Bericht über die Gesamtergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege vom 30. Oktober 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren In Erfüllung des Postulats Pfisterer 07.3420 unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. Oktober 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-1694

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Übersicht In Erfüllung des Postulats Pfisterer vom 21. Juni 2007 (07.3420 «Evaluation über die Gesetzgebung zur Bundesrechtspflege und zur Justizreform») legt der Bundesrat die Gesamtergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege vor.

In der Evaluation wird überprüft, ob die Ziele der Totalrevision der Bundesrechtspflege, die Anfang 2007 in Kraft getreten ist, erreicht wurden. Für die Untersuchungen wurden zwei externe Arbeitsgruppen beauftragt: Eine Arbeitsgemeinschaft, an der das Kompetenzzentrum für Public Management (kpm) der Universität Bern, Interface Politikstudien und die Universität Zürich beteiligt waren, erstellte eine umfassende Wirksamkeitsstudie. Ergänzend dazu untersuchte ein Projektteam der Universität Zürich, ob und gegebenenfalls in welchen Bereichen nach der Revision der Bundesrechtspflege noch Rechtsschutzlücken bestehen.

Sowohl die umfassende Wirksamkeitsstudie als auch die Studie über Rechtsschutzlücken kommen zum Schluss, dass die Reform der Bundesrechtspflege grossenteils gelungen ist. Dieser Befund basiert auf einer breiten empirischen Basis, auf verschiedenen methodischen Zugängen und auf den Überlegungen zweier Studiengruppen. Nach dem Inkrafttreten der Reform der Bundesrechtspflege 2007 wurden die damit eingeführten umfangreichen Änderungen ohne grössere Schwierigkeiten umgesetzt. Die Totalrevision der Bundesrechtspflege kann nach Ansicht des Bundesrates als Erfolg gewertet werden.

Zwei Probleme bleiben allerdings auch nach der Reform bestehen: Erstens ist das Bundesgericht nach einem zeitweisen Rückgang der Eingänge seit 2008 wieder mit mehr Eingängen konfrontiert; zudem ist das Bundesgericht der Ansicht, es sei teilweise falsch belastet, d. h. einerseits mit unbedeutenden und andererseits nicht mit allen für die Rechtseinheit und Rechtsfortbildung grundlegenden Fällen befasst.

Zweitens bestehen in einigen Bereichen noch Rechtsschutzlücken.

Es besteht somit noch Verbesserungspotenzial. Ansatzpunkte finden sich bei den Gerichten (Personalrekrutierung, Klärungen von prozessualen Fragen), bei der Bundesversammlung (eventuelle Verbesserungen bei der Oberaufsicht) und namentlich bei den rechtsetzenden Behörden durch Änderungen der Rechtsgrundlagen: ­

Der Bundesrat wird den Ausnahmekatalog überprüfen und dem Parlament im Rahmen einer Gesetzesvorlage zur Umsetzung verschiedener Evaluationspostulate eine überarbeitete Fassung unterbreiten.

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Der Bundesrat möchte ferner die gesetzlichen Bestimmungen über die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend ändern, dass die Rechtsund Sachverhaltskontrolle (ohne Angemessenheitskontrolle) zur Regel wird.

Für ausgewählte Bereiche soll die volle Ermessensüberprüfung aber beibehalten werden.

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Der Bundesrat wird erneut vorschlagen, die freie Sachverhaltskontrolle des Bundesgerichts bei Geldleistungen der Unfall- oder Militärversicherung aufzuheben.

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Der Bundesrat wird Vorschläge erarbeiten, um den Rechtsschutz gegenüber Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung zu verbessern beziehungsweise einfacher zu regeln.

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Der Bundesrat wird die nötigen Gesetzesänderungen vorschlagen, um die Vorgabe von Artikel 189 Absatz 1 Buchstabe f BV, wonach das Bundesgericht Streitigkeiten wegen Verletzung von Bestimmungen über die politischen Rechte beurteilt, auch mit Bezug auf eidgenössische Wahlen und Abstimmungen vollständig umzusetzen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Ausgangslage 1.1 Totalrevision der Bundesrechtspflege 1.2 Postulat Pfisterer 07.3420 1.3 Ein breit angelegtes Evaluationsdispositiv 1.3.1 Projektorganisation und Begleitgruppe für die Evaluation 1.3.2 Breites Evaluationskonzept 1.3.3 Durchführung in zwei Etappen 1.4 Vergabe von zwei Evaluationsaufträgen 1.5 Bericht des Bundesrates über die Zwischenergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege 1.6 Im Rahmen der beiden Evaluationsstudien erstellte Berichte

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Umfassende Wirksamkeitsstudie 2.1 Ziel und Inhalt 2.2 Vorgehen 2.3 Ergebnisse 2.3.1 Zielerreichung 2.3.2 Auswirkungen der Reform auf die Urteile 2.3.3 Gesamtwürdigung der Reform 2.4 Anregungen 2.4.1 Anregungen zur Regelung des Zugangs zum Bundesgericht 2.4.2 Anregungen zur Organisation der eidgenössischen Gerichte 2.4.3 Anregungen zu einzelnen Verfahrensfragen 2.4.4 Anregung zu Verfahren auf Stufe der Kantone 2.4.5 Anregungen zur Aufsicht und Oberaufsicht 2.4.6 Anregungen für weitere Abklärungen

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Studie über Rechtsschutzlücken 3.1 Ziel und Vorgehen 3.2 Empfehlungen zu einzelnen Rechtsschutzbegrenzungen 3.2.1 Ausnahmekatalog (Art. 83 BGG) 3.2.2 Kognition des Bundesverwaltungsgerichts/Abschaffung der verwaltungsinternen Rechtspflege im Bund 3.2.3 Ausländer- und Asylrecht 3.2.4 Politische Rechte 3.2.5 Innere und äussere Sicherheit 3.2.6 Fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen 3.2.7 Bereiche ohne gesetzgeberischen Handlungsbedarf

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Würdigung der Gesamtergebnisse 4.1 Reform der Bundesrechtspflege grossenteils gelungen 4.2 Weitere Verbesserungen möglich 4.3 Verbesserungen bei den Gerichten 4.4 Mögliche Verbesserungen bei der Bundesversammlung 4.5 Verbesserungen durch Änderung der Rechtsgrundlagen 4.5.1 Verbesserung des Ausnahmekatalogs von Artikel 83 des Bundesgerichtsgesetzes 4.5.2 Anpassung der Bestimmungen über die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts 4.5.3 Abschaffung der erweiterten Kognition des Bundesgerichts im Bereich der Militär- und Unfallversicherung 4.5.4 Besserer Rechtsschutz gegenüber Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung 4.5.5 Besserer Rechtsschutz im Bereich der politischen Rechte 4.6 Verzicht auf Umsetzung verschiedener weiterer Anregungen 4.6.1 Idee hat sich in der Praxis nicht bewährt 4.6.2 Idee wurde bereits auf andere Weise umgesetzt 4.6.3 Nachteile überwiegen die allfälligen Vorteile 4.6.4 Anderer Weg eingeschlagen 4.6.5 Kein Handlungsbedarf 4.6.6 Verwirklichung ergäbe eine Disharmonie zu den eidgenössischen Prozessordnungen 4.6.7 Verwirklichung wäre gegenwärtig politisch kaum mehrheitsfähig 4.6.8 Fokussierung weiterer Abklärungen auf konkrete Gesetzesänderungen 4.7 Abstimmung zwischen BGG und den eidgenössischen Prozessordnungen

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Ausblick und weiteres Vorgehen

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Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Totalrevision der Bundesrechtspflege

Auf Anfang 2007 trat die Totalrevision der Bundesrechtspflege in Kraft. Die damit verbundenen Gesetzesänderungen betreffen die Organisation und das Verfahren des Bundesgerichts, die Schaffung neuer gerichtlicher Vorinstanzen sowie die Neuregelung der Rechtsmittel, die an das oberste Gericht führen. Auch auf der Stufe der Kantone hat die Revision der Bundesrechtspflege Auswirkungen, wobei das Gesetz Übergangsfristen bis Anfang 2011 vorsah. Verfassungsgrundlage für die Revision bildete die Justizreform, die am 12. März 2000 von Volk und Ständen angenommen worden war.

Die Totalrevision der Bundesrechtspflege strebte die folgenden drei Ziele an: ­

Ziel 1: Wirksame und nachhaltige Entlastung des Bundesgericht und damit Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit;

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Ziel 2: Verbesserung des Rechtsschutzes in gewissen Bereichen;

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Ziel 3: Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege.

Zwischen den drei Reformzielen bestand und besteht teilweise ein Spannungsverhältnis, namentlich zwischen den Zielen 1 und 2.

Konkret wurden namentlich die folgenden Massnahmen eingeführt: Veränderung von Organisationsstrukturen: ­

Organisatorische Veränderungen beim Bundesgericht: Teilintegration des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in das Bundesgericht, Veränderungen der Gerichtsorganisation;

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Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts;

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Schaffung des Bundesstrafgerichts;

­

Zuweisung der Aufsicht über das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht an das Bundesgericht.

Veränderung von Abläufen: ­

Einführung eines Instanzenzuges in Bundesstrafsachen;

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Ausbau der Möglichkeiten für Entscheide im vereinfachten Verfahren beim Bundesgericht;

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grundsätzliche Beschränkung der Kognition des Bundesgerichts auf Rechtsfragen;

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strengere Anforderungen an die Vorinstanzen der Kantone;

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erstinstanzliche Verfügungen der Kantone und des Bundes im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen direkt beim Bundesstrafgericht anfechtbar;

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weitere Veränderungen (Fristen, reformatorische Entscheide, aufschiebende Wirkung, Definition der anfechtbaren Entscheide).

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Veränderung Aufgabenportfolio Bundesgericht: ­

Ausschluss bestimmter Sachgebiete von der Zuständigkeit des Bundesgerichts;

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Veränderung der Streitwertgrenze und Einführung der Kostenpflicht im Sozialversicherungsrecht;

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Prüfung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung unabhängig vom Streitwert.

Neue Rechtsmittel: ­

Einführung Einheitsbeschwerde im Zivil-, Straf- und öffentlichen Recht;

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Schaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde.

Die Schaffung des Bundesstrafgerichts erfolgte hingegen nicht in erster Linie im Zusammenhang mit den erwähnten Zielen der Totalrevision der Bundesrechtspflege.

Das Bundesstrafgericht wurde vielmehr als Folge der sogenannten Effizienzvorlage und der damit angestrebten kriminalpolitischen Ziele eingerichtet.

1.2

Postulat Pfisterer 07.3420

Mit dem Postulat Pfisterer vom 21. Juni 2007 (07.3420 «Evaluation über die Gesetzgebung zur Bundesrechtspflege und zur Justizreform») wurde der Bundesrat eingeladen, die Neuordnung von Justiz und Bundesrechtspflege auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, die nötigen Massnahmen vorzuschlagen, den Gerichten Gelegenheit zu eigenen Schlussfolgerungen zu geben und dem Parlament oder seinen zuständigen Kommissionen kurze Zwischenbeurteilungen sowie dem Parlament einen Schlussbericht zukommen zu lassen. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats. Zum Zeitpunkt der Einreichung des Postulats hatte das Bundesamt für Justiz (BJ) bereits erste Vorarbeiten für eine Evaluation getätigt. Der vorliegende Bericht orientiert über Gesamtergebnisse der Wirksamkeitsprüfung und zeigt auf, wo nach Ansicht des Bundesrates Handlungsbedarf besteht. Die Effizienzvorlage und die 2011 in Kraft getretenen eidgenössischen Prozessordnungen bilden nicht Teil der vorliegenden Evaluation.

