Bericht des Bundesrates zu den Auswirkungen verschiedener europapolitischer Instrumente auf den Föderalismus in der Schweiz (in Erfüllung des Postulates Pfisterer [01.3160] «Föderalismusbericht.

Erhaltung des Föderalismus bei den verschiedenen europapolitischen Optionen») vom 15. Juni 2007

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen den vom Postulat 01.3160 Pfisterer gewünschten Föderalismusbericht mit dem Antrag, davon Kenntnis zu nehmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. Juni 2007

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2007-0384

5907

Übersicht Der Föderalismus stellt bei der Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU eine Herausforderung, jedoch kein Hindernis dar. Der Gebrauch und die Weiterentwicklung der Instrumente im Verhältnis Schweiz ­ Europäische Union erfordern Anpassungen, damit das föderalistische Gleichgewicht ­ eine ausgewogene und subsidiaritätsgerechte Verteilung der Aufgaben und der Mitwirkungsrechte auf Bund, Kantone und Gemeinden ­ erhalten bleiben kann. Änderungen an den föderalistischen Mitwirkungsrechten sollen nicht vorauslaufend vorgenommen werden, sondern dann, wenn sie nötig und sinnvoll sind (schrittweise Reformen). Ein schrittweises Vorgehen erlaubt, Erfahrungen insbesondere mit der Anwendung, Umsetzung und Weiterentwicklung der Bilateralen Abkommen I und II zu sammeln und diese bei der Gestaltung weiterer Reformschritte zu berücksichtigen. Auch erfordern Neuentwicklungen innerhalb der EU, wie z.B. das ungewisse Schicksal des Verfassungsvertrags oder die auf Anfang 2007 erfolgte Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten, je nachdem wieder eine Neubeurteilung der Situation und des Reformbedarfs, bzw. eröffnen sich auch Chancen für eine Vertiefung des Föderalismus. Die bereits heute bestehenden, insbesondere im Mitwirkungsgesetz verankerten Partizipationsstrukturen erscheinen bei allen denkbaren europapolitischen Optionen nicht a priori ungeeignet ­ im Gegenteil. Die tatkräftige Wahrnehmung der Interessen der Schweiz gegenüber der EU setzt, unabhängig vom verfolgten europapolitischen Weg, eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen voraus. Nur so können die Stellungnahmerechte sowie der unabdingbare wechselseitige Informationsfluss sichergestellt und gleichzeitig eine einheitliche schweizerische Position gewahrt werden. Die Kantone haben im Sinne des «gouverner c'est prévoir» bereits wertvolle Überlegungen zum Anpassungsbedarf im Hinblick auf die möglichen Instrumente für die Regelung der Beziehungen mit der EU eingebracht. Der vorliegende Bericht baut auf diesen Grundlagen sowie auf dem Europabericht 2006 des Bundesrates auf. Ein föderalistischer Anpassungsbedarf für die Schweiz kann sich vor diesem Hintergrund namentlich in den folgenden Bereichen ergeben: ­

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Aufgabenverteilung Bund-Kantone-Gemeinden und Mitwirkung der Kantone: Die bereits bestehenden verschiedenen Zusammenarbeitsformen zwischen der Schweiz und der EU betreffen auch Kompetenzbereiche der Kantone (insbesondere Bildung und Kultur, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Justiz, öffentliches Beschaffungswesen und Baurecht, polizeiliche Zusammenarbeit, Rechtshilfe und Berufsdiplome). Die Intensivierung der Zusammenarbeit Schweiz ­ EU wird die Rechtsetzungskompetenzen der Kantone auch stärker tangieren. Hierbei gilt es, die frühzeitige Mitwirkung der Kantone an den Entscheidungsprozessen, insbesondere in denjenigen der sogenannten Gemischten Ausschüsse, sicherzustellen. Dem Subsidiaritätsprinzip ist das nötige Gewicht zu geben, der kooperative Föderalismus ist weiter zu stärken und die vorhandenen Strukturen sind besser zu nutzen und auszubauen. Allenfalls könnten Verfahrensabläufe in einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Kantonen festgehalten werden, wie dies bereits jetzt für den Bereich der Schengen-Dublin-Assoziierung erfolgt. Auch auf

die Erfahrungen in anderen europäischen Bundesstaaten kann Rückgriff genommen werden.

­

Umsetzung der internationalen Verträge durch die Kantone: Die Kantone sind gehalten, in ihren Kompetenzbereichen die für die Schweiz in Kraft getretenen internationalen Verträge umzusetzen, dies je länger je mehr innerhalb der vorgegebenen, eher kurzen Fristen und so einheitlich wie nötig. Dies stellt grosse Anforderungen an die Kenntnisse der Kantone über EU-Recht, an deren administrative Kapazitäten und an deren Koordinationsfähigkeiten bzw. an diejenigen interkantonaler Organe (kantonale Direktorenkonferenzen und Konferenz der Kantonsregierungen). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Regelung des unverzüglichen und gegenseitigen Informationsflusses zwischen den Kantonen wie auch zwischen Bund und Kantonen. Hier könnte der Bund auf bereits vorhandene kooperative Vereinbarungen zwischen Bund und Kantonen zurückgreifen.

­

Finanzpolitische Aspekte: Finanzpolitischer Anpassungsbedarf ergäbe sich vornehmlich bei einem allfälligen EU-Beitritt. Die Mehrwertsteuer müsste zwingend auf mindestens 15 Prozent angehoben werden. Die daraus resultierende steuerliche Mehrbelastung bzw. Einnahmenerhöhung des Bundes wäre ganz oder teilweise unter Einbezug der Kantone oder der Sozialversicherungen zu kompensieren. Den Kantonen müssten weiterhin ausreichende Finanzquellen zur Verfügung stehen. Entsprechende Entscheide wären in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen vorzubereiten und müssten voraussichtlich auf Verfassungsstufe verankert werden. In allfälligen Beitrittsverhandlungen wären für den Umbau des Steuersystems Übergangsfristen festzulegen. Die finanzpolitische Koordination von Bund und Kantonen wäre zu verbessern, damit die Anforderungen des EU-Stabilitätsprogramms eingehalten werden könnten. Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen (NFA) wurde so konzipiert, dass sie bei einem allfälligen EU-Beitritt der Schweiz nicht grundlegend überarbeitet werden müsste. Die Auswirkungen der europapolitischen Instrumente auf den Steuerwettbewerb oder den Steuerföderalismus sind schwierig einzuschätzen.

Allfällige föderalistische Anpassungen werden insgesamt bereits dadurch erleichtert, dass mit der NFA schon ein wegbereitendes Reformprojekt in Umsetzung ist.

5909

Inhaltsverzeichnis

Übersicht

5908

Abkürzungsverzeichnis

5913

1 Einleitung 1.1 Zweck 1.2 Aufbau des Berichts 1.3 Föderalismus in der Schweiz 1.4 Herausforderungen durch die Intensivierung der Zusammenarbeit und durch die zunehmende Angleichung der Rechtsräume 1.5 Die schweizerische Europapolitik 1.6 Der Wandel in der EU

5916 5916 5917 5918 5920 5921 5923

2 Die Erfahrungen anderer europäischer Föderationen 5924 2.1 Überblick 5924 2.2 Die Auswirkungen der Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit auf die innerstaatliche Kompetenzausscheidung und die Mitwirkungsverfahren 5925 3 Kompetenzverteilung Bund-Kantone 3.1 Das Subsidiaritätsprinzip 3.2 Ausübung der Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen 3.2.1 Einleitung 3.2.2 Richtlinien und Verordnungen als Hauptrechtsetzungsinstrumente der EG 3.2.3 Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit 3.2.4 Instrumente eines EU-Beitritts 3.3 Fazit

5926 5926 5927 5927

4 Umsetzung internationalen Rechts durch die Kantone 4.1 Die Zuständigkeit der Kantone für die Umsetzung internationalen Rechts 4.2 Aussenpolitische Verantwortlichkeit für die Umsetzung internationalen Rechts 4.2.1 Grundsatz: Verantwortlichkeit des Bundes 4.2.2 Unterstützung der Kantone durch den Bund 4.2.3 Aufsichtsmittel des Bundes und Ersatzvornahme durch den Bund 4.3 Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit 4.4 Instrumente eines EU-Beitritts: Besonderheiten 4.4.1 Grundsatz zur Umsetzung von EU-Recht 4.4.2 Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Kantone 4.4.3 Vollstreckung von EuGH-Urteilen und Klagebefugnis der Kantone 4.5 Fazit: Anforderungen des Bundes an die Umsetzung

5931 5931

5910

5927 5928 5929 5929

5931 5931 5932 5932 5933 5933 5933 5934 5934 5935

5 Die Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik 5.1 Aussenpolitik als Bundeskompetenz 5.2 Grundsätze der Mitwirkung der Kantone 5.3 Erfahrungen im Zuge der bilateralen Abkommen mit der EU 5.3.1 Phase I: Innenpolitische Meinungs- und Willensbildung 5.3.2 Phase II: Verhandlungen 5.3.3 Phase III: Vernehmlassungsverfahren 5.3.4 Phase IV: Umsetzung der Verhandlungsergebnisse 5.3.5 Phase V: Verfahren in den Gemischten Ausschüssen 5.3.6 Phase VI: Genehmigung, Umsetzung und Publikation der Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse 5.4 Regelung der Zusammenarbeit Bund-Kantone im Rahmen der Europapolitik generell 5.4.1 Koordination unter den Kantonen 5.4.2 Stellung des Ständerats 5.4.3 Europakommission im Parlament 5.4.4 Zusammenarbeit im Bereich Schengen-/Dublin 5.4.4.1 Mitwirkung der Kantone 5.4.4.2 Vereinbarung zwischen Bund und Kantonen betreffend Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands 5.5 Fazit: Regelung der Verfahrensabläufe in einer Rahmenvereinbarung

5936 5936 5937 5938 5938 5939 5940 5940 5941

6 Bundesstaatliche Finanzordnung und schweizerische Europapolitik 6.1 EU-Kompetenzen in der Finanz- und in der Steuerpolitik 6.2 Einhaltung der Konvergenzkriterien in einem föderalen Staat 6.2.1 Haushaltspolitische Vorgaben der EU 6.2.2 Instrumente für eine verstärkte Koordinierung der Finanzpolitik 6.2.2.1 Umsetzung der Konvergenzkriterien 6.2.2.2 Aufstellung des Stabilitätsprogramms 6.3 Auswirkungen auf den Finanzausgleich 6.4 Auswirkungen auf das Steuersystem 6.4.1 Grundsätzliches: Steuerhoheit der Kantone 6.4.2 Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit 6.4.3 Instrumente eines EU-Beitritts 6.5 Fazit

5951 5951 5953 5953 5955 5955 5958 5959 5959 5959 5960 5961 5963

7 Die Europapolitik der Schweiz und die Judikative 7.1 Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit 7.2 Instrumente eines EU-Beitritts 7.2.1 Grundsätzliche Verfahrenshoheit der Mitgliedstaaten und Vorschriften der EU 7.2.2 Verfahren auf Ebene der EU 7.2.3 Konsequenzen für die Schweiz bei einem Beitritt 7.2.3.1 Vorrang des EU-Rechts 7.2.3.2 Tendenzen zur Vereinheitlichung des Prozessrechts 7.3 Fazit

5964 5964 5965

5943 5945 5945 5946 5947 5947 5947 5949 5950

5965 5966 5967 5967 5967 5968 5911

8 Unionsbürgerschaft und kommunales Wahlrecht 8.1 Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit 8.2 Instrumente eines EU-Beitritts 8.2.1 Unionsbürgerschaft 8.2.2 Kommunalwahlrecht (Art. 19 EGV) 8.2.3 Auswirkungen auf die Schweiz 8.3 Fazit

5968 5968 5968 5968 5969 5970 5971

9 Abschliessende Überlegungen 9.1 Europapolitik als Interessenwahrung 9.2 Vereinbarkeit von Föderalismus und europäischer Zusammenarbeit 9.3 Massgeschneiderte Lösungen 9.4 Allgemeine Auswirkungen 9.5 Verstärkter Anpassungsbedarf für alle Staatsebenen 9.6 Schrittweise Anpassungen

5971 5971 5972 5972 5973 5974 5974

5912

Abkürzungsverzeichnis ABl.

