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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs des Giacomo Lepori von Sonvico (Tessin), in.

Mailand, betreffend Stimmrecht.

(Vom 3l. August 1897.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über den Rekurs des G i a c o m o Lepori von Sonvico (Tessin).

in Mailand, betreffend Stimmrecht, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Giacomo Lepori von Sonvico (Tessin) verlegte gegen Ende des Jahres 1895 seinen Wohnsitz von Castagnola nach Mailand.

Auf sein Begehren wurde er von den Gemeindebehörden aus dem Register der Stimmberechtigten und aus dem Herdregister (catalogo elettorale, registro dei fuochi) seiner letzten Wohnsitzgemeinde

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Castagnola und auch aus dem Herdregister seiner Heimatgemeinde Sonvico gestrichen. Trotzdem hielt ihn die tessinischc Steuerbehörde zur Bezahlung der Steuer an, wie wenn er noch in dem Tessiner Stimmrechtsregister eingetragen wäre ; der Staatsrat des Kantons Tessin bestätigte den 29. August 1896 die Auffassung der Steuerbehörde, in Erwägung, daß kein im Ausland wohnhafter Tessinerbürger aus dem Herd- und Stimmregister gestrichen werden könne, er verzichte denn zuvor auf seine Tessiner Staatsangehörigkeit.

II.

Mit der Behauptung, in der Entscheidung der Tessinor Regierung liege eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsgleichheit, wandte sich Lepori an das Bundesgericht; dieses wies den 1. April 1897 seine Beschwerde als unbegründet ab, in den Motiven der Entscheidung folgenden Satz aussprechend : Wenn der Beschwerdeführer glaubt, daß ihm ungeachtet des Tessiner Verfassungsdekretes vom 16. Juni 1893 die Befugnis zustehe, sich aus dem Stimmregister streichen zu lassen, ohne auf die tessinische Staatsangehörigkeit verzichten zu müssen, indem das genannte Verfassungsdekret bezüglich der Beibehaltung des politischen Domizils im Kanton nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht für den Tessiner Bürger statuiere, so kann er eine Beschwerde an den Bundesrat richten, der die kompetente Behörde ist zur Entscheidung dieser Frage.

III.

Den 23. März 1897 entschied das Tessiner Appellationsgericht eine Steuerbeschwerde Leporis, in der die Frage der Zulässigkeit der Streichung Leporis aus dem Tessiner Stimmrechts- und Hcrdregister streitig war. Entgegen der Auffassung des Tessiner Staatsrates geht das Appellationsgericht davon aus, daß die Eintragüng; der im Ausland lebenden Tessiner in die Stimm- und Hordregister der Heimat eine fakultative, keine obligatorische sei. Der Gerichtshof bemerkt unter anderm : Da die Heimatangehörigkeit (attinenza) ein unverwirkbares Recht ist, so müßten in den Herdregistern der Tessiner Gemeinden Tausende und aber Tausende von Familien eingetragen werden, welche nicht die geringsten Beziehungen zum Lande mehr haben und in demselben auch nicht die geringste Steuer bezahlen. Wenn die Verfassungsnovelle vom 16. Juni 18S)3 dies gewollt hätte, so würde sie ganz einfach das Prinzip der

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Heimatangehörigkeit an Stelle des Wohnsitzprinzips gesetzt haben; einer derartigen Verfassungsbestimmung wäre aber die eidgenössische Gewährleistung niemals erteilt worden. Der Wille des Gesetzgebers ging vielmehr dahin, den im Auslande niedergelassenen Tessinern die Möglichkeit der Beibehaltung eines politischen Wohnsitzes in der Heimat zu gewähren, unter der Voraussetzung der Erhaltung eines Herdes in der Heimatgemeinde und mit der Verpflichtung, die Steuern in gleicher Weise zu bezahlen wie die thatsächlich in der Gemeinde Wohnenden. Alle Redner, die in den eidgenössischen Räten das Verfassungsdekret verteidigt hatten, waren darin einig, daß die Beibehaltung eines solchen politischen Wohnsitzes vom Willen des Bürgers abhängig sein soll. Ständerat Simen bemerkte, daß das auf dem Boden des Herdregisters ruhende System ein Kompromiß sei zwischen dem Grundsatz der Angehörigkeit und demjenigen des Wohnsitzes, indem es dem im Ausland niedergelassenen Bürger den Beweis darüber auflegt, daß es seine Absicht und sein Wille sei, auch fernerhin die bürgerlichen und politischen Rechte in seiner Heimat beizubehalten. Besser läßt sich der durch und durch freiwillige und fakultative Charakter der Beibehaltung des Herdes als Grundlage der Wahlfähigkeit und der Steuerpflicht nicht kennzeichnen und deutlicher auch nicht anerkennen, daß der Herd recht eigentlich nichts anderes ist, als ein auf freiwilliger Wahl beruhendes Domizil bei der in der Heimat wohnenden Familie oder in der Heimatgemeinde.

