befragung des verdächtigten Arbeitnehmers oder der verdächtigen Arbeitnehmerin der Persönlichkeitsschutz, der Datenschutz und die Treuepflicht des Arbeitnehmers (Art. 321a OR) zu berücksichtigen. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hat bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuarbeiten und muss die gestellten Fragen entsprechend der Treuepflicht wahrheitsgemäss beantworten. Es müssen indessen nur Fragen beantwortet werden, die mit dem vorgeworfenen Sachverhalt zusammenhängen. Wenn hingegen der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin die Feststellung des Sachverhalts durch den Arbeitgeber behindert, ist Letzterer berechtigt, auf der Grundlage eines blossen Verdachts eine fristlose Kündigung auszusprechen.40 Nach Abschluss der Untersuchung darf das Dossier nur aufbewahrt werden, wenn es die Anforderungen des Persönlichkeitsschutzes
und des Datenschutzes erfüllt. Denn die Aufbewahrung von Daten entspricht einer Datenverarbeitung im Sinne des DSG.

Der verdächtigte Arbeitnehmer kann verlangen, dass ungenaue Daten berichtigt werden, dass das Dossier vernichtet wird (Art. 15 Abs. 1 DSG) oder dass in Bezug auf den umstrittenen Inhalt von Daten, bei denen weder die Richtigkeit noch die Unrichtigkeit nachgewiesen werden kann, ein entsprechender Vermerk angebracht wird (Art. 15 Abs. 2 DSG).

Pflicht und Recht zur Meldung von Unregelmässigkeiten Die Pflicht und das Recht zur Meldung von Unregelmässigkeiten ergeben sich aus verschiedenen Grundsätzen und Vorschriften: Meinungsäusserungsfreiheit, Treuepflicht des Arbeitnehmers, strafrechtliche Bestimmungen und Spezialgesetze.

Abhängig davon, ob die Meldung innerhalb der Organisation erfolgt (interne Mel37 38 39 40

Urteil des BGer vom 10.6.2011, 9C_785/2010, E. 6.7.3 BGE 139 II 7, E. 6 und 7 BGE 130 II 425, E. 3.3; Urteil des BGer vom 10.6.2011, 9C_785/2010, E. 6.6 Urteil des BGer vom 3.8.1999, 4C.103/1999, E. 3, Praxis 2000 Nr. 11

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dung) oder ob sie sich an eine Behörde oder an die Öffentlichkeit richtet (externe Meldung), gelten unterschiedliche Regeln.

Meinungsäusserungsfreiheit Insbesondere die externe Meldung hängt mit der Meinungsäusserungsfreiheit des Arbeitnehmers zusammen und muss gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus diesem Grund geschützt werden (siehe Ziff. 5.2.1). Doch dieses Recht gilt nicht absolut. Einschränkungen sind möglich, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und in einer demokratischen Gesellschaft für das Erreichen legitimer Ziele notwendig sind. Der Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer gehören zu den Zielen, für deren Erreichung die Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt werden kann (Art. 10 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK).41 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkennt namentlich, dass die Meldung einem öffentlichen Interesse entsprechen muss und dass dieses gegenüber der Treuepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und dem vom Arbeitgeber erlittenen Schaden überwiegen muss. Grundsätzlich ist die Meldung zuerst an den Arbeitgeber, anschliessend an eine Behörde und erst als ultima ratio an die Öffentlichkeit zu richten.

Treuepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin Gemäss Artikel 321a Absatz 1 OR hat der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin «die berechtigten Interessen des Arbeitgebers in guten Treuen zu wahren». Die Treuepflicht begründet mehrere Nebenverpflichtungen. Von diesen sind einige gesetzlich festgelegt, während andere in der Rechtsprechung und der Rechtslehre konkretisiert wurden.42 Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin ist insbesondere verpflichtet, geheim zu haltende Tatsachen, wie Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisse, anderen nicht mitzuteilen (Art. 321a Abs. 4 OR). Die Konkretisierung der Treuepflicht hängt vom jeweiligen Arbeitsvertrag ab. So bestehen beispielsweise für normale Mitarbeitende nicht die gleichen Loyalitätsanforderungen wie für Kadermitglieder.43 Die Treuepflicht kann von den Parteien vertraglich geregelt werden.

Die Treuepflicht bildet die Grundlage für die Bestimmungen, die hinsichtlich der internen Meldung von Unregelmässigkeiten gelten. In bestimmten Fällen ist eine Pflicht zur Meldung von Unregelmässigkeiten anerkannt.44
Das Bestehen dieser Pflicht hängt je nach Auffassung von der beruflichen Stellung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und von seinen oder ihren Aufsichtsfunktionen ab. Als massgebendes Kriterium gilt auch der Schweregrad der unerlaubten Handlung. Die Rechtsprechung anerkennt auch in bestimmten Fällen eine Garantenstellung eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin, welche die Strafbarkeit durch Unterlassen auf strafrechtlicher Ebene nach sich zieht (Art. 11 StGB): Wenn eine Garantenstellung besteht, ist der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zum Handeln verpflichtet und könnte aufgrund von Passivität, die mit der Handlungspflicht nicht vereinbar ist, strafrechtlich belangt werden (Art. 11 Abs. 1 und 2 StGB). Passivität besteht dann, wenn die Gefährdung oder Verletzung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes 41 42 43 44

SR 0.101 BGE 113 IV 68, E. 6a BGE 130 III 28, E. 4.1; 127 III 86, E. 2c Siehe BGE 113 IV 68, E. 6b

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nicht verhindert wird (Art. 11 Abs. 2 StGB). Die Pflicht zur Meldung eines Verdachts oder einer Unregelmässigkeit gehört zu den Handlungen, mit denen das Begehen einer Straftat verhindert werden kann. Die Treuepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin reicht nicht aus, um eine Garantenstellung zu begründen.

Mit den Aufgaben des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin muss eine Pflicht zur Erhaltung der Vermögenswerte des Arbeitgebers verbunden sein. Die unerlaubte Handlung muss auch in den Zuständigkeitsbereich des Arbeitnehmers fallen; die Pflicht zur Erhaltung der Vermögenswerte des Arbeitgebers kann sich grundsätzlich nicht auf Handlungen von Mitarbeitenden der gleichen Hierarchieebene und von Vorgesetzten erstrecken.45 Bei einer rechtlichen Verpflichtung zum Handeln wird auch eine Gehilfenschaft durch Unterlassen anerkannt.46 Grundsätzlich ist das Recht, Unregelmässigkeiten organisationsintern zu melden, mit der Treuepflicht vereinbar. Die Meldung von Unregelmässigkeiten mit dem Ziel, diese zu beseitigen, dient den Interessen des Arbeitgebers.

Das Verfahren, das organisationsintern für die Meldung von Unregelmässigkeiten zu befolgen ist, muss den in der Organisation geltenden Weisungen entsprechen (Art. 321d OR). Der Arbeitnehmer hat also den Dienstweg einzuhalten, oder er richtet sich an die Anlaufstelle, die für die Entgegennahme von Meldungen eingerichtet wurde. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin sollte jedoch die Möglichkeit haben, von den vorgegebenen Verfahren abzuweichen, wenn die Treuepflicht und die Interessen des Arbeitgebers dies erfordern. Wenn etwa ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin ein strafbares Verhalten des Vorgesetzten bemerkt, sollte keine Verpflichtung bestehen, den Dienstweg einzuhalten.

Die externe Meldung ist durch die Treuepflicht strenger eingeschränkt. Externe Meldungen sind nur in Ausnahmefällen gestattet. Gemäss der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre gilt die berufliche Schweigepflicht auch für Unregelmässigkeiten. Eine externe Meldung solcher unerlaubter Handlungen wird nur bei einem überwiegenden Interesse als zulässig erachtet, wobei der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu berücksichtigen ist.47 Die Wahrung der Verhältnismässigkeit bedeutet insbesondere, dass sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zuerst an den Arbeitgeber
und erst danach an eine Behörde wendet. Die Kundgabe an die Öffentlichkeit darf nur als ultima ratio erfolgen, d. h. nur unter der Voraussetzung, dass die kontaktierte Behörde keine Massnahmen ergreift und dass ein Hinweis an die Öffentlichkeit angesichts der Umstände gerechtfertigt ist. Das Bundesgericht zieht grundsätzlich die direkte Meldung von Unregelmässigkeiten bei einer Behörde in Betracht, doch legt es die Umstände nicht fest, unter denen eine solche Meldung zulässig ist:48 Es hat eine gegen einen Arbeitnehmer ausgesprochene fristlose Kündigung bestätigt, der Meldung gegen seinen Vorgesetzten und Direktor erstattet hatte, indem er sich direkt an die Strafverfolgungsbehörde gewandt hatte. Die berücksichtigten überwiegenden Faktoren waren der Schweregrad der Verletzung der Treuepflicht (Meldung von schweren Straftaten durch ein Kadermitglied bezüglich seines Vorgesetzten und Direktors) und insbesondere der böswillige Charakter der Meldung, da kein objektiver Grund bestand, der auf die Begehung einer Straftat hindeutete.49 45 46 47 48 49

BGE 113 IV 68, E. 6a, 6e und 7 BGE 121 IV 120, E. 3a und b BGE 127 III 310, E. 5a BGE 127 III 310, E. 5a und 5b Urteil des BGer vom 20.5.2008, 4A_32/2008, E. 3.3

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Die Treuepflicht verpflichtet jedoch nicht zu einer externen Meldung von Unregelmässigkeiten. Eine solche Verpflichtung kann nur aus ausdrücklichen Spezialbestimmungen resultieren.

Was die Situation im öffentlichen Sektor anbelangt, erfolgten kürzlich substanzielle Änderungen. Seit dem 1. Januar 2011 ist das Bundespersonal, das dem Bundespersonalgesetz vom 24. März 2000 (BPG)50 untersteht, verpflichtet, alle von Amtes wegen zu verfolgenden Verbrechen oder Vergehen den Strafverfolgungsbehörden, den Vorgesetzten oder der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) zu melden (Art. 22a Abs. 1 BPG). Vorbehalten bleiben Meldepflichten, die in Spezialgesetzen vorgesehen sind (Art. 22a Abs. 2 BPG). Das Zeugnisverweigerungsrecht gemäss der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO)51 entbindet auch von der Meldepflicht (Art. 22a Abs. 3 BPG). Die Angestellten des Bundes sind weiter berechtigt, andere Unregelmässigkeiten der Eidgenössischen Finanzkontrolle zu melden. Diese klärt den Sachverhalt ab und trifft die notwendigen Massnahmen (Art. 22a Abs. 4 BPG).

Im Jahr 2011 sind bei der Eidgenössischen Finanzkontrolle 50 Meldungen eingegangen, 2012 wurden 86 Meldungen verzeichnet.52 Diese Bestimmungen schränken die Treuepflicht und das Berufs-, Geschäfts- und Amtsgeheimnis ein, die in Artikel 20 Absatz 1 BPG und in den Artikeln 22 Absatz 1 BPG und 94 der Bundespersonalverordnung vom 3. Juli 2001 (BPV)53 verankert sind.

Dem BPG untersteht nicht das gesamte Bundespersonal. Mehrere selbstständige Institutionen verfügen über ein öffentlich-rechtliches Personalstatut, das sich nicht aus dem BPG ableitet: Eidgenössisches Institut für Geistiges Eigentum, Swissmedic, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat und FINMA. Andere Institutionen weisen privatrechtliche Arbeitsverhältnisse auf und unterstehen dem Obligationenrecht. Dazu gehören insbesondere die folgenden Institutionen: Swisscom, Pro Helvetia, Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Eidgenössische Revisionsaufsichtsbehörde, Schweizerische Exportrisikoversicherung, Skyguide AG und RUAG.54 Die Anstellungsverhältnisse der Schweizerischen Post werden nach Ablauf der Übergangsregelung, die in Artikel 13 Absatz 6 des neuen Postorganisationsgesetzes55 festgehalten ist (auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines neuen GAV, spätestens jedoch zwei Jahre nach der
Umwandlung der Rechtsform), ebenfalls dem Privatrecht unterstehen. Die Bestimmungen, die das Personalstatut regeln, müssen je nach Fall vom Bundesrat genehmigt werden. Was die Meldung von Unregelmässigkeiten anbelangt, unterstehen die Institutionen, für die eine öffentlich-rechtliche Spezialvorschrift besteht, weder dem BPG noch dem OR. Nach dem Inkrafttreten von Artikel 22a BPG hat das Eidgenössische Personalamt die Departemente über die neue Regelung und deren Geltungsbereich in Kenntnis gesetzt. Das Personalamt hat die Departemente gebeten, die selbstständigen Institutionen, für die sie zuständig sind, für die Problematik zu sensibilisieren, damit sie eine entsprechende Regelung vorsehen. Die Institutionen, deren Personal dem Privatrecht untersteht, werden die Vorschriften des 50 51 52 53 54

55

SR 172.220.1 SR 312.0 Jahresbericht 2011 des Eidgenössischen Finanzkontrolle, S. 26 und Jahresbericht 2012, S. 38.

SR 172.220.111.3 Siehe den Zusatzbericht des Bundesrates vom 25. März 2009 zum Corporate-Governance-Bericht ­ Umsetzung der Beratungsergebnisse des Nationalrates, BBl 2009 2659, Ziff. 4.4.

Bundesgesetz vom 17. Dezember 2010 über die Organisation der Schweizerischen Post, SR 783.1.

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OR anwenden. Einige Institutionen wie die Schweizerische Post und die Swisscom haben interne Meldesysteme eingeführt.

Was die Treue- und Schweigepflicht und das Amtsgeheimnis betrifft, besteht in den Kantonen eine vergleichbare Rechtslage.56 Die Verpflichtungen zur Meldung von Unregelmässigkeiten, die in den kantonalen Strafprozessordnungen festgehalten waren, wurden mit dem Inkrafttreten der StPO am 1. Januar 2011 aufgehoben.

Gemäss Artikel 302 Absatz 1 StPO sind die Strafbehörden verpflichtet, alle Straftaten, die sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit festgestellt haben oder die ihnen gemeldet worden sind, der zuständigen Behörde anzuzeigen, soweit sie für die Verfolgung nicht selber zuständig sind. Gemäss Absatz 2 dieses Artikels regeln Bund und Kantone die Meldepflicht der Mitglieder anderer Behörden. Zwanzig Kantone sehen eine Pflicht zur Meldung strafbarer Handlungen vor. Die Voraussetzungen sind mehr oder weniger breit gefasst. In den meisten Fällen ist die Pflicht auf Verbrechen und Vergehen, auf Verbrechen und Offizialdelikte oder auf Verbrechen und schwere Straftaten beschränkt. Es sind auch Ausnahmen vorgesehen. Diese sind auf unterschiedliche Weise festgelegt, doch grundsätzlich sind sie auf Beamte ausgerichtet, die in einem speziellen Vertrauensverhältnis zu den Bürgern und Bürgerinnen stehen (insbesondere im Gesundheitsbereich, aber beispielsweise auch durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter). Im Kanton Solothurn ist das Recht vorgesehen, ein Verbrechen oder ein Offizialdelikt anzuzeigen. Der Kanton Graubünden anerkennt ebenfalls das Recht, von Amtes wegen verfolgte Straftaten zu melden, doch macht er einen Vorbehalt in Bezug auf das Amtsgeheimnis. In den Kantonen Glarus, Luzern, Waadt und Uri besteht weder das allgemeine Recht noch eine allgemeine Pflicht, Unregelmässigkeiten zu melden. Die Kantone Appenzell-Innerrhoden, Nidwalden und St. Gallen kombinieren die Pflicht zur Meldung der schwersten Straftaten (z. B. Verbrechen) mit einem Recht, die übrigen strafbaren Handlungen zu melden. Der Kanton St. Gallen ist der erste Kanton, der in seinem Personalgesetz vom 25. Januar 2011 eine Bestimmung eingeführt hat, die mit Artikel 22a Absatz 4 BPG vergleichbar ist. Die Mitarbeitenden verstossen nicht gegen die Treuepflicht, wenn sie der internen Meldestelle in Treu und Glauben Missstände
melden (Art. 62 Abs. 1 des sanktgallischen Personalgesetzes). Die Artikel 1619 der dazugehörigen Personalverordnung regeln die Bezeichnung der internen Meldestelle und deren Kompetenzen sowie das Verfahren für die Bearbeitung von Meldungen. Der Kanton Basel-Stadt hat am 10. April 2013 eine ähnliche Bestimmung erlassen. Artikel 19a des baselstädtischen Personalgesetzes gestattet die Meldung in Treu und Glauben von Missständen an den kantonalen Ombudsmann (Abs. 1). Für die Angestellten dürfen sich daraus keine Nachteile ergeben (Art. 19a Abs. 4). In der neuen Verfassung des Kantons Genf57 ist vorgesehen, dass jede Person, die in Treu und Glauben und in Wahrung des allgemeinen Interesses der zuständigen Stelle auf zulässige Art und Weise festgestellte rechtswidrige Handlungen meldet, einen angemessenen Schutz geniesst (Art. 26 Abs. 3 der Verfassung des Kantons Genf im Zusammenhang mit der Meinungs- und Meinungsäusserungsfreiheit). Der Staatsrat schlägt vor, eine Mediationsstelle für den Kanton Genf einzurichten, um die Meldungen der

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Siehe z. B. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 20. April 1994, in Hänni, Peter, Das öffentliche Dienstrecht der Schweiz, Zürich 2002, S. 115 ff., E. 4c und bezüglich des Amtsgeheimnisses Urteil des BGer vom 12.12 2011, 6B_305/2011.

Von den Stimmberechtigten am 14. Oktober 2012 angenommen und am 1. Juni 2013 in Kraft getreten.

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Kantonsangestellten entgegenzunehmen58. Gegenwärtig müssen die Meldungen an den kantonalen Rechnungshof gerichtet werden. In anderen Kantonen wurden entsprechende Initiativen lanciert. Im Kanton Luzern wartet die Regierung eine Lösung auf Bundesebene ab, um anschliessend eine im Jahr 2008 angenommene Motion umzusetzen, welche die Einrichtung einer unabhängigen Meldestelle und den Schutz von Verwaltungsangestellten verlangt, die dieser Stelle Unregelmässigkeiten melden.59 Im Kanton Neuenburg wird eine Verfassungsbestimmung vorgeschlagen, die mit Artikel 26 Absatz 3 der Verfassung des Kantons Genf vergleichbar ist.60 Im Kanton Waadt wurde eine Motion61, welche die Einrichtung einer Meldestelle für das Kantonspersonal und Bestimmungen für einen wirksamen Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern verlangt, vom Grossen Rat am 3. April 2012 als Postulat überwiesen. Der Staatsrat des Kantons Waadt hat in seinem Bericht vom 3.

Juli 2013 vorgeschlagen, eine allgemeine Pflicht zur Anzeige aller Offizialdelikte einzuführen sowie ein Recht, sämtliche anderen Unregelmässigen anzuzeigen. Eine ähnliche Motion wurde im Kanton Zürich am 17. September 2012 vom Kantonsparlament abgelehnt. Dieser Entscheid hängt unter anderem mit der Tatsache zusammen, dass sich die Kantonsangestellten im Kanton Zürich an einen Ombudsmann wenden können. Auf seinem Internetportal präsentiert sich der Ombudsmann als Korruptionsmeldestelle und weist insbesondere darauf hin, dass das Amtsgeheimnis nicht verletzt wird.62 Im Kanton Basel-Landschaft verlangt eine Motion63 vom 24. Januar 2013, dass Whistleblower geschützt werden. Das Zuger Kantonsparlament hat am 29. August 2013 in einer ersten Lesung einen neuen Artikel 28bis des kantonalen Personalgesetzes gutgeheissen, mit welchem eine Meldestelle eingerichtet werden soll und mit welchem die Angestellten gegen Benachteiligungen als Folge einer Anzeige, welche die darin aufgeführten Voraussetzungen erfüllt, geschützt werden sollen. Ein ähnliches Projekt wird zurzeit im Kanton hurgau vorbereitet.

Soweit das Gemeindepersonal betroffen ist hat der Stadtrat von Bern im Februar 2010 eine Motion der FDP-Fraktion64 abgelehnt, mit welcher Angestellte, die Unregelmässigkeiten anzeigten, besser geschützt werden sollten. Der Umstand, dass bereits ein Ombudsman vorhanden war, wurde als ein
Argument gegen den Vorstoss vorgebracht. Der Gemeinderat der Stadt Zürich hat im November 2012 eine Motion der Grünliberalen65 als Postulat überwiesen, mit dem verlangt wurde, dass die Voraussetzungen einer zulässigen Meldung geregelt und eine Meldestelle für das Stadt58 59

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Entwurf vom 4. September 2013 über die Einrichtung einer Mediationsstelle im Kanton Genf, PL 11276, 10.

Motion M 9 Graf Guido und Mit. über die Verbesserung der Verwaltungskontrolle und die Optimierung von Verwaltungsabläufen vom 18. Juni 2007 und Anfrage A 283 Müller Guido und Mit. über die Umsetzung der Motion «Verbesserung der Verwaltungskontrolle und die Optimierung von Verwaltungsabläufen» vom 11.12.2012.

Entwurf für den Erlass 12.153 Fabien Fivaz vom 2. Oktober 2012, «Décret portant modification de la Constitution de la République et Canton de Neuchâtel (Cst.NE) (protection des lanceurs d'alerte)».

Motion Jean-Christophe Schwaab et consorts vom 24.4.2011 «Favoriser la révélation des faits répréhensibles, mieux protéger les lanceurs d'alertes (whistleblowers)».

www.ombudsmann.zh.ch/korruptionsmeldestelle Motion Jürg Wiedemann, «Whistleblower schützen».

Motion 09.000109 Fraktion FDP (Philippe Müller, FDP) vom 12. März 2009, «Schutz von Hinweisgebern (Whistleblowern) in der Stadtverwaltung».

Motion GR Nr. 2011/5 der GLP-Fraktion vom 12.01.2011, «Regelung für das Melden von Missständen durch Mitarbeitende der städtischen Verwaltung, Erarbeitung einer Verordnung».

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personal eingerichtet werden sollten. Basel hat die bereits dargestellte Regelung eingeführt. Das Personal der Stadt Genf untersteht der neuen kantonalen Verfassungsbestimmung. Zudem besteht auch die Möglichkeit, sich an den Rechnungshof zu wenden. Die vom Genfer Staatsrat vorgeschlagene Einrichtung einer Mediationsstelle soll ausserdem auch für die kommunale Verwaltung zuständig sein (Art. 2 Abs. 1 Bst. b des Entwurfs).

Strafrecht (Geheimhaltungspflicht, Ehrverletzung) Personen, die eine Unregelmässigkeit melden, verstossen unter Umständen gegen eine Geheimhaltungspflicht, deren Verletzung vom Strafrecht geahndet wird.

Gemäss Artikel 162 StGB werden Personen, die ein Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnis verraten, das sie infolge einer gesetzlichen oder vertraglichen Pflicht bewahren sollten, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Artikel 273 StGB (wirtschaftlicher Nachrichtendienst) und Artikel 6 des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 198666 gegen den unlauteren Wettbewerb stellen ebenfalls die Verletzung von Fabrikations- und Geschäftsgeheimnissen unter Strafe. Strafbar wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 StGB) machen sich Mitglieder einer Behörde und Beamte sowie alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die einen Beruf ausüben, der dem Berufsgeheimnis untersteht (Art. 321 StGB). Was den Bereich der Finanzdienstleistungen anbelangt, ist die Verletzung des Berufsgeheimnisses in Artikel 47 des Bundesgesetzes vom 8. November 193467 über die Banken und Sparkassen (BankG) und in Artikel 43 des Bundesgesetzes vom 24. März 1995 über die Börsen und den Effektenhandel (BEHG)68 speziell geregelt.

Diese Bestimmungen gelten indessen nicht absolut. Vorbehalten bleiben die gesetzlich vorgesehene Auskunftspflicht und die Zeugnispflicht, die insbesondere in Artikel 321 Ziffer 3 StGB und in Artikel 47 Absatz 4 BankG vorbehalten werden.

Das Recht auf die Meldung von Unregelmässigkeiten kann auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage auf der Basis der aussergesetzlichen Rechtfertigungsgründe des Strafrechts bestehen. Die Rechtsprechung anerkennt somit, dass eine Amtsgeheimnisverletzung nicht strafbar ist, sofern die Meldung der Wahrung berechtigter Interessen dient.69 Die Meldung muss einem überwiegenden Interesse entsprechen und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten. Eine
externe Meldung darf somit nur erfolgen, nachdem alle organisationsinternen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, und eine Information der Öffentlichkeit darf nur als ultima ratio in Betracht gezogen werden. Die aussergesetzlichen Rechtfertigungsgründe gelten für alle strafbaren Handlungen. Eine Verletzung des Berufsgeheimnisses ist folglich nicht strafbar, wenn sie zur Wahrung eines berechtigten Interesses dient, gegebenenfalls mit einer Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder der Aufsichtsbehörde (Art. 321 Ziff. 2 StGB). Über die Notwendigkeit einer solchen Bewilligung der Aufsichtsbehörde bei Vorliegen eines aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes gehen die Meinungen auseinander.70

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SR 241 SR 952.0 SR 954.1 BGE 94 IV 68, E. 2; 114 IV 44, E. 3b; 115 IV 75, E. 4b; Urteil des BGer vom 12.12.2011, 6B_305/2011, E. 3 und 4 Siehe Stratenwerth, Günter/Bommer, Felix, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, Bern 2008, § 59, Anm. 26.

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Eine externe Meldung ist somit nach den gleichen Ermessenskriterien (überwiegendes Interesse, Verhältnismässigkeit) zulässig, sei dies auf der Grundlage der Meinungsäusserungsfreiheit, einer Ausnahme von der Treuepflicht und der beruflichen Schweigepflicht im Arbeitsrecht oder einer Ausnahme von den im Strafrecht geregelten Geheimhaltungspflichten. Doch angesichts von spezifischen Interessen, die beispielsweise durch das Strafrecht geschützt sind, kann eine unterschiedliche Beurteilung jedes Einzelfalls nicht ausgeschlossen werden.

Eine Meldung kann auch eine Ehrverletzung darstellen, insbesondere eine üble Nachrede (Art. 173 StGB). Denn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin wendet sich an einen Dritten und beschuldigt eine Person, eine Unregelmässigkeit begangen zu haben, oder lenkt den Verdacht auf diese Person. Eine Organisation kann ebenfalls eine Beeinträchtigung ihrer Ehre geltend machen, da auch juristische Personen darin geschützt sind.71 Das Bundesgericht hat festgehalten, dass die Meldung an eine Behörde, auch wenn diese dem Amtsgeheimnis untersteht, einer Offenlegung gegenüber einem Dritten im Sinn dieser Bestimmung entspricht.72 Die Beschuldigten sind nicht strafbar, wenn sie beweisen, dass ihre Äusserungen der Wahrheit entsprechen oder dass sie ernsthafte Gründe hatten, sie in guten Treuen für wahr zu halten (Art. 173 Ziff. 2 StGB). Die Beschuldigten werden zu diesem Beweis nicht zugelassen, wenn ihre Äusserungen ohne Wahrung öffentlicher Interessen oder sonst wie ohne begründete Veranlassung vorwiegend in der Absicht vorgebracht oder verbreitet wurden, jemandem Übles vorzuwerfen (Art. 173 Ziff. 3 StGB). Diese Bestimmung enthält somit spezielle Rechtfertigungsgründe. Diese gelten subsidiär zu den allgemeinen Rechtfertigungsgründen.73 Dies bedeutet, dass eine Meldung, die aufgrund der Wahrung von übergeordneten Interessen gerechtfertigt ist, die Voraussetzungen in den Artikeln 173 Ziffer 2 und 3 StGB nicht erfüllen muss.

Schliesslich machen sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine Meldung mit dem Ziel vornehmen, dass eine Strafverfolgung gegen einen anderen Mitarbeiter oder eine andere Mitarbeiterin eröffnet wird, obwohl sie wissen, dass der oder die Betreffende unschuldig ist, strafbar wegen falscher Anschuldigung (Art. 303 StGB) und wegen Irreführung der Rechtspflege
(Art. 304 StGB).

Spezialgesetzliche Vorschriften Eine Meldepflicht oder ein Melderecht kann auch in spezialgesetzlichen Vorschriften vorgesehen werden, die für einen bestimmten Bereich gelten. Der Gesetzgeber anerkennt damit ausdrücklich ein überwiegendes Interesse an der Aufdeckung im betreffenden Bereich und bestimmt die Anlaufstellen der Meldung.