AdR AHV ALV AB N AB S BAK BBl BGE BGMK BIP BJ BV CIG DAA

DBG EDA EDK EFD EG EGV EJPD EMRK EO ESVG 95 ESTV EU EuG EuGH EuRefKa

Amtsblatt der Europäischen Union Ausschuss der Regionen Alters- und Hinterlassenenversicherung Arbeitslosenversicherung Amtliches Bulletin des Nationalrats Amtliches Bulletin des Ständerats Basel Economics (Prognoseinstitut) Bundesblatt Bundesgerichtsentscheid Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (SR 138.1) Bruttoinlandprodukt Bundesamt für Justiz Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) Conférence intergouvernementale (Regierungskonferenz) Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (Dublin-Assoziieungsabkommen) Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkten Bundessteuern (SR 642.11) Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten Erziehungsdirektorenkonferenz Eidgenössisches Finanzdepartement Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Eidgenössisches Justiz und Polizeidepartement Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, SR 0.101) Erwerbsersatzordnung Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen von 1995 Eidgenössische Steuerverwaltung Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Arbeitsgruppe Europa-Reformen der Kantone

5913

EuR EUV EUZBLG EVD EWG EWR EZV FHA FZA

GA GASP GFS 2001 GG GK GWK HS IDA-Wachstum IDEKOF IV KdK KKJPD KOF/ETH LugÜ LVA MRA

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Europarecht (Fachzeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Gesetz vom 12. März 1993 über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. I, S. 313) Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Eidgenössische Zollverwaltung Freihandelsabkommen vom 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (SR 0.632.401) Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (SR 0.142.112.681) Gemischter Ausschuss Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik Finanzstatistische Standards des Internationalen Währungsfonds (2001) Deutsches Grundgesetz Gemeinsame Kontrollinstanz Grenzwachkorps (uniformierter und bewaffneter Teil der Eidgenössischen Zollverwaltung, der zum Eidgenössischen Finanzdepartement gehört) Harmonisiertes System zur Bezeichnung und Kodierung der Waren Interdepartementale Arbeitsgruppe «Wachstum» Interdepartementale Koordinationsgruppe für Föderalismusfragen Invalidenversicherung Konferenz der Kantonsregierungen Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (mit Prot. u. Erkl., SR 0.275.11) Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr (SR 0.748.127.192.68) Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (SR 0.946.526.81)

MStG NFA OECD OG ParlG PESEUS Rs.

RVOG SAA

SDÜ

SIS Slg.

SPK-S SR StHG SÜ UVEK VGR VRK VwVG WVK ZSE

Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (SR 321.0) Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, SR 173.110) Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, SR 171.10) Projektgruppe EJPD-Strategie EU-Schweiz Rechtssache Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (SR 172.010) Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft sowie der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Assoziierung der Letztgenannten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (Schengen-Assoziierungsabkommen) Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengener Durchführungsübereinkommen) Schengener Informationssystem Sammlung der Entscheidungen des EUGH Staatspolitische Kommission des Ständerates Systematische Sammlung des Bundesrechts Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (SR 642.14) Schengener Übereinkommen Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969 (SR 0.111) Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (SR 172.021) Wiener Konvention Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften

5915

Bericht 1

Einleitung

1.1

Zweck

Der vorliegende Bericht ist die Antwort auf das Postulat 01.3160 Pfisterer «Föderalismusbericht. Erhaltung des Föderalismus bei den verschiedenen europapolitischen Optionen». Es wurde vom Ständerat am 21. Juni 2001 überwiesen und hat folgenden Inhalt und Auftrag: «Der Bundesrat wird eingeladen, möglichst in Abstimmung mit den laufenden Arbeiten der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates und in Zusammenarbeit mit den Kantonsregierungen bzw. der Konferenz der Kantonsregierungen einen «Föderalismusbericht» zu erstellen. Er soll zeigen, wie die Stellung der Kantone bzw. das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen bewahrt bzw. reformiert werden kann, um bei den verschiedenen europapolitischen Optionen den Sinn des Föderalismus zu erhalten. Erwartet werden konkrete Änderungsvorschläge für Verfassung und Gesetzgebung mit Vor- und Nachteilen.

Der Bericht soll insbesondere folgende Inhalte aufweisen: a. Er soll mindestens zwei Optionen auseinanderhalten: ­ Option 1: weitere bilaterale Verträge, einen EWR II oder andere Formen einer lockeren Beziehung zur EU; ­ Option 2: einen EU-Beitritt.

b. Er soll sich mindestens auf die Aufgabenverteilung und -erfüllung, Finanzpolitik, Mitwirkung, Justiz und die Unionsbürgerschaft samt dem Kommunalwahlrecht beziehen.

c. Er soll aufzeigen, welche (Kern-)Reformen mit erster Priorität, also spätestens zum Zeitpunkt eines entsprechenden schweizerischen Zustimmungsbeschlusses, zu beschliessen sind und welche auf später verschoben werden können.» Seit Überweisung des Postulats ist einige Zeit verstrichen. In der Zwischenzeit traten die Bilateralen I und die Mehrheit der Bilateralen II in Kraft. Damit ist eine qualitative Veränderung in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union verbunden. Das Postulat beauftragt den Bundesrat, mindestens zwei «Optionen» für die künftige Zusammenarbeit mit der EU zu untersuchen. Wie die Aussenpolitik im Allgemeinen, definiert sich die Europapolitik als Teil dieser Aussenpolitik sowohl auf der materiellen als auch auf der ideellen Ebene als eine Politik der Wahrung der schweizerischen Interessen gegenüber der EU. Im Hinblick auf die oben genannte qualitative Veränderung der Beziehungen ist es zweckmässiger, nicht von Optionen, die ein «entweder-oder» beinhalten, sondern, wie im Europabericht 20061 dargelegt, von
Instrumenten zu sprechen. Letztere verdeutlichen, dass Europapolitik bzw. die Regelung der Beziehungen mit der EU jeweils situations- und zeitgerecht erfolgen soll. Instrumente sind nicht starr. Vielmehr sind sie in die Visionen und 1

Europabericht 2006 des Bundesrates vom 28. Juni 2006 («Europabericht 2006»), BBl 2006 6815 ff.

5916

Realitäten der schweizerischen Aussenpolitik2 einzubetten. Sie bedürfen der innenpolitischen Abstützung, wie sie rechtlich in der Bundesverfassung (BV)3 verankert ist (Art. 54­56, Art. 166 und 173 sowie 180 BV). Im schweizerischen Staatssystem, das auf der weitgehenden Mitwirkung von Volk und Ständen an der Politik beruht, muss auch die Europapolitik eine Angelegenheit aller sein, ohne die Verwirklichung der Ziele der Aussenpolitik aus den Augen zu verlieren.

Der Bericht hat zum Ziel, die mit dem Europabericht 2006 lancierte Diskussion über das Verhältnis Schweiz­EU unter Einbezug der Kantone fortzuführen und die Akteure in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen zu sensibilisieren.

Mit dem Föderalismusbericht nimmt der Bundesrat ferner Stellung zu Studien und Expertenberichten, die von bzw. im Auftrag der Arbeitsgruppe «Europa-Reformen der Kantone» (EuRefKa) erstellt wurden4 und in denen die Notwendigkeit von Reformen im Hinblick auf die zunehmend engeren Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU untersucht wurde.

1.2

Aufbau des Berichts

Der vorliegende Bericht ergänzt den bereits erwähnten Europabericht 2006, der die Auswirkungen der verschiedenen Formen der Zusammenarbeit mit der EU, über den bilateralen Weg bis hin zu einem EU-Beitritt, auf zentrale Bereiche der Politik, darunter auch den Föderalismus, behandelt. Er baut auf der Logik des Europaberichts auf.

Nach den einleitenden Bemerkungen, die kurz auf den Föderalismus schweizerischer Prägung eingehen und einen Überblick über die anstehenden Herausforderungen sowie das Instrumentarium der schweizerischen Europapolitik geben, befasst sich der Bericht zunächst mit den Erfahrungen in anderen europäischen Bundesstaaten (Ziff. 2).

Er untersucht anschliessend die Auswirkungen der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU auf die Kompetenzverteilung (Ziff. 3) sowie die Umsetzung des internationalen Rechts (Ziff. 4). Ausserdem vertieft der Bericht die für die Kantone wichtigen Fragen der Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Aushandlung und Umsetzung von Abkommen (insbesondere SchengenAssoziierung) (Ziff. 5), der Auswirkungen der Europapolitik auf die Finanz- und 2

3 4

Vgl. Aussenpolitischer Bericht 2000, BBl 2001 261 299. Folgende fünf Ziele stehen im Vordergrund: ­ friedliches Zusammenleben der Völker, ­ Achtung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie, ­ Wahrung der Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland, ­ Linderung von Not und Armut in der Welt, ­ Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.

SR 101.

Konferenz der Kantonsregierungen (Hrsg.), Die Kantone vor der Herausforderung eines EU-Beitritts, Bericht der Arbeitsgruppe «Europa-Reformen der Kantone», Zürich 2001 (EuRefKa-Bericht 2001); Konferenz der Kantonsregierungen (Hrsg.), Zwischen EU-Beitritt und bilateralem Weg: Überlegungen und Reformbedarf aus kantonaler Sicht, Expertenberichte im Auftrag der Arbeitsgruppe «Europa-Reformen der Kantone», Zürich 2006 (Expertenberichte EuRefKa 2006). Im Übrigen wurde der vorliegende Bericht den Kantonen (bzw. der EuRefKa-Arbeitsgruppe) im Entwurf zur Stellungnahme und Diskussion unterbreitet. Die wertvollen Anregungen wurden aufgenommen.

5917

Steuerpolitik und andere kantonale Kompetenzbereiche (Ziff. 6) sowie auf die Rechtsprechung (Ziff. 7) und auf die Ausübung der politischen Rechte (Kommunalwahlrecht) (Ziff. 8). Im Vordergrund der Untersuchung stehen das europapolitische Instrument der bilateralen Zusammenarbeit und dasjenige des Beitritts. Verfahren und Entscheidungsprozesse unter dem Regime der bilateralen Zusammenarbeit etwa in den Gemischten Ausschüssen oder mit Bezug auf die Schengen-Assoziierung werden ausführlich dargestellt. Abschliessend führt der Bericht einige grundsätzliche Überlegungen zur schweizerischen Europapolitik sowie zur Vereinbarkeit von Föderalismus und europäischer Zusammenarbeit auf und stellt einige Anpassungsmassnahmen des Föderalismus an die europäische Wirklichkeit zur Diskussion (Ziff. 9).

1.3

Föderalismus in der Schweiz

Nach der schweren Krise der Eidgenossenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ­ die Schweiz war zu diesem Zeitpunkt noch ein Staatenbund souveräner Kantone ­ wurde mit der Bundesverfassung von 1848 ein Staat geschaffen, zu dessen zentralen Strukturelementen ein ausgeprägter Föderalismus gehört. Die föderative Ordnung, nach der die Kantone auf ihrem Territorium weitgehend ihre Eigenständigkeit behielten, diente zur Integration der von vielen Konfliktlinien durchzogenen Schweiz.

Der Föderalismus manifestiert sich insbesondere im dreistufigen Staatsaufbau der Schweiz, in der Partizipation der Kantone an der Willensbildung des Bundes sowie in der Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden nach dem Subsidiaritätsprinzip. Gemäss diesem Prinzip soll nur dann eine höhere staatliche Ebene Aufgaben wahrnehmen, wenn die Kräfte der tieferen Ebene zur Erfüllung der betreffenden Aufgabe nicht ausreichen. Die Europapolitik der Schweiz kann grundsätzlich auf alle drei föderalistischen Ebenen Auswirkungen haben. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich aber vor allem auf Fragen, welche die Bundes- und die Kantonsebene betreffen.

Zentrale Elemente des schweizerischen Föderalismus sind das Prinzip der kantonalen Autonomie (oder das Prinzip der geteilten Souveränität, Art. 3 BV) und die stark ausgebauten Mitwirkungsrechte der Kantone bei der Willensbildung und Rechtsetzung des Bundes.

Das Prinzip der kantonalen Autonomie lässt sich wie folgt konkretisieren: ­

Die Existenz der Kantone ist garantiert.

­

Die Kantone sind gemäss Artikel 3 BV souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.

­

Die Kantone haben eine eigene Verfassung.

­

Die Kantone wählen ihre Organe selbst.

­

Die Kantone verfügen über eigene finanzielle Ressourcen (Steuerhoheit).

­

Die Kantone unterliegen keiner politischen Kontrolle.

5918

Die gleichberechtigte5 Mitwirkung der Kantone an der (internen) Willensbildung des Bundes erfolgt vor allem durch das Vernehmlassungsverfahren, die Wahlen in den Ständerat6, das Doppelmehrerfordernis bei Verfassungsrevisionen (Ständemehr) und die Standesinitiative. Das föderalistische Instrument des Kantonsreferendums wurde ein erstes Mal anlässlich des Steuerpakets (September 2003) erfolgreich genutzt, dasjenige zur ausserordentlichen Einberufung der Bundesversammlung durch fünf Stände, das noch in der Bundesverfassung von 1874 aufgeführt war, wurde nie benutzt und wurde nicht mehr in die neue Bundesverfassung übernommen7. Daneben spielen die Kantone insbesondere bei Umsetzung und Vollzug von Bundesrecht eine wichtige Rolle (Art. 46 BV).

Diese Mitwirkung der Kantone bei der Willensbildung des Bundes kann nicht losgelöst von der Stellung der Schweiz im internationalen Umfeld betrachtet werden. Die Aussenpolitik beschlägt je länger desto mehr innenpolitische Bereiche und ist eine Querschnittsaufgabe staatlichen Handelns. Informationsbedürfnisse des Parlaments, der Kantone, der Gerichte und der Öffentlichkeit hinsichtlich der juristischen Auswirkungen von Abkommen oder Vorstössen, Beschlüssen oder schweizerischen Erlassen mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug nehmen zu8. Das Bedürfnis nach mehr Information beinhaltet oft den Wunsch nach mehr Mitsprache. Wie Bundesrat und Bundesverwaltung den zunehmenden Informationsbedürfnissen von Seiten des Parlaments, der Kantone, der Gerichte und der Öffentlichkeit gerecht zu werden haben, ist durch die Kompetenzverteilung in der Aussenpolitik (Bundesverfassung) sowie das Publikations-, Öffentlichkeits- und Parlamentsgesetz umschrieben.