IV.

Die Tessiner Regierung beschloß unter Festhaltung ihres bisherigen Standpunktes den 16. April 1897, daß Leporis Heimatgemeinde Sonvico dessen Eintragung in das Herdregister und damit auch in die Steuerregister wiederum herzustellen habe. Gegen diese Verfügung richtete Lepori den 3. Juni 1897 eine Beschwerde an den Bundesrat. Er verlangt, daß der Bundesrat die staatsrätliche Anordnung vom 16. April 1897 als verfassungswidrig aufheben möchte, gerade wie auch der Beschluß vom 29. August 1896 als verfassungswidrig anzusehen sei, so daß seine Streichung aus dem Herdregister der Gemeinden Castagnola und Sonvico mit allen ihren gesetzlichen Folgen rückwirkend bis zu Anfang des Jahres 1896 gültig und in Rechtskraft erwachsen sei. Er begründet sei» Begehren mit Hinweis auf das oben mitgeteilte Urteil des Tessiner Appellationsgerichtes vom 23. März 1897.

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V.

Die Abweisung der Beschwerde beantragend, macht die Tessiner Regierung in ihrer Antwort vom 28. Juni 1897 folgendes geltend : Nach den maßgebenden gesetzlichen Vorschriften, die enthalten sind in der Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893, im Wahlgesetz vom 15. Januar 1894 (Art. l, Abs. 1) und im Steuergesetz vom 4. Dezember 1894 (Art. 6, litt, a, § 1), besteht kein Zweifel, daß in die Steuerregister alle diejenigen Tessiner Bürger einzutragen sind, welche in einem Bürgerregister (catalogo civile, Stimmrcgister) als Angehörige eines im Herdregister eingetragenen Herdes einer Kantonsgemeinde eingetragen sind. Mit der Bezeichnung Herd ist nichts anderes gesagt, als was im Begriff der Familie liegt ; der Herd dient dazu, als äußeres Anzeichen das Vorhandensein der Familie festzustellen. Die Bezeichnungen Herd und Familie für den Begriff Familie gebrauchen die Tessiner Gesetze unterschiedslos.

Das Vorhandensein eines Herdes ist für die Gründung und das Bestehen einer Famlie nach tessinischer Auffassung unerläßliches und untrennbares Element. Deshalb muß denn auch ein Bürger notwendigerweise unter den Gliedern der Familie (des Herdes) figurieren, der er angehört oder die er selbst repräsentiert, und es steht ihm keineswegs frei, seinen Namen aus dem Verzeichnis derjenigen Personen zu streichen, die zusammen einen Herd bilden.

Da gemeindeweise Herdregister geführt werden, so kann nicht die Frage aufgeworfen werden, ob ein Tessiner Bürger überhaupt in das Herdregister gehört, sondern nur die Frage, ob er in das Register dieser oder jener Gemeinde gehört; übrigens ist gerade diese letztere Frage durch die Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 und durch das Ausführungsgesetz vom 15. Januar 1894 klar und deutlich gelöst.

Die Steuerregister und Stimmrechtsregister werden auf Grund der Herdregister geführt; ist aber die Eintragung in jene Register rechtlich nur notwendige Folge der Eintragung in das Herdregister, so kann sie doch nicht vom Belieben des Einzelnen abhängen, dies um so weniger, als ein solches Belieben des Einzelnen ein unmoralisches Privileg zu gunsten einer Klasse von Bürgern wäre, die je nach ihrem persönlichen Vorteil ihre Eigenschaft als Bürger das eine Mal geltend machen, das andere Mal verläugnen würden; der Steuerpflicht würden sie sich natürlich entziehen.