1.3

Ein breit angelegtes Evaluationsdispositiv

1.3.1

Projektorganisation und Begleitgruppe für die Evaluation

Die Federführung für die Evaluation der neuen Bundesrechtspflege lag beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beziehungsweise beim BJ. Um die Hauptakteure möglichst frühzeitig in das Evaluationsprojekt einzubeziehen, setzte das BJ bereits in der Konzeptphase eine beratende Begleitgruppe ein. Diese bestand aus folgenden Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung, eidgenössischer sowie kantonaler Gerichte und der Wissenschaft:

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Bundesamt für Justiz:

Luzius Mader, Stellvertretener Direktor (Präsidium)

Bundesgericht:

Susanne Leuzinger, ehemalige Vizepräsidentin (bis 2010), Gilbert Kolly, Präsident (ab 2011), Paul Tschümperlin, Generalsekretär

Bundesverwaltungsgericht:

Elena Avenati-Carpani, Richterin (bis 2011), Philippe Weissenberger, Richter und ehemaliger Vizepräsident (bis 2011), Markus Metz, Präsident (ab 2012), Michael Beusch, Richter und ehemaliger Vizepräsident (ab 2012)

Bundesstrafgericht:

Daniel Kipfer Fasciati, Vizepräsident, Patrick Guidon, stv. Generalsekretär (bis 2010), Klaus Schneider, stv. Generalsekretär (2011)

Verwaltungsgericht Bern:

Ruth Herzog, Richterin und ehemalige Präsidentin

Obergericht Schaffhausen:

Arnold Marti, Vizepräsident

Universität Zürich:

Regina Kiener, Professorin

Universität Genf:

Thierry Tanquerel, Professor

Durch die Mitwirkung der Begleitgruppe sollte der Zugang zu den Daten erleichtert sowie die Kooperation der betroffenen Gerichte und die Akzeptanz der Arbeiten gefördert werden. Die Begleitgruppe war beteiligt an der Erarbeitung des Konzepts und des Pflichtenhefts für die Evaluation sowie an der Auswahl der externen Arbeitsgruppen. Sie begleitete den Fortschritt der Arbeiten und prüfte die Zwischenberichte und die Schlussberichte.

Unterstützt wurden die Arbeiten durch eine verwaltungsinterne Projektbegleitung bestehend aus Werner Bussmann, Philippe Gerber, Marino Leber und Esther Tophinke.

1.3.2

Breites Evaluationskonzept

In enger Zusammenarbeit mit der Begleitgruppe erstellte das BJ ein Evaluationskonzept, das Anfang 2008 von der damaligen Vorsteherin des EJPD genehmigt wurde.

Eine der grossen Herausforderungen der Evaluation bestand in der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes. Die Totalrevision der Bundesrechtspflege umfasste mehrere Gesetze, zahlreiche Akteure sowie ein ganzes Bündel von Massnahmen (vgl. Ziff. 1.1). Um den komplexen Wirkungszusammenhängen Rechnung zu tragen, sah das Evaluationskonzept eine breit angelegte Evaluation vor, welche die Situation und die Erfahrungen der Periode 2007­2011 mit der Situation 2006 beziehungsweise mit der Entwicklung 2002­2006 zu vergleichen hatte.

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1.3.3

Durchführung in zwei Etappen

Mit der Evaluation sollte ab 2007 im Zeitraum von fünf Jahren einerseits eine Art mitschreitende Qualitätskontrolle der Wirkungsanalyse sichergestellt und andererseits eine solide Schlussbilanz der Ergebnisse der Reform und des allfälligen Verbesserungsbedarfs erstellt werden. Zu diesem Zweck wurde die Evaluation etappiert: 2010 wurden erste Zwischenberichte erstellt (vgl. Ziff. 1.5 und 1.6); 2012/2013 folgten die Schlussberichte (vgl. Ziff. 1.6, Ziff. 2 und Ziff. 3).

1.4

Vergabe von zwei Evaluationsaufträgen

Das sich eng ans Konzept anlehnende Pflichtenheft für die Evaluation wurde mehreren Universitäten, Instituten und Evaluationsbüros zur Offertstellung unterbreitet und in wichtigen juristischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Bis zum Ablauf der Ausschreibungszeit gingen acht Offerten ein.

Nach gründlicher Prüfung der verschiedenen Projektvorschläge durch die Begleitgruppe beauftragte das BJ im Herbst 2008 eine Arbeitsgemeinschaft mit der Durchführung einer umfassenden Wirksamkeitsstudie. Diese Arbeitsgemeinschaft bestand aus dem Kompetenzzentrum für Public Management (kpm) der Universität Bern (Prof. Dr. Andreas Lienhard), Interface Politikstudien (Dr. Stefan Rieder) und der Universität Zürich (Prof. Dr. Martin Killias). Die Evaluationsarbeiten wurden im Rahmen eines Expertenpools von weiteren acht Expertinnen und Experten unterstützt: Prof. Dr. Walter Kälin, Prof. Dr. Jolanta Kren, Prof. Dr. Alexander Markus (alle Universität Bern), PD Dr. Ueli Kieser (Universität St. Gallen), Dr. Miriam Lendfers (Universität St. Gallen), a. Verwaltungsrichter Prof. Dr. Peter Ludwig; a. Oberrichter Fabio Righetti und Prof. Dr. Frédéric Varone (Universität Genf).

Ergänzend zur Wirkungsanalyse beauftragte das BJ zudem ein Projektteam der Universität Zürich (Prof. Dr. Felix Uhlmann, Prof. Dr. Giovanni Biaggini und Prof.

Dr. Andreas Auer) zu klären, ob und gegebenenfalls in welchen Bereichen nach der Revision der Bundesrechtspflege noch Rechtsschutzlücken bestehen.

1.5

Bericht des Bundesrates über die Zwischenergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege

Der Bericht des Bundesrates vom 18. Juni 20101 über die Zwischenergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege kam zu einem positiven Zwischenresultat.

Die Umfragen beim Bundesgericht, beim Bundesverwaltungsgericht, beim Bundesstrafgericht, bei kantonalen Gerichten und bei Anwälten sowie die durchgeführten Datenanalysen hätten gezeigt, dass die Ziele der Anfang 2007 in Kraft getretenen Totalrevision der Bundesrechtspflege zu einem grossen Teil erreicht worden seien.

Insgesamt seien der Rechtsschutz erhöht und die Verfahren vereinfacht worden. Ein Wermutstropfen war schon damals die Einschätzung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter, das Gericht sei durch die Reform nicht wirklich entlastet worden.

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BBl 2010 4837

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Die Zwischenergebnisse der Evaluation zeigten gemäss Bericht des Bundesrates keine grundlegenden Umsetzungsprobleme auf, die zum damaligen Zeitpunkt ein rasches Handeln auf gesetzgeberischer Ebene erfordert hätten. Die Evaluation war mit nützlichen Feedbacks für die drei Gerichte des Bundes verbunden.

1.6

Im Rahmen der beiden Evaluationsstudien erstellte Berichte

Die Zwischenberichte zu den beiden Studien wurden 2010 abgeschlossen, die beiden Schlussberichte 2013. Sowohl die Zwischenberichte wie auch Schlussberichte sind öffentlich zugänglich.2 Der vorliegende Bericht stützt sich vor allem auf die Schlussberichte der beiden Studien ab: ­

Umfassende Wirksamkeitsstudie: Lienhard Andreas, Rieder Stefan, Killias Martin, Schwenkel Christof, Nunweiler Sophie und Müller Andreas. Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege: Schlussbericht zuhanden des Bundesamtes für JustizBern/Luzern/Zürich 2013. (zit. «Schlussbericht umfassende Wirksamkeitsstudie») Dieser Schlussbericht berücksichtigt die Ergebnisse des Zwischenberichts I (zit. «ZWB I»)3 und des Zwischenberichts II (zit. «ZWB II»)4.

­

Studie über Rechtsschutzlücken: Uhlmann Felix und Biaggini Giovanni, Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege: Teilprojekt Rechtsschutzlücken, Schlussbericht, Zürich 2013 (zit. «Schlussbericht Rechtsschutzlücken»).

Nachfolgend werden die Ziele und das Vorgehen sowie die Ergebnisse und Anregungen der beiden Studien wiedergegeben, wobei die Ausgangstexte zum Teil wörtlich übernommen, zum Teil gekürzt wurden.

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4

Alle Studien sind abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Themen > Staat & Bürger > Evaluation > Bundesamt für Justiz: Evaluation.

Zwischenbericht I: Lienhard Andreas, Rieder Stefan und Killias Martin (unter Mitarbeit von Schwenkel Christof, Hardegger Sophie und Odermatt Simon), Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege: Zwischenbericht der Evaluationsphase I zuhanden des Bundesamtes für Justiz, Bern/Zürich/Luzern 2010.

Zwischenbericht II: Lienhard Andreas, Rieder Stefan, Killias Martin, Schwenkel Christof, Nunweiler Sophie und Müller Andreas. Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege: Zwischenbericht II zuhanden des Bundesamtes für Justiz Bern/Zürich/ Luzern.

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2

Umfassende Wirksamkeitsstudie

2.1

Ziel und Inhalt

Die umfassende Wirksamkeitsstudie von Prof. Lienhard, Dr. Rieder und Prof. Killias sollte überprüfen, ob die in Ziffer 1.1 aufgeführten Ziele der Revision bis Ende 2011 erreicht wurden. Bei Bedarf sollten Anregungen für Optimierungen formuliert werden.

Im Rahmen der Evaluation wurde die Totalrevision der Bundesrechtspflege in vier Gegenstände mit je spezifischen Massnahmen und damit verbundenen (potenziellen) Veränderungen unterteilt: ­

Organisatorische Veränderungen: Der erste Gegenstand der Evaluation umfasste Veränderungen in der Organisation des Bundesgerichts, insbesondere die Zusammenführung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in Luzern mit dem Bundesgericht in Lausanne. Dazu gehörten ferner die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts, Anpassungen der Aufsicht und Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte sowie Veränderungen in den Kantonen (z.B. Einführung des doppelten Instanzenzugs).

­

Veränderungen von Abläufen, Aufgaben und Rechtsmitteln: Dieser zweite Gegenstand beinhaltete insbesondere die Schaffung gerichtlicher Vorinstanzen im Bund und in den Kantonen, die Kognition des Bundesgerichts (Rechtskontrolle) sowie die Einführung der Einheitsbeschwerde.

­

Veränderung von Outputs: Der dritte Gegenstand umfasste die Quantität und die Qualität der Rechtsprechung des Bundesgerichts. Es ging unter anderem darum, zu prüfen, wie sich die Belastung des Bundesgerichts entwickelte und ob aus den Daten ein Entlastungseffekt aufgrund der Revision zu erkennen sei. Weiter wurden qualitative Aspekte im Rahmen einer Analyse von Urteilen des Bundesgerichts untersucht.

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Veränderungen bei den Zielgruppen: Die Evaluation untersuchte als vierten Gegenstand, ob und wie stark die Anwaltschaft, beschwerdeberechtigte Organisationen (hauptsächlich aus dem Sozial- und Umweltbereich) und Verwaltungsstellen des Bundes von den Änderungen infolge der Reform der Bundesrechtspflege berührt worden sind.

Die zentrale Fragestellung der Evaluation lautete, ob die Revision im Kontext der vier Evaluationsgegenstände Veränderungen ausgelöst hat und ob diese in Übereinstimmung mit den drei Zielen der Reform stehen. Es wurde geprüft, ob und in welchem Masse die durch die Revision der Bundesrechtspflege ausgelösten Veränderungen zu einer Entlastung des Bundesgerichts, zur Verbesserung des Rechtsschutzes und zur Vereinfachung der Verfahren beigetragen haben.

2.2

Vorgehen

Die umfassende Wirkungsstudie bediente sich zweier Vergleichsebenen: ­

Soll-Ist-Vergleich: Die durch die Revision ausgelösten Veränderungen wurden daraufhin überprüft, ob sie einen Beitrag zur Erreichung der drei Ziele der Revision geleistet hatten.

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­

Längsschnittvergleich: Die Erhebungen wurden zu zwei Zeitpunkten (2009 und 2011) durchgeführt. Damit liess sich prüfen, welche Veränderungen durch die Reform ausgelöst wurden und ob die Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Zielerreichung dauerhaft ausgefallen waren.

Im Rahmen der umfassenden Wirkungsstudie wurden fünf Methoden angewendet: ­

Auswertung von Dokumenten: Ausgewertet wurden Unterlagen zur Revision der Bundesrechtspflege. Dazu gehörten namentlich die Botschaft, einschlägige Gesetze, wissenschaftliche Publikationen sowie Jahresberichte und Unterlagen von eidgenössischen und kantonalen Gerichten.

­

Persönliche, qualitative Interviews: In der ersten Phase der Evaluation im Jahr 2009 wurden insgesamt 33 qualitative Interviews geführt (mit Richterinnen und Richtern, Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts, mit Präsidentinnen und Präsidenten ausgewählter oberer kantonaler Gerichte, mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung, mit Anwältinnen und Anwälten). Im Jahr 2011 wurden weitere 20 Gespräche geführt, wobei versucht wurde, einen Grossteil der 2009 interviewten Personen ein zweites Mal zu befragen.