Verpflichtungen der Behörden zur Meldung von Unregelmässigkeiten sind im Banken- und Finanzsektor (Art. 23ter BankG; Art. 35 Abs. 6 BEHG; Art. 21, 23 und 27 GwG74; Art. 38 Abs. 3 FINMAG) und in den Vorschriften zum Kriegsmaterial vorgesehen (Art. 18 Abs. 2 GKG75; Art. 40 Abs. 2 KMG76). Die Steuergesetzgebung lässt Ausnahmen vom Steuergeheimnis zu, doch beschränkt sich darauf, auf allfällige andere Spezialbestimmungen zu verweisen (Art. 55 Abs. 2 Bst. a MWSTG77; 71 72 73 74 75 76 77

BGE 124 IV 262, E. 2a BGE 103 IV 22 BGE 123 IV 97, E. 2c Geldwäschereigesetz vom 10. Oktober 1997, SR 955.0 Güterkontrollgesetz vom 13. Dezember 1996, SR 946.202 Kriegsmaterialgesetz vom 13. Dezember 1996, SR 514.51 Mehrwertsteuergesetz vom 12. Juni 2009, SR 641.20

9534

Art. 39 Abs. 1 StHG78; Art. 110 Abs. 2 DBG79). Eine Meldepflicht für Privatpersonen ist in Artikel 9 Absatz 1 GwG vorgesehen. Finanzintermediäre müssen bei einem begründeten Verdacht strafbare Handlungen im Bereich der Geldwäscherei melden. Dieser Meldepflicht nicht unterworfen sind Anwälte und Anwältinnen sowie Notare und Notarinnen (Art. 9 Abs. 2 GwG). Artikel 305ter Absatz 2 StGB sieht ein Melderecht vor für den Fall, dass es Hinweise dafür gibt, dass Vermögenswerte aus einem Verbrechen herrühren könnten. Der Bundesrat beabsichtigt, die Bestimmungen in Artikel 9 GwG und Artikel 305ter Absatz 2 StGB zu ändern und nur eine Meldepflicht bei einem begründeten Verdacht beizubehalten, wobei dieser Begriff weit ausgelegt wird.80 Ein Mitteilungsrecht ist auch in Artikel 364 StGB festgehalten: Ist an einem Unmündigen eine strafbare Handlung begangen worden, darf dies der zuständigen Behörde trotz Amts- oder Berufsgeheimnis gemeldet werden. In Artikel 443 Absatz 1 des Zivilgesetzbuchs (ZGB)81 ist überdies vorgesehen, dass unter Vorbehalt der Bestimmungen über das Berufsgeheimnis jede Person der Erwachsenenschutzbehörde Meldung erstatten kann, wenn eine Person hilfsbedürftig erscheint. Gemäss Artikel 443 Absatz 2 ZGB besteht für Personen, die eine amtliche Tätigkeit ausüben, gar die Pflicht, die Behörden zu informieren. Im Rahmen der Revision des Heilmittelgesetzes wird vorgeschlagen, das Recht einzuführen, Widerhandlungen gegen das Gesetz direkt der zuständigen Behörde zu melden (Art. 59 Abs. 7 E-HMG82). Dieses Recht würde den Mitarbeitenden von Personen und Organisationen eingeräumt, die im Bereich der Herstellung, des Vertriebs sowie der Verschreibung oder Abgabe von Heilmitteln tätig sind. Sofern es im Gesetz nicht entsprechend vorgesehen ist, ist mit einer Meldepflicht oder einem Melderecht allerdings nicht zwangsläufig das Recht verbunden, den Sachverhalt direkt der zuständigen Behörde zu melden. Die internen Vorschriften der Organisation müssen berücksichtigt werden.

In Artikel 54 des Arbeitsgesetzes vom 13. März 1964 (ArG)83 ist eine Verpflichtung für die zuständige Behörde enthalten, bei Meldungen entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Das Melderecht wird jedoch in dieser Bestimmung nicht geregelt. Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, dieses Recht zu regeln, da er davon ausging, dass es jedem
frei gestellt ist, sich an die zuständige Behörde zu wenden.84 Was den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen anbelangt, wird nach der Einführung von Artikel 6 ArG auch in der Lehre das Recht anerkannt, eine Meldung direkt an das Arbeitsinspektorat zu richten.85 Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind somit berechtigt, von den für den Vollzug des ArG zuständigen Stellen zu verlangen, dass der Arbeitgeber die verlangten Massnahmen umsetzt. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin ist auf diese Weise nicht 78 79 80 81 82 83 84

85

Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden, SR 642.14 Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer, SR 642.11 Siehe Vorentwurf zum Gesetz vom 27. Februar 2013, «Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen gegen Geldwäscherei», Erläuternder Bericht, S. 79 ff.

SR 210 Botschaft vom 7. November 2012 zur Änderung des Heilmittelgesetzes, BBl 2013 1, hier 88 f.

SR 822.11 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 30. September 1960 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel, BBl 1960 II 909, 1010.

Namentlich SECO, Wegleitung zum Arbeitsgesetz und den Verordnungen 1 und 2, 2011, S. 006-2

9535

gezwungen, direkt gegen den Arbeitgeber vorzugehen, und muss auch kein Verfahren gegen ihn anstrengen, beispielsweise auf der Grundlage von Artikel 328 OR.

Schutz vor Vergeltungsmassnahmen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die auf Unregelmässigkeiten hinweisen, setzen sich dem Risiko von Vergeltungsmassnahmen aus. Am häufigsten laufen sie Gefahr, ihre Stelle zu verlieren. Es sind indessen auch andere Vergeltungsmassnahmen denkbar, insbesondere die Reduktion oder Streichung der Gratifikation, eine Versetzung, die Verweigerung einer Beförderung oder Mobbing.

Entlassung Eine Kündigung unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist kann im Sinn von Artikel 336 OR missbräuchlich sein. Die Liste der in Absatz 1 Buchstaben ae aufgeführten Gründe ist nicht abschliessend. Eine missbräuchliche Kündigung kann nicht aufgehoben werden. Es besteht jedoch ein Anspruch auf eine Entschädigung, die vom Gericht unter Würdigung aller Umstände festgesetzt wird, höchstens aber dem Lohn des Arbeitnehmers für sechs Monate entspricht (Art. 336a Abs. 1 und 2 OR). Gemäss Artikel 337 Absatz 1 OR kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Gründen auch fristlos aufgelöst werden. Eine fristlose Kündigung, die vom Arbeitgeber ohne wichtige Gründe ausgesprochen wird, bleibt ebenfalls gültig. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hat Anspruch auf Bezahlung des Lohns bis zum Ende der Kündigungsfrist sowie auf eine Entschädigung von höchstens sechs Monatslöhnen (Art. 337c Abs. 1 und 3 OR). In Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes vom 24. März 1995 (GIG)86 ist die Ausnahme von dieser Regel enthalten. Eine Kündigung ist danach anfechtbar, wenn sie auf eine Beschwerde folgt, die auf dem GIG beruht.

Eine Meldung von Unregelmässigkeiten, die nicht den Voraussetzungen des überwiegenden Interesses und der Verhältnismässigkeit entspricht, stellt eine Verletzung der Treuepflicht und der beruflichen Schweigepflicht dar. In solchen Fällen ist eine ordentliche Kündigung daher nicht missbräuchlich. Eine fristlose Kündigung ist nur gerechtfertigt, wenn die Verletzung der Treuepflicht und der beruflichen Schweigepflicht unter Berücksichtigung des betreffenden Falles besonders schwerwiegend ist oder wenn die betreffende Person zuvor im Zusammenhang mit einer weniger schwerwiegenden Verletzung dieser Pflichten verwarnt wurde.87 Die
Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Hinweis an die Medien ohne vorgängige Inkenntnissetzung des Arbeitgebers und ohne Abwarten der Reaktion der kontaktierten Behörde ein entscheidendes Element ist, dem bei der Beurteilung der wichtigen Gründe Rechnung zu tragen ist.88 Eine Kündigung unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist ist hingegen missbräuchlich, wenn sie im Anschluss an eine Meldung von Unregelmässigkeiten ausgesprochen wird, bei der die Treuepflicht und die berufliche Schweigepflicht berücksichtigt wurden. In den in Artikel 336 Absatz 1 Buchstaben a­e OR aufgeführten Gründen ist die Meldung von Unregelmässigkeiten nicht enthalten. Doch abgesehen davon, dass die Liste nicht abschliessend ist, entspricht eine Kündigung in diesem Fall einer Entlassung als Vergeltungsmassnahme, welche in Artikel 336 86 87 88

SR 151.1 Beispielsweise BGE 130 III 213, E. 3.1; 127 III 351, E. 4a BGE 127 III 310, E. 5a

9536

Absatz 1 Buchstabe d OR geregelt ist. Sie ist daher missbräuchlich, entweder auf der Grundlage dieser Bestimmung oder gestützt auf das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs, das in Artikel 336 OR konkretisiert wird.89 Ein Verdacht auf Veruntreuung durch den Vorgesetzten des Arbeitnehmers, den Letzterer gutgläubig gegenüber einem Anwalt geäussert hatte, der im Zusammenhang mit der Veruntreuung mandatiert war, wurde vom Bundesgericht geschützt. Die wegen des geäusserten Verdachts ausgesprochene Kündigung wurde als missbräuchlich beurteilt.90 Die Kündigung im Anschluss an die Meldung eines Falls von sexueller Belästigung, von dem die Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt wurde, wurde gemäss Artikel 336 Absatz 1 Buchstabe d OR ebenfalls als missbräuchlich beurteilt.91 Im öffentlichen Sektor auf Bundesebene ist eine ordentliche Kündigung bei einer Verletzung wichtiger gesetzlicher oder vertraglicher Pflichten (Art. 10 Abs. 3 Bst. a BPG) möglich. Zu diesen Pflichten gehören auch die Treuepflicht und die Schweigepflicht. Eine fristlose Kündigung ist auch aus wichtigen Gründen möglich (Art. 10 Abs. 4 BPG). Seit der am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Revision des BPG kann eine ordentliche oder fristlose Kündigung, für die wichtige Gründe fehlen, in der Regel nicht mehr aufgehoben werden (Art. 34b Abs. 1 Bst. a und b BPG). Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hat Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von sechs bis zwölf Monatslöhnen (Art. 34b Abs. 2 BPG). In bestimmten Fällen ist indessen die Weiterbeschäftigung der angestellten Person vorgesehen (Art. 34c Abs. 1 BPG). Insbesondere bei einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund der Tatsache, dass die angestellte Person gemäss Artikel 22a BPG ein Verbrechen oder ein Vergehen angezeigt oder eine Unregelmässigkeit gemeldet hat, muss der Arbeitgeber der angestellten Person die bisherige oder eine zumutbare andere Arbeit anbieten (Art. 34c Abs. 1 Bst. a BPG), sofern die angestellte Person keine Entschädigung verlangt (Art. 34c Abs. 2 BPG).

Vorbehaltlich der Rechtsvorschriften auf Bundesebene, die für jedes Arbeitsverhältnis gelten ­ insbesondere des Gleichstellungsgesetzes92 ­, regeln die Kantone den Kündigungsschutz ihres Personals nach eigenem Ermessen. Dabei können sie beispielsweise auf das Obligationenrecht verweisen.

Andere Vergeltungsmassnahmen
Was andere Vergeltungsmassnahmen anbelangt, denen Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber unter Umständen ausgesetzt sind, bestehen keine speziellen Bestimmungen. Doch verschiedene dieser Massnahmen entsprechen einer Verletzung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, die der Arbeitgeber gemäss Artikel 328 Absatz 1 OR zu achten und vor einer Verletzung durch Dritte, insbesondere durch Vorgesetzte und Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen, zu schützen hat. Die meisten Vergeltungsmassnahmen stellen für sich selbst genommen eine Persönlichkeitsverletzung dar. Mobbing und herabwürdigende Aussagen verletzen somit in jedem Fall die Persönlichkeit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin. Dasselbe gilt, wenn einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin berufliche Aufgaben oder eine Stelle zugewiesen werden, die nicht seinen bzw. ihren Qualifikationen entsprechen.93 Ebenfalls geschützt ist eine angestellte Person, die eine 89 90 91 92 93

BGE 131 III 535, E. 4.2; 132 III 109, E. 2 Urteil des BGer vom 8.7.2008, 4A_2/2008, E. 7.3 Urteil des BGer vom 22.5.2006, 4C.60/2006, E. 7 SR 151.1 BGE 110 II 172, E. 2a; Urteil des BGer vom 4.8.2006, 4C.189/2006, E. 2

9537

Unregelmässigkeit gemeldet hat und in der Folge dadurch benachteiligt wird, dass ihr eine Gratifikation verweigert wird, die ihren Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen ohne Unterscheidung gewährt wird.94 Wenn eine angestellte Person, die Unregelmässigkeiten gemeldet hat, Feindseligkeiten ihrer Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen ausgesetzt ist, muss der Arbeitgeber geeignete Massnahmen ergreifen, um den Konflikt beizulegen.95

1.1.4

Lücken im geltenden Recht und Regelungsbedarf

Meldepflicht Das geltende Recht hält in Bezug auf die Meldepflicht ausreichende Lösungen bereit (siehe Ziff. 1.1.3). Die Pflicht, den Arbeitgeber vor dem Hintergrund der Treuepflicht auf Unregelmässigkeiten hinzuweisen, kann weiterhin entsprechend den anerkannten Kriterien in jedem Einzelfall festgelegt werden. Eine allgemeine Pflicht für den gesamten privaten Sektor, die zuständige Behörde auf Unregelmässigkeiten hinzuweisen, muss nicht in Betracht gezogen werden. Es reicht aus, wenn eine solche Meldepflicht für bestimmte Bereiche in Spezialgesetzen eingeführt wird.

Die Motion Gysin (03.3212) verlangt, für das Bundespersonal die Einführung einer allgemeinen Pflicht zur Meldung von strafbaren Handlungen zu prüfen. Diese Forderung wurde für die öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse auf Bundes- und Kantonsebene erfüllt. Was die selbstständigen Institutionen des Bundes betrifft, deren Arbeitsverhältnisse dem Privatrecht unterstehen, wird sicherlich keine allgemeine gesetzliche Meldepflicht eingeführt. Es wäre aber nicht gerechtfertigt, nur für diese Fälle im Obligationenrecht eine Meldepflicht einzuführen. Diese Institutionen müssen diese Frage vielmehr in ihren jeweiligen Reglementen regeln. Dasselbe gilt für die Institutionen, die nicht dem BPG unterstehen, für die aber öffentlichrechtliche Spezialbestimmungen bestehen.

Voraussetzungen des Melderechts Das geltende Recht enthält Bestimmungen zu den Voraussetzungen des Melderechts. Die gegenwärtige Gesetzesstruktur weist jedoch gewisse Nachteile auf. So hängt jede Konkretisierung allgemeiner Regelungen von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab. Die Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen ist daher erst dann genau bekannt, wenn der Konflikt gerichtlich entschieden wurde und das Verfahren abgeschlossen ist. Daraus resultiert ein Mangel an Berechenbarkeit, der unbefriedigend ist.

Ausserdem ist die Meldung von Unregelmässigkeiten in verschiedenen Rechtsgebieten enthalten. Die Interessenabwägung beruht zwar auf identischen Kriterien, doch sie erfolgt durch Gerichte, die unter Umständen beim gleichen Fall oder in ähnlichen Fällen unterschiedliche Beurteilungen vornehmen. Nicht identisch sind indessen die Gerichte, welche die Wahrung der Meinungsäusserungsfreiheit überprüfen und das Arbeitsrecht oder das Strafrecht anwenden. Die Abwägung
zwischen den jeweiligen Interessen des Arbeitgebers und der Allgemeinheit oder die Beurteilung der Verhältnismässigkeit einer Handlung kann auch je nach den Besonderheiten jedes Rechtsgebiets und den darin geschützten Interessen unterschiedlich ausfallen. Es 94 95

BGE 129 III 276, E. 3.1 BGE 125 III 70, E. 2c; 132 III 115, E. 5.1

9538

bestehen keine Regeln für die Koordination zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten, mit denen diese Unterschiede verhindert werden könnten. Zwar sind die Grundrechte bei der Anwendung des Arbeitsrechts oder des Strafrechts zu berücksichtigen, doch in diesen beiden Rechtsgebieten bestehen keine Regeln, die zur Folge hätten, dass eine Meldung von Unregelmässigkeiten, die in Bezug auf die Treuepflicht und die Geheimhaltungspflicht rechtmässig ist, zwangsläufig auch unter dem Gesichtspunkt der Geheimhaltungspflicht rechtmässig ist, deren Verletzung strafrechtlich geahndet wird. Die Kohärenz der Entscheide ist somit nicht garantiert.

Bei der Meldung von Unregelmässigkeiten müssen jedoch die Berechenbarkeit und die Kohärenz insgesamt gewährleistet sein. Denn die Unsicherheit bei der Konkretisierung der allgemeinen Treuepflicht ist für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen problematisch. Diese steht vor einem Dilemma, wenn sie Unregelmässigkeiten feststellen, umso mehr weil eine Meldung für sie mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden sein kann. Wenn sie sich in Bezug auf ihr Melderecht nicht sicher sind, sehen sie sich daher veranlasst, Stillschweigen über einen Sachverhalt zu bewahren, dessen Meldung für die Organisation und die Allgemeinheit von Nutzen wäre. Die Mitarbeitenden einer Organisation sind aber in gewissen Fällen die einzig möglichen Informationsquellen. Oft sind sie auch am besten positioniert, um in einem frühen Stadium potenzielle gesundheitliche, ökologische oder andere Risiken zu erkennen, bevor diese tatsächlich zu einem Problem werden. Ungewissheit hat unter Umständen unverhältnismässige Handlungen zur Folge. So setzen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beispielsweise direkt die Medien über den festgestellten Sachverhalt in Kenntnis. Verleumderische Meldungen innerhalb einer Organisation und alle damit verbundenen Nachteile können auch vermieden werden, wenn deren Widerrechtlichkeit in den Rechtsvorschriften festgehalten wird. Ausserdem kann ohne Kohärenz zwischen den verschiedenen betroffenen Rechtsgebieten kein angemessener Schutz des Hinweisgebers gewährleistet werden: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich an ihre berufliche Schweigepflicht halten und sich demzufolge entsprechend ihren vertraglichen Verpflichtungen verhalten, dürfen nicht wegen diesem Verhalten
strafrechtlich verfolgt werden können.

Ohne den Erlass von Vorschriften kann die Berechenbarkeit nur mit einer konsolidierteren und detaillierteren Rechtsprechung verbessert werden. Doch bislang wurden nur wenige Urteile gefällt, und es bestehen weiterhin wichtige offene Fragen. So ist in BGE 127 III 310 das übergeordnete Interesse, das ein Abweichen von der Geheimhaltungspflicht erlaubt, nicht definiert. Ebenso wenig sind in diesem Urteil die Umstände festgelegt, die eine direkte externe Meldung von Unregelmässigkeiten rechtfertigen. Doch was die Problematik der Meldung von Unregelmässigkeiten anbelangt, sind diese beiden Fragen von zentraler Bedeutung. Hinsichtlich der Abwicklung der einzelnen Phasen einer Meldung und der Voraussetzungen für den Übergang von der einen zur nächsten Phase könnte somit eine deutliche Verbesserung erzielt werden. Eine gesetzliche Regelung kann dabei auf das geltende Recht abgestützt werden, und es muss kein völlig neues System geschaffen werden.

Die Kohärenz zwischen den verschiedenen Bereichen des Rechts, die für die Meldung von Unregelmässigkeiten massgebend sind, wird durch die derzeit geltenden Vorschriften nicht gewährleistet. Mit dem Erlass neuer Bestimmungen kann diese Kohärenz hergestellt werden.

Angesichts der Herausforderungen, die mit der Meldung von Unregelmässigkeiten verbunden sind, ist es auch gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber eine Abwägung 9539

zwischen den verschiedenen vorliegenden Interessen vornimmt. Was das Interesse an der Meldung von Unregelmässigkeiten und insbesondere das entsprechende Interesse der Allgemeinheit anbelangt, wurde bislang kein klarer gesetzgeberischer Entscheid gefällt, um allgemeine Vorschriften festzulegen. Es ist nur unter dem Gesichtspunkt der Konkretisierung der Meinungsäusserungsfreiheit oder als Ausnahme von der Treuepflicht und der beruflichen Schweigepflicht oder als Ausnahme von den im Strafrecht geregelten Geheimhaltungspflichten von der Rechtsprechung anerkannt. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich nur auf der Ebene von Spezialgesetzen Vorschriften erlassen. Dabei geht es um sehr unterschiedliche und bedeutende Interessen: die interne Regelung in einer Organisation, die internen Vertrauens- und Vertraulichkeitsbeziehungen, das öffentliche Interesse an der Verfolgung strafbarer Handlungen und an der Anwendung der Rechtsvorschriften, die Meinungsäusserungsfreiheit und die demokratische Diskussion über Themen, die von öffentlichem Interesse sind. Diese Interessen und die daraus resultierenden Konflikte sind mit jedem Arbeitsverhältnis verbunden und erfordern allgemeine Vorschriften. Die Festlegung von Bestimmungen in Spezialgesetzen ist nicht ausreichend.

Eine gesetzliche Regelung liefert auch einen Anreiz für einen korrekten Umgang mit Meldungen von Unregelmässigkeiten innerhalb einer Organisation. Sie trägt dazu bei, Konflikte zu vermeiden, die aus einer unangemessenen Reaktion resultieren können, wenn die Offenlegung durch den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin einem berechtigten Anliegen entspricht.

Keine strengeren Sanktionen bei missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigungen wegen einer rechtsmässigen Meldung Eine Kündigung im Anschluss an eine rechtmässige Meldung einer Unregelmässigkeit kann auf der Grundlage der allgemeinen Bestimmungen zur missbräuchlichen Kündigung und zur ungerechtfertigten Kündigung sanktioniert werden. Der missbräuchliche Charakter einer ordentlichen Kündigung kann zwar aus der gegenwärtigen Fassung von Artikel 336 Absatz 1 OR abgeleitet werden. Eine diesbezügliche Klarstellung wäre jedoch nützlich.

Die Bestimmungen zur Sanktionierung von missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigungen können nicht als lückenhaft qualifiziert werden, ohne dass auch die allgemeinen
Ausrichtungen des Arbeitsrechts in Frage gestellt werden. Die Nichtigkeit von Kündigungen ist im schweizerischen Recht nur in Ausnahmefällen vorgesehen (Art. 10 GlG). Die maximale Entschädigung in Höhe von sechs Monatslöhnen resultiert ebenfalls aus einem grundlegenden Entscheid des Gesetzgebers.

Das Parlament hat diese Limite festgelegt, während der Bundesrat ein Maximum von zwölf Monatslöhnen vorgeschlagen hatte.96 Gemäss dem Auftrag der Motion Gysin (03.3212) wurde die Entschädigung von höchstens sechs Monatslöhnen bei einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigung geprüft. Sie war Gegenstand eines gesonderten umfassenden Vorent-

96

AB 1985 N 1128 ff. und Art. 336 Abs. 3 des Entwurfs des Bundesrates, Botschaft vom 9. Mai 1984 betreffend die Volksinitiative «Für den Schutz der Arbeitnehmer gegen Kündigungen im Arbeitsvertragsrecht» und die Revision der Kündigungsbestimmungen des Arbeitsvertrags im Obligationenrecht, BBl 1984 II 551.

9540

wurfs für die Revision (siehe unten Ziff. 1.1.6). Im Folgenden wird die im Vorentwurf97 vertretene Auffassung kurz zusammengefasst: ­

Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit der Kündigung, die zur Wiedereinstellung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin führt: Diese Sanktion muss die Ausnahme bleiben. Angesichts des persönlichen Charakters des Arbeitsverhältnisses und der Schwierigkeit, konfliktgeladene Arbeitsverhältnisse beizubehalten, muss dem Kündigungswillen einer Partei Rechnung getragen werden. Eine Entschädigung kann die Wirksamkeit und die präventive Wirkung der Sanktion gewährleisten.

­

Erhöhung der maximalen Entschädigung: Im Vorentwurf wurde vorgeschlagen, die maximale Entschädigung auf zwölf Monatslöhne zu erhöhen, um die ausgleichende und pönale Funktion der Sanktion tatsächlich zu gewährleisten, um den unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Arbeitgeber Rechnung zu tragen und um die präventive Funktion der Entschädigung vollständig sicherzustellen. Dieser Vorschlag war sehr umstritten; er wurde von den einen als überrissen und von den anderen als unzureichend beurteilt.

Angesichts der sehr kontroversen Auffassungen, die zum Vorentwurf geäussert wurden, wurde die allgemeine Revision des Kündigungsschutzes offen gelassen. Es werden zurzeit weitere Überlegungen zu dieser Frage angestellt, insbesondere zum Schutz der Arbeitnehmervertreter und -vertreterinnen.

Bei einer Lösung, die speziell für den Fall der Meldung einer Unregelmässigkeit realisiert wird, müssen die dafür typischen Herausforderungen berücksichtigt werden. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die an ihrem Arbeitsplatz Unregelmässigkeiten feststellen, ziehen es vielfach vor, ihre Beobachtungen für sich zu behalten, weil sie allfällige Vergeltungsmassnahmen befürchten. Die Kündigung ist diesbezüglich die härteste Massnahme. Dabei handelt es sich um eine Konsequenz, die in der Praxis häufig zu verzeichnen ist. In der Folge werden Tatsachen verschwiegen, deren Meldung durchaus gerechtfertigt wäre.

Eine Verbesserung des Kündigungsschutzes, die auf die Meldung von Unregelmässigkeiten beschränkt ist, wird im vorliegenden Revisionsentwurf aus den folgenden Gründen nicht vorgeschlagen:

97

­

Die Meldung von Unregelmässigkeiten hängt mit der Treuepflicht zusammen. Sie muss deswegen gleichermassen wie bei allen anderen Rechten und Pflichten berücksichtigt werden, die sich aus dem Arbeitsvertrag ergeben.

­

Der Vergleich mit den anderen missbräuchlichen Kündigungsgründen, die in Artikel 336 OR aufgeführt sind, liefert keinen Grund für eine unterschiedliche Behandlung. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die einen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis geltend machen, sind ebenfalls geschützt (Art. 336 Abs. 1 Bst. d OR), weil sonst die Gefahr besteht, dass sie aus Angst vor einer Kündigung auf ihre Rechte verzichtet. Der Ausübung von verfassungsmässigen Rechten, insbesondere der Ausübung einer gewerkschaftlichen Tätigkeit (Art. 336 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 Bst. a OR), darf ebenfalls kein geringerer Wert beigemessen werden als dem Melderecht.

Teilrevision des Obligationenrechts (Sanktionen bei missbräuchlicher oder ungerechtfertigter Kündigung), Erläuternder Bericht und Vorentwurf vom 1. Oktober 2010, verfügbar unter: www.admin.ch/ch/d/gg/pc/ind2010.html#EJPD

9541

­

Artikel 10 GlG entspricht dem klaren Willen des Gesetzgebers, den Verfassungsgrundsatz der Gleichstellung von Frau und Mann auf die Arbeitsverhältnisse anzuwenden. Die Meldung von Unregelmässigkeiten lässt sich jedoch damit nicht vergleichen. Im Übrigen wird eine diskriminierende Kündigung weiterhin mit einer Entschädigung sanktioniert, deren Maximum dem in Artikel 336a OR festgelegten Maximum entspricht (Art. 5 Abs. 2 und 4 GlG).

­

Der neue Artikel 34c Absatz 1 Buchstabe a BPG sieht zwar die Wiedereinstellung im Fall der Meldung einer strafbaren Handlung oder der Meldung einer Unregelmässigkeit vor. Doch die Wiedereinstellung ist gleichermassen für alle missbräuchlichen Kündigungen im Sinne von Artikel 336 OR vorgesehen (Art. 34c Abs. 1 Bst. b BPG).

­

Ungerechtfertigte Meldungen von Unregelmässigkeiten dürfen nicht gefördert werden. Die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin am bisherigen Arbeitsplatz wäre in diesem Zusammenhang eine zu weitgehende Massnahme. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine ungerechtfertigte Meldung erstatten, die einem Arbeitskollegen, einer Arbeitskollegin oder dem Arbeitgeber schadet, könnten ihre Stelle behalten, bis der Fall von einem Gericht geklärt ist.