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B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Formell beschwert sich der Rekurrent darüber, daß er wider seinen Willen als Stimmberechtigter in die tessinischen öffentlichen Register eingetragen werden soll, materiell indes darüber, daß er auf Grund seiner Stimmberechtigung von den Tessiner Behörden als steuerpflichtig erklärt worden ist. Dieser Sachverhalt ändert aber an der Entscheidungsbefugnis des Bundesrates nichts; denn für den Bundesrat liegt eine in seine Kompetenz fallende ^Beschwerde betreffend die politische Stimmberechtigung"1 eines Bürgers vor (Organisationsgesetz 1893, Art. 189, Abs. 4). Nicht mit Unrecht hat auch das Bundesgericht in seiner Entscheidung vom 1. April 1897 die der Steuerstreitigkeit gegenüber als selbständig zu qualifizierende Vorfrage der Stimmbcrechtigung der Beurteilung des Bundesrates vorbehalten.

II.

Stimmrecht und Ausübung des Stimmrechts sind von einander zu trennen. Der Stimmberechtigung entspricht zwar die Pflicht, das Stimmrccht auszuüben. Diese Pflicht ist aber nicht überall so ausgebildet, daß geradezu Stimmzwang besteht. Der Gesetzgeber überläßt es häufig dem Stimmberechtigten selbst, darüber zu entscheiden, ob er an der einzelnen Wahl oder Abstimmung teilnehmen oder sich von derselben fernhalten will. Ist demnach die Ausübung des Stimmrechts vom Willen und Belieben des Stimmberechtigten abhängig, so ist dagegen ganz allgemein das Stimmrecht als solches von der Willensbestimmung des Stimmberechtigten durchaus unabhängig. Nicht kraft eigenen Willens, sondern kra.ft gesetzlicher Vorschrift ist der einzelne Bürger stimmberechtigt.

Nicht von der Annahme oder Ablehnung seitens der einzelnen Bürger hängt der Kreis der Stimmberechtigten ab, sondern dieser Kreis wird gebildet aus denjenigen Staatsangehörigen, die genau bestimmte objektive Requisite erfüllen. Zur Festsetzung des Kreises der Stimmberechtigten werden im Interesse der Ordnung öffentliche Register geführt. In diese Register, in die Stimmregister, sind die Stimmberechtigten von Amts ·wegen einzutragen ; wenn nun auch, um die Eintragung zu erreichen, dem einzelnen Bürger hin und wieder eine bestimmte Ausweispflicht auferlegt wird, so liegt darin doch nur eine Ordnungsvorschrift, die für die Ausübung des Stimmrechts, nicht aber für die Stimmberechtigung als solche von Belang ist.

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III.

Dieser Unterschied zwischen Stimmrecht und Ausübung des Stimmrechts wird vom Tessiner Appellationsgericht in seinem Urteil vom 23. Blärz 1897 übersehen; deshalb ist auch die Beschwerde des Rekurrenten, der sich auf dieses Urteil stützt, unbegründet.

Aus den Verhandlungen der eidgenössischen Räte über die Tessiner Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 (Stenographisches Bulletin 1895, S. 543 ff., 1896, S. 137 ff., Bundesblatt 1895, III, S. 217 ff.)