­

Quantitative Befragungen: Es wurden elf quantitative Befragungen durchgeführt, an welchen insgesamt rund 1000 Personen teilgenommen haben.

Dabei konnten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts sowie Anwältinnen und Anwälte mit mehr als fünf Fällen vor dem Bundesgericht zu zwei Zeitpunkten (2009 und 2011) an einer Online-Befragung teilnehmen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der oberen kantonalen Gerichte, Bundesverwaltungsstellen und Verantwortliche beschwerdeberechtigter Organisationen wurden nur 2009 befragt.

­

Analyse von Urteilen: Es wurde eine qualitative Analyse von ausgewählten Urteilen des Bundesgerichts in den vier Bereichen Öffentliches Recht, Sozialversicherungsrecht, Strafrecht und Privatrecht durchgeführt. Für jeden dieser vier Bereiche wurden Experten herangezogen, um Urteile des Bundesgerichts vor und nach der Reform zu analysieren.

­

Auswertung von Daten: Es wurden Statistiken des Bundesgerichts für die Jahre 2002 bis einschliesslich 2011 ausgewertet. Die Daten wurden zum einen den Jahresberichten der eidgenössischen Gerichte entnommen und zum anderen durch das Bundesgericht für die Evaluation zusammengestellt.

2.3

Ergebnisse

2.3.1

Zielerreichung

Die umfassende Wirksamkeitsstudie untersuchte, ob und inwieweit die in Ziffer 1.1 aufgeführten drei Ziele erreicht wurden. Die Studie kam zu folgenden Schlüssen: Ziel 1: Entlastung des Bundesgerichts Das Bundesgericht wurde entlastet. Aufgrund der Analyse wurde festgehalten, dass die verschiedenen Massnahmen eindeutig eine Entlastungswirkung entfaltet haben.

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Es sind dies: die Reorganisation innerhalb des Bundesgerichts, die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts, die Schaffung des Bundesstrafgerichts, die Teilintegration des Eidgenössisches Versicherungsgerichts, die erweiterte Möglichkeit zu Entscheiden im vereinfachten Verfahren sowie die Einschränkung der Kognition und die Kostenpflicht im Sozialversicherungsrecht. Die empirischen Ergebnisse hinsichtlich dieser Massnahmen sind konsistent: die Resultate der Online-Befragungen, Urteilsanalysen, Statistiken und qualitativen Interviews bestätigen diesen Befund.

Eine Reihe von Massnahmen, die potenziell eine Entlastungswirkung beinhalten (Streitwertgrenzen, Anforderungen an die Vorinstanzen, Einheitsbeschwerde) haben indessen (bisher) keine Entlastungswirkung ausgelöst.

Die ermittelte Entlastungswirkung bedeutet nicht, dass alle Richterinnen und Richter beziehungsweise Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber am Bundesgericht weniger belastet sind. Vielmehr ist auf zwei Aspekte hinzuweisen, wenn die Entlastungswirkung der Revision beurteilt werden soll: ­

Zunächst zeigte namentlich die am Bundesgericht durchgeführte OnlineBefragung von Richterinnen und Richtern auf, dass ein Teil davon die eigene Belastung nach wie vor als zu hoch bezeichnet. Zudem weicht die summative Beurteilung von Richterinnen und Richtern am Bundesgericht von der Analyse einzelner Massnahmen und der statistischen Auswertung ab.

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Ein Teil der Richterinnen und Richter am Bundesgericht erachtet sich als «falsch belastet»: Sie kritisieren, dass sie zu stark mit formalen Aspekten beschäftigt sind und sich zu wenig mit inhaltlichen Fragen auseinandersetzen können.

Die Erhebungen lassen den Schluss zu, dass die Revision der Bundesrechtspflege zwar einen Entlastungseffekt bewirkt hat, dass das Problem der starken Belastung des Bundesgerichts jedoch nicht gelöst ist. Die statistische Analyse lieferte dazu folgende Ergebnisse: Die Dauer der Verfahren ist im Jahr 2007 zwar erstmals seit 2002 zurückgegangen und die Belastung der Bundesrichterinnen und -richter hat sich ab 2008 (gemessen an der Zahl der Fälle pro Richterin oder Richter) reduziert.

Der Rückgang ist allerdings nicht sehr gross und liegt unter der Zehnprozentgrenze.

Die aktuellen Zahlen der Statistik für das Jahr 2012 zeigen überdies einen Anstieg der Beschwerden an das Bundesgericht. Welches die Gründe dafür sind, musste im Rahmen der umfassenden Wirksamkeitsstudie offen bleiben, wurden die empirischen Arbeiten doch im Jahr 2011 abgeschlossen.

Zu beachten ist ferner, dass bestimmte von der Revision unabhängige Entwicklungen die Entlastungswirkung der Revision überlagert und teilweise kompensiert haben. Dazu gehört die Einführung der Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) und der Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272). Zudem ist beispielsweise im Sozialversicherungsrecht eine beträchtliche Zunahme der Rechtsstreitigkeiten feststellbar, die eine exakte Bezifferung des Entlastungseffekts erschwert. Ebenso führt die teilweise Wiedereinführung der Geschädigtenbeschwerde im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 5 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) durch die StPO dazu, dass zusätzliche Beteiligte ­ nämlich die Privatklägerschaft und nicht mehr nur Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes vom 23. März 2007 (OHG; SR 312.5), wie vom Bundesgerichtsgesetz ursprünglich intendiert ­ zu einer Beschwerde legitimiert sind und aufgrund dessen jährlich eine beträchtliche Zahl zusätzlicher Beschwerden zu beurteilen sind.

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Ziel 2: Erhöhung des Rechtsschutzes Die Ergebnisse der Evaluation zu Ziel 2 fallen ambivalent aus. Es lässt sich ein Bündel von Massnahmen identifizieren, welche das Ziel unterstützt haben. Ebenso sind Massnahmen zu erkennen, deren Auswirkungen dem Ziel entgegengelaufen sind.

Zunächst ist festzuhalten, dass eine Reihe der untersuchten Massnahmen den Rechtsschutz stark oder wenigstens teilweise erhöht hat. Hierzu gehören (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung) die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts, die Einheitsbeschwerde, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, die Möglichkeit zur Prüfung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung beim Bundesgericht, die Neuregelung der Beschwerdefristen sowie die Schaffung von kantonalen gerichtlichen Vorinstanzen.

Vier Massnahmen der Revision haben den Rechtsschutz indessen gezielt eingeschränkt: Es sind dies (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung) die Einschränkung der Kognition im Sozialversicherungsrecht, die Einführung der Kostenpflicht im Sozialversicherungsbereich, die Erhöhung der Streitwertgrenzen und die erweiterte Möglichkeit zu Entscheiden im vereinfachten Verfahren.

Trotz der gegensätzlichen Effekte der geschilderten Massnahmen kann die Revision der Bundesrechtspflege bezüglich Ziel 2 als erfolgreich bezeichnet werden: Das Vorgehen ist konsistent, der Ausbau des Rechtsschutzes an einigen Stellen und die Einschränkung an anderen waren geplant und sind auch so umgesetzt worden.

Ziel 3: Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege Das Ziel wurde grundsätzlich erreicht. Die ermittelten Wirkungen sind im Vergleich zu den Zielen 1 und 2 aber deutlich weniger gross und die Ergebnisse insgesamt weniger konsistent. Positiv festzuhalten ist, dass von sechs Massnahmen im Rahmen der neuen Bundesrechtspflege eine positive Wirkung ausgeht. Die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts und die Einheitsbeschwerde sind dabei nach Ansicht der befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eidgenössischer Gerichte sowie der Anwaltschaft die wichtigsten Massnahmen.

Drei Massnahmen haben keinen Effekt auf die Verfahren und den Rechtsweg, nämlich die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, die Erhöhung der Streitwertgrenzen und die Einführung der generellen Kostenpflicht. Es sind dies aber alles Massnahmen, von denen materiell auch kein grosser Effekt erwartet worden ist.
Die Entscheide im vereinfachten Verfahren sind nach Ansicht der Befragten an den eidgenössischen Gerichten eine Massnahme zur Vereinfachung von Verfahren und Rechtswegen. Die Anwaltschaft beurteilt dies anders. Es ist zu vermuten, dass hier die negative Beurteilung im Hinblick auf den Rechtsschutz bestimmend war und daher die Entscheide im vereinfachten Verfahren von der Anwaltschaft insgesamt ambivalent bewertet worden sind. Ambivalent hinsichtlich Ziel 3 ist schliesslich auch die Schaffung des Bundesstrafgerichts zu beurteilen: Die Befragten an den eidgenössischen Gerichten gehen von einer Zunahme der Komplexität der Verfahren und Abläufe aus (z.B. bezüglich der internationalen Rechtshilfe, zumindest auf Kantonsebene). Umgekehrt sieht die Anwaltschaft durch die Schaffung des Bundesstrafgerichts eine Vereinfachung des Verfahrens.

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Zielkonflikt zwischen der Entlastung des Bundesgerichts und dem Ausbau des Rechtsschutzes Die Revision der Bundesrechtspflege war von Anfang an mit einem Dilemma behaftet: Ein Ausbau des Rechtsschutzes ist nicht ohne Mehraufwand beim Bundesgericht zu haben (Zielkonflikt zwischen den Zielen 1 und 2). Dieses Dilemma ist auch durch die Revision der Bundesrechtspflege nicht gelöst worden und besteht weiterhin.

Massnahmen, die sich negativ auf den Rechtsschutz auswirken, haben oft eine Entlastungswirkung. Allerdings geht diese Zielkonkurrenz nicht so weit, dass die Entlastung des Bundesgerichts vollständig mit einer Reduktion des Rechtsschutzes hätte erkauft werden müssen. Vielmehr ist es aus Sicht der Evaluation gelungen, den Zielkonflikt durch die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts sowie die Einführung der Einheitsbeschwerde deutlich zu entschärfen.

2.3.2

Auswirkungen der Reform auf die Urteile

Im Rahmen der umfassenden Wirksamkeitsstudie wurde auch untersucht, wie sich die Revision der Bundesrechtspflege auf die Urteile ausgewirkt hat. Die Evaluation hat zur Beantwortung dieser Frage eine Analyse von Urteilen des Bundesgerichts in den Bereichen Zivilrecht, Strafrecht, öffentliches Recht und Sozialversicherungsrecht vorgenommen. Im Zeitraum zwischen 2005 und 2010 wurden insgesamt 423 Urteile qualitativ und 805 Urteile quantitativ ausgewertet.

Die Evaluation zeigt, dass sich die Qualität der analysierten Urteile nach Inkrafttreten der Totalrevision der Bundesrechtspflege nur in geringem Ausmass verändert hat. Die redaktionelle Qualität der Urteile hat sich in zwei von vier untersuchten Rechtsgebieten geringfügig im Sinne der Revision entwickelt: Die Urteilslänge hat beim Sozialversicherungsrecht abgenommen und Eintretensfragen werden im Strafrecht eher kürzer behandelt. Insgesamt haben sich die Begründungsdichte und die Nachvollziehbarkeit der Urteile vor und nach der Reform indessen kaum verändert.5 Allerdings ergibt die qualitative Analyse der Urteile des Bundesgerichts, dass im Vergleich zur Praxis vor Inkrafttreten des BGG kaum grosse beziehungsweise unerwartete Veränderungen beobachtet werden konnten. Die wichtigsten signifikanten Änderungen lassen sich in den folgenden zwei Bereichen erkennen: ­

Eine gewichtige Veränderung trat bei der Kognition bezüglich der Sachverhaltsüberprüfung ein¸ am deutlichsten beim Sozialversicherungsrecht, aber auch im öffentlichen Recht.

­

Weiter findet sich eine erhebliche Veränderung in Bezug auf Zwischen- und Endentscheide, indem Rückweisungsentscheide in der Regel neu als Zwischenentscheide eingestuft werden und indem auch die meisten Teilentscheide neu als Zwischenentscheide qualifiziert werden.6

In zahlreichen anderen Bereichen wurden kleinere Veränderungen festgestellt.7

5 6 7

ZWB II, S. 207 (vgl. Ziff. 1.6).

ZWB II, S. 179.