Die Regelung der Aussenbeziehungen, insbesondere die Zuständigkeiten und die Mitwirkung der einzelnen Akteure, ist systematisch in den Artikeln 54 ff. BV festgehalten, findet jedoch auch in zahlreichen anderen Bestimmungen der Bundesverfassung ihren Niederschlag. Danach ist der Bund für die Regelung der Aussenbeziehungen zuständig. Er nimmt dabei Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen (Art. 54 Abs. 3 BV). Diese Vorgaben gelten auch für die Europapolitik bzw. die Regelung der Beziehungen mit der EU. Sie und die gelebte Verfassungswirklichkeit zeigen, dass eine scharfe Trennung der Zuständigkeiten
zwischen Bund und Kantonen nicht gewollt ist. Im Vordergrund steht vielmehr die Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Aussenpolitik im Innern abzustützen und die Kantone in die Verantwortung einzubeziehen. In diesem Sinne wirken die Kantone an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide mit, die ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betreffen (Art. 55 BV) und sie besitzen eine eigene

5

6

7

8

Eine Ausnahme bilden Obwalden und Nidwalden, Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden, die je über eine halbe Standesstimme und nur einen Ständerat verfügen.

Die Mitglieder des Ständerats vertreten zwar nicht die Kantonsregierungen oder -parlamente (Instruktionsverbot, Art. 161 BV), dennoch werden sie gemäss Art. 150 Abs. 1 BV als «Abgeordnete der Kantone» bezeichnet (Mitglieder des Nationalrats sind demgegenüber Abgeordnete des Volkes, Art. 149 Abs. 1 BV).

Allerdings kann wie bisher schon im Nationalrat nun neu auch im Ständerat ein Viertel der Abgeordneten das Parlament zu einer ausserordentlichen Sitzung aufbieten, Art. 151 Abs. 2 BV; Art. 2 Abs. 3 ParlG.

Eine Analyse der parlamentarischen Interventionen der letzten Zeit zeigt ein zunehmendes Interesse an europapolitischen Dossiers. Vgl. hierzu die Datenbank der parlamentarischen Vorstösse und Geschäfte zum Themengebiet «Europapolitik»: http://www.parlament.ch/su-curia-vista.

5919

begrenzte Vertragsschlusskompetenz (Art. 56 BV). Der kooperative Föderalismus hat sich mithin als ein wichtiges Standbein der Regelung der Beziehungen mit der EU entwickelt.

1.4

Herausforderungen durch die Intensivierung der Zusammenarbeit und durch die zunehmende Angleichung der Rechtsräume

Das Vertragsnetz Schweiz-EU hat sich mit dem Abschluss der Bilateralen I und II stark verdichtet und beschlägt die unterschiedlichsten Bereiche. Es umfasst etwa zwanzig bilaterale Hauptabkommen und ungefähr hundert Sekundärabkommen.

Die Intensivierung der bilateralen Zusammenarbeit mit der EU einerseits, aber auch die mit der Erweiterung einhergehenden EU-internen Diskussionen über die Zukunft der EU andererseits (Ziff. 1.6.) haben Auswirkungen auf die Gestaltung der Europapolitik und damit auf das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen. Neben den eigentlichen Abkommen, werden auch die Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse (Ziff. 5.3.5­5.3.6), die Notifikationen im Rahmen von Schengen und die sogenannt autonom übernommenen EU-Rechtsakte zu Bestandteilen der schweizerischen Rechtsordnung. Mit ihnen wird das schweizerische Recht immer mehr vom Europarecht geprägt.

Bestrebungen zur Angleichung der schweizerischen Rechtsvorschriften an europäische bestehen nicht erst seit Abschluss der Bilateralen Abkommen I und II. Am 3. Februar 1988 sowie am 18. Mai 1988 beschloss der Bundesrat, die Botschaften9 an die eidgenössischen Räte und die Bundesrats-Anträge für die Verordnungen jeweils mit einem Europakapitel zu versehen, das die Resultate der Europaverträglichkeitsprüfung aufweisen soll10. Der sogenannte «autonome Nachvollzug» wird dort angestrebt, wo wirtschaftliche Interessen (Wettbewerbsfähigkeit) es erfordern oder rechtfertigen11. Neben dem traditionellen Bereich des Warenverkehrs oder im Anwendungsbereich des Bundesgesetzes über die technischen Handelshemmnisse

9

10

11

Gemäss Botschaftsleitfaden (http://www.admin.ch/ch/d/bk/sprach/internet/bolf/) sind in den Botschaften einerseits unter Ziff. 1.6. ein Rechtsvergleich und das Verhältnis einer Vorlage zum europäischen Recht (insbesondere Sekundärrecht und EuGHRechtsprechung) darzustellen, und unter Ziff. 5 die Vereinbarkeit des Erlasses mit internationalem Recht, d.h. insbesondere mit Verpflichtungen, die die Schweiz eingegangen ist im Rahmen von internationalen Organisationen, mit internationalen Abkommen, einschliesslich der Abkommen mit der EG und mit bilateralen und multilateralen Verträgen mit anderen Staaten.

Nachweis in: BBl 1988 III 380. Vgl. weiter Botschaft vom 24. Feb. 1993 über das Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens, BBl 1993 I 805 821 f. S. auch Gesetzgebungsleitfaden des BJ (http://www.bj.admin.ch/bj/de/home/themen/staat_und_buerger/legistik/gesetzgebungsleit faden.html), Ziff. 337.

Ziel ist der Abbau von Zutrittshürden und die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Wirtschaft. S. etwa Cottier Thomas/Dzamko Daniel/Evtimov Erik, Die europakompatible Auslegung des schweizerischen Rechts, Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht, Zürich/Basel/Genf 2004, 357 ff.

5920

(Art. 4 Abs. 2 THG)12 gewinnt die europakompatible Rechtsgestaltung auch in «neuen» Bereichen immer mehr an Bedeutung. So erfuhren (und erfahren immer wieder) insbesondere Anwaltsgesetz, Bauproduktegesetz, Heilmittelgesetz, Gleichstellungsgesetz, Binnenmarktgesetz und Anlagefondsgesetz eine europakompatible Anpassung. Auch die Einführung der Mehrwertsteuer, Bestimmungen zu Freisetzungsversuchen und Inverkehrbringen für gentechnisch veränderte Organismen, die Patent- und Urheberrechtsrevisionen sowie die Bestimmungen zur Produktsicherheit liessen sich von geltenden Regelungen auf EU-Ebene leiten. Eine Liste aller Erlasse, die auf Gemeinschaftsrecht verweisen oder sich von diesem in irgendeiner Form inspirieren liessen, existiert nicht13.

In Bereichen von grenzüberschreitender Bedeutung versucht der Bundesrat deshalb sicherzustellen, dass keine unüberlegte und unbegründete Abweichung zwischen der Schweizer Rechtsordnung und dem Gemeinschaftsrecht entsteht. Mittels Abkommen kann allerdings sichergestellt werden, dass Erleichterungen beim Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie beim Personenverkehr gegenseitig gewährt werden. Konkret heisst dies, dass, wo immer möglich, eine Anpassung an Gemeinschaftsrecht nicht autonom, sondern vertraglich erfolgen sollte14.

1.5

Die schweizerische Europapolitik

Das Instrumentarium der schweizerischen Europapolitik wurde im Europabericht umfassend dargestellt15. Im vorliegenden Bericht soll auf die Auswirkungen der Hauptinstrumente auf den Föderalismus näher eingegangen werden, auf diejenigen der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit sowie auf diejenigen des differenzierten Beitritts und des EU-Vollbeitritts. Diese Instrumente können nicht losgelöst von den allgemeinen Auswirkungen der Anpassung des schweizerischen Rechts an Gemeinschaftsrecht betrachtet werden.

Bilaterale oder multilaterale Zusammenarbeit Das Instrument «Bilaterale oder multilaterale Zusammenarbeit» umfasst die Umsetzung und Weiterentwicklung der bestehenden sektoriellen Abkommen Schweiz-EG sowie das Verhandeln und Abschliessen weiterer bilateraler sektorieller Verträge.

Die Weiterentwicklung eines bestehenden Abkommens kann durch dessen Ände12

13 14 15

SR 946.51. Ein Element, das in neuerer Zeit vermehrt in den Vordergrund dringt, ist die mangelnde Wettbewerbsintensität auf dem Schweizer Markt, die zum Teil aus abweichender Regulierung auf dem nationalen Markt gegenüber dem umgebenden EU-Binnenmarkt resultiert und sogenannte Preisinseln fördert. Diverse parlamentarische Vorstösse (Motion 04.3473 Hess, Postulat 04.3390 Leuthard) fordern daher die Prüfung der unmittelbaren Anwendbarkeit von EU-Recht («Cassis de Dijon-Prinzip») und die Schaffung der entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen im Rahmen des THG. Der Bundesrat hat nun eine Vorlage ausgearbeitet, die der Vernehmlassung unterbreitet wurde.

Vgl. Antwort des Bundesrates vom 14. Februar 2007 auf das Postulat Nordmann, Autonomer Nachvollzug und Kennzeichnung des Schweizer EU-Rechts (06.3839) So der Bundesrat im Europabericht 2006, BBl 2006 6832.

Beispiele: autonome oder vertragliche Anpassung des schweizerischen Rechts an das Gemeinschaftsrecht, Umsetzung und Anpassung der bestehenden Abkommen, weitere bilaterale Verhandlungen, Zollunion, Verbesserung des institutionellen Rahmens, bilaterale Assoziierung, Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum, andere Form der multilateralen Zusammenarbeit, differenzierter Beitritt, Beitritt. Vgl. Europabericht 2006, BBl 2006 6830.

5921

rung oder durch eine Anpassung der Anhänge erfolgen. Zur Weiterentwicklung gehört auch die Ausweitung des Anwendungsbereichs eines Abkommens. Die Aushandlung neuer Verträge bedarf eines beidseitigen Interesses. Hand in Hand mit diesem Instrument geht die europaverträgliche Ausgestaltung des schweizerischen Rechts. Viele Aspekte dieser Dossiers berühren Zuständigkeiten der Kantone und bedürfen daher ihrer Mitwirkung. Letztere wird sichergestellt durch den Einsitz von Kantonsvertretern in den Verhandlungsdelegationen für die Gemischten Ausschüsse und in der Komitologie oder in Expertentreffen (und entsprechend auch in den jeweiligen bundesverwaltungsinternen Vorbereitungs- und Nachbereitungssitzungen) (Ziff. 5.3.). Auch ist durch die jeweiligen Informationsbeauftragten der Kantone im EJPD, im Integrationsbüro EDA/EVD und in der Mission der Schweiz bei der EU der Informationsaustausch garantiert. Schliesslich werden die Kantone auch in entsprechende Verhandlungen über zu ändernde oder neue Abkommen einbezogen.

Bei einer Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU und im Falle einer dynamischen Übernahme des Rechts ist damit zu rechnen, dass schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, damit die Schweiz international handlungsfähig bleiben kann. Deshalb können nur rechtzeitig eingegangene Stellungnahmen der Kantone berücksichtigt werden. Auch der Bund hat seinen Teil dazu beizutragen, den Kantonen das Verfassen von Stellungnahmen zu erleichtern, namentlich indem er ihnen rechtzeitig alle für die Entscheidfindung notwendigen Unterlagen zustellt und ihnen angemessene Fristen einräumt. Eine Richtschnur für die Ausgestaltung dieses Prozesses dürfte die Praxis der Zusammenarbeit im Bereich der Umsetzung und Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen in den letzten Jahren sein.

Diese Ausführungen gelten grundsätzlich auch für eine allfällige Teilnahme der Schweiz am EWR oder für eine anders ausgestaltete Annäherung. Entscheidend ist, dass bei einer so verstandenen Weiterentwicklung der bilateralen Zusammenarbeit sichergestellt ist, dass die Kantone dort, wo ihre Kompetenzen oder Interessen betroffen sind, möglichst frühzeitig in den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess einbezogen werden.

Differenzierter Beitritt und EU-Vollbeitritt Das Instrument «Differenzierter Beitritt und
EU-Vollbeitritt» beinhaltet zunächst (Beitritts-)Verhandlungen gestützt auf die entsprechenden Verhandlungsmandate.

Hauptsächlicher Verhandlungsgegenstand ist die Übernahme des acquis communautaire. Unter dem Aspekt der schweizerischen Interessenwahrung würde zu prüfen sein, inwiefern die Aushandlung differenzierter Lösungen für gewisse Politikbereiche möglich und sinnvoll ist16.

Nach erfolgtem Beitritt wären die Umsetzung und Anwendung des ­ von der Schweiz mitzubestimmenden ­ Gemeinschaftsrechts durch die schweizerischen Behörden des Bundes und der Kantone (sowie der Gemeinden) zu gewährleisten.

Ein Beitritt hätte Auswirkungen auf die Entscheidungskompetenzen der Bundesversammlung, auf die Volksrechte sowie auf die Kompetenzen der Kantone, die in ihren Bereichen für die Umsetzung und den Vollzug des EU-Rechts zuständig wären: Zum Beispiel bei EG-Richtlinien könnten Parlament und Volk zwar über die nationale Umsetzung der in der Richtlinie vorgegebenen Ziele entscheiden.