geht keineswegs hervor, daß im Sinne dieser Novelle das Stimmrecht der Tessiner im Ausland vom Willen derselben abhängig sein soll ; der hierfür einzig angeführte Satz aus einer Rede des Ständerats R. Simen ist, aus dem Zusammenhang gerissen, bedeutungslos. Der Gedanke, der den Tessiner Gesetzgeber bei Erlaß der Arerfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 leitete, war der: dem Tessiner, der ins Ausland auswandert, sein Stiminrecht im Kanton Tessin zu erhalten. Dieser Gedanke ist verwirklicht worden, wie man sich ausgedrückt hat, durch einen Kompromiß zwischen dem Grundsatz des mit der ,,attinenza11 verbundenen Stimmrechtcs und dem Grundsatz des an das thatsächliche Domizil geknüpften Stimmrechtes; und so wurde durch die Verfassungsnovelle, da jeder Tessiner im Ausland gleich wie der im Kanton selbst wohnhafte stimmberechtigt sein soll, für den ersteren behufs Ausübung seines Stimmrechtes ein ,,gesetzliches Domizil" im Kanton geschaffen (Bundesrat in seiner Botschaft vom 11. Mai 1895, Bundesblatt 1895, III, S. 220, Lienhards Votum vom 6. Dezember 1895 im Ständerat, Stenographisches Bulletin 1895, S. 565, v. Salis Gutachten 1894, S. 15). Das Herdregister dient nun unter anderm dazu, dieses gesetzliche Domizil der im Ausland lebenden Tessiner festzustellen und damit auch den Ort, wo sie ihr Stimmrecht auszuüben berechtigt sind. Die Führung der Herdregister geschieht von Amts wegen ; in dieselben sind demnach sämtliche im Ausland lebende Tessiner einzutragen. Ob im einzelnen Fall der Eingetragene von seinem Stimmrecht Gebrauch machen will oder nicht, hängt von seinem Belieben ab, Stimmzwang1 besteht gegenüber den Tessinern im Ausland nicht; dagegen kann es nicht von seinem Belieben abhängen, ob die Eintragung stattzufinden oder zu unterbleiben hat ; denn über die Stimmberechtigung als solche hat er keine Verfügung; statt Ordnung würde die größte Unordnung in
den Stimmrechtsverhältnissen herrschen, wenn die Tessiner im Ausland abwechselnd die Eintragung und die Streichung ihrer Namen in den Registern verlangen könnten; das Stimmrecht wird aus

ito öffentlich-rechtlichen Erwägungen dem einzelnen Bürger erteilt;.

deshalb ist seine Verfügungsbefugnis über dasselbe nicht gleich derjenigen über seine vermögensrechtlichen Ansprüche.

IV.

Der Umstand, daß das politische Domizil, das der im Ausland lebende Tessiner in der Heimat hat, als gesetzliches Domizil erkannt und auch als solches zur Zeit der Beratung über die Tessiner Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 bezeichnet worden ist, beweist gleichfalls die Unbegründetheit der Beschwerde des Rekurrenten.

Das charakteristische Moment des gesetzlichen Domizils liegt darin,, daß es ein domicilium necessariuin, ein vom Willen des Betroffenen unabhängiges Domizil ist. Das gesetzliche -Domizil ist, im Gegensatz zum thatsächlichen Domizil, kein freigewähltes, kein Domizil, das auf den beiden Elementen des corpus (effektives Wohnen) und des animus (Wille zu wohnen) beruht. Vielmehr ist dasselbe da, wo, ohne Rücksicht auf corpus und animus des Betroffenen, das Gesetz es verlegt. Man hat das gesetzliche Domizil ein fingiertes Domizil genannt, indem man von der irrigen Auffassung ausging, daß jedes Domizil naturnotwendig die beiden Elemente des animus und des corpus aufweisen müsse; man betonte, das gesetzliche Domizil des im Ausland lebenden Tessiners in der Heimat sei eigentlich eine Fiktion und kritisierte damit, nicht mit Unrecht, diejenige Ansicht, die versucht hat, für den ausgewanderten Tessiner den Nachweis zu erbringen, daß er eigentlich nur in vorübergehender Weise abwesend sei, und daß er daher kraft seines Willens fortdauernd in der Heimat seinen Wohnsitz beibehalte (vergi, besonders Munzingers Votum im Ständerat, den 6. Dezember 1895, Stenographisches Bulletin 1895, S. 565 ff.). Indes, wie hervorgehoben, beim gesetzlichen Domizil kommt es gar nicht auf den Willen des Betroffenen an ; deshalb kann auch der Rekurrent nicht geltend machen, daß er, kraft seiner Willenserklärung, auf das Domizil und auf das damit verbundene Recht (Stimmrecht) Verzicht zu leisten, aus dem Herdregister gestrichen werden müsse. Auch der Wortlaut endlich der Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893, mit dem das Wahlgesetz vom 15. Januar 1894 nicht im Widerspruch steht, ist klar und deutlich und läßt die Verfügung der Tessiner Regierung vom 16. April 1897 als gerechtfertigt erscheinen.

111 Demnach wird erkannt: Es wird die Beschwerde des Giacomo Lepori, Ingenieur, als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 31. August 1897.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident: Ruffy.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft > Bingier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs des Giacomo Lepori von Sonvico (Tessin), in Mailand, betreffend Stimmrecht. (Vom 3l. August 1897.)

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01.09.1897

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