Schlussbericht umfassende Wirksamkeitsstudie, S. 16­17.

9091

2.3.3

Gesamtwürdigung der Reform

Die Evaluation kommt insgesamt zu einem positiven Befund. Die untersuchten Massnahmen haben einen substanziellen Beitrag zur Erreichung der drei Ziele der Reform geleistet und das Erreichte ist angesichts des Handlungsspielraums als angemessen zu beurteilen. Der Längsschnittvergleich zeigt zudem, dass sich die positiven Effekte der Reform zwischen 2009 und 2011 verstärkt haben. Die Resultate basieren auf einer breiten empirischen Basis sowie auf verschiedenen methodischen Zugängen; sie dürfen als stabil bezeichnet werden. Insgesamt kann die Reform daher für sich in Anspruch nehmen, die ihr vom Gesetzgeber vorgegebenen Möglichkeiten umgesetzt und die beabsichtigten Effekte erzielt zu haben.

2.4

Anregungen

Trotz der positiven Gesamtwürdigung der Reform haben die Autoren der umfassenden Wirksamkeitsstudie verschiedene Anregungen für Verbesserungen formuliert.

Sie betreffen namentlich Möglichkeiten zur Entlastung des Bundesgerichts. Die Anregungen beruhen teilweise auch auf der Diskussion in der Expertengruppe und gehen partiell über die empirischen Befunde hinaus. Zudem sind auch erste Reflexionen aus den Sitzungen mit der Begleitgruppe der Evaluation (vgl. Ziff. 1.3.1) eingeflossen. Die Anregungen können kombiniert werden, wobei Zielkonflikte teilweise unvermeidbar sind. Eine Würdigung der Anregungen aus Sicht des Bundesrates wird in Ziffer 4 vorgenommen.

2.4.1

Anregungen zur Regelung des Zugangs zum Bundesgericht

Für die Autorin und die Autoren der umfassenden Wirksamkeitsstudie ist die Belastung des Bundesgerichts auch in Zukunft eine zentrale Herausforderung. Sie formulieren folgende sieben Anregungen bezüglich des Zugangs zum Bundesgericht:

8

9

­

Unzulässigkeitserklärung (z.B. bei offensichtlich nicht zulässigen Beschwerden, bei offensichtlich aussichtslosen Beschwerden, bei Beschwerden mit ungenügender Begründung oder bei querulatorischen oder rechtsmissbräuchlichen Beschwerden);8

­

Anwaltszwang beziehungsweise akkreditierte Anwälte und Anwältinnen;

­

summarische Prüfung der Beschwerden auf ihre Erfolgsaussichten;

­

zusätzliche Anhebung der Streitwertgrenzen;9

Dabei würde mit einem generellen Hinweis auf die Aussichtslosigkeit der Beschwerde diese ohne weitere Prüfung für unzulässig erklärt. Derartige Unzulässigkeitsentscheide erlauben es dem EGMR und dem UNO-Menschenrechtsausschuss, viele Fälle ohne grossen Arbeitsaufwand zu erledigen. Ein Entwurf für eine BGG-Bestimmung in diese Richtung wurde vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) 1997 erarbeitet: vgl. den Vorschlag des EJPD zum Vorprüfungsverfahren vom 5. September 1997; vgl. ZWB II, S. 208.

ZWB II, S. 205.

9092

­

Ersetzung des Ausnahmekatalogs durch ein Zulassungs- beziehungsweise Annahmeverfahren für Fälle von grundsätzlicher Bedeutung beziehungsweise für besonders bedeutende Fälle, analog dem Mechanismus im Bereich der öffentlichen Beschaffungen (Art. 83 Bst. f BGG), der internationalen Rechtshilfe (Art. 84 BGG) sowie der internationalen Amtshilfe in Steuersachen (Art. 84a BGG);10 davon ausgenommen wären Bereiche, die sich für eine gerichtliche Beurteilung nicht eignen (z.B. actes de gouvernement); (vgl. auch auch die Anregungen im Rahmen der Studie über Rechtsschutzlücken, Ziff. 3.2.1);

­

weitere Ausschöpfung des Entlastungspotenzials der Artikel 108 (einzelrichterlicher Nichteintretensentscheid im vereinfachten Verfahren) und 109 BGG (Dreierbesetzung, summarische Begründung);11

­

Schaffung eines zweistufigen Gerichtsmodells im Bereich der Bundesstrafgerichtsbarkeit mit neuer Berufungsinstanz:12 Prüfung der Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts mit voller Kognition, selbstständige richterliche Behörde oder Angliederung an das Bundesstrafgericht oder an das Bundesverwaltungsgericht denkbar.

2.4.2 ­

Zusätzliche Kompetenzen für die Verwaltungskommissionen der einzelnen eidgenössischen Gerichte zur Entlastung der Richterinnen und Richter von Verwaltungsaufgaben;

­

koordinierte Personalrekrutierung der eidgenössischen Gerichte; Koordinationsfunktion des Bundesgerichts (z.B. Stellenbörse).13

2.4.3

10 11 12

13 14 15

Anregungen zur Organisation der eidgenössischen Gerichte

Anregungen zu einzelnen Verfahrensfragen

­

Verzicht auf die mit dem Strafbehördenorganisationsgesetz teilweise wieder eingeführte Geschädigtenbeschwerde;14

­

Ausdehnung der Legitimation des Gemeinwesens (v .a. Kantone und Gemeinden) zur Beschwerdeführung;

­

Anfechtung von Vor- und Zwischenentscheiden: den Teilsatz «und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen» in Artikel 93 Absatz 1 Buchstabe b BGG streichen15 oder durch die Rechtsprechung sachgerecht konkretisieren; ZWB II, S. 208.

ZWB II, S. 60.

Vgl. in diesem Sinn auch die ­ abgelehnte ­ Motion der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 26. April 2012 (12.3341 «Zweite Berufungsinstanz in Bundesstrafsachen»).

ZWB I, S. 208.

Vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 10. September 2008, BBl 2008 8125, hier 8182 f.

ZWB II, S. 185.

9093

­

Definition des Kriteriums des besonderen Berührtseins gemäss Artikel 89 Absatz 1 Buchstabe b BGG;

­

Rückweisungs- und Teilentscheide nicht als Zwischenentscheide qualifizieren;

­

Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Sozialversicherungsrecht durch die Gerichte klarer vornehmen;

­

Abschaffung der erweiterten Kognition des Bundesgerichts im Bereich der Militär- und Unfallversicherung;16

­

deutlichere Auseinandersetzung des Bundesgerichts mit den Vorbringen der Parteien sowie Überdenken des Antragsprinzips im Sozialversicherungsrecht;

­

vermehrte Durchführung mündlicher Beratungen am Bundesgericht (im Interesse der Rechtsfortbildung und Rechtseinheit).

2.4.4 ­

Anregung zu Verfahren auf Stufe der Kantone Prüfung eines doppelten gerichtlichen Instanzenzugs auf Stufe der Kantone im Sozialversicherungsrecht.

2.4.5

Anregungen zur Aufsicht und Oberaufsicht

­

Vereinfachung der administrativen Aufsicht des Bundesgerichts über die erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte (z.B. Verringerung der Intensität der Berichterstattung der unteren eidgenössischen Gerichte an das Bundesgericht), klarere Abgrenzung zur parlamentarischen Oberaufsicht;17

­

Überprüfung der Kommissionsorganisation der parlamentarischen Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte; gegebenenfalls Anzahl der für die Oberaufsicht zuständigen Parlamentskommissionen senken.

2.4.6

Anregungen für weitere Abklärungen

In der umfassenden Wirksamkeitsstudie werden auch Anregungen für weitere Abklärungen gegeben. Sie betreffen die Überlagerung der Wirkungen der Totalrevision der Bundesrechtspflege durch weitere Reformen (insb. Einführung der ZPO/ StPO; Effizienzvorlage; Gründe für den Anstieg der Beschwerden an das Bundesgericht im Jahr 2012), die Auswirkungen des doppelten Instanzenzugs in den Kanto-

16 17

ZWB II, S. 185.

Namentlich aufgrund der Untersuchungen während der ersten Evaluationsphase (ZWR I, S. 56­60) hat das Bundesgericht seine Aufsicht über die erstinstanzlichen Gerichte erheblich vereinfacht; dementsprechend fällt die Beurteilung der Aufsicht in der zweiten Evaluationsphase (ZWR II, S. 29­31) erheblich positiver aus. Das Problem dürfte heute gelöst sein.

9094

nen, die Fortsetzung der Urteilsanalyse sowie eine gesamtheitliche Analyse des Justizsystems der Schweiz.18

3

Studie über Rechtsschutzlücken

3.1

Ziel und Vorgehen

Die Studie der Professoren Uhlmann und Biaggini untersucht, ob und ­ wenn ja ­ wo nach der Revision der Bundesrechtspflege Rechtsschutzlücken bestehen.

Die Untersuchung basiert schwergewichtig auf einer Auswertung juristischer Lehre und Praxis. Berücksichtigt werden auch politische Vorstösse und, soweit vorhanden, empirische Daten aus Befragungen. Die verwendeten empirischen Daten stammen aus den Erhebungen und Auswertungen der umfassenden Wirksamkeitsstudie (vgl.

Ziff. 2.2 und 2.3).19 Die Studie klärt zuerst in einem juristisch-dogmatischen Grundlagenteil den Begriff der Rechtsschutzlücke. Rechtschutzlücken sind dort zu finden, wo die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz (Art. 29 ff., Art. 188 ff. BV) nicht zufriedenstellend eingelöst werden oder aus anderen Gründen gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Die Verfassung fordert primär individuellen, richterlichen und effektiven Rechtsschutz. Nicht jede Begrenzung des Rechtsschutzes stellt indes bereits eine Rechtsschutzlücke dar. Eine solche liegt nur vor, wenn sich eine Rechtsschutzbegrenzung sachlich nicht rechtfertigen lässt.20 Die Autoren analysieren sodann, wo Rechtsschutzbegrenzungen in der neuen Bundesrechtspflege angelegt sind oder von der Praxis entwickelt werden und wie sie gegebenenfalls zu rechtfertigen sind. Rechtsschutzbegrenzungen lassen sich dabei in drei Richtungen ausmachen: formale Begrenzungen, die im Wesentlichen mit den üblichen Eintretensvoraussetzungen zusammenfallen; Begrenzungen in einzelnen Sachbereichen, wo richterlicher oder höchstrichterlicher Rechtsschutz ausgeschlossen ist; praktische Hürden, die den Rechtsuchenden bei der Anrufung des Gerichts im Wege stehen. Rechtsschutzbegrenzungen können aus Gründen der Gewaltenteilung, des Föderalismus, der Justiziabilität, der Praktikabilität, der Entlastung der Gerichte oder der Banalität der betreffenden Rechtsstreitigkeiten gerechtfertigt sein.

Die Autoren zeigen schliesslich auf, wo ihrer Meinung nach Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, allenfalls auch für die Gerichte, besteht.21

3.2

Empfehlungen zu einzelnen Rechtsschutzbegrenzungen

Die Autoren bestätigen im Schlussbericht den Befund des Zwischenberichts vom Januar 2010, dass die neue Bundesrechtspflege keine eklatanten Rechtschutzlücken offen gelassen oder gar geschaffen hat. In folgenden ausgewählten Bereichen sehen die Autoren indessen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.

18 19 20 21

Schlussbericht umfassende Wirksamkeitsstudie, S. 22­23.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 17.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 18 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 27 ff.

9095

3.2.1

Ausnahmekatalog (Art. 83 BGG)

Im öffentlichen Recht können Entscheide letzter kantonaler Instanzen und Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts in den in Artikel 83 BGG genannten Sachgebieten grundsätzlich nicht mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht angefochten werden (vgl. auch Art. 84 und 84a BGG). Mit der in der parlamentarischen Phase eingeführten subsidiären Verfassungsbeschwerde können Entscheide letzter kantonaler Instanzen in den ausgeschlossenen Bereichen zumindest wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte vor Bundesgericht angefochten werden.