16

S. Ausführungen im Europabericht 2006, BBl 2006 6840.

5922

EG-Verordnungen sind dagegen ohne weitere Genehmigung durch den schweizerischen Gesetzgeber direkt anzuwenden. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Volksrechte, die zwar grundsätzlich erhalten blieben, deren Tragweite aber durch das EU-Recht beschränkt würde17. Wichtig wäre daher die Zusammenarbeit von Kantonen, Parlament und Bundesrat im Vorfeld der Entscheidung auf EU-Ebene.

Sämtliche Mitgliedstaaten haben in ihren nationalen parlamentarischen Verfahren Konsultations- und Mitwirkungsrechte eingeführt oder verstärkt. Die Schweiz müsste bei einem EU-Beitritt ihre traditionellen Verfahren daher entsprechend ausbauen oder umgestalten, jedoch nicht grundsätzlich abbauen18. In den Bereichen, in denen die EU keine Gesetzgebungskompetenz hat, würden die geltenden schweizerischen Sach- und Entscheidungszuständigkeiten nicht tangiert.

1.6

Der Wandel in der EU

Die Erweiterung von 15 auf 25 und schliesslich im Januar 2007 auf 27 Mitgliedstaaten war und ist für die EU eine grosse institutionelle wie wirtschaftliche Herausforderung. Es stellt sich die Frage, wie die EU bei einem vergrösserten Kreis von Mitgliedern ihre Handlungsfähigkeit bewahren und den Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser gerecht werden kann. Ein erster Schritt wurde mit dem Vertrag von Nizza, in Kraft seit dem 1. Februar 2003, getan. Mit dem am Europäischen Rat vom 17./18. Juni 2004 von den Staats- und Regierungschefs genehmigten und anschliessend am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Vertrag über eine Verfassung für Europa19 sollten ein Rahmen und Strukturen geschaffen werden, die den neuen Herausforderungen gerecht werden (Bürgernähe und Handlungs- sowie Erweiterungsfähigkeit). Bisher haben 18 Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag ratifiziert. Die Ablehnung der Ratifizierung in Frankreich und den Niederlanden (2005) hat den Ratifizierungsprozess ins Stocken gebracht. Wie schon mehrmals in ihrer Geschichte befindet sich die EU damit in einer Umbruchphase. Sie wird Zeit brauchen, adäquate Regeln des politischen Zusammenwirkens (insbesondere im Hinblick auf Zusammensetzung und Funktionsweise der Organe) zu erproben und umzusetzen. Grundsätzlich wird eine Verfassung für Europa weiterhin als Möglichkeit der Verankerung solcher adäquater Regeln diskutiert. Aus föderalistischer Perspektive interessiert, dass die Wahrung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismässigkeitsprinzips sowie deren effektive Kontrolle durch die nationalen Parlamente im Entwurf des europäischen Verfassungsvertrags explizit berücksichtigt sind und dass dem sogenannten Grundsatz der partizipativen Demokratie (beschränktes Initiativrecht, Konsultationen) mehr Bedeutung zukommt. Die Auswirkungen der europapolitischen Instrumente auf den Föderalismus können nicht isoliert von diesen Entwicklungen in der EU betrachtet werden, weshalb sie im vorliegenden Bericht berücksichtigt werden sollen.

17 18 19

Eingehender: Europabericht 2006, BBl 2006 6941­6943.

Vgl. Europabericht 2006, BBl 2006 6940 ff.

ABl. C 310 vom 16.12.2004, S. 1.

5923

2

Die Erfahrungen anderer europäischer Föderationen

2.1

Überblick

Die Mitgliedschaft in der EU wirkt sich auf die Gestaltung der Politik in den Mitgliedstaaten aus. Rechtliche und praktische Erfahrungen aus föderal oder regional organisierten Mitgliedstaaten der EU können daher wichtige Anregungen für die Mitwirkungsmöglichkeiten der Kantone in europapolitischen Fragen geben. Interessant für die Schweiz sind v.a. die Erfahrungen der drei Mitgliedstaaten, die klassisch bundesstaatliche (oder föderalistische, regionalistische) Strukturen aufweisen, nämlich Deutschland, Österreich und Belgien.

Die Vorgabe ist für alle gleich: Durch die europäischen Verträge werden nicht nur Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten, sondern auch Hoheitsrechte der Gliedstaaten (Regionen) auf die EU «übertragen». Diese Hoheits-Übertragungen hatten und haben Auswirkungen auf die Sachkompetenzen der Regionen und ihre allgemeinen Mitwirkungsrechte auf mitgliedstaatlicher Ebene. Daher haben die verschiedenen EU-Mitgliedstaaten entsprechende Verfahren und Institutionen zur Mitwirkung der regionalen Ebene in EU-Fragen entwickelt.

Deutschland als bis 1993 einziger klassischer Bundesstaat unter den EU-Mitgliedstaaten spielte dabei eine Vorreiterrolle: Informationspflichten des Bundes wurden schon früh begründet, die Institution des Länderbeobachters bei den Europäischen Gemeinschaften wurde eingerichtet und die Mitwirkungsinstrumente der deutschen Länder wurden stufenweise ausgebaut. Im Zuge des Ratifizierungsverfahrens zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) kam es zur Einführung des «Bundesratsverfahrens», einer breit angelegten Mitwirkung der Länder in EU-Fragen über den Bundesrat (Länderkammer). Parallel dazu wurden ab Ende der 80er-Jahre Büros der deutschen Länder in Brüssel aufgebaut. Mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags wurde die Länder-Mitwirkung über den Bundesrat in Artikel 23 Absatz 2, Absätze 4­7 Grundgesetz (GG) konstitutionalisiert und weiter entwickelt.

Die Mitwirkungsregeln in Österreich und Belgien wurden durch das deutsche Modell inspiriert (s. vor allem Art. 23d des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes [B-VG]), weisen allerdings in Einzelfragen auch signifikante Unterschiede auf, die insbesondere auf die unterschiedliche Zusammensetzung der zweiten Parlamentskammer in Österreich und Belgien im Vergleich zum deutschen Bundesrat zurückzuführen sind. Unterschiedlich
werden auch die Mitwirkung der Regionen im Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) und die Einbindung der Regionalparlamente in Europafragen gehandhabt.

Im EU-Entscheidungsprozess selbst verfügen die Regionen über eine vergleichbar schwache Position. Daran hat weder die Verankerung des Ausschusses der Regionen (AdR) im Maastricht-Vertrag noch die Verbesserung seiner Stellung mit dem Vertrag von Amsterdam etwas geändert, auch wenn in Verlautbarungen der EU den Regionen zunehmend Bedeutung beigemessen wird20. Die Einflussnahme der Regionen auf den EU-Entscheidungsprozess findet vielmehr auf innerstaatlicher Ebene statt und ist daher abhängig von der innerstaatlichen Ausgestaltung der Kompetenzverteilung und der regionalen Mitentscheidung.

20

S. etwa Weissbuch der Kommission «Europäisches Regieren» vom 25. Juli 2001, KOM(2001) 428 endg., wonach die politische Entscheidungsfindung der EU-Organe namentlich auch für die Regionen geöffnet werden soll und diese vermehrt in die Gestaltung und Durchführung der EU-Politik einzubinden sind.

5924

2.2

Die Auswirkungen der Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit auf die innerstaatliche Kompetenzausscheidung und die Mitwirkungsverfahren

Die Weiterentwicklung des europäischen Rechts wie auch die Globalisierung der Beziehungen löste und löst immer wieder Diskussionen über die mitgliedstaateninterne Kompetenzverteilung und Organisationsstruktur aus. Die Erfahrungen in den föderalistisch aufgebauten Mitgliedstaaten der EU zeigen, dass eine weiter gehende Zentralisierung, d.h. eine einseitige Verschiebung von Gliedstaatenkompetenzen auf die Bundesebene, gestützt auf die Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit ausgeblieben ist. Die Bundesstaats- und Regionalisierungsmodelle der einzelnen Mitgliedstaaten sind aber weiterhin recht unterschiedlich. Ein annähernd gleichmässiges Drei-Ebenen-System Gliedstaaten-Mitgliedstaaten-EU ist bisher nicht entstanden.

In Deutschland wurde im Herbst 2003 eine Föderalismusreform eingeleitet und ­ nach einem Unterbruch von etwas mehr als einem Jahr ­ im Herbst 2006 erfolgreich abgeschlossen. Die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten wurde zwar thematisiert, sie war jedoch nicht das zentrale Anliegen der Reform. Die vorläufig ausgeklammerte Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern wurde im Frühjahr 2007 angegangen.

In Österreich begann ebenfalls 2003 ein Verfassungskonvent, den Text für eine neue Verfassung auszuarbeiten. Zu den umstrittenen Fragen zählte die Föderalismusreform21. Der Endbericht dieses Konvents von Januar 2005 war von Dissens geprägt, weshalb die Weiterberatung nun in einem vom Nationalrat eingesetzten Ausschuss erfolgt. Im Vordergrund stehen neben der Vereinheitlichung des Verfassungsrechts weiterhin eine Neuregelung der Aufgaben- und Kompetenzverteilung sowie die Berücksichtigung der realen Wechselwirkung zwischen europäischem und österreichischem Verfassungsrecht. Auslöser und Input für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion waren und sind die Ergebnisse auf europäischer Ebene im Rahmen des Verfassungsvertrages. Der Reform werden allerdings wenig Chancen auf Erfolg eingeräumt.

Niemand bestreitet denn auch, dass eine effektive Mitwirkung der Bundesländer Deutschlands und Österreichs sowie der Gemeinschaften und Regionen Belgiens in EU-Fragen verfassungsrechtlich verbindlich vorgegeben und auch politisch erwünscht ist. Allerdings verlangen die oftmals kurzen Fristen koordinierte und zügige Entscheidungsstrukturen ­ und hier liegt die zentrale Herausforderung für die Zukunft.

21

S. Bussjäger Peter, Der Österreich-Konvent und die Reformoptionen für den Föderalismus in Österreich, in: 1. Nationale Föderalismuskonferenz: Der kooperative Föderalismus vor neuen Herausforderungen, Freiburg/Basel 2005, 245 ff.

5925

3

Kompetenzverteilung Bund-Kantone

3.1

Das Subsidiaritätsprinzip

Sowohl in der Schweiz als auch auf europäischer Ebene ist das Subsidiaritätsprinzip wichtiges Kriterium bei der Zuteilung, aber auch der Ausübung von Kompetenzen: Die höhere Ebene soll nicht an sich ziehen, was die tiefere erfüllen kann. Hinter dem Subsidiaritätsprinzip steht die Idee, dass die Aufgabenerfüllung so nah wie möglich bei den Bürgerinnen und Bürgern stattfinden soll.

In der geltenden Bundesverfassung ist das Subsidiaritätsprinzip nicht ausdrücklich verankert. In verschiedenen Bestimmungen ist der Subsidiaritätsgedanke jedoch implizit enthalten. Gemäss Artikel 42 Absatz 2 BV übernimmt der Bund diejenigen Aufgaben, «die einer einheitlichen Regelung bedürfen». Dieser Grundsatz ist Leitfaden für die Zuteilung neuer Aufgaben innerhalb des Bundesstaates, er begründet aber keine eigenständige Bundeskompetenz. Nach Artikel 46 Absatz 2 BV soll der Bund den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit bei der Umsetzung des Bundesrechts belassen. Dies ist eine Kompetenzausübungsregel. Und nach Artikel 47 BV muss der Bund die Eigenständigkeit der Kantone wahren. Dies bedeutet namentlich, dass er ihnen eigene Aufgaben belassen und ihre Organisations- und Finanzautonomie respektieren muss. Aufgrund der zunehmenden internationalen Einbindung der Schweiz und der damit verbundenen Kompetenzverflechtung (Ziff. 3.3) wächst die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips. Dieser Entwicklung kommt entgegen, dass im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA)22 das Subsidiaritätsprinzip explizit verankert und Leitlinien eingefügt wurden, die Kriterien festlegen, wann die Übernahme einer Aufgabe durch den Bund gerechtfertigt ist23. Jedoch sind weder das Subsidiaritätsprinzip noch die dazugehörigen Leitlinien justiziable Prinzipien.

Im Gemeinschaftsrecht wurde der Subsidiaritätsgrundsatz, der zugleich auch eine Leitlinie für eine bessere Rechtsetzung darstellt, in Artikel 5 Absatz 2 EGV sowie im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit von 1997 niedergelegt. Der Gemeinschaftsgesetzgeber (Ministerrat und Parlament) entscheidet, ob die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fallen, tätig werden soll oder ob die Ziele der in Betracht gezogenen Massnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten auch erreicht wer22 23

Bundesbeschluss zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 3. Oktober 2003, BBl 2003 6591.

Das Subsidiaritätsprinzip ist in Art. 5a BV festgehalten und wird in Art. 43a Abs. 1 BV konkretisiert. Die neuen, noch nicht in Kraft gesetzten Art. 5a und 43a BV lauten folgendermassen: Art. 5a Subsidiaritätsprinzip Bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten.

Art. 43a Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben 1 Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen.

2 Das Gemeinwesen, in dem der Nutzen einer staatlichen Leistung anfällt, trägt deren Kosten.

3 Das Gemeinwesen, das die Kosten einer staatlichen Leistung trägt, kann über diese Leistung bestimmen.

4 Leistungen der Grundversorgung müssen allen Personen in vergleichbarer Weise offen stehen.

5 Staatliche Aufgaben müssen bedarfsgerecht und wirtschaftlich erfüllt werden.

5926

den können. Im Gegensatz zu den entsprechenden Bestimmungen in der Bundesverfassung haben die Regeln zum Subsidiaritätsprinzip auf EU-Ebene Rechtscharakter und sind einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen.24 Das Subsidiaritätsprinzip in der EU ist eine Antwort auf das einer föderalen Ordnung inhärente Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielfalt. Es möchte der Tendenz zur Zentralisierung Einhalt gebieten und ist Zeichen der föderalen Struktur mit geteilter Souveränität.