­

Die Meldung wird für alle widerrechtlichen Handlungen und Unregelmässigkeiten geregelt. Es kann sich um leichte Fälle handeln, bei denen zwar auch ein Schutz gewährleistet sein muss, aber die keinen speziellen Schutz rechtfertigen.

Sanktionen bei anderen Vergeltungsmassnahmen Der Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin deckt zwar bereits mehrere andere Vergeltungsmassnahmen ab, mit denen der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin unter Umständen ungerechtfertigterweise bestraft wird (siehe Ziff. 1.1.3). Dazu gehören Mobbing, die Zuweisung von Aufgaben, die nicht dem Qualifikationsprofil des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin entsprechen, und eine Ungleichbehandlung im Vergleich mit den anderen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Trotzdem ist eine Klärung angebracht. In einer ausdrücklichen Bestimmung für die Meldung von Unregelmässigkeiten kann klar festgehalten werden, dass sich für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin wegen einer rechtmässigen Meldung keine Nachteile ergeben dürfen. Sie gibt auch die Möglichkeit, Handlungen abzudecken, die von Artikel 328 OR nicht erfasst wären. Dazu gehört die Verweigerung eines Vorteils, die nicht als Ungleichbehandlung im Sinne dieser Bestimmung qualifiziert werden kann.

1.1.5

Parlamentarische Vorstösse

Am 7. Mai 2003 reichte Nationalrat Remo Gysin die Motion 03.3212 «Gesetzlicher Schutz für Hinweisgeber von Korruption» ein. Am 22. Juni 2007 verabschiedeten die eidgenössischen Räte eine abgeänderte Version dieser Motion. In seiner Antwort vom 10. September 2003 beantragte der Bundesrat zunächst die Ablehnung der Motion. Am 10. März 2006 schloss sich der Bundesrat dann aber der geänderten Fassung der Motion an.

9542

Die Motion Gysin verlangt, dass die Voraussetzungen für den Schutz bei der Offenlegung von Unregelmässigkeiten im Obligationenrecht ausdrücklich geregelt werden. Ausserdem verlangt die Motion, dass die in Artikel 336a Absatz 2 OR vorgesehene maximale Entschädigung von sechs Monatslöhnen überprüft und bei Bedarf erhöht wird. In der Motion ist festgehalten, dass die Hinweisgeber und Hinweisgeberinnen einen Sachverhalt nur als ultima ratio gegenüber der Öffentlichkeit offenlegen dürfen. Im Weiteren soll für Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber in öffentlichrechtlichen Arbeitsverhältnissen ein gleichwertiger Schutz wie bei privatrechtlicher Anstellung vorgesehen werden. Schliesslich wird verlangt, dass geprüft wird, ob Angestellte des Bundes verpflichtet werden sollen, strafbare Handlungen zu melden.

Bei der Interpellation Gysin Remo 02.3763 «Korruptionsbekämpfung in der Schweiz» (insbesondere Ziff. 3) und der Motion Marty 03.3344 «Schutzmassnahmen für » vom 19. Juni 2003, die vom Ständerat am 2. Oktober 2003 als Postulat überwiesen wurde, geht es ebenfalls um die Meldung von Unregelmässigkeiten.

Zu erwähnen ist schliesslich die am 15. März 2012 eingereichte parlamentarische Initiative 12.419 Leutenegger Filippo «Wahrung höherer, berechtigter öffentlicher Interessen als Rechtfertigungsgrund (Whistleblowing)». Diese verlangt, die Frage der Meldung von Unregelmässigkeiten im Strafgesetzbuch zu regeln. In einer ausdrücklichen Bestimmung soll vorgesehen werden, dass eine strafbare Handlung, die für die Wahrung eines höheren Interesses begangen wird, zulässig ist, wenn das Verhältnismässigkeitsprinzip eingehalten wird. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hat der Initiative am 24. Mai 2013 Folge gegeben.

1.1.6

Vorentwürfe und Vernehmlassungen

Zur Erfüllung des mit der Motion Gysin (03.3212) erteilten Auftrags schickte der Bundesrat am 5. Dezember 2008 einen Vorentwurf für die Teilrevision des Obligationenrechts (Schutz bei Meldung von Missständen am Arbeitsplatz) in die Vernehmlassung (VE-OR).98 Die Vernehmlassung lief bis am 31. März 2009. In einem neuen Artikel 321abis VE-OR wurde eine Regelung der Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten vorgeschlagen. Grundsätzlich sollte die Meldung zuerst an den Arbeitgeber, anschliessend an eine Behörde und erst als ultima ratio an die Öffentlichkeit gerichtet werden. Die direkte Meldung an eine Behörde oder an die Öffentlichkeit sollte zulässig sein; der wichtigste Fall bestand darin, dass der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin im Voraus davon ausgehen konnte, dass die Meldung an den Arbeitgeber oder, im Fall der direkten Meldung an die Öffentlichkeit, an den Arbeitgeber und anschliessend an die Behörde keine Wirkung haben würde. Im Vorentwurf wurde vorgeschlagen, sich beim Schutz vor Vergeltungsmassnahmen nach einer Meldung, die den gesetzlichen Anforderungen entspricht, an das geltende Recht zu halten. Die Kündigung im Anschluss an eine rechtmässige Meldung von Unregelmässigkeiten wurde ausdrücklich als missbräuchlich eingestuft. Doch der Grundsatz der Gültigkeit einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten (fristlosen) Kündigung wurde beibehalten. Als Sanktion wurde weiterhin eine Entschädigung vorgesehen, deren Maximum auf sechs Monatslöhne festgelegt wurde.

98

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9543

Der Vorentwurf wurde sehr unterschiedlich beurteilt, wobei eine Mehrheit der an der Vernehmlassung Teilnehmenden den Handlungsbedarf bejahte (siehe unten Ziff. 1.3.1). Besondere Beachtung schenkte der Bundesrat der Kritik, die zur Sanktionierung von missbräuchlichen und ungerechtfertigten Kündigungen im geltenden Recht geäussert worden war. So beschloss er am 16. Dezember 2009, diesen Punkt im Rahmen einer separaten Vorlage zu prüfen, bei der es um den Kündigungsschutz im Allgemeinen geht und die auch die Problematik des Schutzes der Arbeitnehmervertreter und -vertreterinnen umfasst. Er entschied abzuwarten, bis die Vernehmlassung zu diesem anderen Vorentwurf abgeschlossen und beurteilt war, bevor er zum weiteren Vorgehen im Zusammenhang mit dem Vorentwurf zur Meldung von Unregelmässigkeiten Stellung nahm. Nach diesem Entscheid schickte er am 1. Oktober 2010 den Vorentwurf zur Revision des Obligationenrechts (Sanktionen bei missbräuchlicher oder ungerechtfertigter Kündigung) in die Vernehmlassung99. Die Vernehmlassung dauerte bis zum 11. Januar 2011. In diesem Vorentwurf wurde vorgeschlagen, das Maximum der Sanktion bei einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigung auf zwölf Monatslöhne zu erhöhen. Ausserdem wurde vorgeschlagen, eine Kündigung, die gegen einen gewählten Arbeitnehmervertreter oder eine gewählte Arbeitnehmervertreterin aus Gründen ­ insbesondere wirtschaftlicher Natur­ ausgesprochen wird, die nicht mit dieser Person zusammenhängen, als missbräuchlich zu qualifizieren. Schliesslich wurde im Vorentwurf vorgeschlagen, in Bezug auf die Voraussetzungen einer missbräuchlichen Kündigung und der Sanktion bei einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigung einvernehmliche Lösungen zuzulassen, die entweder für beide Parteien oder für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin günstiger sind.

Am 21. November 2012 beschloss der Bundesrat, die Arbeiten für den Vorentwurf über Sanktionen bei missbräuchlicher oder ungerechtfertigter Kündigung vorläufig einzustellen und gleichzeitig weitere Überlegungen zum Schutz der Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter anzustellen. Er beauftragte das Eidgenössische Justizund Polizeidepartement und das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (das heutige Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung), eine vertiefte
Studie zu dieser Thematik durchzuführen. Was den Vorentwurf zur Meldung von Unregelmässigkeiten betrifft, entschied der Bundesrat, die Arbeiten fortzusetzen und dem Parlament eine Botschaft vorzulegen.

1.2

Vorgeschlagene Bestimmungen

Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten (Art. 321abis321aquinquies E-OR) Artikel 321abis321aquinquies des Entwurfs zur Änderung des Obligationenrechts, um den es in dieser Botschaft geht (E-OR), regeln die Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten im Obligationenrecht. Sie gelten somit für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Ausserdem gelten sie für öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse bei einem entsprechenden Verweis oder bei der ergänzenden Anwendung des Obligationenrechts im öffentlichen Recht.

99

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9544

Die vorgeschlagenen Bestimmungen sind im Anschluss an Artikel 321a OR eingereiht, da sie dazu bestimmt sind, die Treuepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin zu konkretisieren. Sie legen das Meldeverfahren fest. Andere Vorgehensweisen sind mit der Treuepflicht und der Geheimhaltungspflicht nicht vereinbar. Die vorgeschlagenen Bestimmungen gelten indessen lediglich für die Meldung von Unregelmässigkeiten. Die Letztere besteht darin, dass der Arbeitgeber, die zuständige Behörde oder die Öffentlichkeit über einen vermuteten widerrechtlichen Sachverhalt oder eine Unregelmässigkeit in Kenntnis gesetzt werden. Die Äusserung von Kritik fällt beispielsweise nicht unter diese Bestimmung. Sie wird weiterhin auf der Grundlage von Artikel 321a OR beurteilt. Ebenso sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die dem Arbeitgeber oder der zuständigen Behörde eine Unregelmässigkeit melden, deren Opfer sie sind, von den neuen Bestimmungen nicht betroffen.

Die vorgeschlagene Regelung beruht auf dem geltenden Recht. Die massgebenden Kriterien ­ überwiegendes Interesse und Verhältnismässigkeit ­ werden auf diese Weise beibehalten und präzisiert. Geregelt werden die interne Meldung gegenüber dem Arbeitgeber (Art. 321abis E-OR) sowie die externe Meldung bei der zuständigen Behörde und in der Öffentlichkeit (Art. 321ater­321aquinquies E-OR).

Bereits der Vorentwurf hatte diese Struktur aufgewiesen. Da sie positiv aufgenommen worden war, wurde sie beibehalten. Sie beruht darauf, dass die Meldung zuerst an den Arbeitgeber, anschliessend an eine Behörde und erst als ultima ratio an die Öffentlichkeit gerichtet wird. Bei diesem Modell gilt der Grundsatz der vorgängigen Meldung an den Arbeitgeber. Der Arbeitgeber hat somit die Möglichkeit, bei Verdacht auf eine Unregelmässigkeit zu reagieren. Wenn seine Reaktion geeignet ist, die Unregelmässigkeit zu beseitigen, ist eine externe Meldung ausgeschlossen. Bei diesem Modell ist eine direkte Meldung von Unregelmässigkeiten an die zuständige Behörde weiterhin möglich, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Beim gewählten Modell handelt es sich somit um eine Mittellösung. Es hätten zwei andere Hauptmodelle berücksichtigt werden können: Zum einen ein System, bei dem immer zuerst eine Meldung an den Arbeitgeber verlangt wird, auch wenn klar ist, dass seine Reaktion
unzureichend ausfallen wird und dass das Risiko für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zu gross ist. Zum anderen ein Modell, bei dem eine direkte Meldung an eine Behörde in jedem Fall und ohne Voraussetzungen möglich ist. Das letztere Modell hat den Vorteil, dass es einfach ist und es gleichzeitig die Stellung der Behörden und deren Arbeiten stärkt. Doch bei diesem Modell könnten jene Arbeitgeber nicht berücksichtigt werden, welche die Meldungen ihrer Angestellten ernst nehmen.

Abgesehen von der Gesamtstruktur wurde die Regelung beträchtlich überarbeitet, um der Kritik und den unterschiedlichen Auffassungen Rechnung zu tragen, die im Rahmen der Vernehmlassung geäussert worden waren. So werden namentlich die folgenden Änderungen vorgeschlagen: ­

Der Begriff «Missstände» wird durch den Begriff «Unregelmässigkeiten» ersetzt, der in Artikel 22a Absatz 4 BPG verwendet wird. Die Unregelmässigkeiten werden im Gesetz konkretisiert. Wer auf der Seite des Arbeitgebers befugt ist, Meldungen entgegenzunehmen, wird im Gesetz definiert.

­

Der erforderliche Grad der Gewissheit für die Zulassung einer Meldung beruht weiterhin auf Treu und Glauben, wie dies in Artikel 336 Absatz 1 Buchstabe d OR vorgesehen ist. Auf der terminologischen Ebene wird der 9545

Begriff «Treu und Glauben» durch den Begriff «hinreichender Verdacht» ersetzt. Für die Meldung gegenüber dem Arbeitgeber oder einer Behörde wird somit ein hinreichender Verdacht verlangt. Für eine Meldung an die Öffentlichkeit ist dagegen ein höherer Grad an Gewissheit erforderlich. Dieser entspricht in etwa den Anforderungen in Artikel 173 StGB, die erfüllt sein müssen, damit sich der oder die Angeklagte von der strafbaren Handlung der Verleumdung zu entlasten kann. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin muss ernsthafte Gründe haben, die gemeldeten Tatsachen in guten Treuen für wahr zu halten.

­

Die Meldung an eine Behörde ist nur bei Straftaten, Verstössen gegen das öffentliche Recht und anderen Verstössen gegen Rechtsnormen zulässig, deren Anwendung durch eine Behörde erfolgt. Ein Sachverhalt, der von öffentlichem Interesse wäre, aber keine Rechtsvorschrift verletzt, darf nicht an eine Behörde gemeldet werden. Ebenso gehört die Verletzung von Rechtsvorschriften, welche die Beziehungen zwischen Privaten regeln, nicht zu den Sachverhalten, die gegenüber einer Behörde offengelegt werden dürfen.

­

Die Voraussetzungen für die Meldung an eine Behörde werden präzisiert. Es werden die Massnahmen definiert, die der Arbeitgeber zu ergreifen hat. Dieser muss den Sachverhalt klären und gegebenenfalls Massnahmen zur Behebung der Rechtswidrigkeit ergreifen. Ausserdem muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin über die ergriffenen Massnahmen informieren. Schliesslich muss der Arbeitgeber eine Frist für die Behandlung der Meldung ansetzen, die nicht länger als die im Gesetz festgelegte maximale Frist sein darf. Die Meldung an eine Behörde ist nicht zulässig, wenn der Arbeitgeber ein internes Meldesystem eingerichtet hat, welches die Unabhängigkeit der Meldestelle gewährleistet, Regeln für das Meldeverfahren und die weitere Behandlung der Meldung festlegt sowie ein Verbot jeglicher Massnahmen zur Sanktionierung von Arbeitnehmern vorsieht, die das interne Meldesystem benutzen.

­

Die direkte Meldung an eine Behörde wird beibehalten. Die Voraussetzungen, unter denen eine solche Meldung möglich ist, werden weiterhin im Gesetz geregelt und näher ausgeführt. Die direkte Meldung an eine Behörde ist ausgeschlossen, wenn der Arbeitgeber ein internes Meldesystem eingerichtet hat. Sie ist hingegen möglich, wenn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin gestützt auf objektive Tatsachen davon ausgehen darf, dass die Meldung an den Arbeitgeber keine Wirkung erzielen wird. Im Gesetzestext sind drei Situationen aufgeführt: die Personen, welche die Meldung entgegennehmen und intern bearbeiten, sind nicht unabhängig vom Urheber der Straftat; der Arbeitgeber hat in früheren Fällen einer Meldung nicht reagiert oder seine Reaktion war offensichtlich ungenügend; in früheren Fällen einer Meldung von Unregelmässigkeiten wurden Vergeltungsmassnahmen ergriffen.

­

Eine direkte Meldung an die Öffentlichkeit ist nicht mehr zulässig. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen sich zuerst an den Arbeitgeber und anschliessend an eine Behörde wenden, oder sie müssen sich zumindest an eine Behörde gewandt haben, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangen.

9546

­

Eine Meldung an die Öffentlichkeit ist zulässig, sofern zuvor die zuständige Behörde in Kenntnis gesetzt wurde. Die Behörde muss den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin über die weitere Behandlung der Meldung informieren. Wenn die Behörde dieser Verpflichtung nachgekommen ist, darf sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nicht mehr an die Öffentlichkeit wenden. Die Rolle des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin beschränkt sich somit auf die Inkenntnissetzung der Behörde. Er oder sie hat die Angemessenheit der Reaktion der Behörde nicht zu beurteilen und ihre Entscheide nicht in Frage zu stellen. Eine Meldung an die Öffentlichkeit darf somit nicht als Instrument für eine bessere Anwendung der Rechtsvorschriften eingesetzt werden, weder um die von einer Behörde ergriffenen Massnahmen zu unterstützen, wenn diese keine Wirkung auf die betreffenden Personen oder Organisationen haben, noch um Druck auf eine Behörde auszuüben, die ihre Aufgaben unzureichend wahrnimmt.

Einholen von Informationen bei einer Person, die einer gesetzlichen Geheimhaltungspflicht untersteht (Art. 321asexies E-OR) Wenn sich ein Arbeitnehmer zur Überprüfung seiner Situation im Zusammenhang mit der Meldung einer Unregelmässigkeit von einer Person beraten lässt, die einer gesetzlichen Geheimhaltungspflicht untersteht, verstösst er nicht gegen seine Treuepflicht.

Vorbehalt in Bezug auf das Berufsgeheimnis, besondere Bestimmungen und Meldungen an eine ausländische Behörde (Art. 321asepties E-OR) Das Berufsgeheimnis schützt ein spezifisches Interesse im Zusammenhang mit der Vertraulichkeit. Sein Geltungsbereich geht über den Rahmen der arbeitsrechtlichen Beziehungen hinaus. Die Sachlage wird weiter unten im Detail erläutert (Ziff. 1.3.2).

Die Artikel 321abis ff. E-OR gelangen nicht zur Anwendung, wenn in einer Spezialvorschrift ein Melderecht oder eine Meldepflicht vorgesehen ist. So sind die gegenwärtigen und auch in Zukunft erlassenen Lösungen für bestimmte Bereiche immer möglich, unabhängig davon, ob sie grosszügiger oder restriktiver ausgestaltet werden. Beispielsweise wird die Praxis im Zusammenhang mit dem Recht, Verstösse gegen Artikel 6 ArG direkt dem Arbeitsinspektorat zu melden, in Frage gestellt.

Vorbehalten ist schliesslich die Meldung an eine ausländische Behörde, die somit weiterhin der Regelung in Artikel 321a OR unterstellt ist. Auf internationaler Ebene tätige Unternehmen müssen sich selbstverständlich an die ausländischen Rechtsvorschriften halten. Es besteht auch ein Interesse daran, dass diese Bestimmungen befolgt werden. Doch je nach Fall wird dieses Interesse unter Umständen anders beurteilt, als es der schweizerischen Sichtweise entspricht. Aus diesem Grund ist diesbezüglich eine Beurteilung von Fall zu Fall gerechtfertigt.

Relativ zwingende Bestimmungen (Art. 362 Abs. 1 E-OR) Die Bestimmungen, welche die externe Meldung, den Beizug einer Vertrauensperson und die Ausnahmen regeln, werden der Liste der Bestimmungen des relativ zwingenden Rechts hinzugefügt (Art. 362 OR). Die Parteien können somit weder strengere Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten vorsehen noch den Bereich der Ausnahmen erweitern. Die Bestimmung zur Meldung an den Arbeitgeber gehört dagegen zum dispositiven Recht.

9547

Verbot jeglicher Nachteile aufgrund einer Meldung (Art. 328 Abs. 3 E-OR) Im Entwurf werden andere Vergeltungsmassnahmen als eine Kündigung ausdrücklich untersagt. Mit dieser Bestimmung können alle allfälligen Massnahmen abgedeckt werden. Das Verbot ist auch im Gesetz klar festgelegt. Vorbehalten sind Massnahmen zur Sanktionierung einer Meldung, die nicht den Artikeln 321abis ff.

E-OR entspricht.

Missbräuchliche Kündigung (Art. 336 Abs. 2 Bst. d E-OR) Eine ordentliche Kündigung im Anschluss an eine rechtmässige Meldung einer Unregelmässigkeit gemäss den Artikeln 321abis ff. E-OR wird ausdrücklich als missbräuchlich eingestuft. In dieser Lösung kommt die gegenwärtige Situation zum Ausdruck. Ebenfalls ungerechtfertigt ist eine fristlose Kündigung, sofern die Treuepflicht eingehalten wurde. Eine ausdrückliche Regelung ist nicht erforderlich.

Die Änderung wurde in Artikel 336 Absatz 2 vorgenommen, weil die Rollen bei der Meldung einer Unregelmässigkeit klar verteilt sind. Die Kündigung wird vom Arbeitgeber ausgesprochen, der damit auf die Meldung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin reagiert.

Übergangsrecht Die neuen Bestimmungen gelten gemäss Artikel 1 SchlT ZGB für Meldungen, die nach deren Inkrafttreten gemacht werden. Eine besondere Regelung ist nicht erforderlich.

1.3

Beurteilung der gewählten Lösung

1.3.1

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens100

Was den Vorentwurf betrifft, wurden diametral entgegengesetzte Meinungen geäussert. Nach Auffassung eines Kantons, einer Partei, der Arbeitgeberorganisationen und der Mehrheit der Wirtschaftsorganisationen besteht aus mehreren Gründen kein Gesetzgebungsbedarf. Diese Vernehmlassungsteilnehmenden sind der Ansicht, das geltende Recht sei ausreichend und die Treuepflicht lasse sich durch die Rechtsprechung viel besser konkretisieren als im Gesetz. Sie argumentieren, ein Arbeitnehmer melde zwar einen Sachverhalt, der seiner Auffassung nach eine Unregelmässigkeit darstelle. Seine Einschätzung sei jedoch subjektiv und dürfe nicht durch eine Regelung unterstützt werden, welche die Äusserung der subjektiven Auffassung zulässig mache. Sie betonen, das «Whistleblowing» sei ein angloamerikanisches Phänomen, das dem kontinentaleuropäischen Recht fremd sei. Dies zeige sich daran, dass insbesondere in Frankreich und in Deutschland keine speziellen Bestimmungen zu dieser Frage bestünden.

Die anderen Vernehmlassungsteilnehmenden anerkennen den Gesetzgebungsbedarf.

Was hingegen die Einzelheiten der Regelung betrifft, ist deren Beurteilung des Vorentwurfs grundlegend unterschiedlich.

100

Siehe Teilrevision des Obligationenrechts (Schutz bei Meldung von Misständen am Arbeitsplatz), Bericht über die Vernehmlassungsresultate, Dezember 2009, verfügbar unter: www.bj.admin.ch/content/dam/data/wirtschaft/gesetzgebung/whistleblowing/ ve-ber-d.pdf

9548

Zwei Parteien und bestimmte Wirtschaftsorganisationen, insbesondere der Bankenund Versicherungssektor, anerkennen den Gesetzgebungsbedarf. Diese Gruppe der Vernehmlassungsteilnehmerinnen ist grundsätzlich der Auffassung, die für die Meldung von Unregelmässigkeiten ­ vor allem für die externe Meldung ­ festgelegten Voraussetzungen seien zu weit gefasst und zu wenig klar. Die Organisationen, die jegliche Regelung ablehnen, argumentieren subsidiär ebenfalls in diese Richtung. Es wurden verschiedene Alternativvorschläge unterbreitet, wie beispielsweise die Streichung der direkten Meldung ausserhalb der Organisation oder eine strikte Beschränkung oder gar Streichung der Meldung an die Öffentlichkeit.

Zwei Parteien, die Gewerkschaften und die im Bereich der Korruptionsbekämpfung tätigen Organisationen räumen einen Gesetzgebungsbedarf ein und befürworten die weit gefasste Regelung der Voraussetzungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten. Doch sie kritisieren den Vorentwurf, weil dieser ihrer Meinung nach zu wenig weit geht. Sie fordern in erster Linie, dass eine missbräuchliche oder ungerechtfertigte Kündigung anfechtbar ist, wie dies im geltenden Recht für den öffentlichen Dienst und im Bereich der Gleichstellung von Frau und Mann vorgesehen ist.

Hervorgehoben werden hauptsächlich ein wirksamer Schutz des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und das öffentliche Interesse. Einige Kantone schlagen auch eine strengere Sanktion vor. Eine Partei und die im Bereich der Korruptionsbekämpfung tätigen Organisationen schlagen vor, die Sanktionierung von anderen Vergeltungsmassnahmen zu regeln. Ein Kanton schlägt vor, die Sanktion in Bezug auf alle Gründe für eine missbräuchliche Kündigung zu verschärfen. Eine Partei und die Gewerkschaften schlagen vor, diese Gelegenheit zu nutzen, um die Sanktion bei einer Entlassung von Gewerkschaftsvertretern und -vertreterinnen zu verschärfen.

Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse wollte der Bundesrat die Sanktion bei einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigung getrennt behandeln. Im Vorentwurf über die Sanktionen bei missbräuchlicher oder ungerechtfertigter Kündigung, der oben erläutert wurde (Ziff. 1.1.6), wurden Verbesserungen des Kündigungsschutzes vorgeschlagen. Dieser zweite Vorentwurf stiess auf grösseren Widerstand als der erste. Die politische
Rechte sowie die Arbeitgeber- und die Wirtschaftsorganisationen sprachen sich grundsätzlich gegen jede Verbesserung des Kündigungsschutzes aus. Im Gegensatz dazu waren die politische Linke und die Gewerkschaften der Auffassung, der Entwurf gehe zu wenig weit. Ihrer Meinung nach hätte die Anfechtbarkeit einer missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigung vorgesehen werden müssen, insbesondere wenn ein Arbeitnehmervertreter davon betroffen ist. Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Auffassungen zu dieser Thematik beschloss der Bundesrat, sich vorliegend auf die Frage der Meldung von Unregelmässigkeiten zu konzentrieren.

1.3.2

Berücksichtigte Lösung

Die vorgeschlagene Lösung entspricht dem Auftrag der Motion Gysin (03.3212), die damit umgesetzt wird. Die Gründe, die eine Regelung rechtfertigen, werden in der Prüfung des Regelungsbedarfs im Detail erläutert (Ziff. 1.1.4).

9549

Geltungsbereich der neuen Bestimmungen Bei der vorgeschlagenen Regelung geht es um die Meldung von Unregelmässigkeiten durch den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin. Dies hat mehrere Auswirkungen auf ihren Geltungsbereich.

Unter der Meldung von Unregelmässigkeiten wird die Tatsache verstanden, dass eine am Arbeitsplatz festgestellte Unregelmässigkeit mit dem Ziel offengelegt wird, sie zu beseitigen. Die Regelung bezieht sich nicht auf andere Ausdrucksformen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin wie beispielsweise allgemeine Erklärungen oder Kritik am Arbeitgeber oder an den Arbeitskollegen und -kolleginnen. Alle Handlungen, die nicht einer Meldung von Unregelmässigkeiten entsprechen, unterstehen weiterhin Artikel 321a OR.

Die Verankerung der Regelung im Arbeitsvertragsrecht bedeutet, dass das Melderecht zu den festgelegten Voraussetzungen den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zugute kommt. Die Regelung gilt insbesondere nicht für Personen, die durch eine andere Rechtsbeziehung mit der Organisation verbunden sind (Auftragnehmer oder Unternehmer). Zweifellos können diese Personen unter Umständen ebenfalls Unregelmässigkeiten innerhalb einer Organisation feststellen. Sie unterliegen gegebenenfalls auch einer Geheimhaltungspflicht. Dies ist beispielsweise bei Auftragnehmern im Zusammenhang mit ihrer Haftung für getreue und sorgfältige Ausführung der Fall (Art. 398 Abs. 2 OR). Doch die besondere Abhängigkeit des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber veranlasst ihn typischerweise, Stillschweigen zu bewahren, da er befürchtet, seine Stelle zu verlieren oder andere Nachteile zu erleiden. Aufgrund dieser Ausgangslage, die auch den besonderen Schutzbestimmungen zugrundeliegt, welche für den Arbeitsvertrag vorgesehen sind, ist es gerechtfertigt, dass diese Problematik nur für diese Vertragsart behandelt wird.