In den Rückmeldungen aus dem Bundesgericht, dem Bundesverwaltungsgericht und der Anwaltschaft wurde der Ausschlusskatalog oft kritisiert. Begründet wird die Kritik nicht mit Zweifeln an der Qualität der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, sondern hauptsächlich damit, dass das Bundesgericht die Einheit der Rechtsprechung in den betreffenden Bereichen nicht gewährleisten könne. Ferner bewirke der Ausschlusskatalog zum Teil «absurde Verzerrungen», da bedeutende Fragen vom Bundesverwaltungsgericht abschliessend, unwichtige nur vorinstanzlich entschieden würden.22 Schliesslich sei der Ausschlusskatalog asymmetrisch, da kantonale Entscheide wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte trotzdem, Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts dagegen nicht weitergezogen werden können.23 Die Autoren regen an, den Ausschlusskatalog gemäss Artikel 83 BGG gesamthaft einer Überprüfung zu unterziehen und im Lichte der Funktionen des Bundesgerichts zu überarbeiten. Das Bundesgericht soll alle Fälle entscheiden können, die im Lichte der Rechtsfortbildung und der einheitlichen Rechtsanwendung höchstrichterlich zu klären sind. Eine Beschränkung des Rechtswegs ans Bundesgericht erscheine dort angemessen, wo genügender Rechtsschutz durch die Vorinstanzen gewährleistet sei und die Einschränkung tatsächlich zu einer Entlastung des Bundesgerichts führe.24

3.2.2

Kognition des Bundesverwaltungsgerichts/ Abschaffung der verwaltungsinternen Rechtspflege im Bund

Mit der Einrichtung des Bundesverwaltungsgerichts wurden die bisherigen eidgenössischen Rekurs- und Schiedskommissionen sowie das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren weitgehend abgeschafft. Um die Situation der Rechtsuchenden nicht zu verschlechtern, wurde dem Bundesverwaltungsgericht volle Kognition im Sinne umfassender Prüfungsmöglichkeiten bezüglich Sachverhalt, Rechtslage 22

23 24

Punktuell hat der Gesetzgeber dieses Anliegen umgesetzt: Mit der Änderung von Artikel 83 Buchstabe h BGG und dem neuen Artikel 84a BGG können Entscheide des Bundesverwaltungsgericht auf dem Gebiet der internationalen Amtshilfe in Steuersachen durch das Bundesgericht überprüft werden, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder wenn es sich aus anderen Gründen um einen besonders bedeutenden Fall handelt. Artikel 83 BGG war auch Gegenstand der Motion Janiak vom 4. März 2010 (10.3054 «Weiterzug von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichtes an das Bundesgericht in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung auch im Bereich des öffentlichen Rechts»).

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 39 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 68 f.

9096

und Angemessenheit der angefochtenen Verfügung eingeräumt. In Lehre und Praxis wird zunehmend kritisiert, dass dem Bundesverwaltungsgericht zwar volle Kognition zukomme, es diese mangels Fachkenntnissen aber nicht ausübe beziehungsweise nicht ausüben könne oder sich aus anderen Gründen Zurückhaltung auferlege.25 Die Autoren regen an, die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts durch den Gesetzgeber zu klären. Soweit die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts im Ermessensbereich eingeschränkt werde, sei zu überlegen, ob vorgängig eine andere Instanz eine Ermessenskontrolle vornehmen sollte.26

3.2.3

Ausländer- und Asylrecht

Der Rechtsweg ans Bundesgericht ist im Bereich des Ausländer- und Asylrechts nur eingeschränkt möglich. Im Ausländerrecht kann die Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten in der Regel nur ergriffen werden, wenn das Bundesrecht oder völkerrechtliche Bestimmungen den Betroffenen einen Anspruch auf Erteilung einer bestimmten Bewilligung einräumen. In den übrigen Fällen könnte gegen kantonale Entscheide zwar Verfassungsbeschwerde eingelegt werden, doch fehlt für eine solche meist die Beschwerdelegitimation (rechtlich geschütztes Interesse nach Art. 115 Bst. b BGG). Sonderprobleme bestehen im Bereich der Einreise (fehlende Abstimmung Freizügigkeitsabkommen/EFTA-Übereinkommen und BGG), bei den Vollstreckungsmodalitäten im Anschluss an eine Wegweisungsverfügung (Bundesverwaltungsgericht verneint Verfügungscharakter und damit die Überprüfungsmöglichkeit der Vollstreckungsmodalitäten) sowie beim Kantonswechsel von vorläufig aufgenommenen Personen.27 Im Asylrechtsbereich ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts sowie gegen kantonale Ermessenentscheide grundsätzlich ausgeschlossen. Bei (stossenden) Entscheiden des Bundesverwaltungsgerichts wird deswegen gelegentlich zum Mittel der Aufsichtsbeschwerde gegriffen. Bei Härtefallbewilligungen, welche die Kantone bereits vor Abschluss des Asylverfahrens erteilen können, besteht die Besonderheit, dass zwar die Verweigerung der Zustimmung des Bundesamtes für Migration vor Bundesverwaltungsgericht angefochten werden kann, nicht jedoch der kantonale Entscheid (nach Art. 14 Abs. 4 AsylG hat die betroffene Person im kantonalen Verfahren keine Parteistellung).28 Unter Rechtsschutzaspekten zu beobachten sein werden ferner die am 28. September 2012 vom Parlament beschlossenen dringlichen Änderungen des Asylgesetzes, insbesondere das nach Artikel 112b AsylG mögliche «Asylverfahren im Rahmen von Testphasen».29 Die Autoren empfehlen, den Rechtsschutz im Ausländer- und vor allem im Asylbereich einer Gesamtprüfung zu unterziehen, namentlich mit Blick auf die Rolle des Bundesgerichts (Art. 83 Bst. c und d BGG).30 25 26 27 28 29 30

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 66 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 69.

Art. 85 Abs. 3 des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005 (SR 142.20); dazu Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 52 f.

Vgl. BGE 137 I 128 E. 4.3.2.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 53 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 69.

9097

3.2.4

Politische Rechte

Die Autoren empfehlen, den Rechtsschutz im Bereich der eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen zu klären, unter anderem mit Blick auf die jeweiligen Kompetenzen von Bundesgericht, Bundesrat und Kantonsregierungen. Namentlich der Rechtsweg an die Kantonsregierungen bei gesamtschweizerischen Abstimmungsunregelmässigkeiten ist nicht in jedem Fall tauglich.31 Auch das Bundesgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, die Rechtsschutzbestimmungen den verfassungsmässigen Anforderungen anzupassen.32

3.2.5

Innere und äussere Sicherheit

Beschwerden gegen Entscheide auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit des Landes sowie auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten sind sowohl vor dem Bundesverwaltungsgericht als auch vor dem Bundesgericht unzulässig, soweit das Völkerrecht nicht einen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung einräumt (Art. 32 Abs. 1 Bst. a VGG33, Art. 83 Bst. a BGG). Diese Rechtsschutzbegrenzung ist im Grundsatz unbestritten. Sie lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und mindestens teilweise der mangelnden Justiziabilität rechtfertigen. Denkbar sind jedoch Rechtsschutzlücken, wenn der Bundesrat seine Befugnisse gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV extensiv wahrnimmt. Das neue Bundesgesetz über die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen sorgt zwar dafür, dass notrechtliche Massnahmen nicht während einer unbestimmten Zeit Anwendung finden. Betroffene haben indes gegen notrechtliche Massnahmen nach wie vor keinen Rechtsschutz. Die Motion 11.3006 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates zum Rechtsschutz in ausserordentlichen Lagen, die gescheitert ist, wollte diese Lücke schliessen. Nach Auffassung der Autoren besteht hier nach wie vor Handlungsbedarf.34

3.2.6

Fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen

In den Rückmeldungen aus den Gerichten zählt Artikel 190 BV zu den am häufigsten genannten Rechtsschutzlücken. Angesichts des kürzlichen politischen Entscheids des Parlaments, die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht auf Bundesgesetze auszudehnen, schlagen die Autoren vor, ein «Bestätigungsmodell» zu prüfen: Stellt das Bundesgericht fest, dass ein Bundesgesetz der Verfassung widerspricht, so hätte das Parlament die Verfassungsmässigkeit innert einer bestimmten Frist zu bestätigen.

Mangels einer solchen Bestätigung würde die entsprechende Gesetzesbestimmung aufgehoben.35

31 32 33 34 35

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 60 ff.

BGE 136 II 132 E. 2.7.

Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005; SR 173.32 Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 48 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 62 ff.

9098

3.2.7

Bereiche ohne gesetzgeberischen Handlungsbedarf

Keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen die Autoren in folgenden Bereichen:

36 37 38 39 40 41 42 43

­

Rechtsschutz bei Zwischenentscheiden (Art. 93 BGG), insbesondere im strafprozessualen Bereich (z.B. Beschwerde wegen Verletzung von Verteidigungsrechten während des Verfahrens): Der Gesetzgeber wird erst dann zu reagieren haben, wenn die Praxis die sich in diesem Bereich stellenden Fragen nicht klärt oder nicht klären kann. Handlungsbedarf besteht hier namentlich für das Bundesgericht, das gefordert ist, ausreichenden Rechtsschutz und eine einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten.36

­

Rechtsschutz bei verfügungsfreiem Staatshandeln (Stichwort Realakte): Es darf davon ausgegangen werden, dass die Praxis auch in Zukunft allfällige Lücken schliessen wird.37

­

Streitwertgrenzen und Grundsatzfragen im Verfahren vor Bundesgericht: Die gesetzliche Regelung und die Praxis des Bundesgerichts erscheinen grosso modo akzeptiert; der Entlastungseffekt der Streitwertgrenzen ist allerdings bescheiden.38

­

Legitimation vor Bundesgericht: Trotz Diskussionen rund um die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Willkürverbots wird isolierter Handlungsbedarf für Gerichte und den Gesetzgeber eher verneint.39

­

Rüge- und Begründungspflichten/Verfahrensdauer/Verfahrenskosten: Es besteht kein Handlungsbedarf für Gerichte und Gesetzgeber.40

­

Einbürgerung: Der formale Rechtsmittelweg ist heute gewährleistet. Das frühere «Reservat staatlicher Willkür» ist stark ausgetrocknet. Es besteht kein Handlungsbedarf für Gerichte und Gesetzgeber.41

­

Prüfungswesen: Beschwerden gegen Entscheide über das Ergebnis von Prüfungen haben regelmässig nur geringe Erfolgsaussichten. Die Gerichte auferlegen sich grosse Zurückhaltung bei der Beurteilung des Ermessens der zuständigen Stellen. Dies liegt indes in der Natur der Sache.42

­

Begnadigungen: Es gibt keine Begründungspflicht; der gerichtliche Rechtsschutz ist stark eingeschränkt. Mit Blick auf die geringe praktische Bedeutung sehen die Autoren indes keinen Handlungsbedarf für Gerichte und Gesetzgeber.43

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 36 f., 68 f.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 34 f.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 37 f.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 44 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 46 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 56 ff.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 58 f.

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 60.

9099

­

Verfassungsbeschwerde: Die erst im Laufe der parlamentarischen Beratung des BGG durch eine «Arbeitsgruppe Bundesgerichtsgesetz» eingeführte Verfassungsbeschwerde hat befürchtete Rechtsschutzdefizite im Bereich der verfassungsmässigen Rechte gar nicht entstehen lassen. Solche Rechtsschutzdefizite waren durch das Zusammenspiel von Zugangsbeschränkungen und Einheitsbeschwerde, verbunden mit der Abschaffung der staatsrechtlichen Beschwerde, erwartet worden.44

4

Würdigung der Gesamtergebnisse

4.1

Reform der Bundesrechtspflege grossenteils gelungen

Sowohl die umfassende Wirksamkeitsstudie als auch die Studie über Rechtsschutzlücken kommen zum Schluss, dass die Reform der Bundesrechtspflege grossenteils gelungen ist. Dieser Befund basiert auf einer breiten empirischen Basis, auf verschiedenen methodischen Zugängen und auf den Überlegungen zweier Studiengruppen.

Nach dem Inkrafttreten der Reform der Bundesrechtspflege 2007 wurden die damit eingeführten umfangreichen Änderungen ohne grössere Schwierigkeiten umgesetzt.

Anfängliche Probleme, wie etwa Meinungsunterschiede bei der Aufsicht des Bundesgerichts über das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht oder die grosse Zahl von Pendenzen des Bundesverwaltungsgerichts wurden konstruktiv angegangen. Die erhofften Wirkungen der Reform traten deshalb rasch zutage. Der Vergleich zwischen den Erhebungen der Jahre 2009 und 2011 zeigt, dass sich die positiven Effekte der Reform in dieser Zeit verstärkt haben. Die Reform hat trotz inhärenter Zielkonflikte einen Beitrag zu einer besseren Erreichung aller drei Ziele geleistet. Insgesamt kann die Reform daher für sich in Anspruch nehmen, die ihr vom Gesetzgeber vorgegebenen Möglichkeiten umgesetzt und die beabsichtigten Effekte erzielt zu haben. Die Totalrevision der Bundesrechtspflege kann nach Ansicht des Bundesrates somit als Erfolg gewertet werden.