3.2

Ausübung der Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen

3.2.1

Einleitung

Um die Auswirkungen der verschiedenen Zusammenarbeitsformen mit der EU auf die Ausübung der Rechtssetzungskompetenzen von Bund und Kantonen untersuchen zu können, muss zunächst Klarheit über die Rechtsetzungsinstrumente der EG bestehen. Aus diesem Grunde ist der folgende Abschnitt den europäischen Richtlinien und Verordnungen gewidmet.

3.2.2

Richtlinien und Verordnungen als Hauptrechtsetzungsinstrumente der EG

Rechtsetzung findet innerhalb der Europäischen Union vorwiegend im ersten Pfeiler (d.h. im Wesentlichen in der EG) statt. Deren Organe können verbindliche Rechtsakte erlassen (vgl. Art. 249 EGV). In der Hauptsache handelt es sich hierbei um Verordnungen und Richtlinien. Zunehmend lässt sich eine Rechtsetzungstätigkeit auch im dritten Pfeiler beobachten (z. B. Rahmenbeschlüsse). Wenn die Gemeinschaft die Regelungsform der Richtlinie25 wählt, überlässt sie den Mitgliedstaaten bzw., je nach innerstaatlichem Aufbau, den Gliedstaaten, bewusst einen entsprechenden Gestaltungsspielraum hinsichtlich Mittel und Form zur Erreichung des in der Richtlinie festgesetzten Ziels (Art. 249 Abs. 3 EGV). Die zur Umsetzung verpflichteten (allenfalls auch gliedstaatlichen) Organe sind hierbei jedoch nicht frei.

Insbesondere muss die Richtlinie in verbindliche innerstaatliche Vorschriften umgesetzt werden, die den Erfordernissen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit genügen. Die Umsetzung hat überdies fristgerecht zu erfolgen. Unter bestimmten Voraussetzungen kommt einer Richtlinie unmittelbare Anwendbarkeit zu.

Wenn bei der Umsetzung von Richtlinien den nationalen Gesetzgebern in der Regel Handlungsspielräume offen stehen, ist dies beim Vollzug von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht wie Verordnungen26 oft nicht der Fall. Die Verpflichtung, diese unmittelbar anzuwenden, bezweckt die Sicherstellung der effektiven Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Mit dieser Sicherstellung sind in den aller24

25 26

Bislang hat der EuGH sich noch nicht oft zum Subsidiaritätsprinzip äussern müssen; s. insbesondere EuGH, Rs. C-491-01, British American Tobacco, Slg. 2002, S. I-11453; EuGH Rs. C-376/98, Tabak, Slg. 2000, S. I-8419; EuGH, Rs. C-377/98, Biopatentrichtlinie, Slg. 2001, S. I-7079.

Rahmengesetze gemäss Verfassungsvertragsentwurf.

Europäische Gesetze gemäss Verfassungsvertragsentwurf.

5927

meisten Fällen die nationalen Vollzugsbehörden betraut, da der Gemeinschaft ein entsprechender Verwaltungsunterbau fehlt.

Wann welche der beiden Erlassformen (Richtlinie oder Verordnung) zur Anwendung kommt, ergibt sich zunächst aus der jeweiligen Bestimmung im EG-Vertrag (vgl. Art. 249 EGV). Oft werden jedoch beide Erlassformen genannt, sodass der Gemeinschaftsgesetzgeber über einen gewissen Spielraum bei der Wahl der Form verfügt. Er hat dabei die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismässigkeit zu beachten. Beiden ist gemeinsam, dass sie als Ziel die «bessere Rechtsetzung» haben27.

3.2.3

Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit

Bei den bilateralen Abkommen I und II handelt es sich um klassische völkerrechtliche Verträge. In jedem Vertrag werden nur die genannten Materien geregelt, es gibt aber keine automatischen Anpassungen an neue Rechtsentwicklungen der EU und keine automatische Übernahme von EU-Recht. Um das gute Funktionieren der Abkommen, die Rechtssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten, erfolgen solche Anpassungen regelmässig im Rahmen der Abkommen (vgl.

Ziff. 1.4.)28.

Durch das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989 sowie die Bilateralen I und II sind hauptsächlich Bereiche betroffen, die in die Rechtsetzungskompetenz des Bundes fallen. In die Kompetenzen der Kantone fallen Regelungen über insbesondere: ­

Familienzulagen, Sozialhilfe (im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens, FZA),

­

den Unterhalt von Strassen, Raumplanung, Verkehrsregelung (im Rahmen der Abkommen betreffend Land- und Luftverkehr),

­

das öffentliche Beschaffungswesen,

­

die Diplomanerkennung (im Rahmen des FZA) sowie

­

das Polizeiwesen (im Rahmen von Schengen).

Für alle Abkommen gilt, dass jede Änderung neu verhandelt und von beiden Seiten genehmigt werden muss. Für Anpassungen der Anhänge, wo die Übernahme von neuen oder geänderten EU-Rechtsakten geregelt wird, kommen das Entscheidverfahren der Gemischten Ausschüsse (grundsätzlich ist hierfür die Zuständigkeit an den Bundesrat delegiert worden) und das für Abschluss und Genehmigung von Staatsverträgen vorgesehene innerstaatliche Verfahren zur Anwendung (Ziff. 5.3.6.).

Für Schengen gilt ein spezielles Verfahren (Ziff. 5.4.4.)

27

28

Vgl. bspw. Bericht der Kommission vom 21. März 2005, «Bessere Rechtsetzung 2004» gemäss Art. 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit (12. Bericht), KOM(2005) 98 endg.

Einen Überblick über die bis anhin erfolgten Anpassungen über Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse vermittelt das elektronische Register der Bundeskanzlei: http://www.admin.ch/ch/d/eur/index.html.

5928

Die Anpassung an die Entwicklungen auf Gemeinschaftsebene im Rahmen der bilateralen Abkommen, aber auch im Rahmen des autonomen Nachvollzugs (Ziff. 1.4.), bedingt oftmals eine Änderung oder Anpassung auf Gesetzesstufe. Die jeweiligen Gesetzgeber müssen diesem «Nachvollzug» innert nützlicher Frist nachkommen und damit die Rechtssicherheit garantieren.

Unter dem Regime der bilateralen Zusammenarbeit verbleiben den Kantonen bis anhin noch substanzielle Handlungsspielräume. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der bilateralen Zusammenarbeit schränkt die Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen allerdings zunehmend ein. Damit die Parlamente (und allenfalls das Volk) ihren Rechten und Pflichten nachkommen können, ist es daher entscheidend, dass die Informations- und Mitwirkungsrechte der Kantone (und der Parlamente) im Vorfeld der Entscheidungsfindung gewährleistet sind, bei gleichzeitiger Wahrung einer einheitlichen schweizerischen Position. Vor diesem Hintergrund gilt es auch, den gebührenden Einbezug der kantonalen Parlamente sicherzustellen.

3.2.4

Instrumente eines EU-Beitritts

Mit einem EU-Beitritt würde der gesamte Rechtsbestand der EU, der acquis communautaire, ­ vorbehaltlich allfälliger in den Beitrittsverhandlungen vereinbarten Sonderlösungen ­ übernommen.

Die Kantone wären dabei insbesondere in den Kompetenzbereichen Bildung und Kultur, Gesundheitswesen und Infrastruktur, Justiz, öffentliches Beschaffungswesen und Baurecht, polizeiliche Zusammenarbeit und Berufsdiplome betroffen. Änderungen und Weiterentwicklungen des EU-Rechts in diesen Bereichen wären von der Schweiz richtig und fristgerecht umzusetzen. Im Gegenzug erhielte sie vollumfängliche Mitentscheidungsrechte in den Gremien der EU und könnte sich damit aktiv an der Rechtsentwicklung der EU beteiligen und auch nationale Interessen einbringen.

Die Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen erfahren weitere Einschränkungen. Daher ist wie auch bei der Fortführung der bilateralen Zusammenarbeit zur Aufrechterhaltung der kantonalen Rechtsetzungskompetenzen entscheidend, dass die Mitwirkungsrechte der Kantone im Hinblick auf die europäische Ebene gewährleistet sind, bei gleichzeitiger Wahrung einer einheitlichen schweizerischen Position. Das deutsche, österreichische und belgische Modell der Beteiligung der Gliedstaaten könnte hier als Inspiration dienen, wenngleich den Schweizer Besonderheiten Rechnung getragen werden muss (s. Ziff. 2 und Ziff. 5).

3.3

Fazit

Aufgrund der engen politischen, wirtschaftlichen und ­ über die Abkommen ­ rechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sowie der geografischen Lage der Schweiz gewinnt die EU und ihr Rechtsbestand für die Schweiz zunehmend an Bedeutung. Tendenziell geht damit eine Anpassung der nationalen Rechtsetzung an EU-Regelungen einher. Schweizerisches Recht erfährt eine «Europäisierung». Ziel ist es, über eine solche Annäherung der Rechtsordnungen eine Gleichwertigkeit der Systeme zu erreichen und wettbewerbsfähig zu bleiben. The-

5929

matisch sind davon bislang mehrheitlich Rechtsetzungskompetenzen betroffen, für welche der Bund zuständig ist29.

Die Weiterentwicklung der bestehenden sowie die Aushandlung weiterer Abkommen bringt insofern eine faktische Einschränkung der Rechtsetzungskompetenzen mit sich, als Gemeinschaftsrecht zur Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit und der Rechtssicherheit regelmässig übernommen wird. Die Übernahme erfolgt autonom, d.h. die Schweiz prüft das «ob» und das «wie» der Übernahme. Die Schweiz verfügt damit über einen gewissen Handlungsspielraum, wobei die Tendenz dahin geht, dass die Interessenlage zunehmend für eine Übernahme spricht. Die Berücksichtigung und Durchsetzung der vertraglich eingegangenen Verpflichtungen fördert eine kontinuierliche Angleichung der schweizerischen an europäische Rechtsnormen.

Bei einem EU-Beitritt wären die Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen durch die Verpflichtung der Übernahme des europäischen Rechtsbestands offensichtlicher und weitergehend eingeschränkt. Die Schweiz verfügt nicht mehr über denselben Handlungsspielraum, das «ob»der Übernahme zu prüfen. Dieser Verringerung von Handlungsspielraum stehen Mitentscheidungsrechte bei der EU-Rechtsetzung gegenüber.

Bei der Verfolgung aller europapolitischer Instrumentarien kommt es daher zu Kompetenzverschiebungen und es besteht die Tendenz eines Zentralisierungsschubs oder einer Machtverschiebung in zweierlei Hinsicht: einmal von Gemeinde- und Kantons- in Richtung Bundes- und supranationale Ebene, dann aber auch von der parlamentarischen in Richtung exekutive Ebene. Unabhängig von der Wahl der Instrumente sind verschiedene Aufgabengebiete der Kantone betroffen. In diesem Sinne wird das Subsidiaritätsprinzip an Bedeutung gewinnen: Insbesondere bei einem Beitritt der Schweiz zur EU könnten den Kantonen ­ allenfalls über das Parlament ­ besondere Rechte zur Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes im EU-Entscheidungsverfahren eingeräumt werden30. Zur Sicherstellung der Wahrnehmung der damit verbundenen Informations- und Stellungnahmerechte müsste abgeklärt werden, ob entsprechende innerstaatliche Strukturen und Verfahren geschaffen werden sollten.

Zunehmend wichtig wird unabhängig von der Frage eines EU-Beitritts auch die Überprüfung und Stärkung der Handlungsfähigkeit und der Einflussmöglichkeiten der kantonalen Parlamente in europapolitischen Angelegenheiten.

29 30

Auswirkungen auf kantonale Kompetenzbereiche zeitigen insbesondere das FZA, das Landverkehrsabkommen sowie das Schengen-Assoziierungsabkommen.

Gemäss Art. 6 des Protokolls Nr. 2 (Anwendung der Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit) zum Vertrag über die Europäische Verfassung steht es den nationalen Parlamenten frei, innerhalb einer Frist von insgesamt 6 Wochen die regionalen Parlamente zu konsultieren. Gemäss Art. 8 des Protokolls kann ein Mitgliedstaat oder der Ausschuss der Regionen beim EuGH eine Klage wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einreichen.

5930

4

Umsetzung internationalen Rechts durch die Kantone

4.1

Die Zuständigkeit der Kantone für die Umsetzung internationalen Rechts

Unter dem Titel «Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns» hält die Bundesverfassung in Artikel 5 Absatz 4 BV fest, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten.

Alle Staatsorgane tragen somit eine gemeinsame Verantwortung für die Erfüllung von völkerrechtlichen Verpflichtungen31.