Die Meldung von Unregelmässigkeiten ist von Ansprüchen zu unterscheiden, die der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin für sich selber geltend macht. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beispielsweise von einer Belästigung betroffen sind, können sie nach den bereits geltenden Bestimmungen dagegen vorgehen. Auf der Grundlage der Voraussetzungen, die in den vorgeschlagenen Bestimmungen festgelegt sind, kann der betroffenen Person keine Verletzung der Treuepflicht vorgeworfen werden.
Berücksichtigung der entwickelten Kriterien im geltenden Recht Die vorgeschlagene Lösung beruht auf den Kriterien überwiegendes Interesse und Verhältnismässigkeit. Diese sind gut etabliert und ermöglichen die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an der Meldung von Unregelmässigkeiten, wobei gleichzeitig das Interesse des Arbeitgebers gewahrt wird. Die Treuepflicht und die Geheimhaltungspflicht werden damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Ausserdem werden mit dieser Lösung unbegründete und unverhältnismässige Meldungen von Unregelmässigkeiten nicht gefördert.

Im Entwurf berücksichtigte Optionen Sachverhalte, die gemeldet werden dürfen Im Vorentwurf wurde die Meldung von Missständen an den Arbeitgeber zugelassen, während einer Behörde und der Öffentlichkeit nur Missstände gemeldet werden durften, die das öffentliche Interesse berühren. Diese Begriffe wurden als zu unbestimmt oder als zu weit gefasst kritisiert. Der Vorentwurf überliess es in der Tat der Rechtsprechung, den Begriff öffentliches Interesse zu konkretisieren. Die Kritik am 9550

zu weit gefassten Charakter des Begriffs hängt in erster Linie mit einem grundlegenden Entscheid bezüglich der Bedeutung zusammen, die der Meldung von Unregelmässigkeiten eingeräumt wird. Denn mit der Regelung im Vorentwurf anerkannte der Gesetzgeber, dass das Interesse des Arbeitgebers nicht mehr überwiegt, sobald mit einem Sachverhalt ein öffentliches Interesse verbunden ist, unabhängig davon, ob hinsichtlich des Letzteren eine Rechtsvorschrift besteht oder nicht.

Im vorliegenden Entwurf wird vorgeschlagen, für die Meldung an den Arbeitgeber einen weit gefassten und unbestimmten Begriff beizubehalten. Was die Treuepflicht anbelangt, stellt dies kein bedeutendes Problem dar. Mit einer klaren Eingrenzung im Gesetz würde eine unnötige Inflexibilität geschaffen. Die Sachverhalte, die dem Arbeitgeber gemeldet werden dürfen, hängen sowohl mit gesetzlichen Verpflichtungen als auch mit Verpflichtungen und Vorschriften zusammen, die nicht gesetzlich geregelt sind (schlechte Geschäftsführung, Unternehmensreglement, ethische Regeln). Um den Begriff zu konkretisieren, ist eine exemplarische Aufzählung beigefügt. Es ist auch auf den dispositiven Charakter der Bestimmung hinzuweisen. Der Arbeitgeber kann die Sachverhalte festlegen, die intern gemeldet werden dürfen.

Im Gegensatz dazu führt der in Artikel 321abis Absatz 2 VE-OR verwendete Ausdruck «Missstände, die das öffentliche Interesse berühren», in mehrfacher Hinsicht zu einer Rechtsunsicherheit, die nicht wünschenswert ist. Dieser Ausdruck beinhaltet zwar als Hauptkategorie die widerrechtlichen Handlungen. Er ist jedoch auch darauf ausgerichtet, die rechtmässige Meldung von Unregelmässigkeiten auf Sachverhalte zu erweitern, die nicht gesetzlich geregelt sind. So könnten Gefährdungen des Lebens, der Gesundheit, der Sicherheit oder der Umwelt offengelegt werden, ohne dass die Frage aufgeworfen werden muss, ob gegen ein Gesetz verstossen wurde oder nicht. Abgesehen davon, dass die gesetzlichen Einschränkungen teilweise willkürlich sind und sich mit der Zeit entwickeln, müsste sich der Arbeitnehmer bei dieser Lösung nicht darum kümmern, ob der Sachverhalt gesetzlich geregelt ist oder nicht. Bei dieser Option dient die Meldung von Unregelmässigkeiten nicht nur der Anwendung des Gesetzes, sondern sorgt auch dafür, dass Sachverhalte, die für die Allgemeinheit
von Interesse sind, ausserhalb der jeweiligen Organisation gemeldet werden. So könnten wahrscheinliche Sicherheits-, Gesundheits- oder Umweltrisiken gegen aussen offengelegt werden, auch wenn das Risiko keinem oder noch keinem Gesetzesverstoss entspricht. Ebenso wird gegenwärtig intensiv über Themen wie exzessive Löhne diskutiert, ohne dass diesbezüglich eine widerrechtliche Handlung begangen wurde.

Das ändert aber nichts daran, dass eine rechtliche Regelung, die sich auf das Kriterium des öffentlichen Interesses beschränkt, zu unbestimmt ist. Eine solche Regelung überlässt es der Rechtsprechung, in jedem Fall darüber zu entscheiden, ob ein öffentliches Interesse besteht oder nicht. Das Abwägen zwischen den Interessen des Arbeitgebers und jenen der Allgemeinheit ist auf diese Weise vollständig Aufgabe der Rechtsprechung, zumindest ausserhalb der Fälle, bei denen gegen gesetzliche Bestimmungen verstossen wird. Sowohl der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin als auch der Arbeitgeber sind somit mit einer gewissen Rechtsunsicherheit konfrontiert, durch die das Risiko von Streitfällen erhöht wird. Ausserdem könnte sich die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen veranlasst sehen, einen Sachverhalt überstürzt aufzudecken, wenn sie der Auffassung sind, dass der betreffende Fall einer Behörde oder der Öffentlichkeit gemeldet werden sollte. Schliesslich ist es schwierig, die zuständige Behörde zu ermitteln, an welche die Meldung zu richten ist. Jede Behör-

9551

de ist nur für den Vollzug bestimmter Gesetze und für die Kontrolle der Einhaltung der entsprechenden Bestimmungen zuständig.

Aus diesen Gründen begrenzt der vorliegende Entwurf die Meldung an eine Behörde auf gesetzwidrige Handlungen. Das formelle Kriterium des Gesetzesverstosses weist zwar unter Umständen gewisse Nachteile auf, doch kann dank diesem Kriterium objektiv überprüft werden, ob der Sachverhalt gemeldet werden kann. Dies bietet Rechtssicherheit. Überdies bestehen nur wenige Situationen, bei denen die Beeinträchtigung eines bedeutenden Interesses wie des Lebens, der Gesundheit oder der Umwelt nicht durch eine öffentlich-rechtliche Gesetzesnorm abgedeckt ist. Die Produktsicherheit, der Umweltschutz und die übrigen betreffenden Bereiche sind durch detaillierte Rechtsvorschriften geregelt. Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit sind ebenfalls strafbare Handlungen. Rechtlich geregelt sind auch Risikoaktivitäten. Aufgrund dieser Regelungsdichte kann man sich auf Gesetzesverstösse beschränken und damit in Bezug auf die Rechtmässigkeit der Meldung von Unregelmässigkeiten Rechtssicherheit schaffen. Gleichzeitig werden damit die Situationen, bei denen eine Meldung des Sachverhalts zwar notwendig wäre, aber nicht möglich ist, auf einen sehr geringen Anteil begrenzt.

Reaktion des Arbeitgebers auf die Meldung von Unregelmässigkeiten Der Vorentwurf erlaubte die Meldung an die zuständige Behörde, wenn der Arbeitgeber nicht innert angemessener Frist wirksame Massnahmen ergreift. Diese Massnahmen waren nicht konkret festgelegt, womit dem Arbeitgeber ein erheblicher Ermessensspielraum eingeräumt wurde. Die Massnahmen mussten wirksam sein ­ sie mussten sich dazu eignen, den gemeldeten Fall zu regeln. Der Ausdruck «innert angemessener Frist» war ebenfalls ein flexibler, aber unbestimmter Begriff. Wegen ihrer Ungenauigkeit und der Tatsache, dass der subjektiven Beurteilung durch den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zu viel Raum gelassen wurde, stiess diese Lösung auf breite Kritik. Es wurde auch die Pflicht zur Bezeichnung einer Anlaufstelle vorgeschlagen. Die Meldung an eine Behörde wäre möglich gewesen, wenn der Arbeitgeber diese Verpflichtung nicht erfüllt hätte.

Der im Vorentwurf eingeräumte Ermessensspielraum ist tatsächlich zu gross. So hätte der Arbeitgeber beispielsweise gewisse Massnahmen
ergreifen und sich eine bestimmte Frist setzen können. Damit wäre er der Auffassung gewesen, dass er sich an die gesetzlichen Vorschriften hält. Die Arbeitnehmerin hätte die Sachlage unter Umständen anders beurteilt und wäre davon ausgegangen, dass sie berechtigt sei, den Sachverhalt einer Behörde zu melden. Erst nach Abschluss des Verfahrens hätte sie gewusst, woran sie ist. In einem Gesetz kann zwar nicht alles festgelegt werden, doch genauere Formulierungen sind durchaus möglich.

Im Entwurf sind mehrere Präzisierungen enthalten. Die Art der zu ergreifenden Massnahmen wird festgelegt. Dabei geht es darum, den gemeldeten Sachverhalt abzuklären und gegebenenfalls eine rechtswidrige Situation zu beheben. Die Frist muss vom Arbeitgeber festgelegt werden. Diese darf aber nicht mehr als 60 Tage betragen. Ausserdem muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin über die festgelegte Frist und die weitere Behandlung der Meldung informieren. Die Rechtssicherheit wird somit durch eine gewisse formelle Festlegung des Verfahrens verbessert.

Diese Anforderungen entsprechen dem Verhältnismässigkeitsprinzip. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin muss so vorgehen, dass die Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers möglichst gering ist. Reicht hingegen dieses Handeln 9552

nicht aus, um den potenziell rechtswidrigen Sachverhalt zu beheben, ist ein entschiedeneres Vorgehen des Arbeitnehmers gerechtfertigt.

Der Arbeitgeber verfügt indessen auf mehreren Ebenen über einen gewissen Spielraum. Zum einen kann er selber ein internes Meldeverfahren festlegen. Wenn er ein internes Meldesystem einführt, welches die Unabhängigkeit der Meldestelle gewährleistet, das Meldeverfahren und die weitere Behandlung der Meldung regelt sowie den Arbeitnehmer vor Vergeltungsmassnahmen schützt, gelten die gesetzlich festgelegten Massnahmen ihm gegenüber nicht (z. B. 60-tägige Maximalfrist). Zum anderen ist die Definition der zu ergreifenden Massnahmen recht weit gefasst. So kann der Arbeitgeber die Massnahmen festlegen, die geeignet sind, um den gemeldeten Sachverhalt zu prüfen und diesem abzuhelfen. Er muss innerhalb einer bestimmten Frist reagieren, wobei er diese in einem gewissen Rahmen selbst festlegen kann. Im Weiteren muss er den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin informieren. Das Gegenstück zum Spielraum des Arbeitgebers bei der Festlegung seiner Reaktion besteht in der Möglichkeit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, diese Reaktion zu beurteilen. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin darf jedoch nur von einer unangemessenen Reaktion des Arbeitgebers ausgehen und sich an die zuständige Behörde wenden, wenn der Arbeitgeber keine oder offensichtlich ungenügende Massnahmen ergreift.

Direkte Meldung an die Behörde In den im Gesetz festgelegten Ausnahmefällen liess der Vorentwurf die direkte Meldung an die zuständige Behörde zu. Abgesehen von Situationen, bei denen Gefahr im Verzug ist, und vom Risiko, dass die Verfolgung der Taten andernfalls vereitelt werden könnte, besteht der hauptsächliche Fall darin, dass aus der Meldung an den Arbeitgeber keine wirksamen Massnahmen resultieren. Mehrere Vernehmlassungsteilnehmerinnen haben vorgeschlagen, die direkte Meldung an die Behörde zu streichen. Mit diesem Vorschlag wird grundsätzlich die Haltung zum Ausdruck gebracht, dass die direkte Meldung an die Behörde immer unverhältnismässig ist.

Mit anderen Worten muss der Arbeitgeber immer die Möglichkeit haben, die Meldung entgegenzunehmen und die Unregelmässigkeit zu beseitigen, auch wenn keine Aussicht auf eine Lösung des gemeldeten Problems besteht. Im Gegensatz dazu ist die direkte
Meldung an die Behörde gemäss dem Vorentwurf verhältnismässig, wenn die Meldung an den Arbeitgeber nicht geeignet ist, die rechtswidrige Situation zu beheben.

Im Entwurf wird die im Vorentwurf vorgesehene Option beibehalten. Der Entwurf beruht auf dem Konzept der vorgängigen Meldung an den Arbeitgeber. Er konzentriert sich auch auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und beschränkt die Meldung an die Behörde auf Straftaten und Verstösse gegen das öffentliche Recht.

Dieses System stösst an seine Grenzen, wenn sich klar zeigt, dass die Einhaltung der Rechtsvorschriften vom Arbeitgeber nicht gewährleistet werden kann. In diesen Fällen muss sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin direkt an die Behörde wenden können. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die das Risiko auf sich nehmen, einen rechtswidrigen Sachverhalt zu melden, müssen sich auf eine angemessene Reaktion des Arbeitgebers verlassen können. Wenn sie aufgrund tatsächlicher Umstände davon ausgehen können, dass ihre Meldung keine wirksamen Massnahmen auslösen wird, müssen sie sich direkt an die Behörde wenden können. Die subjektive Beurteilung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin reicht jedoch nicht aus. Sie muss durch objektive Tatsachen untermauert werden können. Eine 9553

direkte Meldung an die Behörde, die nicht auf objektiven Grundlagen beruht, verstösst gegen die Treuepflicht. Das Bestehen eines internen Meldesystems wird berücksichtigt. Es verhindert die direkte Meldung gegen aussen. Denn in diesem Fall wird die interne Meldung vom Arbeitgeber nicht ignoriert.

Meldung an die Öffentlichkeit Der Vorentwurf erlaubte die Meldung an die Öffentlichkeit, wenn die Behörde nicht innert angemessener Frist die nötigen Schritte unternimmt. Er ermöglichte auch die direkte Meldung an die Öffentlichkeit, wenn aufgrund besonderer Umstände anzunehmen ist, dass die Behörde nichts unternehmen wird.

Die Offenlegung einer Unregelmässigkeit gegenüber der Öffentlichkeit, insbesondere gegenüber der Presse, ist einer der heikelsten Punkte der Vorlage. Denn damit ist eine sehr starke Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers verbunden, insbesondere in Bezug auf dessen Ansehen. Aus diesem Grund stiess diese Bestimmung auf teilweise grossen Widerstand. Zwei Kantone, zwei Universitäten und die Wirtschafts- und Arbeitgeberorganisationen sprachen sich gegen den Vorentwurf aus.

Doch nur diese beiden Kantone und zwei Wirtschaftsorganisationen schlugen vor, die Meldung an die Öffentlichkeit vollständig zu streichen. Die anderen Organisationen kritisierten die Bestimmung in verschiedener Hinsicht und verlangten, dass diese eingeschränkt und präziser formuliert wird. Sie brachten die folgenden Einwände vor: Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wissen nicht, was die Behörde unternimmt. Sie können somit die Massnahmen der Behörde nicht beurteilen. Der subjektiven Beurteilung durch Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, welche die Massnahmen der Behörde einschätzen müssen, wird zu viel Raum gelassen. Die direkte Meldung an die Öffentlichkeit aufgrund der Annahme, dass die Behörde nichts unternehmen wird, ist Ausdruck eines Argwohns gegenüber der Tätigkeit der Behörde und lässt die institutionalisierten Formen der Kontrolle ausser Acht. In diesem Zusammenhang sollte eine vorgängige Inkenntnissetzung der übergeordneten Behörde vorgesehen werden.

Die geäusserte Kritik ist im Grossen und Ganzen gerechtfertigt. Was die Voraussetzungen für die Meldung an die Öffentlichkeit anbelangt, war der Vorentwurf zu wenig klar. Die Verbindung zwischen den Massnahmen der Behörde und dem Übergang zur Offenlegung
gegenüber der Öffentlichkeit ist mit mehreren Problemen verbunden. Dazu gehören die Inkenntnissetzung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin über die Tätigkeit der Behörde und die Beurteilung der Massnahmen, die der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin in der Folge vornimmt. Eine vollständige Streichung der Meldung an die Öffentlichkeit würde indessen zu weit gehen und wurde auch nicht von allen Vernehmlassungsteilnehmern verlangt, die sich gegen den Vorentwurf aussprachen. Sie liesse sich auch nicht mit der Gewährleistung der Meinungsäusserungsfreiheit vereinbaren. So anerkennt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Meldung an die Öffentlichkeit als ultima ratio.101 Die Rolle der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine Unregelmässigkeit melden, muss klar festgelegt werden. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen können sich darauf beschränken, die Information an die Behörde weiterzuleiten, oder sie überprüfen zusätzlich die Qualität der von der Behörde getroffenen Massnahmen. Im ersteren Fall erfolgt die Kontrolle der Behörden ausschliesslich mit den bestehenden institutionellen Mitteln: politische Kontrolle, Aufsicht durch eine 101

Urteil Heinisch gegen Deutschland, 21. Juli 2011, 28274/08, Ziff. 65.

9554

übergeordnete Behörde, Rekursmöglichkeiten gegen die Entscheide der Behörden.

Bei diesem Szenario könnte eine Rolle der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin im Rahmen der Kontrolle nur durch spezialgesetzliche Vorschriften anerkannt werden, die für jeden Bereich spezifisch festgelegt werden.

Im zweiten Fall ­ der im Vorentwurf vorgesehen war ­ verfügt die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit der Meldung an die Öffentlichkeit über ein Mittel, um Druck auf eine Behörde auszuüben, die nicht verpflichtungsgemäss vorgeht, oder um Unregelmässigkeiten zu melden, die trotz der Intervention der Behörde weiterbestehen. Dies bedeutet, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wissen, welche Massnahmen die Behörde trifft, und dass sie deren Tätigkeit beurteilen. Diese Beurteilung darf nicht ausschliesslich subjektiv sein, sondern muss auch objektiviert werden können.

Was die Verhältnismässigkeit betrifft, werden die institutionellen Mechanismen im ersteren Fall als ausreichend taxiert, um das Gesetz umzusetzen. Die Meldung an die Öffentlichkeit dient in allen Fällen nicht dazu, allfällige Missstände auf der Ebene der Behörden zu korrigieren. Umgekehrt wird im zweiten Fall die Meldung an die Öffentlichkeit als notwendig erachtet, wenn es mit den Massnahmen der Behörde und den bestehenden Aufsichtsmechanismen nicht möglich ist, den rechtswidrigen Sachverhalt zu beseitigen.

Im vorliegenden Entwurf wird vorgeschlagen, die Rolle des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin auf die eines Informanten oder einer Informantin der Behörde zu beschränken. Er oder sie hat keinen Einfluss auf das Verfahren, wenn dieses nicht zu einem angemessenen Ergebnis führt. Die Umsetzung des Gesetzes bleibt somit in der Zuständigkeit der Behörde, wobei Mängel bei der Umsetzung mit den institutionell vorgesehenen Mitteln beseitigt werden (Aufsicht, Rechtsmittel von betroffenen Personen). Wenn ein rechtswidriger Sachverhalt trotz der Anwendung des Gesetzes weiterhin besteht, muss die gesetzliche Regelung überprüft und ausgebaut werden.

Der anderen Option steht die Tatsache entgegen, dass der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nicht Teil des von der Strafverfolgungs- oder Verwaltungsbehörde eingeleiteten Verfahrens ist, sofern er oder sie nicht selbst Geschädigter ist. Er kann die getroffenen Entscheide nicht anfechten. Falls die Meldung
an die Öffentlichkeit aufgrund des Ausbleibens der nötigen Schritte der zuständigen Behörde möglich sein sollte, würde sie die Form einer informellen Anfechtung annehmen. Die Gründe, die eine solche Anfechtung rechtfertigen, müssten festgelegt werden. Damit würde eine neue Beschwerdeform geschaffen. Eine solche Massnahme ist nicht grundsätzlich für das gesamte Strafrecht und Verwaltungsrecht einzuführen. Ihre Notwendigkeit müsste für jeden einzelnen Bereich geprüft werden.

Im Entwurf ist die direkte Meldung an die Öffentlichkeit nicht vorgesehen. Diese würde bedeuten, dass der Arbeitnehmer eine Untätigkeit oder ein unbefriedigendes Vorgehen der Behörde vorwegnehmen könnte. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin verfügt jedoch nicht über die erforderlichen Informationen, um die Massnahmen der Behörde beurteilen zu können. Es besteht auch ein hohes Risiko von subjektiven Fehleinschätzungen. So könnten auch leichtfertige Meldungen von Unregelmässigkeiten gefördert werden. Wenn überdies im Anschluss an eine Meldung an die Behörde auf der Basis ungenügender Massnahmen der Behörde eine Meldung an die Öffentlichkeit nicht mehr möglich ist, darf auch eine Meldung an die Öffentlichkeit ohne Meldung an die Behörde auf dieser Basis nicht mehr möglich sein.

9555

Grad an Gewissheit in Bezug auf die gemeldeten Sachverhalte und hinsichtlich des Ausmasses ihrer Unregelmässigkeit oder Widerrechtlichkeit Im Vorentwurf wurde verlangt, dass die Unregelmässigkeit nach Treu und Glauben gemeldet wird. Der Vorentwurf orientierte sich an Artikel 336 Absatz 1 Buchstabe d OR, der die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor einer Kündigung schützt, wenn sie nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis geltend machen. Dieser Ausdruck ist in der Rechtsprechung gut etabliert. Im Rahmen der Vernehmlassung stiess dieser Vorschlag im Allgemeinen auf Zustimmung. Eine Organisation vertrat die Auffassung, dieser Ausdruck sei zu unbestimmt. Eine besondere Verpflichtung des Arbeitnehmers, die festgestellten Sachverhalte vorgängig zu überprüfen, wird nicht festgelegt.

Im Entwurf wird diese Anforderung als Grundlage beibehalten. Das Ersetzen des Begriffs «in Treu und Glauben» durch den Begriff «hinreichender Verdacht» hat in erster Linie den Zweck, genau anzugeben, was verlangt wird. Dieses Anforderungsniveau entspricht der Funktion der Meldung von Unregelmässigkeiten bei der Aufdeckung und Sanktionierung von rechtswidrigen Sachverhalten und Unregelmässigkeiten. Im Fall einer Meldung an den Arbeitgeber ist die Abklärung des Sachverhalts nicht Aufgabe des Arbeitnehmers. Dieser muss nicht persönlich eine Untersuchung durchführen, um seinen Verdacht zu bestätigen. Im Übrigen würde er dabei sehr rasch an Hindernisse im Zusammenhang mit der Einhaltung der internen Organisation und des Datenschutzes stossen, wenn es um die Befragung bestimmter Personen oder um den Zugang zu Dokumenten ginge. Dasselbe gilt für die Meldung an eine Behörde. Eine Meldung ist eine Information, welche die Behörde gegebenenfalls interessiert. Dies bedeutet, dass in der Folge unter Umständen ein Kontroll- oder Untersuchungsverfahren eingeleitet wird. Gewissheit oder schlüssige Beweise sind somit nicht per se erforderlich, da ein Teil des innerhalb der Organisation oder von der Behörde eingeleiteten Verfahrens darin besteht, den Sachverhalt und die begangene Unregelmässigkeit zu belegen.

Dies steht auch im Einklang mit einer angemessenen Interessenabwägung. Irreführende und leichtfertige Meldungen werden ausgeschlossen, da ein hinreichender Verdacht nicht auf einem subjektiven Eindruck oder Gefühl des
Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin beruhen kann, sondern eine objektive Beurteilung der Sichtweise des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin erfordert. Ebenso können die negativen Auswirkungen von falschen Meldungen, auch wenn diese zu Beginn berechtigt waren, mit anderen Mitteln verhindert werden. Wenn ein gut etabliertes und zugängliches internes Verfahren besteht, mit dem die Vertraulichkeit gewahrt wird, muss die Überprüfung eines ungewissen Sachverhalts ohne negative Auswirkungen möglich sein. Der Entwurf beruht auch auf der vorgängigen Meldung an den Arbeitgeber. Wenn in diesem Stadium eine ausreichende Bearbeitung des Falles gewährleistet ist, kann der Arbeitnehmer keine weiteren Massnahmen ergreifen. Die andere Option hätte darin bestanden, dass in Bezug auf den Sachverhalt und das Vorliegen eines Gesetzesverstosses strengere Anforderungen festgelegt worden wären. Dies hätte zur Folge gehabt, dass eine gewisse Zahl von unter Umständen schwerwiegenden rechtswidrigen Sachverhalten nicht aufgedeckt worden wäre.

Denn ein Arbeitnehmer, der hinsichtlich des Sachverhalts gewisse Zweifel hat, würde aus Angst, dass er nicht über ausreichende Gewissheit verfügt, auf eine Meldung verzichten.

Eine Abklärung des Sachverhalts wird wie erwähnt nicht regelmässig verlangt, doch kann sie in gewissen Fällen notwendig sein. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitneh9556

merin wird veranlasst, eine Überprüfung vorzunehmen, wenn in Bezug auf den Sachverhalt keine ausreichende Gewissheit besteht. Ist die Ungewissheit zu gross, wird der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nicht geschützt und setzt sich dem Risiko von arbeits- und strafrechtlichen Sanktionen aus. Da ein hinreichender Verdacht verlangt wird, ist die verlangte objektive Beurteilung ausreichend, um jene Fälle auszusortieren, die auf keinem einzigen objektiven Element oder nur auf unzureichenden objektiven Elementen beruhen, so dass nicht über das Stadium der Spekulationen hinausgegangen werden kann. In diesen Fällen ist eine Überprüfung erforderlich, um die Hypothesen des Arbeitnehmers zu untermauern.

Für eine Meldung an die Öffentlichkeit besteht ein höheres Anforderungsniveau.

Der Arbeitnehmer darf sich nur an die Presse wenden, wenn er ernsthafte Gründe hat, sie in guten Treuen für wahr zu halten. Diese Formulierung wurde Artikel 173 Ziffer 2 StGB entnommen. In dieser Bestimmung ist das Kriterium der Wahrheit festgelegt, mit dem man sich von der Beschuldigung der üblen Nachrede befreien kann (Art. 173 Ziff. 1 StGB). In diesem Zusammenhang ist eine Koordination mit dem Ausdruck im Strafrecht gerechtfertigt. Es wäre nicht angemessen, eine weniger hohe Anforderung festzulegen, die dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin erlauben würde, sich gestützt auf Artikel 14 StGB einfacher zu entlasten (siehe unten, Koordination mit dem Strafrecht). Ebenso wäre es nicht gerechtfertigt, eine höhere Anforderung als im Strafrecht zu definieren.

Beweggründe für die Meldung der Unregelmässigkeit Die Gründe, die den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zur Offenlegung eines Sachverhalts veranlasst haben, sind in einigen Rechtssystemen eine Voraussetzung der Meldung von Unregelmässigkeiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte berücksichtigt dieses Element bei der Prüfung der Gutgläubigkeit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin (siehe Ziff. 5.2.1). Bis 2013 wird dieses Element auch im englischen Recht berücksichtigt (siehe Ziff. 1.4.2). Diese Voraussetzung bedeutet, dass der Arbeitnehmer oder die Arbeiternehmerin den Sachverhalt mit dem Ziel gemeldet haben muss, dass die Rechtswidrigkeit behoben wird, nicht jedoch aus persönlichem Ehrgeiz, aus Rachgier oder aus Gewinnsucht. Im Vorentwurf war dieses
Element keine Voraussetzung der Meldung. Denn wenn der gemeldete Sachverhalt den Tatsachen entspricht, ist der persönliche Beweggrund des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin von untergeordneter Bedeutung. Es wurde vorgeschlagen, die Meldung an eine Behörde nur in jenen Fällen zuzulassen, in denen der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin aus achtenswerten Gründen gehandelt hat.