Zwei Probleme konnten allerdings mit der Reform nicht vollständig gelöst werden:

44

­

Erstens ist das Bundesgericht nach einer zeitweisen Reduktion der Eingänge seit 2008 wieder mit zunehmenden Eingängen konfrontiert; zudem erachtet sich das Bundesgericht teilweise als falsch belastet, da es einerseits mit unbedeutenden und andererseits nicht mit allen für die Rechtseinheit und Rechtsfortbildung grundlegenden Fällen befasst sei. Die Totalrevision der Bundesrechtspflege hat zwar eine Entlastung bewirkt, aber andere gesetzgeberische Entscheide haben in den letzten Jahren zu einer neuerlichen Belastung geführt.

­

Zweitens bestehen noch Rechtsschutzlücken in den in Ziffer 3.2 aufgeführten Bereichen (Ausschlusskatalog, Kognition des Bundesverwaltungsgerichts, Ausländer- und Asylrecht, politische Rechte, innere und äussere Sicherheit, fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen).

Schlussbericht Rechtsschutzlücken, S. 64.

9100

4.2

Weitere Verbesserungen möglich

Angesichts der durch die Reform der Bundesrechtspflege erzielten Verbesserungen wäre es sicher verfehlt, die wichtigen Pfeiler der neuen Bundesrechtspflege (vgl. die in Ziff. 1.1 aufgeführten Massnahmen) in Frage zu stellen oder daran grössere Änderungen anzubringen.

Auch gilt es zu beachten, dass die Entlastung des Bundesgerichts und der Ausbau des Rechtsschutzes zueinander in Konkurrenz stehen und somit in der Regel Verbesserungen beim einen Ziel mit einer Verschlechterung beim andern Ziel verbunden sind.

Für die Optimierung der Bundesrechtspflege haben die Autoren der beiden Berichte zahlreiche Empfehlungen formuliert. Sie bilden eine wertvolle Diskussionsgrundlage. Gestützt auf die Diskussionen in der Begleitgruppe für die Evaluation (Ziff. 1.3.1) und aufgrund weiterer Abklärungen werden die nachfolgenden Verbesserungen in Aussicht genommen. Sie betreffen eigenständige Massnahmen bei den drei Gerichten des Bundes, mögliche Verbesserungen bei der Aufsicht der Bundesversammlung sowie Verbesserungen, welche eine Änderung der Rechtsgrundlagen erfordern.

4.3

Verbesserungen bei den Gerichten

Die Gerichte sehen ein Potenzial bei der Koordination ihres Auftretens auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Ziff. 2.4.2). So könnten beispielsweise mit einem gemeinsamen Auftritt an Hochschul-Berufsmessen und allgemein beim Personalmarketing Synergien genutzt werden. Hingegen kann es nicht um eine Zentralisierung der Personalrekrutierung gehen, da die Selbstverwaltung der Gerichte nicht tangiert werden soll.

Die Gerichte tragen auf der Basis des geltenden Rechts den nachfolgend aufgeführten Anregungen45 bereits Rechnung und werden dies auch weiterhin tun: ­

Anfechtung von Vor-, Zwischen- und Rückweisungsentscheiden (transparente Praxis);

­

klare Abgrenzung von Sachverhalts- und Rechtsfragen;

­

deutliche Auseinandersetzung mit den Parteivorbringen.

Einer vermehrten Durchführung öffentlicher Beratungen am Bundesgericht steht das Gesetz nicht im Weg. Grenzen ergeben sich hingegen aus der damit verbundenen zusätzlichen zeitlichen Belastung der Richterinnen und Richter.

4.4

Mögliche Verbesserungen bei der Bundesversammlung

Es ist Sache der Bundesversammlung, die aus den Gesamtergebnissen der Evaluation relevanten Schlüsse betreffend die Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte zu ziehen.

45

Vgl. Ziff. 2.4.3 und 3.2.7.

9101

4.5

Verbesserungen durch Änderung der Rechtsgrundlagen

4.5.1

Verbesserung des Ausnahmekatalogs von Artikel 83 des Bundesgerichtsgesetzes

Artikel 83 BGG enthält ­ zusammen mit einigen weiteren Bestimmungen des BGG (Art. 73, 79, 84, 84a) ­ den Katalog von Sachgebieten, in denen die (ordentliche) Beschwerde an das Bundesgericht nicht zulässig ist. Gegen kantonale Entscheide bleibt jedoch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde vorbehalten (Art. 113 BGG).

Der Ausschluss von Sachgebieten ist in Artikel 191 Absatz 3 BV als eine der möglichen Beschränkungen des Zugangs zum Bundesgericht vorgesehen.

Im früheren Recht46 existierte ein ähnlicher Ausnahmekatalog. Bei der Schaffung des BGG bestand die Absicht, den Ausnahmekatalog zu kürzen: Einerseits sollte er die Beschwerde nur noch in Sachbereichen ausschliessen, die für die Belastung des Bundesgerichts wirklich ins Gewicht fielen. Und andrerseits sollte es für alle Ausnahmen hinreichende sachliche Gründe geben. Zu denken ist dabei etwa an den fehlenden Mehrwert einer doppelten gerichtlichen Überprüfung bei faktisch beschränkter Kognition (z.B. Prüfungsentscheide, Ermessenssubventionen) oder an die Verkürzung des Instanzenzugs aus Beschleunigungsgründen (insb. bei Entscheiden, die eher vorsorglichen Massnahmen gleichen). So wie der Ausnahmekatalog des BGG schliesslich vom Gesetzgeber verabschiedet wurde, konnte er dieser Zielsetzung nur zum Teil genügen. Seither sind noch weitere Ausnahmen eingeführt worden, die auch nicht zu einem abgerundeten System beigetragen haben.

Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte erstaunt es nicht, dass die Evaluation den Ausnahmekatalog als Regelung identifiziert hat, die in ihrer heutigen Form nicht befriedigt. Der Bundesrat wird daher den Ausnahmekatalog überprüfen und dem Parlament im Rahmen einer Gesetzesvorlage zur Umsetzung verschiedener Evaluationspostulate eine überarbeitete Fassung unterbreiten. Als Stossrichtungen für die Anpassung des Ausnahmekatalogs sieht der Bundesrat insbesondere: Erstens sollen nur Ausnahmen beibehalten oder allenfalls neu geschaffen werden, bei denen überzeugend begründet werden kann, warum für die betreffenden Entscheide die Möglichkeit einer einmaligen gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich genügt oder genügen muss.

Zweitens soll der Ausnahmekatalog ­ wie heute schon die Streitwertgrenzen ­ mit dem Vorbehalt versehen werden, dass die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig ist, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher
Bedeutung stellt (vgl. Art. 74 Abs. 2 Bst. a, 85 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wird in seiner Rolle, als oberste rechtsprechende Behörde des Bundes (Art. 188 Abs. 1 BV) die Rechtseinheit zu wahren, gestärkt, wenn es in allen Sachbereichen (ausser im Zuständigkeitsbereich der Militärjustiz) Entscheide über Rechtsfragen grundsätzlicher Natur erlassen kann.

Artikel 191 BV sieht den garantierten Zugang zum Bundesgericht zwar nur in Bezug auf Streitwertgrenzen (Abs. 2), nicht aber in Bezug auf ausgeschlossene Sachgebiete (Abs. 3) vor. Durch eine solche Relativierung des Ausnahmekatalogs wird der verfassungsrechtlich grundsätzlich gewährleistete Zugang zum Bundesgericht 46

Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; BS 3 531) in der Fassung des Titels über die Verwaltungsrechtspflege von 1968 (AS 1969 767).

9102

(Abs. 1) aber nicht zusätzlich eingeschränkt. Der Gesetzgeber hat in Artikel 83 Buchstabe f BGG für das Gebiet der öffentlichen Beschaffungen bereits eine derartige Regelung vorgesehen. Aus Sicht der geltenden Bundesverfassung ist wichtig, dass die Beschränkung der Beschwerde an das Bundesgericht auf Fälle mit grundsätzlichen Rechtsfragen an den Ausnahmekatalog gebunden bleibt. Losgelöst von Streitwertgrenzen und Ausnahmekatalog lässt Artikel 191 BV nicht zu, den Zugang zum Bundesgericht (generell) vom Vorliegen einer Grundsatzfrage abhängig zu machen.47 Drittens soll die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zwar auch auf dem Gebiet der Asylentscheide (vgl.

heute Art. 83 Bst. d BGG) gelten, aber dort zusätzlich an die Bedingung geknüpft werden, dass die Vorinstanz in ihrem Entscheid ausdrücklich erklärt hat, eine solche Grundsatzfrage zu beurteilen. Wegen der grossen Fallzahlen im Asylrecht und der Versuchung, Rechtsmittel unabhängig von den Erfolgschancen zur Verlängerung der Anwesenheit in der Schweiz einzulegen (eine Wegweisung vor dem rechtskräftigen Entscheid kommt in der Regel nicht in Frage), dürfte es notwendig sein, die Zulassung durch die Vorinstanz zur notwendigen (aber nicht hinreichenden) Voraussetzung für eine Beschwerde an das Bundesgericht zu machen. Eine zu restriktive Zulassungspraxis der Vorinstanzen könnte von den Aufsichtsbehörden thematisiert werden. Individuellen Rechtsschutz gäbe es diesbezüglich aber nicht, d. h. Entscheide der Vorinstanz ohne Zulassungserklärung wären in jedem Fall endgültig.

4.5.2

Anpassung der Bestimmungen über die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts

Im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten die Beschwerdegründe von Artikel 49 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG; SR 172.021; vgl. Art. 37 VGG). Das bedeutet, dass auch die Rüge der Unangemessenheit zulässig ist, sofern sich die Beschwerde nicht gegen einen kantonalen Beschwerdeentscheid richtet. Verschiedene Spezialgesetze schliessen für ihren Bereich aber aus, dass vor Bundesverwaltungsgericht die Unangemessenheit einer Verfügung gerügt werden kann.48 Dass dem Bundesverwaltungsgericht heute grundsätzlich eine volle Ermessenskontrolle zusteht, ist historisch zu erklären. Mit der Teilrevision der Bundesrechtspflege von 1991 wurden verschiedene Rekurskommissionen geschaffen, denen hauptsächlich Zuständigkeiten zugewiesen wurden, die vorher von Beschwerdediensten auf 47 48

Christina Kiss/Heinrich Koller, in: Bernhard Ehrenzeller et al. [Hrsg.], Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2008, Art. 191 N. 35 f.

Vgl. Art. 31 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1994 über das öffentliche Beschaffungswesen (SR 172.056.1); Art. 11 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 1. Oktober 2010 über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen (SR 196.1); Art. 37 Abs. 4 des ETH-Gesetzes vom 4. Oktober 1991 (SR 414.110); Art. 26 Abs. 2 des Kulturförderungsgesetzes vom 11. Dezember 2009 (SR 442.1); Art. 32 Abs. 3 des Filmgesetzes vom 14. Dezember 2001 (SR 443.1); Art. 53 Abs. 2 Bst. e des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (SR 832.1); Art. 8 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 21. März 1980 über Entschädigungsansprüche gegenüber dem Ausland (SR 981); im gleichen Sinn zu verstehen Art. 13 Abs. 2 des Forschungs- und Innovationsförderungsgesetzes vom 7. Oktober 1983 (SR 420.1) und Art. 51 Abs. 6 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (SR 742.101).