Das internationale Recht überlässt es den an einer internationalen Vereinbarung beteiligten Parteien zu bestimmen, wie sie die nicht direkt anwendbaren Bestimmungen eines Abkommens innerstaatlich umsetzen und vollziehen wollen. Deshalb stellt sich in der Schweiz generell die Frage, ob die Kantone oder der Bund die sektoriellen Abkommen Schweiz-EU bzw. das Gemeinschaftsrecht, auf das sie verweisen, umzusetzen haben. Grundsätzlich sind die Kantone für den Erlass der Ausführungsbestimmungen in ihrem Kompetenzbereich zuständig. Nach Artikel 46 Absatz 1 BV setzen die Kantone das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um. Da in der Schweiz Staatsverträge wie innerstaatliches Bundesrecht gelten, beinhaltet Artikel 46 Absatz 1 BV grundsätzlich auch die Pflicht der Kantone zur Umsetzung internationalen Rechts. Alle Staatsorgane, d.h. auch diejenigen der Kantone und Gemeinden, haben daher im Rahmen ihrer Zuständigkeiten darauf zu achten, dass das vertraglich vereinbarte Recht in Rechtsetzung und Rechtsanwendung respektiert wird32.

4.2

Aussenpolitische Verantwortlichkeit für die Umsetzung internationalen Rechts

4.2.1

Grundsatz: Verantwortlichkeit des Bundes

Aus der Verantwortlichkeit der Kantone zur Umsetzung internationalen Rechts lässt sich nicht auch eine aussenpolitische Verantwortlichkeit ableiten. Für die Erfüllung der Pflichten aus einer internationalen Vereinbarung ist der Bund aus seiner Stellung als Vertragspartei verantwortlich33. Dies bedeutet, dass der Bund völkerrechtlich dafür einzustehen hat, wenn ein Kanton oder mehrere Kantone Vertragspflichten nicht richtig oder nicht rechtzeitig umsetzen. Der Bund kann sich nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen.

Um die Erfüllung der Vertragspflichten (auch) durch die Kantone sicherzustellen, sind folgende Instrumente oder Verfahren von Bedeutung: ­

31 32 33

Unterstützung der Kantone durch den Bund bei der Umsetzung internationalen Rechts im Sinne der Artikel 44 und 46 Absatz 3 BV;

S. Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 135.

Ausgeklammert bleibt hier die Frage der allfälligen unmittelbaren Anwendbarkeit des Abkommens bzw. einzelner Bestimmungen.

Vgl. Art. 26 und 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969 (VRK SR 0.111); BBl 1997 I 134 sowie Völkergewohnheitsrecht.

5931

­

Gebrauch der Aufsichtsmittel (Art. 49 Abs. 2 BV); Ersatzvornahme bei ungenügender oder nicht fristgemässer Umsetzung;

­

vermehrter Einbezug bei der Entscheidungsfindung, Aushandeln von Umsetzungsfristen (Mitwirkung und Konsultation im Hinblick auf die Umsetzung);

­

Verpflichtung zur rechtzeitigen Vornahme von Anpassungen, soweit den Kantonen die Umsetzung des internationalen Rechts obliegt (Art. 7 Mitwirkungsgesetz34).

4.2.2

Unterstützung der Kantone durch den Bund

Der Bund hat nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht, die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht zu unterstützen. Dies ergibt sich aus der allgemeinen Unterstützungspflicht von Artikel 44 BV. Diese Verpflichtung gilt für die Umsetzung internationalen Rechts ebenso wie für die Umsetzung von Bundesrecht.

Eine bedeutende Rolle spielen die verschiedenen Zusammenarbeitsmechanismen, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), der Europakommission der KdK ­ die auch dem jeweiligen Vorsteher des EDA als Ansprechpartner dient ­ oder den Direktorenkonferenzen. Weil die Anzahl der umzusetzenden internationalen Normen in jedem Fall weiter zunehmen wird, muss die Zusammenarbeit mit den Kantonen intensiviert werden, und zwar nicht nur, indem der Bund den Kantonen bei der Umsetzung im engeren Sinn mit Rat und Tat zur Seite steht, sondern schon beim Abschluss von Vereinbarungen und bei Beschlüssen auf internationaler Ebene. Eine Zusammenarbeit, die auf dem Dialog aufbaut, setzt zuverlässige Gesprächspartner auf beiden Seiten voraus und besteht in einem Informationsaustausch. Eine Koordination zwischen den Bundesbehörden wie auch zwischen den Kantonen ist hierfür unerlässlich. Entsprechende Verfahrensabläufe könnten in einer Vereinbarung festgehalten werden.

4.2.3

Aufsichtsmittel des Bundes und Ersatzvornahme durch den Bund

Sollte der Dialog mit den Kantonen nicht genügen, stehen dem Bund bzw. insbesondere dem Bundesrat verschiedene sogenannte Aufsichtsmittel zur Verfügung, wie die konkrete Beanstandung, die generelle Weisung, die Berichterstattung, die Inspektion, die Genehmigungspflicht, die Aufhebung von kantonalen Anwendungsakten, die staatsrechtliche Klage35 und schliesslich die Ersatzvornahme. Umgekehrt stehen den Kantonen keine justiziablen Instrumente zur Verfügung, wenn der Bund seinerseits seinen Verpflichtungen (z.B. Informationspflichten) gegenüber den Kantonen nicht nachkommt. Ohnehin sind jedoch die Aufsichtsmittel des Bundes im Vergleich mit der oben erwähnten Zusammenarbeit von geringer Bedeutung.

34 35

Bundesgesetz vom 22. Dez. 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK, SR 138.1).

Art. 120 Bundesgerichtsgesetz (BGG; SR 173.110).

5932

Setzen die Kantone internationales Recht nicht entsprechend dessen Vorgaben oder nicht fristgemäss um, so stellt sich die Frage, ob der Bund anstelle der Kantone und auf ihre Kosten die Umsetzung oder den Vollzug eines Erlasses vornehmen kann.

Eine vorauseilende Ergänzung des Instrumentariums der Bundesaufsicht ist jedoch, angesichts der positiven Erfahrungen im Rahmen der Umsetzung des Bundesrechts durch die Kantone (Art. 46 BV), nicht angezeigt.

4.3

Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit

Das bisherige Vertragsnetz mit der EG betrifft hauptsächlich Kompetenzen des Bundes. Namentlich in den Bereichen Landverkehr (z.B. Verkehrsplanung und -führung), Personenverkehr (z.B. Familienzulagen), Schengen/Dublin (Polizei) und öffentliches Beschaffungswesen sind aber auch wichtige Kompetenzen der Kantone betroffen. Die Kantone müssen in den entsprechenden Bereichen die Umsetzung der bilateralen Verträge sicherstellen. Dabei geht es auch um die Frage der Anpassung an die Änderungen des EU-Rechts. Die bilateralen Verträge sind zwar als statische Verträge konzipiert. Aus Gründen der Praktikabilität (insb. Informations- und Umsetzungsprobleme innerhalb des EU-Gebiets) wird aber faktisch ein Auseinanderdriften zwischen bilateralem Recht und dem sich wandelnden EU-Recht (im Rahmen der Tätigkeit der gemischten Ausschüsse) möglichst vermieden. Da von solchen Änderungen auch die Kantone betroffen sind, bedingt dies, dass sie sich laufend über die Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht informieren. Zu diesem Zweck sind sie sowohl in Arbeitsgruppen des Bundes wie auch in die Arbeiten der meisten gemischten Ausschüsse integriert. Dies führt für die umsetzenden und vollziehenden Behörden ohne Zweifel zu einer Zunahme von Aufgaben, müssen sie sich doch mit Gemeinschaftsrecht vertraut machen. Trotz oder gerade wegen der immer wichtiger werdenden Umsetzung von Gemeinschaftsrecht muss die bisherige Kompetenzverteilung bei Umsetzung und Vollzug beibehalten werden. Dies gilt umso mehr mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip (Ziff. 3.1). Es ist nicht sinnvoll, die Umsetzung schwergewichtig dem Bund zu übertragen. Eine solche Übertragung wäre auch praktisch nicht durchführbar, da hierfür auf Bundesebene die finanziellen und personellen Ressourcen fehlen.

4.4

Instrumente eines EU-Beitritts: Besonderheiten

4.4.1

Grundsatz zur Umsetzung von EU-Recht

Die EU hat ein Interesse an einer schnellen und korrekten Durchführung des von ihren Organen erlassenen Sekundärrechts. Der EG-Vertrag statuiert in diesem Sinne den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, auch Grundsatz der Mitwirkungspflicht oder einfach nur «Gemeinschaftstreue» genannt (Art. 10 EGV)36. Aus diesem Grundsatz lässt sich die Verpflichtung zum Vollzug ableiten, sei es nun in der rechtlichen Umsetzung, sei es im Verwaltungsvollzug, nicht aber die konkrete Ausgestal36

Auch Treue- oder Loyalitätsklausel genannt, s. Zuleeg Manfred, Art. 10 EG, in: von der Groeben Hans/Schwarze Jürgen (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Kommentar, 6. Auflage, Baden-Baden 2003, Rz. 1 ff.

5933

tung von Umsetzung und Vollzug. Die Regelung des Verfahrens unterliegt daher dem innerstaatlichen Recht. Konzeption und Struktur der Gemeinschaft einerseits und die Garantie der Funktionsfähigkeit der gemeinschaftlichen Institutionen und Aktivitäten andererseits lassen den Schluss zu, dass die unterschiedlichen Tätigkeiten auf den verschiedenen Ebenen aufeinander abgestimmt sein müssen.

4.4.2

Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Kantone

Bei einem allfälligen EU-Beitritt wäre sekundäres Gemeinschaftsrecht wie Richtlinien und Verordnungen (vgl. Ziff. 3.2.2) durch die schweizerischen Behörden umzusetzen. Dies stellt hohe Anforderungen an die Kenntnisse über EU-Recht wie auch an die Koordinationsfähigkeit der jeweiligen Behörden untereinander. Sofern die EU Regelungen in Form von Richtlinien erlässt, überlässt sie den Mitgliedstaaten bewusst einen Gestaltungsspielraum betreffend Mittel und Form des in der Richtlinie festgelegten Zieles. Dieser Handlungsspielraum würde in der Schweiz grösstenteils den Kantonen aufgrund ihrer Vollzugskompetenzen zukommen. Die Kantone wären dabei an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts gebunden. Nur wenn das Gemeinschaftsrecht eine einheitliche Umsetzung verlangt, könnte es angezeigt sein, die innerstaatliche Umsetzung auf geeignete Art und Weise (z.B.

Modellerlasse des Bundes; konkretisierende Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen, falls der Bund verfassungsrechtlich dazu ermächtigt wäre) einheitlich zu gestalten.

Verordnungen überlassen den Mitgliedstaaten bzw. in der Schweiz den Kantonen grundsätzlich keinen Umsetzungsspielraum. Den Kantonen würde allerdings der Vollzug übertragen, soweit eine Verordnung oder eine Verordnungsbestimmung in den Kompetenzbereich der Kantone fällt. Eine verstärkte interkantonale Zusammenarbeit, wie sie teilweise (z.B. kantonale Begleitorganisation zu Schengen/Dublin) bereits besteht, erscheint hier als eine Möglichkeit, den Vollzug einer Vielzahl von Rechtsnormen effizient zu begleiten.

4.4.3

Vollstreckung von EuGH-Urteilen und Klagebefugnis der Kantone

Die eigentliche Zwangs- bzw. Vollstreckungsgewalt in der EU liegt bei den Mitgliedstaaten (Art. 256 EGV). Wird allerdings ein Verstoss eines Mitgliedstaates gegen Gemeinschaftsrecht durch den EuGH festgestellt, ergibt sich aus dem rechtskräftigen Urteil das Verbot, vertragswidrige nationale Vorschriften weiter anzuwenden bzw. die Pflicht, im jeweiligen nationalen Zuständigkeitsbereich die Durchsetzung des Urteils zu gewährleisten. Stellt der Gerichtshof in der Folge fest, dass ein Mitgliedstaat seinem Urteil nicht nachgekommen ist, so kann er ­ als ultima ratio ­

5934

die Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds (auf Antrag der Kommission) verhängen (Art. 228 EGV37).

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass im gemeinschaftsrechtlichen Sinne der Ansprechpartner für alle Angelegenheiten der Mitgliedstaat und nicht der Gliedstaat eines Bundesstaates ist. Die Richtlinie z.B. gilt als «staatengerichteter» Rechtsakt. Staat meint hier Mitgliedstaat. Die Vollstreckung eines Urteils ist durch den fehlbaren Mitgliedstaat zu gewährleisten. Der Mitgliedstaat (der Bund) trägt somit die Verantwortung, auch wenn die Urteile auf das Verhalten der Gliedstaaten (der Kantone) zurückgehen. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten (und nicht die Gliedstaaten) primärer Ansprechpartner in EU-Angelegenheiten sind, gilt auch im Hinblick auf die Aktiv- und Passivlegitimation bei Verfahren vor dem EuGH und dem Gericht erster Instanz (EuG, Art. 224 f. EGV): Privilegiert klageberechtigt sind die Mitgliedstaaten (Art. 227 und 230 Abs. 2 EGV), und die Kommission eröffnet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat (Art. 226 EGV). Jedoch: Sofern ein Gliedstaat nach nationalem Recht Rechtspersönlichkeit besitzt und die Regierung des betreffenden Mitgliedstaates nicht zum Eingriff in die eigenen Befugnisse des Gliedstaates bemächtigt ist, ist er als «juristische Person» im Sinne von Artikel 230 Absatz 4 EGV klageberechtigt (und nicht als Mitgliedstaat im Sinne von Art. 230 Abs. 2 EGV).