Die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und den Interessen des Arbeitgebers wird von den Beweggründen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin nicht tangiert. Es geht vielmehr darum, irreführende und leichtfertige Meldungen zu verhindern. In diesem Zusammenhang dürfen unwahre und unzureichend begründete Meldungen nicht zugelassen werden. Dies gewährleistet die Voraussetzung des hinreichenden Verdachts. Ausserdem hat der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin gegebenenfalls mehrere Beweggründe, und diese können sich während der verschiedenen Phasen einer Meldung weiterentwickeln. Durch die Meldung einer Unregelmässigkeit entsteht unter Umständen eine Konfliktsituation, womit zu den ethischen und altruistischen Beweggründen möglicherweise persönliche Beweggründe hinzukommen. Im Übrigen handelt es sich bei den Beweggründen des Arbeitnehmers oder Arbeitnehmerin um persönliche Elemente, die nicht genau eruiert werden können. Dasselbe gilt für den Beweggrund, der für den Entscheid des Arbeitnehmers 9557

oder der Arbeitnehmerin ursächlich oder bestimmend war. Die Beweggründe müssen im Gesetz mit einem unbestimmten Ausdruck definiert werden, der in der Folge unterschiedlich ausgelegt wird.

Diese Option hat den Vorteil, dass sie im Einklang mit der gegenwärtigen Praxis im Zusammenhang mit der üblen Nachrede steht. Denn gemäss Artikel 173 Ziffer 3 StGB ist die Möglichkeit, sich von der Beschuldigung der üblen Nachrede zu befreien, nicht schon ausgeschlossen, wenn Äusserungen vorwiegend in der Absicht vorgebracht oder verbreitet wurden, jemandem Übles vorzuwerfen, sondern erst, wenn die ehrverletzenden Äusserungen zudem weder einem öffentlichen Interesse noch einem anderen ausreichenden Interesse entsprechen.102 Egoistische und verwerfliche Beweggründe werden somit nicht berücksichtigt, wenn der offengelegte Sachverhalt einem öffentlichen Interesse entspricht.

Weniger strenge Voraussetzungen als sie von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgegeben werden, sind im Übrigen gerechtfertigt. Die vom Gerichtshof verlangte Gutgläubigkeit ist ein Beurteilungskriterium, das bei der Interessenabwägung von Bedeutung ist und durch andere Beurteilungselemente aufgewogen werden kann. Die Zulassung der Beweggründe des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin als gesetzliche Voraussetzung wäre deutlich restriktiver. Bei verwerflichen Beweggründen wäre die Meldung von Unregelmässigkeiten immer rechtswidrig.

Koordination mit dem Strafrecht Im Vorentwurf galt der Grundsatz der Koordination zwischen den Bestimmungen des Arbeitsrechts und des Strafrechts. Was nach der neuen zivilrechtlichen Regelung zulässig ist, soll auch im Strafrecht zulässig sein. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, denen man erlaubt, bestimmte Sachverhalte nach einem festgelegten Verfahren gewissen Stellen zu melden, dürfen nicht anschliessend für diese Handlung strafrechtlich verfolgt werden können. Eine Bestimmung zur Koordination wurde nicht eingeführt, da diese bereits bestand. Denn gemäss Artikel 14 StGB verhält sich rechtmässig, wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist. Mit dem im Vorentwurf vorgeschlagenen neuen Artikel 321abis wäre die Meldung von Unregelmässigkeiten entsprechend den festgelegten Voraussetzungen zugelassen
worden. Der neue Artikel hätte somit erlaubt, die Meldung im Strafrecht auf der Grundlage von Artikel 14 StGB für rechtmässig zu erklären, ohne dass eine Interessenabwägung durch das Gericht notwendig gewesen wäre.

Der Vorentwurf schlug jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor. Denn in Artikel 321abis Absatz 4 VE-OR wurden Personen, die einem Berufsgeheimnis unterstehen, von der Anwendung der neuen Bestimmung ausgenommen. Dies wurde insbesondere mit dem Ziel vorgeschlagen, von der Anwendung von Artikel 14 StGB abzuweichen. Die Einhaltung von Artikel 321abis VE-OR bedeutete somit nicht automatisch, dass die Meldung aus strafrechtlicher Sicht als rechtmässig anerkannt worden wäre. In diesen Fällen war folglich eine andere Interessenabwägung zwischen der Wahrung des Berufsgeheimnisses und der Aufdeckung der Unregelmässigkeit erforderlich. Sie musste weiterhin auf der Rechtsprechung beruhen und sich auf den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen stützen. Diese andere Interessenabwägung war in erster Linie durch den Schutz 102

BGE 132 IV 112, E. 3.1

9558

des besonderen Vertrauensverhältnisses gerechtfertigt, das mit bestimmten Berufen und Tätigkeiten verbunden ist (spezifisches Interesse am Berufsgeheimnis). Denn das Geschäftsgeheimnis und das Amtsgeheimnis schützen die Interessen des Arbeitgebers. Ein Ausschluss der Strafbarkeit bei einer Verletzung des Berufsgeheimnisses auf der Grundlage des neuen Artikels wäre im Übrigen problematisch, da es sich bei den Personen, die dem Berufsgeheimnis unterstehen, in den meisten Fällen nicht um Arbeitnehmer, sondern um Auftragnehmer handelt. Damit würde je nach Art des Rechtsverhältnisses ein unterschiedliches System geschaffen. Die Ausnahme hat auch zur Folge, dass das Bankgeheimnis vom Anwendungsbereich der Bestimmung ausgenommen wird (Art. 47 BankG und Art. 43 BEHG).

Die Lösung im Vorentwurf wurde nicht kritisiert. Sie wurde von Wirtschaftskreisen, insbesondere von Banken und Versicherungen, befürwortet.

Die im Vorentwurf vorgesehene Option wird beibehalten. Der folgende Grundsatz muss im Hinblick auf eine Regelung der Meldung von Unregelmässigkeiten klar verfolgt werden: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, denen man erlaubt, einen Sachverhalt nach dem Arbeitsrecht zu melden, dürfen nicht anschliessend für diese Handlung strafrechtlich verfolgt werden können. Eindeutig erforderlich ist die Koordination zwischen dem Arbeitsrecht und dem Strafrecht. Die Vernehmlassung hat gezeigt, dass dieser Punkt unbestritten ist.

Die Ausnahme in Bezug auf das Berufsgeheimnis (Art. 321 StGB und Art. 47 BankG und Art. 43 BEHG) muss ebenfalls beibehalten werden. Die für den Vorentwurf vorgebrachten grundsätzlichen Argumente sind fundiert, insbesondere der Schutz des besonderen Vertrauensverhältnisses, das bei bestimmten Berufen und Tätigkeiten besteht. Das Berufsgeheimnis zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass in erster Linie das Interesse einer Drittperson, d. h. des Geheimnisherrn, berücksichtigt werden muss. In jedem Fall muss somit jegliche automatische Aufhebung des Berufsgeheimnisses zu Gunsten einer vorliegenden Interessenabwägung vermieden werden. Zudem lassen sich verschiedene Bereiche mit so unterschiedlichen Ausgangslagen wie beispielsweise dem Arztgeheimnis, dem Anwaltsgeheimnis oder dem Bankgeheimnis nur schlecht mit einer einzigen allgemeinen Bestimmung regeln, die überdies weit über die Tätigkeiten
hinausgeht, die unter das Berufsgeheimnis fallen. Eine solche Bestimmung kann nicht ausreichend angemessen sein.

Im Übrigen geht namentlich die Frage des Bankgeheimnisses über den Bereich des vorliegenden Entwurfs hinaus. Sie muss separat behandelt werden und ist ausserdem gegenwärtig Gegenstand von eingehenden Überlegungen zu ihrer Tragweite. Für den Finanzsektor gelten verschiedene spezialgesetzliche Vorschriften, die Melderechte und -pflichten vorsehen.

Eine Regelung der Ausnahmen vom Berufsgeheimnis erscheint uns ebenfalls nicht angezeigt. Die anvisierten Berufe und Rechtsstellungen sind sehr unterschiedlich: beispielsweise Ärzte und Ärztinnen als Auftragnehmer oder als Angestellte, im privaten Sektor oder im kantonal geregelten öffentlichen Sektor. Eher angebracht sind daher spezielle Bestimmungen in den Gesetzgebungen, die für diese Berufe gelten. Eine Möglichkeit ist auch eine fallweise Beurteilung durch die Rechtsprechung. Eine allgemeine Regelung, die alle dem Berufsgeheimnis unterstehenden Berufe abdeckt, wäre zweifellos allzu vereinfachend.

9559

1.3.3

Andere geprüfte Lösungen

Regelung der internen Meldeverfahren Eine allgemeine Pflicht zur Schaffung eines internen Meldeverfahrens ist nicht erforderlich. Interne Verfahren sind zweifellos ein nützliches Instrument, um Unregelmässigkeiten innerhalb einer Organisation festzustellen. Ausserdem gelten sie als wichtige Präventionsmassnahmen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, namentlich bei sexueller Belästigung oder Mobbing (Art. 6 ArG und Art. 2 ArGV 3). Eine allgemeine Verpflichtung ist indessen nicht gerechtfertigt. Die Art und Weise, wie die internen Kontrollen durchgeführt werden, hängt vom Entscheid jeder einzelnen Organisation ab. Ein allgemein gültiges internes Meldeverfahren könnte nicht in jedem Fall angepasst werden und würde für viele Unternehmen und öffentliche Gemeinwesen unnötige Kosten verursachen, insbesondere für Kleinunternehmen.

Der Entwurf verlangt nicht, ein internes Meldesystem einzuführen, aber er veranlasst die Organisationen, die anwendbaren Verfahren klar festzulegen. Sie müssen bereit sein, auf Meldungen von Unregelmässigkeiten zu reagieren, wobei die Art und Weise, wie dies gemacht wird, von untergeordneter Bedeutung ist. Immerhin wird das Bestehen eines internen Meldesystems, das gewisse Voraussetzungen erfüllt, ausdrücklich als angemessene Reaktion des Arbeitgebers betrachtet, mit der verhindert wird, dass Sachverhalte ausserhalb der Organisation offengelegt werden.

Für das Verfahren, das intern nach einer Meldung eingeleitet wird, insbesondere für eine interne Untersuchung, besteht bereits ein Rahmen durch die Anforderungen im Zusammenhang mit dem Schutz der Persönlichkeit ­ des Arbeitnehmers, der einen Sachverhalt meldet, und der Arbeitnehmerin, die verdächtigt wird ­ und dem Datenschutz (siehe Ziff. 1.1.3). In Bezug auf diesen Punkt ist keine Regelung erforderlich.

Spezialgesetz; Angestellte der öffentlichen Hand Die Motion Gysin (03.3212) verlangt eine Regelung im Obligationenrecht. Gleichzeitig fordert sie aber auch eine gleichwertige Regelung für die Angestellten der öffentlichen Hand. Somit kann die Einführung eines Spezialgesetzes in Betracht gezogen werden, das Arbeitsverhältnisse sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor umfasst. Dabei könnte man sich am Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann orientieren. Was das letztere
Gesetz anbelangt, bestand der zentrale Ausgangspunkt darin, die Frage der Gleichstellung für alle Arbeitsverhältnisse zu regeln, d. h. im privaten Sektor, für das Bundespersonal sowie für das Personal der Kantone und Gemeinden.

Im Vorentwurf wurde darauf verzichtet, ein Spezialgesetz vorzuschlagen. In der Vernehmlassung haben verschiedene Organisationen die Einführung eines Spezialgesetzes verlangt, insbesondere die im Bereich der Korruptionsbekämpfung tätigen Organisationen. Zwei Kantone sprachen sich für die im Vorentwurf vorgesehene Option aus.

Der Entwurf hält sich diesbezüglich an die im Vorentwurf getroffene Wahl. Abweichende Bestimmungen für die Angestellten der öffentlichen Hand sind gerechtfertigt. Personen, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, dienen auch dem öffentlichen Interesse. Dies kann zu einer anderen Interessenabwägung führen. Auf Bundesebene und in vielen Kantonen wurde im Zusammenhang mit allen oder einzelnen strafbaren Handlungen eine allgemeine Meldepflicht eingeführt. Dies 9560

beeinflusst die Art und Weise, wie das Melderecht geregelt wird. Schliesslich müssen die öffentlichen Gemeinwesen, vor allem die Kantone und Gemeinden, den Geltungsbereich des Amtsgeheimnisses für ihr jeweiliges Personal nach eigenem Ermessen festlegen können. Einheitliche Regelungen sind diesbezüglich nicht geboten.

Es ist festzuhalten, dass die öffentlichen Gemeinwesen auf dieses Problem reagiert haben. Was die öffentlichen Angestellten des Bundes anbelangt, wurde eine Spezialgesetzgebung erlassen. Eine Meldepflicht bei strafbaren Handlungen ist auch in praktisch allen Kantonen vorgesehen. Während in mehreren Kantonen bereits ein Melderecht bestand oder kürzlich eingeführt wurde, werden in anderen Kantonen entsprechende Vorlagen behandelt (siehe Ziff. 1.1.3). Schliesslich verweisen, wie während der Vernehmlassung festgestellt, mehrere Kantone auf das Obligationenrecht verweisen.

1.4

Vergleich mit dem ausländischen, vor allem mit dem europäischen Recht

1.4.1

Europäische Union

Die arbeitsrechtlichen Vorschriften der Europäischen Union enthalten keine Regeln zur Meldung von Unregelmässigkeiten. Insbesondere untersagt die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000103 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nur die Diskriminierung wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung (Art. 1) und bezieht sich nicht auf Vergeltungsmassnahmen. Allerdings wurde kürzlich die Funktion der Meldung von Unregelmässigkeiten und deren Nutzen im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen im Finanzbereich anerkannt. Die Europäische Kommission sieht in ihrem Vorschlag für die Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) vom 20. Oktober 2011104 vor, die Meldung an die Behörden zu fördern. Artikel 29 des Vorschlags verpflichtet zur Einrichtung von wirksamen Mechanismen, um die Meldung von Verstössen zu fördern.

Diese Mechanismen umfassen mindestens spezielle Verfahren für die Entgegennahme und die Nachverfolgung der Meldungen, einen angemessenen Schutz von Personen, die mögliche oder tatsächliche Verstösse melden, den Datenschutz und angemessene Verfahren.

Die internen Meldeverfahren, die eingeführt worden waren, um die Anforderungen des amerikanischen Sarbanes-Oxley-Gesetzes zu erfüllen (siehe hierzu Ziff. 1.4.2), haben in der Europäischen Union zu Problemen mit dem Datenschutz geführt. So wurde am 1. Februar 2006 eine Stellungnahme der Artikel-29-Datenschutzgruppe, des europäischen Konsultativorgans zum Datenschutz, zu dieser Frage verabschiedet.105 In dieser Stellungnahme wird insbesondere festgehalten, dass die Anwendung 103 104 105

ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16 KOM (2011) 651 endgültig Stellungnahme 1/2006 zur Anwendung der EU-Datenschutzvorschriften auf interne Verfahren zur Meldung mutmasslicher Missstände in den Bereichen Rechnungslegung, interne Rechnungslegungskontrollen, Fragen der Wirtschaftsprüfung, Bekämpfung von Korruption, Banken- und Finanzkriminalität (00195/06/DE, WP 117).

9561

solcher Verfahren einem legitimen Interesse des Arbeitgebers entspricht. Ausserdem sind in der Stellungnahme verschiedene Voraussetzungen aufgeführt, die es zu berücksichtigen gilt. So wird vor allem festgehalten, dass anonyme Meldungen von Unregelmässigkeiten eine Ausnahme bleiben müssen, da bei diesen der loyale Charakter der gesammelten Informationen nicht gewährleistet ist und da damit unter Umständen missbräuchliche Meldungen gefördert werden.106 Es wird aber auch betont, dass die Vertraulichkeit der Meldungen gewährleistet sein muss.107

1.4.2

Vereinigte Staaten

Der Whistleblower Protection Act (WPA) von 1989108 schützt öffentliche Angestellte der Bundesbehörden, die Unregelmässigkeiten melden, und beschränkt sich nicht auf eine Kategorie von Unregelmässigkeiten. Der private Sektor verfügt auf bundesrechtlicher Ebene über keinen allgemeinen Schutz. Hingegen wird er durch zahlreiche sektorielle Gesetze abgedeckt. Das erste Gesetz, das einen weitreichenden Bereich abdeckt, ist das Sarbanes-Oxley-Gesetz (SOX)109, das 2002 insbesondere nach dem Konkurs von Enron erlassen wurde. Es deckt jene Unternehmen ab, die den Abschnitten 12 und 15d des Securities Exchange Act von 1934110 unterstehen, d.h. die meisten Publikumsgesellschaften.111 Das Gesetz ist auf die Meldung von strafbaren Handlungen im Bank- und Finanzsektor sowie von Handlungen ausgerichtet, die die Interessen der Aktionäre schädigen können. Die übrigen sektoriellen Gesetze auf Bundes- und Gliedstaatenebene betreffen verschiedene Bereiche wie zum Beispiel die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer, die nukleare Sicherheit und das Umweltrecht.112 In den letzten Jahren wurde in verschiedenen Gesetzen, die sich auf bedeutende Bereiche beziehen und eine grosse Zahl von Angestellten abdecken, ein Schutz für Whistleblower eingeführt: Unternehmen in den Bereichen Verteidigung sowie Herstellung und Vertrieb von Artikeln des täglichen Bedarfs, Gesundheitssektor, neue Regelung des Finanzsektors (Dodd-Frank Act), Sicherheit von Konsumgütern und Konsumentenschutz, Lebensmittel und Medikamente (Bereiche in der Zuständigkeit der Food and Drugs Administration)113. Bestehen keine Rechtsvorschriften, können die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze herangezogen werden.

Im amerikanischen Arbeitsrecht gilt die sogenannte at-will-Doktrin oder Freiheit der grundlosen Kündigung. Diese Freiheit wird durch Ausnahmen eingeschränkt, die von der Rechtsprechung entwickelt wurden. So hat das oberste Gericht von Kalifornien 1959 für ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis eine sogenannte Ausnahme der öffentlichen Ordnung (public policy) zugelassen, gemäss der die Rechtmässigkeit 106 107 108 109 110 111

Stellungnahme 1/2006, Ziff. IV, 2, iii Stellungnahme 1/2006, Ziff. IV, 5, ii Siehe 5 USC § 1213 und 5 USC 2302, b, 8 Section 806, 18 USC § 1514A 18 USC § 1514A, a Siehe Kohn, Stephen M./Kohn, Michael D./Colapinto, David K., Whistleblower Law ­ A Guide to Legal Protections for Corporate Employees, 2004, S. 70.

112 Siehe zum Beispiel die Gesetze im Zuständigkeitsbereich der Organisational Safety and Health Administration (OSHA), in OSHA Fact Sheet, Your Rights as a Whistleblower, unter www.osha.gov/Publications/OSHA3638.pdf.

113 Section 219, Consumer Product Safety Improvement Act, H.R. 4040 und S. 2663, und Devine, Tom/Maassarani, Tarek, The Corporate Whistleblower's Survival Guide, 2011, S. 150­151.

9562

einer Kündigung oder einer Vergeltungsmassnahme im Hinblick auf das öffentliche Interesse oder das Gemeinwohl gewürdigt werden kann.114 Über 40 Bundesstaaten lassen diese Ausnahme heute zu, und die meisten anerkennen die Meldung von Unregelmässigkeiten als Anwendungsfall. Je nach Bundesstaat gelten unterschiedliche Bedingungen für die Meldung von Unregelmässigkeiten. In den meisten Bundesstaaten kann sich die Meldung auf strafbare oder gesetzwidrige Handlungen beziehen. Auch eine direkte Meldung an die Behörden ist zulässig, und die Inkenntnissetzung der Medien ist nicht ausgeschlossen. Eine Kündigung oder Vergeltungsmassnahme gegen Hinweisgeber gilt in den meisten Bundesstaaten als strafbare Handlung. Sie gibt somit Anlass zur Leistung von Strafschadenersatz.115 Die verschiedenen Spezialgesetze sehen unterschiedliche Schutzbedingungen und Anfechtungsverfahren vor. In der Regel erfassen sie jedoch jegliche Vergeltungsmassnahme, lassen die externe Meldung von Unregelmässigkeiten zu und gewährleisten die Wiedereinstellung.116 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das Sarbanes-Oxley-Gesetz.

Abschnitt 806 des Sarbanes-Oxley-Gesetzes gewährt bei der Meldung von Unregelmässigkeiten einen umfangreichen Schutz. Der Arbeitnehmer muss glaubhaft machen können, dass die Handlung begangen wurde, ohne dass er sie jedoch beweisen muss. Er bleibt geschützt, selbst wenn die betreffende Person in einem späteren Verfahren für unschuldig erklärt wird. Die Meldung kann unterschiedslos an eine Bundesbehörde mit Verordnungs- oder Exekutivbefugnis, ein Kongressmitglied oder einen Kongressausschuss, an den eigenen Vorgesetzten oder an ein Organ im Unternehmen gerichtet werden, das den Auftrag hat, Unregelmässigkeiten nachzugehen.117 Es muss somit nicht das interne Meldesystem nach Abschnitt 301 des Gesetzes genutzt werden, damit die Meldung geschützt ist. Die Rechtsprechung zu anderen Gesetzen, von der das Sarbanes-Oxley-Gesetz offenbar nicht abweichen will, lässt es auch zu, dass sich der Hinweisgeber an die Medien, an Nichtregierungsorganisationen oder an die Gewerkschaften wendet.118 In einem einzelnen Urteil wurde indessen die Meldung an die Medien auf der Grundlage des SarbanesOxley-Gesetzes ausgeschlossen.119 Als untersagte Vergeltungsmassnahmen gelten alle diskriminierenden Handlungen, die sich auf die
Anstellungsbedingungen des Arbeitnehmers auswirken. Dieser muss beweisen, dass die Meldung ein Faktor war, der zur diskriminierenden Handlung beigetragen hat, allerdings nicht zwangsläufig in überwiegendem Ausmass.

Das Sarbanes-Oxley-Gesetz ist darauf ausgerichtet, die Situation vor der beanstandeten Handlung wiederherzustellen.120 Es sieht deshalb gegebenenfalls die Wiedereinstellung des Arbeitnehmers vor. Zudem sieht es die Begleichung der Lohnrückstände und eines allfälligen Schadenersatzes vor. Überdies sind harte strafrechtliche Sanktionen vorgesehen. Zum einen wurde der Tatbestand der Behinderung eines Gerichtsverfahrens angepasst und erfasst nun jegliche Vergeltungsmassnahmen, 114 115 116 117 118

119 120

Petermann v. International Brotherhood of Tearnsters, 174 Cal. App. 2d 184 (1959).

Siehe zur Rechtsprechung: GRASER, Daniela, Whistleblowing: Arbeitnehmeranzeigen im US-amerikanischen und deutschen Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 47 ff.

Siehe OSHA Factsheet (Fussnote 77) und Graser. S. 76, 79­80, 83.

18 USC 1504a, a, 1 Kohn, Stephen M./Kohn, Michael D./Colapinto, David K, Whistleblower Law ­ A Guide to Legal Protections for Corporate Employees, 2004, S. 87­88 und zitierte Rechtsprechung.

Tides v. Boeing, 2010 U.S. Dist. LEXIS 11282, 9. Februar 2010 18 USC 1504a, c, 1

9563

insbesondere im Rahmen der Berufstätigkeit, gegen eine Person, die eine Exekutivbehörde von einer Behinderung des Bundesrechts in Kenntnis gesetzt hat.121 Es kann eine Busse oder eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren verhängt werden. Zum anderen wird ein Verstoss gegen das Sarbanes-Oxley-Gesetz einem Verstoss gegen den Securities Exchange Act von 1934122 gleichgestellt, der harte Strafen vorsieht.

Die Securities and Exchange Commission (SEC) kann somit ihre Untersuchungsbefugnisse ausüben.

Die finanzielle Belohnung von Whistleblowern ist eine Besonderheit des amerikanischen Rechts. Sie beruht in erster Linie auf dem Federal False Claims Act von 1863.123 Dieses Gesetz verleiht jeder Person die Klageberechtigung im Namen des Staates, wenn betrügerische Handlungen, die im Gesetz aufgeführt sind, gegen den Staat begangen werden und diese den Behörden oder der Öffentlichkeit nicht bekannt sind, oder wenn die Handlungen diesen bekannt sind und die betreffende Person die Informationsquelle ist.124 Seit einer Gesetzesrevision im Jahr 1986 räumt das Gesetz dem Kläger zwischen 15 und 25 % des Betrages ein, der dem Staat durch ein Urteil oder eine Transaktion zurückerstattet wird, oder zwischen 25 und 30 %, wenn sich der Staat nicht an der Klage beteiligt und diese von der betreffenden Person allein geführt wird.125 Dieses Belohnungssystem wurde vom Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act von 2010 für Verfahren übernommen, bei denen die Finanzmarktaufsicht (Securities and Exchange Commission) eine Strafe von über einer Million Dollar verhängt.126 Im Rahmen einer Revision des Steuergesetzes im Jahr 2006 wurden ebenfalls die Beträge deutlich erhöht, welche die Steuerbehörde an Whistleblower ausrichten kann, wenn sich die strittige Summe auf mindestens zwei Millionen Dollar beläuft oder wenn der Straftäter über ein Einkommen von mehr als 200 000 Dollar verfügt.127

1.4.3

Vereinigtes Königreich

Das Vereinigte Königreich hat das Recht zur Meldung von Unregelmässigkeiten für den privaten Sektor und den öffentlichen Dienst umfassend im Public Interest Disclosure Act 1998 (PIDA)128 geregelt, der seit dem 2. Juli 1999 in Kraft ist. Dieses Gesetz wurde nach mehreren Katastrophen verabschiedet, die auf Sicherheitsmängel zurückzuführen waren. Dem Personal waren diese Mängel zwar bekannt, doch es meldete sie nicht, da es Vergeltungsmassnahmen befürchtete. Das Gesetz stützt sich auf eine umfangreiche Rechtsprechung zur Vertraulichkeit und zum öffentlichen Interesse. Die Bestimmungen wurden in Teil IV A (Protected disclosures) des englischen Arbeitsgesetzes (Employment Rights Act 1996; ERA) aufgenommen.129 Das Gesetz wurde in der Entreprise and Regulatory Reform Bill geändert, die am 25. April 2013 verabschiedet wurde.

121 122 123 124 125 126 127 128 129

18 USC 1513e Sarbanes Oxley Act, Section 3(b)(1) 31 USC 3729-3733 31 USC 3729, a, 1, 31 USC 3730, b und 31 USC 3730, e, 4 31 USC 3730, d, 1 und 2 L. 111­203, H.R. 4173, Sec. 922 Siehe Internal Revenue Code, Section 7623(b) 1998 Chapter 23 1996 Chapter 18

9564

In Artikel 43B PIDA sind die Handlungen festgelegt, die gemeldet werden können: strafbare Handlung, Verletzung einer gesetzlichen Verpflichtung, Justizirrtum, Gefährdung der Gesundheit oder Sicherheit einer Person, erfolgte oder drohende Schädigung der Umwelt, Verheimlichung einer Information in Bezug auf die vorgängig beschriebenen Handlungen. Im revidierten Gesetz, das am 25. April 2013 verabschiedet wurde, wurde die Voraussetzung des öffentlichen Interesses hinzugefügt. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen somit nachweisen, dass der gemeldete Sachverhalt von öffentlichem Interesse ist. Sie müssen glaubhaft machen können, dass die gemeldeten Handlungen erfolgt sind. Angestellte, die an das Berufsgeheimnis gebunden sind und die im Hinblick auf eine Rechtsberatung über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt werden, fallen nicht unter den PIDA, wenn sie ihrerseits den betreffenden Sachverhalt offenlegen.