9103

Departementsstufe ausgeübt worden waren. Gleichzeitig wurde in 71a Absatz 2 VwVG (AS 1992 288) bestimmt, dass sich das Verfahren vor den Rekurs- und Schiedskommissionen nach diesem Gesetz richte. Bei der Schaffung des VGG wurde für das Bundesverwaltungsgericht die volle Kognition der damaligen Rekurskommissionen übernommen. In der Botschaft hiess es dazu, man wolle eine Verkürzung des Rechtsschutzes vermeiden.49 Nicht zu Unrecht wird immer wieder geltend gemacht, das Gesetz verspreche mit der Angemessenheitskontrolle etwas, was das Bundesverwaltungsgericht nicht in vollem Umfang leisten könne. Ausserdem zeichnet sich das klassische Ermessen im allgemeinen Verwaltungsrecht gerade dadurch aus, dass es der Verwaltung einen Spielraum öffnet, in den sich die Justiz nicht einmischen soll, solange keine Rechtsvorschriften verletzt werden. Schon vor der Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts zeigte sich übrigens im Lauf der Zeit, dass selbst in der verwaltungsinternen Rechtspflege durch Bundesbehörden Korrekturen von erstinstanzlichen Entscheiden aus reinen Ermessensüberlegungen nur noch äusserst selten vorkamen. Das seinerzeitige Argument betreffend die Vermeidung einer Verkürzung des Rechtsschutzes ist daher eher auf einer symbolischen Ebene anzusiedeln. Dies umso mehr, als gerade in Spezialgesetzen mit ausgeprägten Ermessensentscheiden (z.B. Kultur-, Film- und Forschungsförderung) die Angemessenheitskontrolle ausgeschlossen wurde.

Der Bundesrat möchte die gesetzlichen Bestimmungen über die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend ändern, dass die Rechts- und Sachverhaltskontrolle (ohne Angemessenheitskontrolle) zur Regel wird. Für ausgewählte Bereiche, namentlich solche, in denen mit dem Begriff «Ermessen» nicht Verwaltungsermessen, sondern ­ wie im Zivilrecht ­ richterliches Ermessen gemeint ist, soll die volle Ermessensüberprüfung aber beibehalten werden. Zum Beispiel konnte zur Zeit, als die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bund noch ausschliesslich vom Bundesgericht ausgeübt wurde, vor Gericht die Unangemessenheit von erstinstanzlichen Verfügungen über die Festsetzung von Abgaben oder öffentlich-rechtlichen Entschädigungen gerügt werden.50 Eine Wiedereinführung der verwaltungsinternen Rechtspflege kommt für den Bundesrat höchstens punktuell in Frage, weil damit der Rechtsmittelweg verlängert
wird. Im Allgemeinen kann die Beschränkung des Instanzenzugs auf maximal drei Instanzen mehr zu einem wirksamen Rechtsschutz beitragen als die ­ eher theoretische ­ Möglichkeit der Angemessenheitsprüfung durch eine verwaltungsinterne Beschwerdeinstanz.

4.5.3

Abschaffung der erweiterten Kognition des Bundesgerichts im Bereich der Militär- und Unfallversicherung

Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung (Art. 97 Abs. 2 BGG), ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 3 BGG) und kann Rügen betreffend unrichtige oder unvollständige Sachverhaltsfeststellungen uneingeschränkt prüfen. Diese Bestim49 50

BBl 2001 4202, hier 4256.

Art. 104 Bst. c Ziff. 1 OG (BS 3 531).

9104

mungen sind ein Überbleibsel von Artikel 132 des früheren Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege: Dieser Artikel sah bei der Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen eine freie Sachverhaltskontrolle durch das Eidgenössische Versicherungsgericht vor. Der Bundesrat hatte bereits im Rahmen seiner Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege (BBl 2001 4202) vorgeschlagen, dass sich die Kognition des Bundesgerichts auch im Bereich der Sozialversicherungen auf die Rechtskontrolle beschränken solle (BBl 2001 4238). Die Bundesversammlung entschied indessen, bei Beschwerden im Zusammenhang mit Geldleistungen der Invalidenversicherung, der Unfallversicherung und der Militärversicherung die volle Sachverhaltskontrolle beizubehalten. In der Folge wurde im Rahmen der am 16. Dezember 2005 angenommenen Revision des Invalidenversicherungsgesetzes die Kognition des Bundesgerichts auch bei Geldleistungen der Invalidenversicherung auf die Rechtskontrolle beschränkt.

Zudem hat der Bundesrat in seiner Botschaft vom 30. Mai 2008 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (BBl 2008 5395) die Meinung vertreten, eine weitergehende Kognition des Bundesgerichts bei Leistungen der Unfallund der Militärversicherung sei nicht mehr angemessen. Er hat deswegen der Bundesversammlung die Streichung von Artikeln 97 Absatz 2 und 105 Absatz 3 BGG beantragt. Der Bundesrat ist weiterhin der Meinung, die Kognition des Bundesgerichts sei im ganzen Sozialversicherungsbereich zu harmonisieren, auch wenn die Bundesversammlung den Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung an ihn zurückgewiesen hat mit dem Auftrag, den Umfang der Revision noch einmal zu überdenken und eventuell auf das absolut Notwendige zu beschränken. Er wird deshalb seinen Vorschlag erneut unterbreiten, bei Geldleistungen der Unfall- und Militärversicherung die Kognition des Bundesgerichts einzuschränken.

4.5.4

Besserer Rechtsschutz gegenüber Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung

Nach Artikel 189 Absatz 4 BV können Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates nicht beim Bundesgericht (und somit erst recht nicht bei einer anderen richterlichen Behörde) angefochten werden. Von der Befugnis, Ausnahmen zu bestimmen (Art. 189 Abs. 4 Satz 2 BV), hat der Gesetzgeber nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Eine direkte Beschwerde an das Bundesgericht gegen solche Akte gibt es nicht. In den Fällen nach Artikel 33 Buchstaben a und b VGG können Verfügungen des Bundesrates oder der Organe der Bundesversammlung beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden. Es geht dabei vor allem um Verfügungen über Arbeitsverhältnisse von Bundesangestellten und über die Abberufung von Mitgliedern der Leitungsgremien von Verwaltungseinheiten der dezentralen Bundesverwaltung. Soweit es das BGG zulässt, können entsprechende Beschwerdeentscheide des Bundesverwaltungsgerichts an das Bundesgericht weitergezogen werden.

Mit ihrer Motion vom 3. Februar 2011 (11.3006 «Rechtsschutz in ausserordentlichen Lagen») bemängelte die Staatspolitische Kommission des Nationalrates, es bestehe kein ausreichender Rechtsschutz gegenüber Verfügungen und Verordnungen des Bundesrates und der Bundesversammlung, die sich unmittelbar auf die Bundesverfassung stützen. Der Bundesrat teilte diese Auffassung nicht und konnte sich im Ständerat mit seinem Antrag auf Ablehnung der Motion durchsetzen.

9105

Allerdings muss ­ nicht zuletzt gestützt auf die parlamentarische Debatte über die erwähnte Motion ­ eingeräumt werden, dass das Zusammenspiel der verschiedenen Vorschriften, die beim Rechtsschutz gegen Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung zu berücksichtigen sind, relativ kompliziert ist. Namentlich der in Artikel 47 Absatz 6 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010) geregelte sogenannte Delegationsautomatismus wird oft nicht richtig verstanden. Danach gehen Geschäfte des Bundesrates von Rechts wegen auf das in der Sache zuständige Departement über, soweit Verfügungen zu treffen sind, die von ihrem Gegenstand her (sachliche Zuständigkeit, Art. 31 und 32 VGG) der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unterliegen, für die der Bundesrat aber nach Artikel 33 VGG nicht selbst Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts sein kann.

Diese eher unübersichtliche Regelung betrifft grundsätzlich alle Verfügungen des Bundesrates, nicht nur die in der Motion angesprochenen, die sich unmittelbar auf die Verfassung stützen. Hinsichtlich allfälliger Verfügungen der Bundesversammlung kann der vom Völkerrecht unter Umständen gebotene Rechtsschutz sogar nur mit dem Auslegungsmittel der Lückenfüllung hergestellt werden. Bei Verordnungen besteht dagegen kein ernsthaftes Problem: Wer durch die getroffene Regelung von Rechten und Pflichten besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse hat, kann den Erlass einer anfechtbaren Verfügung verlangen.

Der Bundesrat kann sich grundsätzlich vorstellen, den Rechtsschutz gegenüber Verfügungen (im Unterschied zu anderen Akten nach Art. 189 Abs. 4 BV) des Bundesrates und der Bundesversammlung im Gesetz wie folgt zu verbessern beziehungsweise einfacher zu regeln: ­

Der Bundesrat, die Bundesversammlung und ihre Organe sollen in Artikel 33 VGG generell als mögliche Vorinstanzen des Bundesverwaltungsgerichts aufgezählt werden.

­

An der beschränkten sachlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit und der auswärtigen Angelegenheiten (Art. 32 Abs. 1 Bst. a VGG; Art. 83 Bst. a BGG) soll dabei nichts geändert werden.

­

Der Delegationsautomatismus von Artikel 47 Absatz 6 RVOG ist aufzuheben. Die Ausnahmen, die in Artikel 32 Absatz 1 Buchstaben d­f und h VGG zur Abweichung vom Delegationsautomatismus erlassen worden sind, müssen daraufhin geprüft werden, ob sie weiterhin sachgerecht sind.

Die beschriebene Neuregelung würde bewirken, dass gegen Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung beim Bundesverwaltungsgericht und anschliessend beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden könnte, soweit die Ausnahmekataloge nach Artikel 32 VGG und Artikel 83 BGG die sachliche Zuständigkeit dieser Gerichte nicht einschränken. Auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit und der auswärtigen Angelegenheiten wäre die Beschwerde an die Gerichte nur zulässig, soweit das Völkerrecht einen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung einräumt. Beim Fehlen eines solchen völkerrechtlichen Anspruchs könnte der Bundesrat weiterhin als (letztinstanzliche) Beschwerdeinstanz tätig sein (Art. 72 Bst. a VwVG). Mit der Rechtsweggarantie von Artikel 29a BV ist eine derartige gesetzliche Ausnahme vereinbar.

9106

4.5.5

Besserer Rechtsschutz im Bereich der politischen Rechte

Im Bereich der politischen Rechte war das Bundesgericht schon lange letzte Beschwerdeinstanz, wenn es um kantonale Angelegenheiten ging.51 In eidgenössischen Angelegenheiten reichte seine Zuständigkeit aber weniger weit. Für Beschwerden wegen Unregelmässigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen war bis zum Inkrafttreten des BGG der Bundesrat beziehungsweise der Nationalrat letzte Instanz.52 Mit der Verfassungsänderung über die Justizreform aus dem Jahre 2000 wurde Artikel 189 Absatz 1 Buchstabe f BV so formuliert, dass das Bundesgericht für die Beurteilung von Streitigkeiten wegen Verletzung von eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die politischen Rechte in gleicher Weise zuständig ist.53 Diese Angleichung des bundesgerichtlichen Rechtsschutzes in allen Stimmrechtssachen wurde im BGG nicht mit letzter Konsequenz verwirklicht. Zwar ist das Bundesgericht zur Beurteilung aller Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und betreffend Volkswahlen und -abstimmungen sachlich zuständig (Art. 82 Bst. c BGG). Artikel 88 BGG über die Vorinstanzen in Stimmrechtssachen kann aber so verstanden werden, dass in eidgenössischen Angelegenheiten nicht alle denkbaren Stimmrechtsverletzungen vor das Bundesgericht getragen werden können. In kantonalen Angelegenheiten gewährleistet dieser Artikel, dass über alle Akte, die die politischen Rechte verletzen können, im Streitfall ein anfechtbarer Rechtsmittelentscheid getroffen werden muss; Akte des Parlaments und der Regierung sind direkt beim Bundesgericht anfechtbar. In eidgenössischen Angelegenheiten kann das Bundesgericht dagegen nur angerufen werden, wenn eine Verfügung der Bundeskanzlei oder ein Entscheid der Kantonsregierung vorliegt oder zu Unrecht verweigert wird.

Weder das BGG noch das Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (SR 161.1) oder das VwVG stellen sicher, dass über jede von einer beschwerdeberechtigten Person behauptete Stimmrechtsverletzung in eidgenössischen Angelegenheiten ein anfechtbarer Entscheid getroffen werden muss. Eine Lücke besteht namentlich bei Handlungen, die vom Bundesrat oder von der Bundesversammlung ausgehen, beispielsweise bei den Abstimmungserläuterungen. Hier wäre eine Überprüfung durch das Bundesgericht nach
dem Wortlaut von Artikel 189 Absatz 4 BV sogar ausgeschlossen, wenn das Gesetz nicht eine Ausnahme statuiert.