4.5

Fazit: Anforderungen des Bundes an die Umsetzung

Rechtsetzungskompetenzen werden zunehmend auf den Bund oder ­ im Falle eines EU-Beitritts ­ auch auf die EU-Ebene verlagert. Die Kantone müssen vermehrt internationales Recht umsetzen und vollziehen. Die Bestimmungen der Abkommen Schweiz-EU gelten auch für die Kantone (vgl. Art. 5 Abs. 4 BV: Bund und Kantone beachten das Völkerrecht, sowie Art. 26 und 27 WVK). Alle Staatsorgane, d.h. auch diejenigen der Kantone und Gemeinden, haben daher im Rahmen ihrer Zuständigkeiten darauf zu achten, dass das vertraglich vereinbarte Recht in Rechtsetzung und Rechtsanwendung respektiert wird38. Die aussenpolitische Verantwortung trägt der Bund. Um international als zuverlässiger Partner anerkannt zu werden, ist es für die Schweiz wichtig, eine rechtzeitige und vollständige Umsetzung des vertraglich vereinbarten Rechts sicherzustellen. Gleichzeitig dient es der Erhaltung des Schweizer Föderalismus, wenn internationales Recht, das innerstaatlich in den Kompetenzbereich der Kantone fällt, weiterhin durch die Kantone umgesetzt wird. An die Umsetzung internationalen Rechts durch die Kantone stellt der Bund im Rahmen der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit folgende Anforderungen:

37

38

­

Die Umsetzung muss den Anforderungen des internationalen bzw. des vertraglich vereinbarten Rechts entsprechen.

­

Sie muss innerhalb vorgegebener Frist erfolgen können.

Diese Möglichkeit entstand im Zuge der Regierungskonferenz von Maastricht. Sie ist als eine Massnahme gedacht, die Verbindlichkeit des Rechts wieder herzustellen. Denn die Mitgliedstaaten kamen tendenziell den Urteilen je länger je mehr nicht, nur teilweise oder dann nach erheblichen Zeitverzögerungen nach. Es galt, das Instrumentarium zur Durchsetzung der Urteile zu verschärfen. S. auch Mitteilungen der Kommission zur Anwendung des Art. 228 Abs. 2 EGV, ABl. 1996 C 242/6; ABl. 1997 C 63/2.

Ausgeklammert bleibt hier die Frage der allfälligen unmittelbaren Anwendbarkeit des Abkommens bzw. einzelner Bestimmungen.

5935

­

Sie muss, soweit dies vom internationalen Recht vorgegeben ist, einheitlich erfolgen.

Dieselben Anforderungen würde der Bund auch im Falle eines EU-Beitritts an die Kantone stellen. Die Umsetzung und der Vollzug des sekundären Gemeinschaftsrechtes würden in erster Linie den Kantonen obliegen. Dies erfordert in noch grösserem Masse fundierte Kenntnisse der Kantone über EU-Recht, entsprechende administrative Ressourcen und reibungslose Koordinationsfähigkeiten. Allenfalls könnte auf bereits vorhandene kooperative Vereinbarungen zwischen Bund und Kantonen zurückgegriffen werden. Im Falle eines Verstosses gegen das Gemeinschaftsrecht besteht das Risiko einer Klage gegen die Schweiz vor dem EuGH. Bereits heute sind die Kantone auf Grund von Artikel 7 des Mitwirkungsgesetzes39 verpflichtet, die erforderlichen Anpassungen vorzunehmen, soweit ihnen die Umsetzung internationalen Rechts obliegt. Zudem kann der Bund eine Frist zur Umsetzung setzen und hat bei Nichteinhalten die Möglichkeit der Ersatzvornahme.

5

Die Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik

5.1

Aussenpolitik als Bundeskompetenz

Nach Artikel 54 BV sind die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes (Abs. 1). Dabei nimmt der Bund Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone und wahrt ihre Interessen (Abs. 3). Nach dieser Bestimmung kann der Bund über alle Bereiche internationale Verträge abschliessen, auch über solche, die in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fallen. Sofern der Bund jedoch auf einem Gebiet, das im internen Verhältnis in die Zuständigkeit der Kantone fällt, keine Vereinbarung abgeschlossen hat, so steht es den Kantonen frei, dies zu tun (Art. 56 BV). Den Kantonen steht aber die «kleine Aussenpolitik» zu (Art. 56 Abs. 2 BV). In der Folge des Berichts über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Mitwirkung der Kantone bei der Aussenpolitik vom 7. März 1994 (94.027) wurden auf Wunsch der Kantone einige Instrumente eingerichtet, um sie bei der Ausübung ihrer Kompetenzen im Rahmen der «kleinen Aussenpolitik» zu unterstützen. Zu diesen Instrumenten zählt insbesondere die Sektion der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Politischen Abteilung I des EDA. Vor dem Hintergrund dieser Verfassungsbestimmungen verbleibt den Kantonen ein breiter Spielraum zur Gestaltung von Aussenbeziehungen40. Europapolitik ­ im Rahmen der Fortführung der bilateralen Zusammenarbeit wie auch bei einem EU-Beitritt ­ ist demnach zunächst Teil der klassischen Staatsvertragskompetenz des Bundes (Art. 54 BV).

39 40

Bundesgesetz vom 22. Dez. 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK, SR 138.1).

S. hierzu neu Art. 61c Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG, SR 172.010): Die Kantone informieren den Bund über ihre Verträge mit dem Ausland vor deren Abschluss. Die Verträge müssen nicht mehr vom Bund genehmigt werden.

5936

5.2

Grundsätze der Mitwirkung der Kantone

Die Kantone wirken an der Aussenpolitik, d.h. auch an der Europapolitik, mit (Art. 55 BV sowie das die Verfassungsbestimmung konkretisierende Bundesgesetz, das Mitwirkungsgesetz41). Sie sind in diesem Rahmen wichtige Akteure der schweizerischen Europapolitik: Die Kantone werden einerseits durch die Mitwirkung beim Abschluss von Vereinbarungen einbezogen. Sodann sind sie verpflichtet, vom Bund abgeschlossene Verträge wie die übrige Bundesgesetzgebung umzusetzen und zu vollziehen. Der Bund hat daher ein Interesse, dass seine europapolitischen Entscheide fristgerecht und richtig umgesetzt werden. Insofern ist er an einer Rückkoppelung der Entscheidungsfindung interessiert. Diese Rückkoppelung geschieht vornehmlich über ­

die Mitberücksichtigungspflicht der Anliegen der Kantone (Art. 54 Abs. 3 BV);

­

substantielle Mitwirkungsmöglichkeiten der Kantone am aussenpolitischen Meinungs- und Willensbildungsprozess (Art. 55 BV, Mitwirkungsgesetz42);

­

Vernehmlassungsverfahren (Art. 47 BV, Vernehmlassungsgesetz43);

­

die Institutionalisierung von Zusammenarbeitsforen.

Die Voraussetzung für die Rückkoppelung ist eine umfassende Informationspolitik.

In Zukunft sollte hier vermehrt der Informationsaustausch zwischen Bund und Kantonen im Vordergrund stehen44. Die gegenwärtige Situation präsentiert sich in Bezug auf die relevanten Akteure und die Mitwirkungsmöglichkeiten folgendermassen: Die Kantonsvertreter beim Integrationsbüro EDA/EVD, beim EJPD und bei der Mission der Schweiz bei der EU garantieren den täglichen Informationsfluss zwischen Bund und Kantonen. Die direkte Information und Konsultation erfolgt über die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), soweit es sich nicht um isolierte aussenpolitische Vorlagen handelt, die eindeutig in den Kompetenzbereich einer Direktorenkonferenz fallen. Die KdK stellt die Information und Koordination unter den Kantonsregierungen und den Direktorenkonferenzen sicher (Ziff. 5.4.1). In der «Rahmenordnung über die Arbeitsweise der KdK und der Direktorenkonferenzen bezüglich der Kooperation von Bund und Kantonen» haben die Kantone die Zusammenarbeit zwischen der KdK und den Direktorenkonferenzen genauer geregelt. Während innenpolitisch in erster Linie die Direktorenkonferenzen zuständig sind, liegt die Zuständigkeit im Rahmen der Aussenpolitik prinzipiell bei der KdK.

Stellungnahmen werden von der KdK im Namen der Kantonsregierungen abgegeben, soweit sie von 18 Kantonsregierungen mitgetragen werden. Das Recht eines Kantons, sich abweichend zu äussern, bleibt vorbehalten. Darüber hinaus spielen

41 42 43 44

SR 138.1. Darüber hinaus: Vereinbarung vom 7.10.1994 zwischen Bundesrat und KdK.

Bundesgesetz vom 22. Dez. 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK), SR 138.1.

Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren (Vernehmlassungsgesetz, VlG, SR 172.061).

Dabei wäre beispielsweise an Berichte der Kantonsvertreter in Verhandlungsdelegationen oder aber an eine Frühwarnung bei kantonsinternen Problemen (Umsetzungsprobleme) zu denken.

5937

auch andere institutionalisierte Foren, wie der Föderalistische Dialog45, die Europakommission der KdK oder die Interdepartementale Koordinationsgruppe für Föderalismusfragen (IDEKOF)46, eine wichtige Rolle im aussenpolitischen Zusammenspiel zwischen Bund und Kantonen. Schliesslich ist noch auf die Rolle der Kantone in den Vernehmlassungsverfahren hinzuweisen: Sie wirken als wichtige Partner bei der Ausarbeitung von Massnahmen des Bundes sowie bei deren Umsetzung und Evaluation mit47.

5.3

Erfahrungen im Zuge der bilateralen Abkommen mit der EU

Sechs Phasen prägen die Erfahrungen mit den bilateralen Abkommen mit der EU48: (1) Innenpolitische Meinungs- und Willensbildung, (2) Verhandlungen, (3) Vernehmlassungsverfahren, (4) Umsetzung der Verhandlungsergebnisse, (5) Verfahren in den Gemischten Ausschüssen zur Anpassung und Weiterentwicklung der Verträge, sowie (6) Genehmigung, Umsetzung und Publikation der Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse.

5.3.1

Phase I: Innenpolitische Meinungs- und Willensbildung

Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine aussenpolitischen Vorhaben. Grundsätzlich erfolgt die Information über das Sekretariat der KdK, über ihre Informationsbeauftragten im Integrationsbüro EDA/EVD und im EJPD. Die Konsultation der Kantone erfolgt in der Regel über die KdK.

45

46

47

48

Beim föderalistischen Dialog treffen sich in der Regel zweimal jährlich Vertreter des Bundesrates mit Vertretern der KdK zum Informationsaustausch über aussenpolitische Fragen, über institutionelle Angelegenheiten oder über Querschnittsfragen.

Unter der Leitung des Bundesamtes für Justiz koordiniert diese Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern aller Departemente und der Bundeskanzlei alle interdepartementalen Angelegenheiten, die das Verhältnis Bund-Kantone berühren. U. a. bereitet diese Gruppe den Föderalistischen Dialog vor.

Richtlinien des Bundesrates zuhanden der Bundesverwaltung betreffend die Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden vom 16. Okt. 2002 (BBl 2002 8385).

S. grundsätzlich Beiträge in: Felder Daniel/Kaddous Christine (Hrsg.), Bilaterale Abkommen Schweiz-EU (Erste Analysen), Basel/Brüssel 2001; Kaddous Christine/Jametti Greiner Monique, Bilaterale Abkommen II Schweiz-EU und andere neue Abkommen, Genf/Basel/München/Brüssel 2006; Cottier Thomas/Oesch Mathias (Hrsg.), Die sektoriellen Abkommen Schweiz-EG. Ausgewählte Fragen zur Rezeption und Umsetzung der Verträge vom 21. Juni 1999 im schweizerischen Recht, Berner Tage für die juristische Praxis BTJP 2002, Bern 2002.

5938

Diese gibt in der Regel auch die Stellungnahmen im Namen der Kantonsregierungen zu aussenpolitischen Entscheidungen oder zur Aufnahme von Verhandlungen ab.

Sind die Zuständigkeiten der Kantone betroffen, kommt ihrer Stellungnahme besonderes Gewicht zu. Hinsichtlich der Bilateralen II stimmten dann die Kantone trotz gewisser Bedenken allen sie betreffenden Verhandlungsmandaten zu.

5.3.2

Phase II: Verhandlungen

Die Kantone setzen zur Begleitung der Verhandlungen im Rahmen der KdK eine Organisation ein, die in der Regel Arbeitsgruppen zu den jeweiligen Verhandlungsdossiers umfasst. Die von der KdK vorgeschlagenen Expertinnen und Experten, Mitglieder dieser Arbeitsgruppen, nehmen als vollwertige Mitglieder der Schweizer Delegationen an den Verhandlungen teil, die die Interessen der Kantone betreffen.

Der tägliche Informationsfluss wird durch die Informationsbeauftragten der Kantone im Integrationsbüro EDA/EVD, im EJPD und bei der Mission der Schweiz bei der EU in Brüssel sichergestellt. Die Informationsbeauftragten haben im Rahmen der Geheimhaltungsregeln des Bundes Zugang zu den internen Akten und Sitzungen innerhalb der Bundesverwaltung. Sie sind eine wesentliche Unterstützung der KdK bzw. ihrer Begleitorganisation während der Verhandlungen.

Der Bund kann die Kantone während der Verhandlungen jederzeit konsultieren.