In Artikel 43C­43G PIDA sind die möglichen Adressaten einer Meldung festgelegt, die bis zum Inkrafttreten der Änderung von 2013 gutgläubig erfolgen muss. Die Gutgläubigkeit bezieht sich auf die Gründe, die den Arbeitnehmer zur Meldung veranlasst haben. Im revidierten Gesetz, das am 25. April 2013 verabschiedet wurde, wurde diese Voraussetzung aufgehoben. Die Meldung ist somit unabhängig vom Beweggrund des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin geschützt. In den Artikeln 43C­43F sind die Personen aufgeführt, die ohne zusätzliche Bedingungen von den Unregelmässigkeiten in Kenntnis gesetzt werden dürfen: der Arbeitgeber, eine Stelle, die der Arbeitgeber zu diesem Zweck eingesetzt hat, oder eine Person, die für den betreffenden Bereich zuständig ist (Art. 43C), ein Rechtsberater bei der Einholung von Rechtsauskünften (Art. 40D), eine Ministerin, falls der Arbeitgeber von dieser ernannt wurde (Art. 43E). Eine direkte externe Meldung ist nur an die Empfänger möglich, die in einer entsprechenden Verordnung für einen bestimmten Bereich bezeichnet wurden (Art. 40F).

Artikel 43G regelt die Meldung an andere Personen, d. h. an nicht bezeichnete Behörden oder an Dritte. Für diesen Fall sind zusätzliche Bedingungen vorgesehen.

Sie betreffen zunächst den Hinweisgeber: Er muss die Richtigkeit der gemeldeten Informationen angemessen glaubhaft machen können und darf keinen persönlichen Vorteil anstreben. Die
Meldung an andere Adressaten ist sodann möglich, wenn bereits eine Meldung nach den Artikeln 40C­40F erfolgt ist oder wenn die Meldung beim Arbeitgeber mit Nachteilen verbunden ist (Vergeltungsmassnahmen, Vernichtung von Beweisen). Auch wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Meldung nicht automatisch zulässig. Sie muss angesichts der Umstände des jeweiligen Einzelfalls angemessen sein, namentlich hinsichtlich der Person, die in Kenntnis gesetzt wird, des Schweregrads der gemeldeten Unregelmässigkeit, der Verletzung einer Geheimhaltungspflicht des Arbeitgebers, der Massnahmen, die der Arbeitgeber nach einer ersten Meldung getroffen hat oder die ihm zumutbar gewesen wären, und der allfälligen Inanspruchnahme eines vom Arbeitgeber bereitgestellten Verfahrens.

Artikel 43H regelt die Meldung von sehr gravierenden Unregelmässigkeiten. Diese können jedermann gemeldet werden, falls die Meldung in Anbetracht der gewählten Person und der anderen Umstände des Einzelfalls als angemessen betrachtet werden kann. Der Arbeitnehmer muss zudem in gutem Glauben handeln; er muss mit Recht annehmen dürfen, dass die Information der Wahrheit entspricht, und er darf nicht aus persönlichem Interesse handeln.

Bestimmungen, die das Recht auf die Meldung von Unregelmässigkeiten einschränken oder ausschliessen, sind nichtig (Art. 43J).

9565

Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine rechtmässige Meldung vornehmen, sind vor jeder Diskriminierung seitens des Arbeitgebers geschützt (Art. 47B). Sie haben Anspruch auf eine angemessene Entschädigung unter Berücksichtigung des erlittenen Schadens (Art. 48 und 49).

Eine Kündigung wegen einer rechtmässigen Meldung von Unregelmässigkeiten gilt als missbräuchlich im Sinne des Employment Rights Act 1996 (Art. 103A). Das britische Recht ahndet eine missbräuchliche Kündigung durch die Wiedereinstellung am gleichen Arbeitsplatz, das Angebot einer vergleichbaren Beschäftigung oder andernfalls durch eine Entschädigung (Art. 112). Die Wiedereinstellung oder die Anstellung an einem vergleichbaren Arbeitsplatz werden nach Ermessen des Gerichts ausgesprochen, wenn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin dies wünscht und entsprechend der Machbarkeit für den Arbeitgeber und einem allfälligen Mitverschulden des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin (Art. 116). Wird eine Wiedereinstellung verhängt, kann sie nicht zwangsvollstreckt werden. Ein Arbeitgeber, der sich nicht an das Urteil hält, muss Strafschadenersatz leisten (Art. 117).

Im Fall einer missbräuchlichen Kündigung wegen der Meldung von Unregelmässigkeiten ist der interim relief anwendbar (Art. 128). Dabei handelt es sich um ein Verfahren mit vorsorglichen Massnahmen, das auf einer Prima-facie-Prüfung des Falls beruht. Das Gericht kann je nach Fall die Wiedereinstellung, die Zuweisung eines vergleichbaren Arbeitsplatzes oder die Weiterführung des Vertrags bis zum Abschluss des Prozesses anordnen (Art. 129). Die Weiterführung des Vertrags bezieht sich nur auf die finanziellen Vertragsansprüche. Sie hat zur Folge, dass der Angestellte weiterhin seinen Lohn erhält, aber nicht verlangen kann, dass ihm eine Arbeit zugewiesen wird. Diese Massnahme kommt zum Tragen, wenn der Arbeitgeber die Wiedereinstellung oder die Zuweisung eines vergleichbaren Arbeitsplatzes verweigert (Art. 129 Abs. 9 Bst. b). Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin kann somit die berufliche Tätigkeit im betreffenden Unternehmen nur mit dem Einverständnis des Arbeitgebers fortsetzen (Art. 129 Abs. 6).

1.4.4

Frankreich

In Frankreich wurden kürzlich Spezialvorschriften zur Meldung von Unregelmässigkeiten in weitreichenden Bereichen verabschiedet. Die erste Regelung beschränkte sich auf die Korruption. Nach Artikel L. 1161-1 des Code du travail (Arbeitsgesetz), der mit dem Loi relative à la lutte contre la corruption vom 13. November 2007 (Nr. 2007-1598, Gesetz über die Bekämpfung der Korruption)130 eingeführt wurde, ist jede Kündigung oder diskriminierende Handlung gegenüber von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen nichtig, die ihrem Arbeitgeber oder den Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gutgläubig Korruptionshandlungen gemeldet oder bezeugt haben, von denen sie bei der Ausübung seiner Tätigkeit Kenntnis erhielten. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen nur die Tatsachen beweisen, die darauf schliessen lassen, dass sie Korruptionshandlungen gemeldet oder bezeugt haben. In der Folge muss der Arbeitgeber nachweisen, dass die gegen den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin ergriffene Massnahme nicht auf die Meldung, sondern auf einen anderen Grund zurückzuführen ist. Im Anschluss an den 130

JORF Nr. 264 vom 14. November 2007, Text 1

9566

Skandal im Zusammenhang mit dem Medikament «Mediator» wurde der gleiche Schutz für Personen eingeführt, die ihrem Arbeitgeber, den Justizbehörden oder den Verwaltungsbehörden gutgläubig Sachverhalte im Zusammenhang mit der Sicherheit von Medizinprodukten oder Kosmetika melden oder bezeugen, von denen sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Kenntnis erhielten.131 Ein Pneumologe, der Anfang 2009 auf die kardialen Risiken im Zusammenhang mit dem Medikament «Mediator» hingewiesen hatte, wurde nicht angehört und wurde eingeschüchtert.

Schliesslich wurde im Loi relative à l'indépendance de l'expertise en matière de santé et d'environnement et à la protection des lanceurs d'alerte vom 16. April 2013 (Nr. 2013-316, Gesetz über die Unabhängigkeit von Gutachten in den Bereichen Gesundheit und Umwelt und über den Schutz von Hinweisgebern)132 der Bereich des Schutzes signifikant erweitert. Dieses Gesetz systematisiert die Berücksichtigung von Meldungen im Gesundheits- und Umweltbereich und führt einen allgemeinen Schutz in diesen Bereichen ein. Zunächst legt das Gesetz das Recht fest, eine Information zu einem Sachverhalt, zu bestimmten Daten oder zu einer Handlung gutgläubig gegenüber der Öffentlichkeit offenzulegen oder zu verbreiten, deren Unkenntnis einer schwerwiegenden Gefährdung für die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt entsprechen könnte (Art. 1). Anschliessend führt das Gesetz eine nationale Kommission für Standesregeln und Meldungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt ein (Art. 2­7). Diese Kommission nimmt insbesondere von in diesen Bereichen tätigen Ministern, Parlamentariern, Konsumentenschutzorganisationen, Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaftsorganisationen, Berufsorganisationen und Behörden Meldungen entgegen (Art. 4). Sie leitet die Meldungen an den zuständigen Minister oder die zuständige Ministerin weiter (Art. 2 Ziff. 4).

Die öffentlichen Institutionen, die in den Bereichen Gesundheit oder Umwelt Gutachter- oder Forschungstätigkeiten ausüben, müssen ein Verzeichnis der bei ihnen eingegangenen Meldungen und der daraufhin ergriffenen Massnahmen führen (Art. 3).

Ein dritter Abschnitt des Gesetzes regelt Meldungen in Unternehmen und den Schutz des Arbeitnehmers oder die Arbeitnehmerin. Im Arbeitsgesetz wird ein Melderecht im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der
Umwelt eingeführt.

Wenn ein Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin gutgläubig der Auffassung ist, dass im Zusammenhang mit den Produkten oder Herstellungsverfahren im Unternehmen eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder der Umwelt besteht, setzt er oder sie unverzüglich den Arbeitgeber davon in Kenntnis (Art. L 4133-1). Der Personalvertreter oder die Personalvertreterin im Ausschuss für Gesundheit, Sicherheit und Arbeitsbedingungen hat ebenfalls ein Melderecht (Art. L 4133-2). Der Arbeitgeber hat die Meldung zu bearbeiten. Er muss sie schriftlich festhalten und den Arbeitnehmer über das weitere Vorgehen informieren (Art. L 4133-1 Abs. 2 und 3). Wenn eine Meinungsverschiedenheit über die Berechtigung einer Meldung besteht oder wenn der Arbeitgeber nicht innerhalb eines Monats entsprechende Massnahmen ergreift, können sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin sowie der Personalvertreter oder die Personalvertreterin an den Präfekten des Département wenden (Art. L 4133-3). Der Gesundheitsausschuss wird über das gesamte Verfahren in Kenntnis gesetzt (Art. L 4133-4). Untersagt und nichtig ist 131

Art. L 5312-4-2 des Code de la santé publique, der eingeführt wurde mit dem Loi relative au renforcement de la sécurité sanitaire du médicament et des produits de santé vom 29. Dezember 2011 (Nr. 2011-2012), JORF Nr. 0302 vom 30. Dezember 2011.

132 JORF Nr. 0090 vom 17. April 2013, Text 1

9567

von Rechts wegen jede Sanktion und diskriminierende Massnahme gegen die Person, die ihrem Arbeitgeber oder den Justiz- oder Verwaltungsbehörden Sachverhalte im Zusammenhang mit einer schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder der Umwelt, von der sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Kenntnis erhielt, gutgläubig gemeldet oder bezeugt hat (Art. L 1351-1 des Code de la santé publique [Gesetz zur Regelung der öffentlichen Gesundheit] im Zusammenhang mit Art. L 4133-5 des Arbeitsgesetzes). Die Person muss nur die Vermutung belegen, die sie in Bezug auf die betreffenden Sachverhalte geäussert hat. In der Folge muss die beklagte Partei belegen, dass die gegen die Person ergriffene Massnahme auf Gründen beruht, die nicht mit der Meldung oder Aussage zusammenhängen. Eine Meldung, die bösgläubig mit der Absicht zu schaden oder mit der zumindest teilweisen Kenntnis in Bezug auf die Ungenauigkeit der bekannt gemachten oder verbreiteten Sachverhalte erstattet wird, entspricht einer strafbaren Handlung (Art. 226-10 des Strafgesetzbuchs).

Das französische Parlament steht kurz davor, einen neuen Artikel L 1132-3-3 in den Code du travail aufzunehmen, um die geschützten Bereiche wesentlich zu erweitern.133 Dieser Artikel ist mit den vorne erwähnten Bestimmungen vergleichbar und schützt den Arbeitnehmer, der gutgläubig die Umstände einer Straftat geschildert hat, vor jeder Sanktion, Kündigung oder diskriminierenden Massnahme.

Im Übrigen ist die Meldung von diskriminierenden Handlungen oder Mobbing geschützt. Eine Kündigung und alle anderen Vergeltungsmassnahmen, die aufgrund einer solchen Meldung ausgesprochen oder getroffen werden, sind von Rechts wegen nichtig (Art. L 1132-3, L 1132-4, L 1152-3 und L 1153-4). Es bestehen verschiedene Diskriminierungsgründe (Art. L 1132-1 und L 1131-2). Sie beziehen sich auf persönliche Merkmale wie die Herkunft, das Geschlecht, die Lebensgewohnheiten, die sexuelle Identität oder Orientierung, das Alter, die Ausübung von gewerkschaftlichen oder genossenschaftlichen Tätigkeiten oder die normale Ausübung des Streikrechts. Eine Meldung ist nur geschützt, wenn sie gutgläubig erstattet wird. Gutgläubigkeit ist nicht ausgeschlossen, wenn die Sachverhalte nicht belegt sind; sie ist jedoch auszuschliessen, wenn eine Meldung unwahr oder verleumderisch ist.134 Ausserhalb
dieser Bereiche gelangen die allgemeinen arbeitsrechtlichen Regeln zur Anwendung. Sie wurden vom Kassationsgerichtshof festgelegt, der das Vorliegen eines schweren Verschuldens prüfte, das eine fristlose Kündigung rechtfertigt.135 Eine Meldung an die Behörden ist grundsätzlich zulässig, ohne dass zuvor der Arbeitgeber in Kenntnis gesetzt werden muss. Die Meldung muss auch in diesem Fall gutgläubig erfolgen, ohne dass bewiesen werden muss, dass die gemeldeten Sachverhalte in Wirklichkeit bestehen.

Nach den allgemeinen Regeln des Arbeitsrechts gilt eine ordentliche oder fristlose Kündigung, die nicht durch einen tatsächlichen und ernsthaften Grund gerechtfertigt ist, als missbräuchlich. Das Gericht kann in diesem Fall die Wiedereinstellung des Arbeitnehmers im Unternehmen vorschlagen (Art. L 1235-3). Lehnt dies eine der 133

Artikel 9 septies, Ziff. I des projet de loi relatif à la lutte conre la fraude fiscale et la grande délinquance économique et financière, das in erster Lesung und in neuer Lesung von der Nationalversammlung und dem Senat angenommen wurde.

134 Kassationsgerichtshof, Sozialkammer: Beschwerde Nr. 07-44092, 10. März 2009; Beschwerde Nr. 10-28199, 6. Juni 2012; Beschwerde Nr. 10-28345, 6. Juni 2012.

135 Kassationsgerichtshof, Sozialkammer: Beschwerde Nr. 05-41504, 8. November 2006; Beschwerde Nr. 04-41075, 12. Juli 2006; Beschwerde Nr. 97-43268, 14. März 2000.

9568

Parteien ab, hat der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von mindestens sechs Monatslöhnen (ibid.). Eine fristlose Kündigung, die nicht auf einer schweren Verfehlung beruht, begründet einen Anspruch auf eine besondere Entschädigung (Art. L 1234-5). Diese Sanktionen gelten bei gutgläubigen Meldungen.

1.4.5

Deutschland

Im deutschen Arbeitsrecht besteht keine Spezialregelung zur Meldung von Unregelmässigkeiten. Es gelangen die allgemeinen arbeitsrechtlichen Regeln zur Anwendung. Im Anschluss an die Verurteilung von Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Heinisch (siehe unten Ziff. 5.2.1) wurde die Debatte über die Regelung der Meldung von Unregelmässigkeiten wieder entfacht.

Im Jahr 2012 wurden im Bundestag zwei Gesetzesentwürfe eingebracht, mit denen eine umfassende Regelung vorgeschlagen wurde.136 Am 13. Juni 2013 hat der Bundestag entschieden, nicht darauf einzutreten.

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 2. Juli 2001 und in den Urteilen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 3. Juli 2003 und vom 7. Dezember 2006137 wurden die Regeln dargelegt, die im Fall der Meldung von strafbaren Handlungen anwendbar sind.

Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unterstehen einer Treue- und Schweigepflicht. Diese findet ihre Grenzen in der Ausübung der verfassungsmässigen Rechte.

Eine Privatperson, die diese ausübt, darf dafür nicht zivilrechtlichen Sanktionen ausgesetzt werden. Die Meldung von strafbaren Handlungen an die Behörden durch den Arbeitnehmer fällt in den Bereich der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG). Dem Arbeitgeber steht es frei, auf der Grundlage der Wirtschaftsfreiheit mit den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zusammenzuarbeiten, die im Interesse seines Unternehmens handeln. Auch sein Interesse, im Unternehmen begangene unerlaubte Handlungen geheim zu halten, ist geschützt.

Die Meldung von strafbaren Handlungen durch die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen muss verhältnismässig sein. Dabei sind die folgenden Indizien in Betracht zu ziehen: Stichhaltigkeit der Meldung, Begründung des Arbeitnehmers und vorgängige betriebsinterne Meldung. So ist eine Meldung nicht geschützt, wenn die Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen leichtfertig oder absichtlich falsche Tatsachen meldeb oder wenn ihre Absicht darin besteht, sich amArbeitgeber zu rächen oder diesem zu schaden. Eine vorgängige Meldung an den Arbeitgeber ist nicht systematisch zu verlangen. Ihre Notwendigkeit muss in jedem Einzelfall abgeklärt werden.

So ist keine vorgängige interne Meldung erforderlich, wenn sich
der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin selbst einer mit Strafe bedrohten Handlung schuldig machen würde, wenn die Unregelmässigkeit gravierend ist, wenn der Arbeitgeber selbst an der Unregelmässigkeit beteiligt ist oder wenn vernünftigerweise keine Reaktion zu erwarten ist.

136

Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Hinweisgebern ­ Whistleblowern (Hinweisgeberschutzgesetz ­ HinwGebSchG), Drucksache 17/8567, 07.02.2012, und Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern (Whistleblower-Schutzgesetz), Drucksache 17/9782, 23.05.2012.

137 1 BvR 2049/00 bzw. AZR 235/02 und 2 AZR 400/05

9569

Entspricht eine Meldung von Unregelmässigkeiten diesen Bedingungen, zieht sie keine Verletzung der Vertragspflichten nach sich. In diesem Fall ist eine fristlose Kündigung nach § 626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)138 unwirksam. Auch eine ordentliche Kündigung ist im Sinne von § 1 Absatz 2 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG)139 sozial ungerechtfertigt, da sie nicht durch Gründe bedingt ist, die im Verhalten des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin liegen. Eine ungerechtfertigte Kündigung ist rechtsunwirksam (§ 1 Abs. 1 KSchG). Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin muss innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung handeln (§ 4 KSchG). In den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses ist das KSchG nicht anwendbar (§ 1 Abs. 1 KSchG). Auch auf Betriebe mit weniger als fünf Angestellten ist es nicht anwendbar (§ 23 Abs. 1 erster Satz KSchG). Ausserhalb des KSchG besteht ein minimaler Kündigungsschutz auf der Grundlage von § 138 BGB (gute Sitten) und § 242 BGB (Treu und Glauben).

Das Gericht entscheidet nicht auf Nichtigkeit, wenn keine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zu erwarten ist (§ 9 Abs. 1 KSchG). In diesem Fall wird dem Arbeitnehmer eine Abfindung ausgerichtet (ibid). Diese Abfindung kann bis zu zwölf Monatslöhne (§ 10 Abs. 1 KSchG) oder gar 15 (über 50-jähriger Arbeitnehmer mit 15 Dienstjahren) oder 18 Monatslöhne (55 Jahre, 20 Dienstjahre) betragen. Dem Antrag auf Wiedereinstellung des Arbeitnehmers während des Gerichtsverfahrens wird nicht vor dem erstinstanzlichen Entscheid stattgegeben, sofern die Kündigung nicht offensichtlich ungerechtfertigt ist.140 Nach der ersten Instanz wird auf Wiedereinstellung erkannt, wenn der Entscheid zugunsten des Arbeitnehmers ausgefallen ist.

Es gelten zusätzliche Bestimmungen, wenn das Unternehmen über einen Betriebsrat verfügt. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn es mindestens fünf Mitarbeitende beschäftigt: Bevor der Arbeitgeber die Kündigung ausspricht, muss er den Betriebsrat anhören und ihm die Gründe darlegen. Andernfalls ist die Kündigung nichtig (§ 102 Abs. 1 BetrVG141). Der Betriebsrat muss seine Vorbehalte innert Wochenfrist schriftlich mitteilen (§ 102 Abs. 2 BetrVG).

1.5

Umsetzung

Der vorliegende Entwurf erfordert keine besonderen Ausführungsbestimmungen. Es wird Sache der Gerichte sein, die vorgeschlagenen Bestimmungen bei Rechtsstreitigkeiten anzuwenden.

1.6

Abschreibung parlamentarischer Vorstösse

Mit dieser Vorlage werden alle in der Motion Gysin (03.3212) enthaltenen Forderungen erfüllt. Für das Bundespersonal, das dem BPG142 untersteht, wurde bereits eine Regelung verabschiedet (vgl. Ziff. 1.1.3). Vorliegend wird eine Regelung für den privaten Sektor und den öffentlichen Sektor auf Bundes-, Kantons- und 138 139 140 141 142

Gemäss Publikation vom 2. Januar 2002, BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738 Gemäss Publikation vom 25. August 1969, BGBl I S. 1317 BAG, Beschluss vom 27.2.1985, GS 1/84 Betriebsverfassungsgesetz, gemäss Publikation vom 25. September 2001, BGBl I 2518.

SR 172.220.1

9570

Gemeindeebene vorgeschlagen, die dem Obligationenrecht unterstehen. Das Personal des öffentlichen Sektors, das weder dem BPG noch dem Obligationenrecht untersteht, fällt nicht unter diese Regelung. Die Motion Gysin (03.3212) kann somit abgeschrieben werden. Dasselbe gilt für das Postulat Marty (03.3344).

2

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Art. 321abis Artikel 321abis E-OR definiert die Voraussetzungen für das Recht zur Meldung an den Arbeitgeber. In dieser Bestimmung ist festgelegt, dass die Meldung zuerst an den Arbeitgeber gerichtet werden muss. Die sich aus der Treuepflicht ergebende Meldepflicht wird nicht in Frage gestellt. Sie wird weiterhin in Artikel 321a Absatz 1 OR festgelegt.

Die Meldung muss auf einem hinreichenden Verdacht beruhen (Abs. 1 Bst. a). Der im Vorentwurf verwendete Ausdruck «in Treu und Glauben» wurde aufgegeben, da er weniger genau ist und manchmal verwendet wird, um die Beweggründe zu bezeichnen, die den Arbeitnehmer zur Meldung veranlasst haben. Die Änderung hat jedoch nicht den Zweck, ein höheres oder breiter gefasstes Anforderungsniveau festzulegen. Die Rechtsprechung im Zusammenhang mit Treu und Glauben, wie in Artikel 336 Absatz 1 Buchstabe d OR vorgesehen, kann somit als Grundlage für die Auslegung dienen. So kann ein Arbeitnehmer insbesondere nicht eine Meldung benutzen, um eine an sich zulässige Kündigung zu blockieren, und er kann nicht ohne irgendwelche Grundlage Sachverhalte offenlegen.143 Es reicht indessen aus, wenn der Arbeitnehmer berechtigterweise davon ausgehen darf, dass es zu einer Unregelmässigkeit gekommen ist.144 Der Begriff Verdacht weist darauf hin, dass der Arbeitnehmer in Bezug auf den Sachverhalt und die damit verbundene Unregelmässigkeit oder dessen widerrechtlichen Charakter keine Gewissheit haben muss. Zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommene Überprüfungen oder entsprechende Verfahren, die den Verdacht entkräften, beeinträchtigen die Berechtigung der Meldung nicht. Der Verdacht muss auf Gründen beruhen, die ihn zu einem objektiv hinreichenden Verdacht machen. Der geäusserte Verdacht darf hingegen nicht böswillig oder unwahr sein. Die persönlichen Beweggründe des Arbeitnehmers werden nicht berücksichtigt (siehe Ziff. 1.3.2). Der Abwägung zwischen der beruflichen Schweigepflicht und dem Interesse an einer Offenlegung muss Rechnung getragen werden.

Bei einer Meldung an den Arbeitgeber kann die subjektive Einschätzung des Arbeitnehmers leichter hingenommen werden als bei einer Meldung an eine Behörde, insbesondere wenn der Arbeitgeber eine Meldestelle eingerichtet hat, die dem Arbeitnehmer die Möglichkeit geben soll, auch jene Fälle zu melden, die seiner Auffassung nach Grenzfälle
sind.

Absatz 1 Buchstabe b legt die zulässigen Empfänger von Meldungen innerhalb der Organisation fest. Die vorgeschlagene Definition ist breit gefasst. Da es sich bei der Bestimmung um dispositives Recht handelt, kann der Arbeitgeber davon abweichen.

Die möglichen Adressaten sind zum einen die Personen, die zur Bearbeitung von 143

Siehe beispielsweise BGE 136 III 515, E. 2.4; Urteil des BGer vom 27.10.2005, 4C.237/2005, E. 2.2; Urteil des BGer vom 9.7.2002, 4C.10/2002, E. 3.2; Urteil des BGer vom 19.1.2001, 4C.239/2000, E. 2b.

144 Ibid.

9571

Meldungen innerhalb der Organisation berechtigt sind. Anhand der internen Organisation, wie sie sich aus dem Gesetz ergibt oder vom Arbeitgeber festgelegt wurde, kann ermittelt werden, wer zur Entgegennahme von Meldungen berechtigt ist.

Berechtigt sind beispielsweise die Vorgesetzten, die leitenden Organe als Folge ihrer allgemeinen Führungs- und Aufsichtsfunktion (z. B. Geschäftsleitung oder Verwaltungsrat in einer Aktiengesellschaft), die Revisionsstelle im Rahmen ihrer Aufgaben oder eine Abteilung, die damit beauftragt ist, die Rechtmässigkeit der Tätigkeiten der Organisation zu überwachen. Es kann sich auch um Personen handeln, in deren Zuständigkeitsbereich der gemeldete Sachverhalt fällt. Zu diesen Personen kommen die internen Personen oder Organe hinzu, die der Arbeitgeber speziell für die Entgegennahme derartiger Meldungen bezeichnet hat. Die Bestimmung fügt zum anderen die externen Personen oder Organe hinzu, die der Arbeitgeber für die Entgegennahme von Meldungen bezeichnet hat. Eine Meldung von Unregelmässigkeiten gegenüber Arbeitskollegen aus derselben oder anderen Unternehmenseinheiten, welche vom Sachverhalt nicht betroffen sind, ist dagegen mit der Treuepflicht nicht vereinbar.

Als Unregelmässigkeit gilt jeder Sachverhalt, der im Widerspruch zu einer Verpflichtung des Unternehmens oder seiner Mitarbeitenden steht. Der Begriff Unregelmässigkeit ist in einem weiten Sinn zu verstehen. Er kann sich auf jeden Sachverhalt beziehen, der nicht im Einklang mit einer einwandfreien Geschäftstätigkeit des Unternehmens oder dem Allgemeininteresse steht, auch wenn keine schriftlich festgehaltenen Vorgaben bestehen. Die in Absatz 2 angeführten Beispiele umfassen Rechtsvorschriften und organisationsinterne Bestimmungen. Es kann sich um verwaltungsrechtliche Vorschriften, aber auch um privatrechtliche Bestimmungen handeln, die beispielsweise schädliche Beeinträchtigungen Dritter oder vertragliche Verpflichtungen des Arbeitgebers betreffen. Ebenfalls enthalten sind die Rechte und Pflichten, die sich aus den Arbeitsverhältnissen ergeben.

Art. 321ater Artikel 321ater regelt die externe Meldung bei der zuständigen Behörde, nachdem bereits beim Arbeitgeber Meldung erstattet wurde. Die externe Meldung hat grundsätzlich subsidiär zur internen Meldung zu erfolgen. Artikel 321ater stellt somit die Regel
dar. Die Ausnahmefälle, in denen sich der Arbeitnehmer direkt an die Behörde wenden kann, sind in Artikel 321aquater aufgeführt. Diese Struktur berücksichtigt das Verhältnismässigkeitsprinzip, wie es heutzutage von der Rechtsprechung angewandt wird.

In Absatz 1 sind zum einen die Unregelmässigkeiten, die den Behörden gemeldet werden dürfen, und der Grad an Gewissheit des Arbeitnehmers bezüglich des Sachverhalts definiert. Zum anderen ist darin festgelegt, wie der Arbeitgeber, der eine Meldung erhält, reagieren muss, um zu verhindern, dass der Sachverhalt der zuständigen Behörde gemeldet wird. Absatz 2 bezieht sich auf den Fall, dass der Arbeitgeber ein internes Meldesystem eingerichtet hat. Absatz 3 sieht ein zusätzliches Erfordernis in Bezug auf allfällige Vergeltungsmassnahmen vor.