Der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, der Rechtsweggarantie von Artikel 29a BV Rechnung zu tragen. Sind Streitigkeiten über bestimmte Akte grundsätzlich justiziabel (also nicht vorwiegend nach politischen Überlegungen zu beurteilen), so dürfen sie im Gesetz nicht dem Bundesrat oder der Bundesversammlung zum Entscheid zugewiesen werden, ohne dass gleichzeitig eine Ausnahme nach Artikel 189 Absatz 4 Satz 2 BV vorgesehen wird.54

51 52 53 54

Art. 85 Bst. a OG (BS 3 531).

Vgl. die heute aufgehobenen Art. 81 und 82 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (AS 1978 688).

Vgl. dazu die Ausführungen in der Botschaft vom 20. November 1996 (BBl 1997 I 1, hier 530 f).

Vgl. zu dieser Problematik BGE 138 I 61 E. 3.2, 4.3, 4.4 und 4.8.

9107

Der Bundesrat wird die nötigen Gesetzesänderungen vorschlagen, um die Vorgabe von Artikel 189 Absatz 1 Buchstabe f BV, wonach das Bundesgericht Streitigkeiten wegen Verletzung von Bestimmungen über die politischen Rechte beurteilt, auch mit Bezug auf eidgenössische Wahlen und Abstimmungen vollständig umzusetzen.

Denkbar wäre zum Beispiel eine Norm, die ­ ähnlich wie Artikel 25a VwVG ­ die zuständige Behörde bei Streitigkeiten zum Erlass einer anfechtbaren Verfügung verpflichtet. Gegen Akte des Bundesrates und der Bundesversammlung könnte in Stimmrechtssachen die direkte Beschwerde an das Bundesgericht vorgesehen werden (analog zur Regelung nach Art. 88 Abs. 1 Bst. a in Verbindung mit Abs. 2 zweiter Satz BGG für die Kantone).

4.6

Verzicht auf Umsetzung verschiedener weiterer Anregungen

Mit den in den vorangehenden Abschnitten aufgeführten Verbesserungen ist nach Ansicht des Bundesrates das Optimierungspotenzial der Reform der Bundesrechtspflege ausgeschöpft. Verschiedene weitere Anregungen (v. a. aus dem Bericht der Autoren der umfassenden Wirksamkeitsstudie) sollen demgegenüber nicht weiterverfolgt werden. Die Gründe dafür werden in den folgenden Unterkapiteln dargelegt.

4.6.1

Idee hat sich in der Praxis nicht bewährt

Mehrere der Anregungen sind in der Gerichtspraxis bereits früher angewendet worden; aufgrund der negativen Erfahrungen ist man davon aber wieder abgekommen.

Deshalb wird in Bezug auf die folgenden Anregungen ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf verneint: ­

summarische Prüfung der Beschwerden auf ihre Erfolgsaussichten (wurde in den 1990er Jahren beim Bundesgericht praktiziert; hat sich nicht bewährt);

­

vermehrte Durchführung öffentlicher Beratungen beim Bundesgericht (allenfalls könnte geprüft werden, ob eine gesetzliche Grundlage für interne Beratungen geschaffen werden sollte, z.B. analog zu Art. 41 Abs. 2 VGG).

4.6.2

Idee wurde bereits auf andere Weise umgesetzt

Der Kerngehalt der Anregung ist in der geltenden Bundesrechtspflege mit ähnlichen Massnahmen bereits weitgehend umgesetzt. Es ergäbe sich kein Zugewinn.

Davon betroffen sind namentlich folgende Anregungen: ­

9108

Unzulässigkeitserklärung (weitgehend erreicht durch Art. 108 und 109 BGG; eine Unzulässigkeitserklärung im Sinne eines Annahmeverfahrens wird durch Art. 191 BV ausgeschlossen);

­

weitere Ausschöpfung des Entlastungspotenzials von Art. 108 f. BGG (Entlastungspotenzial wird bereits ausgeschöpft);

­

zusätzliche Kompetenzen für die Verwaltungskommissionen (Verwaltungskommissionen sind bereits für alle Verwaltungsgeschäfte zuständig, die nicht von Gesetzes wegen in die Zuständigkeit des Gesamtgerichts oder der Präsidentenkonferenz fallen).

4.6.3

Nachteile überwiegen die allfälligen Vorteile

Die Anregung würde bei einem der Ziele (z.B. Rechtsschutz) zu einer Verbesserung führen, damit verbunden wären aber Nachteile in anderen Bereichen: Davon betroffen sind namentlich folgende Anregungen: ­

Anwaltszwang bzw. akkreditierte Anwälte und Anwältinnen (Erschwerung des Zugangs zum Bundesgericht, Frage der Akkreditierungsbehörde);

­

Prüfung eines doppelten Instanzenzugs auf Stufe der Kantone im Sozialversicherungsrecht (Verlängerung des Rechtsmittelwegs, Abweichung von den Anforderungen im übrigen Verwaltungsrecht).

4.6.4

Anderer Weg eingeschlagen

Die Errichtung eines eigenständigen Bundesberufungsgerichts in Strafsachen oder die Angliederung eines solchen Gerichts an das Bundesstrafgericht oder das Bundesverwaltungsgericht lässt sich angesichts der zu erwartenden Fallzahlen zurzeit kaum rechtfertigen. Der Nationalrat hat im Herbst 2012 eine entsprechende Motion seiner Rechtskommission abgelehnt.55 Die überwiesene Motion Janiak vom 17. März 2010 (10.3138 «Erweiterung der Kognition des Bundesgerichtes bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes») beauftragt den Bundesrat, die bundesgerichtliche Sachverhaltskontrolle bei Beschwerden gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts zu erweitern. Der Bundesrat hat am 4. September 2013 die entsprechende Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundesgericht verabschiedet (BBl 2013 7109).

4.6.5

Kein Handlungsbedarf

Unter den Autorinnen und Autoren der beiden Studien und bei der Begleitgruppe besteht kein Konsens über den Handlungsbedarf beziehungsweise der Handlungsbedarf wird verneint. Bei mehreren Anregungen wird darauf verwiesen, dass die Gerichte für das mit der Anregung zu behebende Problem bereits eine taugliche Praxis entwickelt haben.

55

Motion Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates 12.3341 «Zweite Berufungsinstanz in Bundesstrafsachen».

9109

Davon betroffen sind namentlich folgende Anregungen: ­

Ausdehnung der Legitimation des Gemeinwesens zur Beschwerdeführung56;

­

Definition des Kriterium des besonderen Berührtseins;

­

Vereinfachung der administrativen Aufsicht des Bundesgerichts über die erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte.

4.6.6

Verwirklichung ergäbe eine Disharmonie zu den eidgenössischen Prozessordnungen

Davon betroffen ist namentlich die Anregung zum Verzicht auf die Geschädigtenbeschwerde (in Strafsachen).

Die geschädigte Person ist nach dem BGG nicht ohne Weiteres berechtigt, gegen einen Entscheid in Strafsachen beim Bundesgericht Beschwerde zu führen. Das Beschwerderecht steht ihr grundsätzlich nur dann zu, wenn sie sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin beteiligt hat, d. h. sich als Privatklägerschaft konstituiert hat,57 und wenn sich zudem der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 5 BGG). Diese Regelung des Beschwerderechts der Privatklägerschaft wurde mit dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung und des Strafbehördenorganisationsgesetzes vom 19. März 2010 (SR 173.71) ins BGG aufgenommen. Da die Strafprozessordnung den Begriff der Privatklägerschaft relativ weit fasst, war es notwendig, im BGG darauf Rücksicht zu nehmen.58 Sonst bliebe es Privatklägern und -klägerinnen mit Zivilansprüchen, aber ohne Opfereigenschaft nach dem OHG ­ also beispielsweise Geschädigten aus Betrug ­ verwehrt, die Frage, ob eine strafbare Handlung vorliegt, bis vor Bundesgericht zu bringen.

4.6.7

Verwirklichung wäre gegenwärtig politisch kaum mehrheitsfähig

Eine zusätzliche Anhebung der Streitwertgrenzen und die Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze wurden bei der Schaffung des BGG beziehungsweise gestützt auf zwei parlamentarische Initiativen intensiv diskutiert und schliesslich von den eidgenössischen Räten verworfen. Dem Bundesrat erscheint es gegenwärtig politisch nicht angezeigt, dazu neue Vorlagen auszuarbeiten.

56 57 58

Vgl. die Darstellung der heutigen Praxis in BGE 138 II 506 E. 2.1­2.3.

Art. 118­121 StPO.

Zur Entstehungsgeschichte des geltenden Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 5 BGG vgl. BGE 138 IV 258 E. 4.2.

9110

4.6.8

Fokussierung weiterer Abklärungen auf konkrete Gesetzesänderungen

Auf die von der umfassenden Wirkungsstudie angeregten weiteren Abklärungen (vgl. Ziff. 2.4.6) wird verzichtet. Mit der umfassenden Wirksamkeitsstudie und der Studie Rechtsschutzlücken bestehen vorläufig ausreichende Beurteilungsgrundlagen.

Allfällige weitere Abklärungen betreffen vor allem die vorzunehmenden Gesetzesänderungen nach Ziffer 4.5. Der Bundesrat begrüsst es aber, wenn sich die Forschung des Themas «Justiz» in Zukunft verstärkt annimmt. Einen Ansatzpunkt dazu bietet das Projekt «Grundlagen guten Justizmanagements in der Schweiz».59

4.7

Abstimmung zwischen dem BGG und den eidgenössischen Prozessordnungen

In der Begleitgruppe wurde die Frage aufgeworfen, ob die neuen eidgenössischen Prozessordnungen (ZPO und StPO) genügend auf das BGG abgestimmt sind. Zwar konnten die Auswirkungen der Prozessordnungen auf die Bundesrechtspflege aus zeitlichen Gründen (Inkrafttreten der Prozessordnungen am 1.1.2011) nicht in die Untersuchungen der Projektteams einbezogen werden. Betrachtet man aber die Erlasstexte und die einschlägigen Urteile des Bundesgerichts, so scheint ein Konfliktpotential vor allem bei den Anforderungen an den Instanzenzug zu bestehen.

Das BGG verlangte in seiner ursprünglichen Fassung vom 17. Juni 200560 in Zivilund Strafsachen von den Kantonen grundsätzlich zwei Vorinstanzen und als unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts ein oberes Gericht. Mit der Schaffung der ZPO wurden die in anderen Bundesgesetzen bereits vorgesehenen Ausnahmen nicht eingeschränkt, sondern übernommen und sogar ausgedehnt (vgl. Art. 5­8 ZPO und Art. 77 Abs. 1 Bst. b BGG). Auch die StPO setzte den Grundsatz der doppelten kantonalen Instanz nicht lückenlos um (vgl. Art. 380 in Verbindung mit Art. 40 Abs. 1, 48 Abs. 1, 59 Abs. 1, 150 Abs. 2, 186 Abs. 2 und 3, 248 Abs. 3 und 440 Abs. 3 StPO; Art. 80 Abs. 2 BGG). In einigen Fällen lässt die StPO sogar nichtrichterliche Behörden als unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts zu.61 Im Interesse einer nachhaltigen Entlastung des Bundegerichts sollten möglichst keine solchen Ausnahmen vom Grundsatz der doppelten kantonalen Vorinstanz mehr geschaffen und die bisherigen Ausnahmen überprüft werden.

5

Ausblick und weiteres Vorgehen

Der Bundesrat wird zu den in Ziffer 4.5 dargestellten Verbesserungen der gesetzlichen Grundlagen eine Vorlage ausarbeiten.

59

60 61

Vgl. www.justizforschung.ch. Für den verwaltungsgerichtlichen Bereich vgl. auch die Studie von Thierry Tanquerel/Frédéric Varone/Arun Bolkensteyn/Karin Byland, Le contentieux administratif judiciaire en Suisse: une analyse empirique, Genf/Zürich/Basel 2011.

AS 2006 1205 Art. 40 Abs. 1 und 59 Abs. 1 Bst. a StPO; vgl. BGE 138 IV 214 E. 1.1­1.3.3.

9111

Er wird dabei die Ergebnisse einer vom Bundesgericht eingesetzten internen Arbeitsgruppe berücksichtigen. Diese Arbeitsgruppe hatte den Auftrag, parallel zu den Arbeiten der Begleitgruppe Massnahmen zu erarbeiten, die der Verbesserung der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundesgerichts als oberster rechtsprechender Behörde des Bundes dienen.

9112