Die Meldung an die Behörde ist auf Verstösse gegen Rechtsvorschriften beschränkt, mit deren Anwendung eine Behörde beauftragt ist oder deren Einhaltung von einer Behörde kontrolliert wird. Dabei geht es zum einen um strafbare Handlungen, d. h.

um Tatbestände des Strafgesetzbuchs oder des Verwaltungsstrafrechts. Zum anderen geht es um Bestimmungen des Verwaltungsrechts. Ausnahmsweise können auch 9572

Vorschriften einbezogen werden, die formell zum Privatrecht gehören, wenn diese die Beziehungen zwischen Privatpersonen und einer Behörde regeln (z. B. Erwachsenenschutzrecht, Handelsregister). Die betreffenden Bestimmungen umfassen alle normativen Vorschriften, welche die Organisation oder ihre Mitarbeitenden befolgen müssen. Die Form des rechtsetzenden Erlasses ist nicht entscheidend: Es kann sich um Erlasse auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene, um Gesetze, um Verordnungen oder um Ausführungsreglemente handeln.

Betroffen sind einzig die gesetzlichen Verpflichtungen, die der Organisation oder ihren Mitarbeitenden zukommen. Die Meldung von rechtswidrigem Verhalten von Dritten (Kunden, Vertragspartner) ist nicht abgedeckt, denn die Problematik der Meldung und der Interessenkonflikt, der sie kennzeichnet, bezieht sich auf rechtswidrige Machenschaften, die dem Arbeitgeber oder einem seiner Mitarbeitenden zuzuschreiben sind. Ein rechtswidriges Handeln eines mit dem Arbeitgeber verbundenen Dritten kann höchstens eine interne Meldung rechtfertigen (Zulieferer, der die Sicherheitsvorschriften nicht befolgt; Unternehmen, das versucht, einen Arbeitnehmer zu bestechen, um einen Auftrag zu erhalten). Die Meldung derartiger Machenschaften wird somit weiterhin nach Artikel 321a OR beurteilt.

Die Straftaten und die anderen unerlaubten Handlungen schliessen das ausländische Recht nicht mit ein. Deshalb wird in Artikel 321asepties Absatz 2 die Meldung an eine ausländische Behörde vorbehalten. Arbeitgeber mit Sitz in der Schweiz und einer Geschäftstätigkeit im Ausland sind zwar verpflichtet, sich an die Vorschriften des ausländischen Rechts zu halten. Folglich befindet sich der Arbeitnehmer auch in einem Dilemma, wenn er Verstösse gegen ausländische Vorschriften feststellt, die sein Arbeitgeber befolgen muss. Doch nicht bei jeder Verletzung des ausländischen Rechts besteht aus schweizerischer Sicht ein öffentliches Interesse. Denn sobald die ausländischen Vorschriften Verhaltensweisen untersagen, die nach dem schweizerischen Recht als rechtmässig gelten, ergibt sich ein Konflikt. Deshalb wird die Meldung an eine ausländische Behörde vorbehalten. Das bedeutet nicht, dass sie in jedem Fall gegen die Treuepflicht verstösst, sondern dass weiterhin im Einzelfall eine Interessenabwägung durch die Rechtsprechung
vorgenommen werden muss.

Zuständige Behörden sind zum Beispiel die Strafbehörden, wenn eine Straftat begangen wurde, oder die Verwaltungsbehörde, die mit der Umsetzung der Norm betraut ist, gegen die verstossen wurde. Mit der Beschränkung auf die Behörden, die zuständig sind, wird nur bezweckt, eine allgemeine und unüberlegte Verbreitung der Information auszuschliessen. Der Arbeitnehmer, der sich an die falsche Behörde wendet, verliert dadurch sein Melderecht nicht. Die Information muss in diesem Fall an die zuständige Behörde weitergeleitet werden.

Sind mehrere Behörden zuständig, namentlich wenn die Handlung möglicherweise gegen mehrere Vorschriften verstösst, ist die Meldung an jede dieser Behörden möglich. Zum Beispiel kann eine Strafanzeige parallel zu einer Meldung an die Verwaltungsbehörde oder im Anschluss an eine erfolglos gebliebene Intervention der Verwaltungsbehörde erfolgen. Denkbar sind auch mehrere aufeinanderfolgende Meldungen an die gleiche Behörde, wenn der rechtswidrige Sachverhalt fortbesteht.

Das Privatrecht, das die Beziehungen zwischen Privatpersonen regelt, wird nicht von den Behörden umgesetzt. Die Inhaber der Rechte sind Privatpersonen. Sie regeln ihre Streitigkeiten untereinander oder machen ihr Recht gegebenenfalls vor Gericht geltend. Deshalb dürfen Verstösse gegen das Privatrecht nicht einer Behörde gemeldet werden, ausser wenn das Privatrecht die Beziehung zwischen einer Privat9573

person und einer Behörde regelt. Es ist unzulässig, Verletzungen des Privatrechts, das die Beziehungen zwischen Privatpersonen regelt, ausserhalb der Organisation zu melden, sofern sie nicht gleichzeitig eine Straftat oder einen Verstoss gegen das öffentliche Recht darstellen. In diesem Zusammenhang besteht kein überwiegendes Interesse daran, dass die Information über die Organisation hinaus bekannt wird. Die Organisation sorgt zum Beispiel selbst für die Einhaltung ihrer vertraglichen Verpflichtungen und kümmert sich um die Fälle, in denen sie die Haftung übernehmen muss.

Der Arbeitnehmer muss auch bei der Meldung an die Behörde einen hinreichenden Verdacht haben. Diese Regelung steht im Einklang mit den Anforderungen im geltenden schweizerischen Recht. So entschied das Bundesgericht, eine direkte Meldung an die Strafbehörde verstosse nicht gegen die Treuepflicht, wenn sie teilweise begründet sei oder in gutem Glauben erfolge.145 Artikel 22a Absatz 5 BPG schützt den Arbeitnehmer, der in guten Treuen eine Unregelmässigkeit meldet.

Schliesslich gelten für den Entlastungsbeweis im Zusammenhang mit der Straftat der üblen Nachrede (Art. 173 Ziff. 2 StGB) keine strengen Anforderungen, wenn die Meldung an die Strafbehörde erfolgt. Ein Verdacht kann gemeldet werden, sobald er sich auf hinreichend ernsthafte Gründe stützt, welche die Einleitung einer behördlichen Untersuchung rechtfertigen, und der Person, welche die Meldung erstattet, kann keine Prüfungspflicht auferlegt werden.146 Im strafrechtlichen Bereich eröffnet die Behörde ein Vorverfahren, sobald Verdacht besteht, es sei eine Straftat begangen worden (Art. 299 Abs. 2 StPO).

Der Begriff des hinreichenden Verdachts ist grundsätzlich mit jenem in Artikel 321abis identisch. Allerdings wird die Klärung berücksichtigt, die bereits in der Phase der Meldung an den Arbeitgeber erfolgt ist. Angesichts der Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers kann zudem der subjektiven Einschätzung des Arbeitnehmers ein geringerer Stellenwert zukommen. Ausserdem muss sich der hinreichende Verdacht auf einen Verstoss gegen Vorschriften beziehen, welcher der Behörde gemeldet werden darf. Der Verdacht muss sich somit sowohl auf das Eintreten des Sachverhalts als auch auf dessen Rechtswidrigkeit beziehen. Zwar besteht keine systematische Prüfungspflicht, doch muss
geprüft werden, ob das Eintreten des Sachverhalts oder dessen Rechtswidrigkeit nicht jeder Grundlage entbehrt oder zu ungewiss ist. Der Arbeitnehmer kann über ausreichende Kenntnisse in Bezug auf die einzuhaltenden Vorschriften verfügen, zum Beispiel in seinem Zuständigkeitsbereich. Auch kann es sich um Sachverhalte handeln, bei denen für alle Mitarbeitenden der Organisation klar ist, dass sie widerrechtlich sind. Stellt ein Arbeitnehmer beispielsweise fest, dass hochgiftige Substanzen in die Natur eingeleitet werden, darf er mit hinreichender Sicherheit davon ausgehen, dass diese Einleitung nicht ordnungsgemäss erfolgt. Abgesehen von Ausnahmefällen muss er dies zuerst dem Arbeitgeber melden. Stellt er hingegen gesundheitliche Probleme bei seinen Kolleginnen und Kollegen fest, kann er daraus nicht direkt schliessen, dass gegen Sicherheits- oder Gesundheitsvorschriften verstossen wurde. In diesem Fall müssen weitere Elemente vorhanden sein. Oft sind die gesetzlichen Bestimmungen auslegungsfähig oder sehr komplex. Es wird weder eine detaillierte Prüfung der Rechtslage noch der Nachweis der Rechtswidrigkeit verlangt. Damit ein Vertrag allenfalls gegen das Wettbewerbsrecht verstösst oder damit informelle Kontakte den Verdacht wecken können, dass 145 146

Urteil des BGer vom 27.6.2007, 4A_15/2007, E. 4.2 BGE 116 IV 205, E. 3c

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eine Bestechung vorliegt, muss deshalb ein spezifisches Element vorhanden sein, das es nahelegt, an der Rechtmässigkeit des Verhaltens zu zweifeln. Ein vages Gefühl oder eine blosse persönliche Meinung reichen nicht aus. Es muss ein konkretes Element angeführt werden, das objektiv betrachtet darauf schliessen lässt, dass ein Gesetzesverstoss vorliegt. Eine Prüfung ist umso eher erforderlich, wenn der Fall komplex ist und sich nicht auf einen Blick erfassen lässt.

Der Arbeitgeber hat zwei Möglichkeiten, um auf eine Meldung zu reagieren. Entweder trifft er die Massnahmen, die in Absatz 1 festgelegt sind, oder die Meldung wird im Rahmen eines internen Meldesystems behandelt, das den Bedingungen von Absatz 2 entspricht. Besteht nur ein internes Meldesystem für die Behandlung einer bestimmten Kategorie von Unregelmässigkeiten, darf der Arbeitgeber dieses System nicht für Unregelmässigkeiten benutzen, die nicht in diese Kategorie fallen.

Wurde kein internes Meldesystem eingerichtet, muss der Arbeitgeber zunächst innerhalb einer angemessenen Frist handeln. Absatz 1 sieht vor, dass er diese Frist im Einzelfall festlegen muss. Er kann sie somit flexibel ansetzen oder eine zu kurze Frist verlängern. Die Frist kann jedoch einer gerichtlichen Prüfung unterzogen werden, bei der ihre Angemessenheit überprüft wird. Sie ist angemessen, wenn sie nicht zu lang ist und die Behandlung der Meldung nicht unnötig verzögert. Somit hat das Gericht hier weiterhin einen Ermessensspielraum, der auch notwendig ist. Angesichts der unterschiedlichen Fälle, die auftreten können, wäre eine in Zahlen festgelegte Frist zu starr: Die Frist kann zwischen einigen Tagen bei einfachen Fällen und einem Monat oder mehr bei komplizierteren Fällen betragen. In schwerwiegenden und dringenden Fällen muss sie sehr kurz sein oder die Meldung muss gar umgehend behandelt werden. In diesen Fällen hat der Arbeitnehmer unter Umständen sogar das Recht, sich direkt an die Behörde zu wenden, wenn die Bedingungen von Artikel 321aquater Absatz 1 Buchstabe c E-OR erfüllt sind. Um den Begriff der angemessenen Frist genauer zu fassen, wird eine maximale Frist von 60 Tagen festgelegt. Wird die Frist nicht eingehalten, kann sich der Arbeitnehmer an die Behörde wenden, selbst wenn der Arbeitgeber die anderen Bedingungen eingehalten hat.

In Absatz 1 Buchstabe
b Ziffern 1, 2 und 3 sind die Massnahmen festgelegt, die im Fall einer Meldung zu treffen sind. Werden alle diese Massnahmen ergriffen, gilt die Reaktion des Arbeitgebers als geeignet, um die Meldung zufriedenstellend zu behandeln, und der Beizug einer Behörde erübrigt sich. Der Arbeitgeber muss den Sachverhalt klären und für die Behebung sorgen, falls eine Rechtswidrigkeit nicht ausgeschlossen werden kann (Bst. b Ziff. 1). Die Fälle, in denen sich eine Rechtswidrigkeit nicht ausschliessen lässt, sind zunächst jene, in denen sich der Verdacht bestätigt. In diesem Fall muss bei Bedarf dafür gesorgt werden, dass die unerlaubte Handlung eingestellt wird, und es müssen geeignete Sanktionen verhängt werden.

Sodann sind Fälle denkbar, in denen sich die Rechtswidrigkeit zwar nicht beweisen, aber auch nicht völlig ausschliessen lässt. In diesen Fällen können keine Sanktionen verhängt werden. Der Arbeitgeber muss entsprechend der Situation geeignete Massnahmen treffen. Dabei kann es zum Beispiel darum gehen, das Auftreten weiterer gleichartiger Handlungen zu verhindern.

In Buchstabe b Ziffer 1 werden die konkreten Massnahmen nicht definiert, die sich eignen, um den Fall zu klären und die Rechtswidrigkeit zu beheben. Der Arbeitgeber legt diese Massnahmen anhand einer Einschätzung der konkreten Situation fest.

Unter Umständen ist der Arbeitnehmer, der den Sachverhalt gemeldet hat, der Ansicht, die Massnahmen seien unzureichend. Es muss möglich sein, die Unzuläng9575

lichkeit der ergriffenen Massnahmen zu prüfen, um zu verhindern, dass die Reaktion des Arbeitgebers zu einer rein formellen Übung verkommt. Buchstabe a gestattet diese Prüfung, allerdings nur in beschränktem Ausmass: Der Arbeitnehmer darf sich nur an die Behörde wenden, wenn der Arbeitgeber überhaupt keine oder offensichtlich ungenügende Massnahmen trifft. Der Arbeitgeber bewahrt somit einen gewissen Handlungsspielraum, und dem Arbeitnehmer ist es nicht gestattet, die Angemessenheit jeder ergriffenen Massnahme in Frage zu stellen. Eine Massnahme ist dann offensichtlich ungenügend, wenn sie objektive Merkmale aufweist, die klar belegen, dass sie ungeeignet ist, die Situation zu klären und zu beheben. Somit darf sich der Arbeitnehmer nicht entgegenstellen, wenn die Wahl der Massnahmen auf einer subjektiven Einschätzung beruht oder wenn mehrere annehmbare Lösungen bestehen. Zum Beispiel ist eine Beschränkung auf die Befragung der beschuldigten Person, ohne dass zusätzliche Untersuchungsmassnahmen getroffen werden, nicht an sich offensichtlich ungenügend. Je nach Fall kann eine Befragung zu einer ausreichenden Klärung führen. Der Arbeitnehmer muss über zusätzliche Anhaltspunkte verfügen, die zeigen, dass sich der Arbeitgeber nicht bloss auf die Aussagen der verdächtigten Person hätte verlassen dürfen. Offensichtliche Unzulänglichkeit kann auch gegeben sein, wenn die Personen, die mit der Durchführung der Klärung beauftragt wurden, nicht unabhängig oder nicht kompetent sind. Doch auch in diesem Fall müssen die Befangenheit oder die Inkompetenz offensichtlich sein, sodass die Unmöglichkeit, die angestrebten Ziele zu erreichen, auf den ersten Blick erkennbar ist. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Person, die mit der Behandlung der Angelegenheit beauftragt wurde, der Person unterstellt ist, die in die mutmassliche unerlaubte Handlung verstrickt ist. Ebenso ist eine Sanktion nur dann offensichtlich ungenügend, wenn sie eindeutig unwirksam ist. Im Übrigen darf der Arbeitnehmer Massnahmen, die gesetzeswidrig wären, nicht als notwendig betrachten. Der Arbeitgeber darf somit unter keinen Umständen Massnahmen ergreifen, die gegen seine Verpflichtungen verstossen würden, die sich aus dem Persönlichkeitsschutz oder aus dem Datenschutz ergeben.

Absatz 1 Buchstabe b Ziffern 2 und 3 legt die Verpflichtung
fest, den Arbeitnehmer über den Eingang und die weitere Behandlung der Meldung zu informieren. Der Inhalt der Information über die Behandlung der Meldung und deren Ergebnis wird durch den Persönlichkeitsschutz und den Schutz der Daten der verdächtigten Person eingeschränkt. Wird dem Arbeitnehmer, der Meldung erstattet hat, also Zugang zum Dossier gewährt oder werden ihm Informationen über die verdächtige Person abgegeben, so handelt es sich dabei um eine Bearbeitung von Personendaten im Sinne von Artikel 3 Buchstabe a DSG, welche die Persönlichkeit des verdächtigten Arbeitnehmers verletzt (Art. 12 Abs. 1 DSG). Sie ist widerrechtlich, es sei denn, sie sei durch die Einwilligung der betroffenen Person, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch das Gesetz gerechtfertigt. (Art. 13 Abs. 1 DSG). Die mit dem Entwurf eingeführte Informationspflicht stellt eine gesetzliche Grundlage im Sinne von Art. 13 Abs. 1 DSG dar. Eine Verletzung der Persönlichkeit muss ebenfalls verhältnismässig sein im Hinblick auf den in der gesetzlichen Grundlage festgelegten Zweck. Damit der Inhalt der Information dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht, muss er sich auf jene Informationen beschränken, die der Arbeitnehmer, der Meldung erstattet hat, benötigt, um sich zu vergewissern, dass der Arbeitgeber Massnahmen nach Artikel 321ater Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 1 getroffen hat und dass eine Meldung an die Behörde nicht mehr notwendig ist. Die Information kann sich somit auf die ergriffenen Massnahmen, die Personen, die mit ihrer Durchführung beauftragt wurden, und die Ergebnisse der eingeleiteten Schritte 9576

beschränken. Je nach Situation kann eine kurze Beurteilung der Zulänglichkeit der unternommenen Schritte hinzukommen. Die von den Behörden ergriffenen Massnahmen und die von ihnen verhängten Sanktionen stellen besonders schützenswerte Daten (Art. 3 Bst. c Ziff. 4 DSG) dar, die trotz der Informationspflicht nicht bekannt werden dürfen. Der Arbeitgeber kann sich damit begnügen, bekanntzugeben, dass die Angelegenheit an die zuständigen Behörden weitergeleitet wurde. Es hätte dann keinen Zweck mehr, dass der Arbeitnehmer ebenfalls die Behörden informiert, und es bestünde für ihn kein Interesse mehr daran, dass er über die von den Behörden ergriffenen Massnahmen informiert wird. Der Arbeitgeber kann angeben, ob er selber Sanktionen verhängt hat oder nicht. In bestimmten Fällen kann der Arbeitgeber auch die Art der Sanktion oder, ohne diese zu nennen, das mit der Sanktion erzielte Ergebnis angeben (z. B. der Arbeitsvertrag wurde gekündigt oder der Mitarbeiter hat keinen Kontakt mehr mit der belästigten Person). Dies darf aber ausschliesslich mit dem Ziel geschehen, es dem Arbeitnehmer, der Meldung erstattet hat, zu ermöglichen einzuschätzen, ob die Sanktion offensichtlich ungenügend ist oder nicht. Die Benachrichtigung über den Eingang der Meldung erfolgt unverzüglich, nachdem der Arbeitgeber die Meldung erhalten hat; diejenige über die Bearbeitungsfrist, sobald diese vom Arbeitgeber festgelegt wurde. Dabei muss berücksichtigt werden, dass je nach gewähltem Kommunikationsmittel eine gewisse Zeit vergehen wird, bis der Arbeitnehmer die entsprechenden Informationen tatsächlich entgegengenommen hat. Über die weitere Behandlung der Meldung und die Ergebnisse der ergriffenen Massnahmen wird der Arbeitnehmer zu einem späteren Zeitpunkt in Kenntnis gesetzt. Diese Informationen erfolgen entweder auf Antrag des Arbeitnehmers hin oder innert nützlicher Frist, d. h. zu einem angemessenen Zeitpunkt, den der Arbeitgeber abhängig vom Verlauf und vom Ende des Verfahrens festgelegt hat. Eine Verletzung der Informationspflicht eröffnet die Möglichkeit, der Behörde Meldung zu erstatten, selbst wenn die vom Arbeitgeber getroffenen Massnahmen nicht offensichtlich ungenügend sind. Ist die Information aus Sicht des Arbeitnehmers jedoch unvollständig, müssen zunächst ergänzende Informationen verlangt werden, bevor die Meldung
an die Behörde möglich ist.

Absatz 2 gelangt zur Anwendung, wenn der Arbeitgeber ein internes Meldesystem eingerichtet hat. Ein solches Meldesystem ist in den Buchstaben a­c definiert.

Zunächst muss die Meldestelle unabhängig sein (Bst. a). Sie muss die Meldung entgegennehmen und bearbeiten können, ohne dass sie in irgendeiner Weise beeinflusst werden kann. Die Unabhängigkeit ist vor allem struktureller Art und wird danach beurteilt, dass kein Unterstellungsverhältnis und keine Möglichkeit bestehen, innerhalb der Organisation Weisungen zu erhalten. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine Stelle ausserhalb der Organisation oder um eine Abteilung handeln, die nicht der Hierarchie unterstellt ist, zum Beispiel um einen Auditausschuss, der dem Verwaltungsrat angegliedert ist ­ sofern kein Verwaltungsratsmitglied an den möglichen Verstössen, die gemeldet werden sollen, beteiligt ist. Das Meldeverfahren (Bst. b) bezeichnet die Kanäle, über welche die Meldung eingereicht werden kann, sowie die entgegennehmende Stelle. Zudem können die Sachverhalte festgelegt werden, die gemeldet werden dürfen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um alle Sachverhalte, die nach Absatz 2 der Behörde gemeldet werden dürfen, oder um Kategorien dieser Sachverhalte. Die weitere Behandlung der Meldung bezieht sich auf die Massnahmen, mit denen der Arbeitgeber auf die gemeldeten Sachverhalte zu reagieren beabsichtigt. Der Arbeitgeber kann von den Anforderungen abweichen, die in Absatz 1 festgelegt sind. Einige Mindestvoraussetzungen sind jedoch untrennbar mit dem Bestehen eines solchen Systems verbunden und müssen erfüllt werden.

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So wäre ein völlig unwirksames und unbrauchbares System nicht annehmbar, denn der Grundgedanke bei dieser Vorschrift besteht darin, dass ein internes Meldesystem es ermöglicht, eine Meldung zu behandeln und eine unregelmässige oder rechtswidrige Situation angemessen zu beheben. Auch müssen die Personen, die mit der Entgegennahme und Behandlung der Meldungen beauftragt sind, fähig sein, diese Aufgaben auszuführen. Der Arbeitnehmer muss zudem Kenntnis vom Bestehen eines solchen Systems haben, damit er es benutzen kann. Das letzte Erfordernis bezieht sich auf das Verbot jeglicher Vergeltungsmassnahmen (Bst. c). Das Verbot darf sich nicht auf gerechtfertigte Sanktionen erstrecken, zum Beispiel im Fall von unwahren Behauptungen. Obwohl die Artikel 336 Absatz 2 Buchstabe d und 328 Absatz 3 E-OR gesetzliche Verbote enthalten, die Kündigungen und andere Nachteilen wegen einer rechtmässigen Meldung untersagen, ist ein solches Verbot nicht nutzlos. Die vom Arbeitgeber vorgesehenen Sanktionen können strenger sein. Ein solches Verbot in der Geschäftsordnung dient auch der Information und zeugt vom Engagement und von der Haltung des Arbeitgebers gegenüber der Meldung von Unregelmässigkeiten.

Absatz 3 ermöglicht die Meldung an die Behörde, wenn gegen den Arbeitnehmer Vergeltungsmassnahmen getroffen werden. Dabei kann es sich um eine Kündigung oder um andere vom Arbeitgeber ausgehende Nachteile im Sinne von Artikel 328 OR handeln. Somit kann sich der Arbeitnehmer, dessen Vertrag wegen einer Meldung gekündigt wurde, welche die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, vor Ablauf der Kündigungsfrist oder, namentlich im Fall einer fristlosen Kündigung, nach Beendigung des Vertrags an die Behörde wenden. Die Tatsache, dass der Arbeitgeber entsprechend den Bedingungen in den Absätzen 1 und 2 auf die Meldung reagiert hat, wird hier nicht berücksichtigt. Denn der Arbeitnehmer kann sich nicht auf die Haltung des Arbeitgebers verlassen, wenn er Vergeltungsmassnahmen ausgesetzt ist.

Art. 321aquater Artikel 321aquater enthält eine abschliessende Liste der Fälle, in denen eine direkte Meldung an die Behörde zulässig ist. Eine interne Meldung muss aufgrund objektiver Voraussetzungen zwecklos sein oder in keinem angemessenen Verhältnis zum Interesse stehen, dass die Unregelmässigkeit aufgedeckt wird.

Absatz 1 Buchstabe a
gestattet die direkte Meldung an die Behörde, wenn die Meldung an den Arbeitgeber zwecklos ist. Es wird ein höherer Grad an Gewissheit in Bezug auf den Ausgang der Meldung an den Arbeitgeber verlangt als im Vorentwurf. Das Ergebnis der Meldung an den Arbeitgeber bezieht sich auf die Klärung des Sachverhalts und auf die Abhilfemassnahmen, die diesbezüglich getroffen werden (Bst. a Ziff. 1). In den Ziffern 1­3 werden typische Situationen beschrieben.

Dabei handelt es sich um Beispiele.

Verfügt der Arbeitgeber über ein internes Meldesystem, darf sich der Arbeitnehmer nicht auf den Standpunkt stellen, eine Meldung an den Arbeitgeber sei ohne Wirkung (Abs. 2). Mit den Bedingungen, die in Artikel 321ater Absatz 2 an das interne Meldesystem gestellt werden, muss namentlich verhindert werden können, dass die in Absatz 3 beschriebenen typischen Fälle eintreten. Denn das interne Meldesystem gewährleistet die Unabhängigkeit der Behandlung und setzt eine Reaktion des Arbeitgebers sowie ein Verbot von Vergeltungsmassnahmen voraus. Falls sich in der Praxis herausstellt, dass das interne Meldesystem nicht genutzt wird oder dass 9578

trotz des Verbots Vergeltungsmassnahmen üblich sind, ist Absatz 2 nicht anwendbar und der Arbeitnehmer kann sich gemäss Absatz 1 an die Behörde wenden.

Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 1 bezieht sich auf die Unabhängigkeit der Person oder Stelle, welche die Meldung entgegennimmt und bearbeitet. Die Unabhängigkeit ist nicht mehr gegeben, wenn die Person oder Stelle den beteiligten Personen unterstellt ist und folglich von ihnen Weisungen erhalten kann. Eine Stelle, die direkt der Geschäftsleitung untersteht, ist somit unabhängig, ausser in jenen Fällen, in denen die Geschäftsleitung in den gemeldeten Sachverhalt verstrickt ist. Ziffer 2 bezieht sich auf die Art und Weise, wie der Arbeitgeber in früheren Fällen reagiert hat. Die Einschätzung der Situation durch den Arbeitnehmer muss sich auf objektive Tatsachen stützen. Er darf sich nur dann direkt an die Behörde wenden, wenn in früheren Fällen keine oder eine offensichtlich ungenügende Reaktion erfolgt ist. Die Voraussetzungen von Ziffer 2 müssen zum Zeitpunkt der Meldung erfüllt sein. Der Arbeitgeber kann nachweisen, dass er zum Beispiel eine unzureichende Praxis im Umgang mit Meldungen korrigiert und dies seinen Mitarbeitenden mitgeteilt hat. Ziffer 3 bezieht sich nicht direkt auf die wirksame Behandlung der Meldung. Vergeltungsmassnahmen in früheren Fällen weisen jedoch auf eine klare Weigerung hin, die von den Arbeitnehmern weitergeleiteten Informationen zu berücksichtigen. Der Arbeitnehmer darf somit davon ausgehen, dass der Arbeitgeber seine Meldung nicht in geeigneter Weise behandeln wird. Als Vergeltungsmassnahmen gelten nur Massnahmen, die ­ wie zum Beispiel Belästigung­ als solche eine Persönlichkeitsverletzung darstellen, oder an sich zulässige Sanktionen, die jedoch im konkreten Fall nicht gerechtfertigt sind. Massnahmen zur Sanktionierung einer Meldung, die nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht, sind hingegen zulässig und werden vorbehalten. Wird die Berechtigung dieser Sanktionen vom Arbeitnehmer bestritten, kann sie ungewiss sein, solange sich kein Gericht dazu geäussert hat.

Buchstabe b betrifft den besonderen Fall, dass aktive Handlungen unternommen werden könnten, um die spätere Tätigkeit der Behörde zu behindern. Dieser Fall liegt beispielsweise vor, wenn die Gefahr besteht, dass Beweismittel vernichtet werden. Nach Buchstabe
c bleiben Situationen vorbehalten, in denen Dringlichkeit herrscht. Denn in Extremfällen muss rasch reagiert werden können. Die Dringlichkeit ist definiert: Sie beschränkt sich auf unmittelbare, ernsthafte Gefährdungen. Die Gefährdung des Lebens, der Gesundheit, der Sicherheit oder der Umwelt umfasst jede Verletzung dieser Rechtsgüter, die einen Verstoss gegen eine Bestimmung darstellt, welcher der Behörde gemeldet werden darf. Darunter fallen zum Beispiel die strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben und Verstösse gegen die Vorschriften des Lebensmittel- und Heilmittelrechts, die Vorschriften zur Gesundheit und Arbeitssicherheit sowie gegen die Umweltschutzvorschriften. Der Begriff der ernsthaften Gefährdung muss von der Rechtsprechung konkretisiert werden. Die Ernsthaftigkeit der Gefährdung stellt eine Einschränkung dar, die das Risiko einer nicht gravierenden Beeinträchtigung ausnehmen soll. Denn bei einem solchen Risiko weist die Situation nicht die Dringlichkeit auf, die eine direkte Meldung an die Behörde rechtfertigt. Während jede Gefährdung des Lebens an sich schon ernsthaft ist, müssen weniger gravierende Gesundheits-, Sicherheits- oder Umweltrisiken zunächst dem Arbeitgeber gemeldet werden. Die Unmittelbarkeit der Gefährdung bedeutet, dass sich eine sofortige Meldung bei der Behörde aufdrängt, um die Situation zu beheben. Dies ist der Fall, wenn nur die Behörden eingreifen können, um die Gefahr abzuwenden, oder wenn die Verzögerung, die sich durch die Meldung an den Arbeitgeber ergibt, nicht vertretbar ist. Zudem soll dem Arbeitnehmer in Situatio9579

nen, in denen aufgrund der Dringlichkeit umgehendes Handeln notwendig ist und keine Zeit zum Überlegen bleibt, die Möglichkeit eingeräumt werden, sich an die Behörde zu wenden. Selbst wenn eine Meldung an den Arbeitgeber und dessen rasches Reagieren möglich sind, wird deshalb im Fall einer unmittelbaren Gefahr die direkte Meldung an die Behörde nicht zwangsläufig ausgeschlossen sein. Die Rechtsverletzungen, die grossen Schäden zugrunde liegen, umfassen alle Straftaten und Verstösse gegen Vorschriften des öffentlichen Rechts, die dem Opfer einen Schaden verursachen. Der Schaden kann materieller oder wirtschaftlicher Natur sein. Es muss sich jedoch um einen Schaden im Sinn des schweizerischen Haftpflicht- und Vertragsrechts handeln. Das Kriterium der Grösse des Schadens muss im Einzelfall vom Gericht überprüft werden. Diese Bedingung ist die Entsprechung der Ernsthaftigkeit der Gefahr und soll das Risiko der Verletzung anderer Rechtsgüter als des Lebens, der Gesundheit, der Sicherheit oder der Umwelt ausnehmen, wenn die möglichen Schäden in quantitativer Hinsicht nicht bedeutend sind.

Sind die Bedingungen in den Buchstaben b und c erfüllt, nachdem eine interne Meldung erfolgt ist, muss grundsätzlich der Arbeitgeber auf die Behinderungs- oder Notsituation reagieren. Ist die Reaktion des Arbeitgebers nicht geeignet, um das Hindernis zu beseitigen oder die Gefahr einer schweren Beeinträchtigung sehr rasch zu beheben, darf der Arbeitnehmer davon ausgehen, dass die getroffenen Massnahmen offensichtlich ungenügend sind, und er sich somit an die Behörde wenden kann.

Art. 321aquinquies In Artikel 321aquinquies ist die Meldung an die Öffentlichkeit geregelt. Entsprechend dem Auftrag der Motion Gysin (03.3212) darf sich der Arbeitnehmer nur als ultima ratio an die Öffentlichkeit wenden. Wie oben dargelegt (Ziff. 1.3.1), ist eine direkte Meldung an die Öffentlichkeit nicht möglich.

Der Arbeitnehmer, der bei der Behörde Meldung erstattet, muss in Erfahrung bringen können, wie seine Meldung weiter behandelt wird. Zu diesem Zweck wird mit dem ersten Satz ein Informationsrecht zugunsten der Arbeitnehmenden begründet.

Dieses Recht hängt mit dem Straf- oder Verwaltungsverfahren zusammen: Im strafrechtlichen Bereich besteht bereits ein solches Recht. Artikel 301 Absatz 2 StPO sieht vor, dass die Strafverfolgungsbehörde
der anzeigenden Person auf deren Anfrage mitteilt, ob ein Strafverfahren eingeleitet und wie es erledigt wird. Nach Absatz 3 des gleichen Artikels stehen der anzeigenden Person, die weder geschädigt noch Privatklägerin oder Privatkläger ist, keine weitergehenden Verfahrensrechte zu. Eine ähnliche Norm könnte in das Bundesgesetz vom 22. März 1974147 über das Verwaltungsstrafrecht sowie in die Gesetze über das Verwaltungsverfahren des Bundes und der Kantone aufgenommen werden. Für das Verwaltungsverfahren vor den kantonalen Behörden sind die Kantone zuständig. Eine Regelung im Obligationenrecht ist jedoch möglich, weil der Bundesgesetzgeber die unabdingbaren Verfahrensregeln für die Umsetzung des materiellen Rechts erlassen kann.

Sobald die Behörde dem Arbeitnehmer die geeigneten Auskünfte innerhalb der vorgegebenen Frist erteilt hat, kann dieser sich nicht mehr an die Öffentlichkeit wenden. Es ist Sache der Behörden, der Verwaltungseinrichtungen und der politischen Institutionen, dafür zu sorgen, dass die unerlaubte Handlung ausreichend sanktioniert wird und dass die Sanktion umgesetzt wird. Die Information 147

SR 313.0

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der Behörde gegenüber dem Arbeitnehmer muss die Vertraulichkeit des Verfahrens berücksichtigen. Die getroffenen Massnahmen müssen nicht begründet werden. Die Behörde kann sich darauf beschränken mitzuteilen, dass sie die übermittelten Informationen geprüft hat und zum Beispiel zum Schluss gelangt ist, nicht über genügend Anhaltspunkte zu verfügen, um die Meldung weiter zu behandeln, oder dass sie ein Verfahren eingeleitet hat und dass die erforderlichen Massnahmen getroffen würden.

Im Entwurf ist nicht festgelegt, welche Kanäle für den Gang an die Öffentlichkeit zu benutzen sind. Nicht jede Form der Verbreitung der Information ist zulässig. So muss insbesondere der Zweck der Inkenntnissetzung der Öffentlichkeit berücksichtigt werden. Sie muss als ultima ratio dienen, um die unerlaubte Handlung zu beheben. Als Beispiele werden in Absatz 2 die Medien sowie Organisationen aufgeführt, in deren statutarischen Tätigkeitsbereich die gemeldeten Tatsachen fallen. Wenn hingegen mit Bekannten über die gemachten Feststellungen gesprochen wird, gilt dies nicht in jedem Fall als zulässige Form der Inkenntnissetzung der Öffentlichkeit, selbst wenn der Kreis der informierten Personen kleiner ist.

Der Arbeitnehmer darf sich nur an die Öffentlichkeit wenden, wenn er ernsthafte Gründe hat, den Sachverhalt in guten Treuen für wahr zu halten (Abs. 1 Bst. a). Aus den oben dargelegten Gründen (siehe Ziff. 1.3.2, Grad an Gewissheit in Bezug auf die gemeldeten Sachverhalte und hinsichtlich des Ausmasses ihrer Unregelmässigkeit oder Widerrechtlichkeit) wurde diese Formulierung Artikel 173 Ziffer 2 StGB entnommen. Da der Zweck hier darin besteht, das Wahrheitserfordernis mit dem Strafrecht zu koordinieren, wird sich die Auslegung der Bestimmung auf die bereits etablierte Auslegung stützen, welche die Rechtsprechung zu Artikel 173 Ziffer 2 StGB vorgenommen hat.

Art. 321asexies Im Gegensatz zum Vorentwurf wird im vorliegenden Entwurf anerkannt, dass die Beratung durch einen Dritten zur Überprüfung des Melderechts mit der Treuepflicht vereinbar ist. Der Dritte muss einer gesetzlichen Geheimhaltungspflicht wie jener des Berufsgeheimnisses unterstehen, das in Artikel 321 StGB vorgesehen ist. Dies bietet Gewähr dafür, dass die Person die Tatsachen, von denen sie Kenntnis erhält, vertraulich behandelt. Die Überprüfung des
Melderechts betrifft alle Fragen im Zusammenhang mit den Bedingungen, die in den Artikeln 321abis321asepties festgelegt sind, sowie mit den Folgen der Meldung. So kann es darum gehen, sich zu vergewissern, dass die festgestellten Tatsachen eine Straftat darstellen, abzuklären, an wen sich der Arbeitnehmer wenden kann, oder die Massnahmen zu überprüfen, die der Arbeitgeber im Anschluss an die Meldung getroffen hat.

Art. 321asepties Gemäss Artikel 321asepties bleiben das Berufsgeheimnis sowie die besonderen Bestimmungen über Meldepflichten und Melderechte vorbehalten (Abs. 1). Aus den oben dargelegten Gründen (siehe Ziff. 1.3.2, Koordination mit dem Strafrecht) untersteht das Berufsgeheimnis nicht den Vorschriften zur Meldung von Unregelmässigkeiten. Die besonderen Bestimmungen sind jene, die auf bestimmte Kategorien von Unregelmässigkeiten wie Straftaten oder Verstösse gegen das Arbeitsgesetz oder auf eine Kategorie von Arbeitnehmern anwendbar sind, die zum Beispiel in einem bestimmten Sektor tätig sind. Die besonderen Bestimmungen können von den

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Bestimmungen im Obligationenrecht abweichen, die sämtliche Unregelmässigkeiten abdecken und für alle Arbeitsverhältnisse gelten.

Die Artikel 321abis­321asexies können jedoch ergänzend anwendbar sein, wenn bestimmte besondere Bestimmungen nicht alle Meldefälle abdecken. So kann neben einer Pflicht zur Meldung von Straftaten weiterhin ein Recht bestehen, andere unerlaubte Handlungen zu melden. Ebenso schliesst ein Recht, Straftaten ohne Umweg über den Arbeitgeber direkt den Behörden zu melden, die Meldung weiterer Unregelmässigkeiten nach den Bedingungen der Artikel 321abis321asexies nicht aus.

In Absatz 2 wird auch die Meldung an eine ausländische Behörde vorbehalten. Die Rechtmässigkeit einer solchen Meldung ist im Einzelfall von der Rechtsprechung gestützt auf Artikel 321a OR zu beurteilen. Die Gründe für diese Ausnahme wurden weiter oben im Kommentar zu Artikel 321ater erläutert. So können zum Beispiel unrechtmässige Handlungen, die von der internationalen Rechtshilfe in Straf- oder Verwaltungssachen nicht abgedeckt sind, als Gegenstand einer rechtmässigen Meldung nicht erlaubt werden. Die Offenlegung kann zugelassen werden, wenn eine entsprechende Regelung im schweizerischen Recht besteht. So kann ein Verhalten, das auch aus schweizerischer Sicht rechtswidrig ist, einer ausländischen Behörde gemeldet werden. Es ist auch denkbar, dass das öffentliche Interesse, das vom ausländischen Recht und von den ausländischen Behörden verfolgt wird, angesichts der schweizerischen Werteordnung zulässig ist.

Art. 328 Abs. 1 und 3 Jeder Nachteil, der dem Arbeitnehmenden wegen einer Meldung oder einer Beratung nach Artikel 321abis ff. E-OR entsteht, stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar.

Die vorgeschlagene Bestimmung entspricht der Bestimmung, die für die sexuelle Belästigung vorgesehen ist. Die beiden Fälle wurden in einem neuen Absatz 3 zusammengelegt. Allerdings besteht ein Unterschied: Die sexuelle Belästigung stellt eine Handlung dar, die als solche gegen Artikel 328 OR verstösst. Bei den Massnahmen, die im Anschluss an eine Meldung ergriffen werden, ist dies in der Regel der Fall: Es kann sich auch um Sanktionen handeln, die zu Recht wegen einer Meldung getroffen wurden, die nicht mit der Treuepflicht vereinbar ist. Deshalb werden diese letzteren Massnahmen hier vorbehalten.

Art. 336 Abs. 2 Bst. d
In dieser Bestimmung ist festgelegt, dass eine Kündigung missbräuchlich ist, wenn sie im Anschluss an eine Meldung nach den Artikeln 321abis­321asexies ausgesprochen wird, welche die Treuepflicht nicht verletzt hat. Die in Artikel 336a OR vorgesehene Sanktion gilt auch in diesem Fall.

Eine Meldung, die nicht den Voraussetzungen der neuen Regelung entspricht, stellt eine Verletzung der Treuepflicht dar und kann geahndet werden. Nur wenn wichtige Gründe vorliegen, darf eine fristlose Kündigung ausgesprochen werden (Art. 337 OR).

Art. 362 Abs. 1 Die Artikel 321ater321asepties werden der Liste der Bestimmungen des relativ zwingenden Rechts hinzugefügt. Während die interne Meldung von Unregelmässigkeiten und die entsprechenden Modalitäten von der Organisation selbst frei festge9582

legt werden können, geht es bei der externen Meldung um das öffentliche Interesse.

Sie muss deshalb unter den Bedingungen möglich sein, die im Gesetz festgelegt sind. Das Interesse an der Meldung von Unregelmässigkeiten darf nicht einer unterschiedlichen Beurteilung unterliegen, die vom Willen der Parteien abhängt.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Der Entwurf betrifft vor allem die Arbeitsverhältnisse im privaten Sektor. Er führt zu keinen zusätzlichen Ausgaben für den Bund. Einige selbstständige öffentlichrechtliche Institutionen stellen ihr Personal gestützt auf privatrechtliche Verhältnisse an (siehe Ziff. 1.1.3, Pflicht und Recht zur Meldung von Unregelmässigkeiten). Die neuen Bestimmungen sind auf sie anwendbar, werden aber keine zusätzlichen Ausgaben verursachen. Insbesondere wird nicht verlangt, dass ein internes Meldeverfahren eingerichtet wird.

Die Behörden, die eine Meldung erhalten, sind verpflichtet, über die weitere Behandlung zu informieren. Diese zusätzliche Aufgabe erfordert keine zusätzlichen Mittel.

3.1.2

Auswirkungen auf den Personalbestand

Der Entwurf hat keine Änderung des Personalbestands zur Folge. Auch die öffentlichen Institutionen, die dem Obligationenrecht unterstehen, müssen kein zusätzliches Personal einstellen. Die Pflicht zur Information der Personen, die Meldung erstatten, kann mit den vorhandenen personellen Ressourcen erfüllt werden.

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Es wurde kein Spezialgesetz geschaffen, das auf die Kantone und Gemeinden anwendbar wäre. Die neuen Bestimmungen werden nur in den Kantonen und Gemeinden anwendbar sein, die auf das Obligationenrecht verweisen. Das Obligationenrecht kann auch hilfsweise zur Anwendung gelangen, wenn die Frage im Personalgesetz der betreffenden Körperschaft nicht geregelt ist.

Die Behörden, die eine Meldung erhalten, sind verpflichtet, über die weitere Behandlung zu informieren. Diese Aufgabe kann mit den vorhandenen personellen Ressourcen erfüllt werden.

9583

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und auf die Gesellschaft

Die Auswirkungen auf die Wirtschaft lassen sich nicht beziffern. Unregelmässigkeiten, insbesondere Korruptionshandlungen, können Wettbewerbsverzerrungen und eine schlechte Ressourcenallokation zur Folge haben. Eine vermehrte Aufdeckung von Unregelmässigkeiten wirkt sich daher positiv auf die Wirtschaft aus. Der vorliegende Entwurf sieht insbesondere keine Verpflichtung zur Einrichtung eines internen Meldeverfahrens vor. Diesbezüglich hat er somit für die Unternehmen keine zusätzlichen Kosten zur Folge.

Auch die Auswirkungen auf die Gesellschaft lassen sich nicht quantifizieren. Als Bestandteil der Meinungsäusserungsfreiheit leistet die Offenlegung im öffentlichen Interesse, insbesondere im Interesse an der Einhaltung der Rechtsvorschriften, einen Beitrag zu den Grundwerten der Gesellschaft wie der Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage wurde in der Botschaft vom 25. Januar 2012 über die Legislaturplanung 2011­2015148 angekündigt.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Der Bund kann auf der Grundlage von Artikel 110 BV Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erlassen. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Privatrechts beruht auf Artikel 122 BV. Der vorliegende Entwurf enthält nur privatrechtliche Vorschriften.

Die Pflicht der Behörden, die meldende Person zu informieren, betrifft dort, wo die kantonalen Behörden für die Anwendung der Gesetze zuständig sind, das kantonale Verwaltungsverfahren. Der Bund kann in seinen Zuständigkeitsbereichen die notwendigen Verfahrensregeln für die Umsetzung des materiellen Rechts erlassen.

5.2

Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der vorliegende Entwurf ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar. Er entspricht auch der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Zudem geht er in die Richtung der Empfehlungen, die im Zusammenhang mit der Umsetzung der internationalen Übereinkünfte im Bereich der Korruptionsbekämpfung abgegeben wurden.

148

BBl 2012 481, 607

9584

5.2.1

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)149

In den Rechtssachen Guja gegen Moldawien, Martchenko gegen Ukraine, Heinisch gegen Deutschland und Bucur und Toma gegen Rumänien150 befasste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage der Meldung von Unregelmässigkeiten im Zusammenhang mit der Meinungsäusserungsfreiheit. Er befand zunächst, die freie Meinungsäusserung umfasse die Weitergabe von Informationen und die Meldung eines mutmasslich rechtswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers.151 Der Anwendungsbereich von Artikel 10 EMRK erstrecke sich auch auf den Arbeitsplatz, selbst wenn es sich um privatrechtliche Arbeitsverhältnisse handle.152 Denn dem Staat komme eine positive Pflicht zu, die Meinungsäusserungsfreiheit selbst gegen Verletzungen zu schützen, die von Privatpersonen ausgingen. Folglich sei eine Kündigung im Anschluss an eine Strafanzeige ein Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit, der Artikel 10 verletze, wenn er nicht in einem Gesetz vorgesehen sei, keinen legitimen Zweck erfülle und nicht zur Erreichung dieses Zwecks notwendig sei.153 Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Bestimmungen über die fristlose Kündigung aus wichtigen Gründen eine ausreichende gesetzliche Grundlage darstellten. Er hat auch das Ansehen des Arbeitgebers und dessen Geschäftsinteressen als legitimen Zweck anerkannt.154 Schliesslich prüfte er die Verhältnismässigkeit und zog dazu verschiedene Kriterien heran: das öffentliche Interesse an den Informationen, die weniger einschneidenden Mittel, die für die Bekanntgabe zur Verfügung standen, die Glaubwürdigkeit der Informationen, die Beweggründe des Arbeitnehmers, das Ausmass des Schadens, der dem Arbeitgeber entstanden war, im Vergleich zum Interesse an der Offenlegung sowie die Schwere der Sanktion gegen den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin.155 Diese Kriterien bedeuteten namentlich, dass der Gang an die Öffentlichkeit gegenüber der Meldung an den Arbeitgeber oder an die Behörde einen subsidiären Charakter haben müsse und dass ein öffentliches Interesse schwerer wiegen könne als die Schweigepflicht.156 Der Gerichtshof lässt zudem die Meldung an die Strafbehörden zu, wenn sich die Meldung an den Arbeitgeber als wirkungslos erweist.157. Die vom Arbeitnehmer oder von der Arbeitnehmerin behaupteten Tatsachen dürften zwar nicht jeglicher Grundlage entbehren, müssten jedoch in erster Linie von der Strafbehörde geprüft werden.158 Der Arbeitnehmer müsse auch keine Gewissheit über den Ausgang des Verfahrens haben.159

149 150

151 152 153 154 155 156 157 158 159

SR 0.101 Urteil vom 12. Februar 2008, Beschwerde Nr. 14277/04; Urteil vom 19. Februar 2009, Beschwerde Nr. 4069/04 beziehungsweise Urteil vom 21. Juli 2011, Beschwerde Nr.

28274/08; Urteil vom 8. Januar 2013, Antrag Nr. 40238/02 Urteil Guja gegen Moldawien, Ziff. 51, und Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 43 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 44 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 45 und 46 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 47­50 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 67­70 und 71 ff.

Urteil Guja gegen Moldawien, Ziff. 73 und 74 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 74 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 80 Urteil Heinisch gegen Deutschland, Ziff. 80

9585

5.2.2

Internationale Verpflichtungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung

Im Zusammenhang mit der Korruptionsbekämpfung ist der Schutz der Meldung von Unregelmässigkeiten im internationalen Recht geregelt. Meldungen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die an ihrem Arbeitsplatz Korruptionshandlungen bemerken, sind vielfach das einzige Mittel, um solche Handlungen aufzudecken. Sie sind deshalb von besonderer Bedeutung. Die Schweiz ist Vertragsstaat des Übereinkommens der OECD vom 21. November 1997160 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. Dieses sieht in Artikel 12 ein systematisches Überwachungsprogramm vor, das der Überwachung und Förderung der vollständigen Anwendung des Übereinkommens dient und von der Arbeitsgruppe der OECD gegen die Bestechung im Rahmen des internationalen Geschäftsverkehrs durchgeführt wird. Das von der Schweiz ratifizierte Strafrechtsübereinkommen des Europarates vom 27. Januar 1999161 über Korruption sieht in Artikel 22 vor, dass für Personen, die Angaben über die im Übereinkommen umschriebenen Straftaten machen, ein wirksamer und angemessener gesetzlicher Schutz zu gewährleisten ist. In Artikel 24 ist vorgesehen, dass die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) die Durchführung des Übereinkommens überwacht. In Artikel 9 des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates vom 4. November 1999 über Korruption162 wird verlangt, dass alle Vertragsparteien in ihrem innerstaatlichen Recht vorsehen, dass Beschäftigte, die den zuständigen Personen oder Behörden in redlicher Absicht einen begründeten Korruptionsverdacht mitteilen, angemessen vor ungerechtfertigten Nachteilen geschützt werden. Die Schweiz hat dieses Übereinkommen nicht ratifiziert. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 31. Oktober 2003163 gegen Korruption enthält in seinem Artikel 33 eine ähnliche Bestimmung. Die Schweiz hat dieses Übereinkommen am 24. September 2009 ratifiziert. Am 18. Juni 2012 wurde die Anwendung des Übereinkommens durch die Schweiz erstmals überprüft. Die Schweiz hatte darauf hingewiesen, dass sie beabsichtige, den Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu regeln, die Informationen weitergeben, welche ihre Arbeitgeber belasten. Im Bericht werden die Probleme dargelegt, die sich im Zusammenhang mit der Treuepflicht ergeben können. Es wird jedoch der Schluss gezogen, das schweizerische Recht sei mit
dem Übereinkommen vereinbar, da Artikel 33 fakultativ sei.164 In ihrem Evaluationsbericht vom 24. Dezember 2004 zur Situation in der Schweiz hatte die Arbeitsgruppe der OECD gegen die Bestechung der Schweiz empfohlen, die Möglichkeiten zu prüfen, einen wirksamen Schutz für Personen zu gewährleisten, die mit den Justizbehörden zusammenarbeiten. Ein solcher Schutz solle insbesondere für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen garantiert werden, die in redlicher Absicht einen Korruptionsverdacht mitteilten. Damit sollten diese Personen veranlasst werden, entsprechende Unregelmässigkeiten ohne Angst vor Vergeltungsmassnahmen ­ wie beispielsweise der Kündigung ­ zu melden. In ihrem Folgebericht zur Umsetzung der Empfehlungen bezüglich der Phase 2 vom 2. Mai 2007 hielt die Arbeitsgruppe unter Bezugnahme auf die laufenden Arbeiten im Zusammenhang mit der Motion Gysin fest, dass ihre Empfehlung teilweise umgesetzt worden sei. In der 160 161 162 163 164

SR 0.311.21 SR 0.311.55 SEV Nr. 174 SR 0.311.56 Office des Nations-Unies contre la drogue et le crime, Rapport d'examen de la Suisse

9586

Folge empfahl sie der Schweiz im Dezember 2011, einen geeigneten rechtlichen Rahmen zu schaffen, um im privaten Sektor beschäftigte Personen, die gutgläubig und aus achtbaren Beweggründen einen Verdacht auf Bestechung ausländischer Amtsträger und Amtsträgerinnen melden, vor diskriminierenden oder disziplinarischen Massnahmen zu schützen.165 Im Europarat hatte die GRECO in ihrem Evaluationsbericht über die Schweiz vom 4. April 2008 ebenfalls darauf hingewiesen, der Erlass einer Gesetzgebung zum Schutz von Hinweisgebern und Hinweisgeberinnen könnte dazu beitragen, dass in der Schweiz Korruptionsfälle sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor eher aufgedeckt würden. In diesem Zusammenhang sei ein Schutz vor jeglicher Form von Vergeltungsmassnahmen wünschenswert. Deshalb hatte die GRECO der Schweiz empfohlen, einen gesetzlichen Rahmen zu verabschieden, mit dem Personen, die einen Korruptionsverdacht melden, wirksam geschützt werden können.166 Diese Empfehlung beschränkte sich allerdings auf das Bundespersonal. In ihrem Konformitätsbericht über die Schweiz vom 26. März 2010 hielt die GRECO fest, die Empfehlung sei in zufriedenstellender Weise umgesetzt worden.167

5.3

Erlassform

Die Änderung des Obligationenrechts erfordert den Erlass eines Bundesgesetzes.

5.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die beantragte Änderung fällt nicht unter die Vorschriften über die Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b und c BV).

5.5

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der vorliegende Entwurf erfordert keine Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen.

5.6

Vereinbarkeit mit der Datenschutzgesetzgebung

Die derzeitigen Verpflichtungen des Arbeitgebers im Bereich des Datenschutzes werden nicht tangiert (siehe Ziff. 1.1.3, Interne Meldeverfahren). Die Reaktion des Arbeitgebers auf eine Meldung wird durch die Einhaltung des Datenschutzes begrenzt.

165

Rapport de la phase 3 sur la mise en oeuvre de la convention de l'OCDE sur la lutte contre la corruption par la Suisse, Dezember 2011, Empfehlung 6, S. 51 166 Ziff. 156, ii 167 Ziff. 67

9587

Anhang

Ablauf des Meldeverfahrens168 Internes Meldesystem, das den Voraussetzungen entspricht

Kein internes Meldesystem, das den Voraussetungen entspricht Meldung an den Arbeitgeber ohne Wirkung Unmittelbare und ernsthafte Gefährdung Behinderung der Tätigkeit der Behörde

Meldung an den Arbeitgeber Behandlung durch das System

NEIN

Meldung an den Arbeitgeber Verlangte Massnahmen vom Arbeitgeber

Keine Behandlung durch das System

Verlangte Massnahmen innert angemessener Frist nicht ergriffen

ENDE

Verlangte Massnahmen innert angemessener Frist

Vergeltungsmassnahme ENDE Direkte Meldung an die Behörde Informationsantrag und Antwort innert 14 Tagen ENDE

168

Meldung an die Behörde

Informationsantrag und keine Antwort innert 14 Tagen

Meldung an die Öffentlichkeit

Die Voraussetzungen, die für den Verfahrensablauf nicht wesentlich sind, wurden weggelassen (z.B. hinreichender Verdacht, Einzelheiten der Massnahmen, die der Arbeitgeber ergreifen muss).

9588