Andererseits können die Kantone vom Bund jederzeit verlangen, angehört zu werden. Vor einer Änderung eines Verhandlungsmandats werden die Kantone auf jeden Fall konsultiert. Die Konsultation erfolgt in der Regel über das Sekretariat der KdK.

Unterstützt wird der Meinungsaustausch zwischen Regierungen und Verwaltungen durch die bereits erwähnten institutionalisierten Dialogforen wie den Föderalistischen Dialog und die IDEKOF.

Die Plenarversammlung der KdK befasst sich regelmässig mit dem Verlauf der Verhandlungen und übermittelt dem Bundesrat in regelmässigen Abständen sowie anlässlich verschiedener Konsultationen die Haltung der Kantone. Zum Abschluss der Verhandlungen verabschieden die Kantone im Rahmen der KdK eine gemeinsame Stellungnahme.

Insbesondere in den Verhandlungsphasen kann es zu Situationen mit erhöhter Dringlichkeit kommen. In diesen Fällen muss es dem Bund möglich sein, die Kantone sehr kurzfristig zu informieren und entsprechend kurze Fristen für deren Stellungnahmen einzuräumen49. Durch eine kontinuierliche Information der KdK über deren Vertreter beim Bund, aber auch über direkte informelle Kontakte wurde bisher versucht, trotz dieser kurzen Reaktionszeiten den Kantonen frühzeitig Entscheidungsgrundlagen zuzustellen. Insgesamt hat sich die Zusammenarbeit bis anhin bewährt, doch besteht mit Blick auf künftige vergleichbare Situationen ein Bedarf an einer Optimierung der Verfahrensabläufe.

49

Als Beispiele sind die Dossiers Landverkehr und Personenfreizügigkeit anzuführen. In der Schlussphase zu den Verhandlungen betreffend den Landverkehr (1998) fanden mehrfach Konsultationen mit Fristen von weniger als einer Woche statt. Bei der Personenfreizügigkeit fand im Zusammenhang mit der Anpassung des Verhandlungsmandats (1996) eine kurzfristige Konsultation der Kantone statt.

5939

5.3.3

Phase III: Vernehmlassungsverfahren

Das Vernehmlassungsverfahren ermöglicht dem Bund, die Öffentlichkeit über seine geplanten Vorhaben zu informieren und letztere frühzeitig auf ihre sachliche Richtigkeit, Vollzugstauglichkeit und Akzeptanz zu überprüfen. Es ist Ausdruck des kooperativen Föderalismus und ein wichtiges und notwendiges Instrument der Entscheidungsfindung im Bundesstaat. Das Verfahren wird in der Regel schriftlich durchgeführt und dauert drei Monate. In dringlichen Fällen kann diese Frist verkürzt oder eine konferenzielle Vernehmlassung durchgeführt werden.

Bilaterale I50: Am 15. März 1999, 14 Tage nach der Paraphierung der Vertragstexte, wurde das Vernehmlassungsverfahren über die sieben Verträge sowie über die Umsetzungs- und Begleitmassnahmen eröffnet; es dauerte bis zum 13. April 1999 (das Vernehmlassungsverfahren über die flankierenden Massnahmen im Personenverkehr wurde gesondert, vom 3. Februar bis zum 12. März durchgeführt). Im Rahmen des zentralen Vernehmlassungsverfahrens, welches vom Bundesrat teils konferenziell, teils schriftlich durchgeführt wurde, äusserten sich die beiden Bundesgerichte, die Kantone, die Parteien in der Bundesversammlung sowie die Spitzenverbände. Darüber hinaus wurde von den Departementen ein dezentrales Vernehmlassungsverfahren mit weiteren Adressaten durchgeführt, die an den sektoriellen Abkommen interessiert sind. Die Kantonsregierungen beauftragten die KdK, eine gemeinsame Stellungnahme auszuarbeiten und den Kantonen zur Beschlussfassung vorzulegen.

Bilaterale II51: Am 30. Juni 2004, fünf Tage nach der Paraphierung der Vertragstexte, wurde das Vernehmlassungsverfahren über die ausgehandelten Abkommen sowie über die dazugehörigen Umsetzungsmassnahmen in schriftlicher Form eröffnet; es dauerte bis zum 10. September 2004 bzw. für die Kantone bis zum 17. September 2004. Die unterschiedlichen Fristen rechtfertigten sich, weil die Kantone während der Regierungsratsferien keine Beschlüsse treffen können. Der Kreis der Vernehmlassungsadressaten wurde nicht eingeschränkt, und begrüsst wurden die beiden Bundesgerichte, die Kantone, die Parteien in der Bundesversammlung, die Spitzenverbände sowie zahlreiche weitere interessierte Kreise. Die Kantonsregierungen beauftragten die KdK, eine gemeinsame Stellungnahme auszuarbeiten und den Kantonen zur Beschlussfassung vorzulegen. Neben der KdK erfolgten noch explizite Stellungnahmen von einigen Kantonen.

5.3.4

Phase IV: Umsetzung der Verhandlungsergebnisse

Der Bund informiert die Kantone ebenfalls im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens über die Änderungen der Rechtslage aufgrund eines Abkommens, das eingeführt und umgesetzt werden soll und ihre Zuständigkeiten betrifft. Aufgrund der aktiven Mitwirkung der Kantone in der Vorphase (Ziff. 5.3.1­5.3.3) war es ihnen möglich, bereits frühzeitig die für die Umsetzung erforderlichen Dispositionen zu treffen. Dies entspricht dem oben erwähnten Gedanken der Rückkoppelung der Entscheide.

50 51

Vgl. Ausführungen in der Botschaft Bilaterale I, BBl 1999 6163 ff.

Vgl. Ausführungen in der Botschaft Bilaterale II, BBl 2004 6014 ff.

5940

5.3.5

Phase V: Verfahren in den Gemischten Ausschüssen

Die Vertragsparteien haben grundsätzlich alle geeigneten Massnahmen zu treffen, um die Erfüllung der sich aus den Abkommen ergebenden Verpflichtungen zu gewährleisten, und sich aller Massnahmen zu enthalten, die die Erreichung der mit dem Abkommen verfolgten Ziele gefährden. Anwendung und Vollzug der Abkommen durch die ordentlichen Behörden und Gerichte der Vertragsparteien haben sich an dieser Treuepflicht und an der praktischen Wirksamkeit (effet utile) zu orientieren. Die Abkommen beruhen teilweise auf der Gleichwertigkeit der Gesetzgebungen52 und haben in vielen Fällen Gemeinschaftsrecht (Verordnungen, Richtlinien, aufgeführt in den Anhängen) übernommen. Auch wenn die Abkommen keine völkerrechtliche Verpflichtung vorsehen, die künftige EU-Gesetzgebung (oder die EuGH-Rechtsprechung) systematisch nachzuvollziehen oder zu übernehmen53, ist die Schweiz faktisch in die Dynamik der Rechtsentwicklung in der EU eingebunden.

Zur bestmöglichen Wahrung der schweizerischen Interessen bedingen die Verfahren in den Gemischten Ausschüssen (GA), sich über die laufende Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene aktiv zu informieren, und diese bei Bedarf bei Auslegung und Anwendung der Abkommen zu berücksichtigen. Oftmals ist es im Interesse der Schweiz, zur Aufrechterhaltung der Vorteile der entsprechenden Abkommen, aber auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Praktikabilität, die Anwendung und den Vollzug der Abkommen sowie die entsprechende nationale Gesetzgebung und Rechtsanwendung europakompatibel zu gestalten. Abweichungen sind möglich, müssen jedoch im Wissen um die Konsequenzen entschieden werden.

Aufgaben und Befugnisse der Gemischten Ausschüsse Gemeinsames Organ der Vertragsparteien ist der jeweilige Gemischte Ausschuss (GA). Fast alle der eingangs erwähnten 20 Hauptabkommen haben solche Gemischte Ausschüsse institutionalisiert54. Diese sind mit der Verwaltung und ordnungsgemässen Anwendung bzw. dem ordnungsgemässen Funktionieren der Abkommen betraut. Sie können Empfehlungen abgeben und einvernehmlich Beschlüsse fassen. Die GA dienen neben der Streitbeilegung zudem dem Informationsaustausch zwischen den Parteien. Sie haben nur in den in den jeweiligen Abkommen bzw. deren Anhängen vorgesehenen Fällen Entscheidungsgewalt. Entsprechende Beschlüsse der GA sind für die Vertragsparteien bindend55; diese müssen alle geeigneten Massnahmen treffen, um die Erfüllung der sich aus den Abkommen ergebenden Verpflichtungen zu gewährleisten.

52

53 54

55

Die Gleichwertigkeit der Gesetzgebung bedeutet dass a) die Parteien die Gesetzgebung der Gegenseite als der ihren gleichwertig (in Wirkung und Tragweite) anerkennen und b) die Vertragspartner den erreichten und vereinbarten Standard kompatibel und gleichwertig halten. Allerdings tendiert die EU zunehmend darauf, dass die Schweiz die relevanten EU-Regelungen übernimmt.

S. Botschaft Bilaterale I, Ziff. 148.5.

Zu den Tätigkeiten dieser GA s. die Beiträge unter dem Titel «Schweizerische Praxis im Europarecht» jeweils im Schweizerischen Jahrbuch für Europarecht, letzmals: Siegwart Karine/Felder Daniel, Die sektoriellen Abkommen Schweiz-EG von 1999 und 2004 sowie das Freihandelsabkommen Schweiz-EWG von 1972 in ihrer praktischen Anwendung, Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht 2005/2006, Bern/Zürich 2006, 479 ff.

Rechtsgrundlage hinsichtlich der Publikation der Beschlüsse der GA ist das Publikationsgesetz, Bundesgesetz vom 18. Juni 2004 über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsgesetz, SR 170.512), vgl. sogleich Ziff. 5.3.6.

5941

Zu den wichtigsten Befugnissen der GA gehört die Anpassung und Änderung der Anhänge, wo dies in den einzelnen Abkommen vorgesehen ist. Neben dem hauptverantwortlichen Bundesamt sowie dem Integrationsbüro EDA/EVD und anderen mitinteressierten Ämtern sind die Kantone in jenen Bereichen vertreten, die ihre Zuständigkeiten betreffen oder ihre wesentlichen Interessen berühren. Jedenfalls sind sie in die verwaltungsinternen Vorbereitungs- und Nachbereitungssitzungen oder in die den GA begleitenden verwaltungsinternen Arbeitsgruppen einzubeziehen. Dies geschieht einmal über die verschiedenen Informationsbeauftragten, aber auch durch Vertreter der KdK.

Die Schweiz wird in den GA auch über die Weiterentwicklung des acquis communautaire in den von den Abkommen abgedeckten Bereichen orientiert. Sie ist eingeladen, ihre Kommentare abzugeben. Über ein Mitentscheidungsrecht beim Erlass des EU-Rechts verfügt die Schweiz auch über die Verfahren in den GA nicht; ein solches ist EU-Mitgliedstaaten vorbehalten. Für fachliche Diskussionen ist die Teilnahme von Vertretern der Schweiz an den Sitzungen verschiedener Ausschüsse und Expertengruppen daher umso wichtiger56. Regelmässig kommt der Schweiz ein Beobachterstatus zu, d.h. sie nimmt an den Abstimmungen nicht teil (vgl. Art. 100 EWR), kann jedoch ihre Interessen und Standpunkte in den Verhandlungen durchaus einbringen. Auch in diesen Gremien können die Kantone Teil der schweizerischen Verhandlungsdelegation sein. Am weitesten gehen die Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen der Schengen-Assoziierung (Ziff. 5.4.4) Zuständigkeiten zur Beschlussfassung Die Schweiz ist in den GA grundsätzlich durch den Bundesrat vertreten, der seinerseits diese Befugnis an Departemente und Ämter delegieren kann. Inhalt und Tragweite der traktandierten GA-Beschlüsse entscheiden aber darüber, ob erstens eine parlamentarische Genehmigung erforderlich ist und ob zweitens der Bundesrat die fragliche Kompetenz weiter delegieren kann57. Bevor über die Übernahme neuen Rechts entschieden werden kann, sind in jedem Fall zuerst die genauen Auswirkungen der Übernahme der fraglichen EG-Rechtsakte auf die schweizerische Gesetzgebung und der sich daraus ergebende Gesetzgebungs- bzw. Revisionsbedarf zu evaluieren, um die Kompetenzlage zu klären.

Bei der Vorbereitung von GA-Beschlüssen, welche die
Zuständigkeiten der Kantone betreffen oder ihre wesentlichen Interessen berühren, sind daher die Kantone einzubeziehen. Das hauptverantwortliche Amt bzw. Departement hat dafür zu sorgen, dass die Kantone rechtzeitig und umfassend über den geplanten GA-Beschluss informiert werden, um ihnen eine angemessene Mitwirkung zu erlauben. Insbesondere müssen die Kantone vor der Übernahme neuer EG-Rechtsakte, welche Auswirkungen auf die Kantone haben, konsultiert werden, und es ist ihnen genügend Zeit für die Konsultation einzuräumen. Dabei sollten den Kantonen in der Regel mindestens vier Arbeitswochen zur Konsultation zur Verfügung stehen. Die Konsultation

56

57

Vgl. Erklärung zur Teilnahme der Schweiz an den Ausschüssen, Schlussakte des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, SR 0.142.112.681.

Der Standpunkt der EG in den Gemischten Ausschüssen wird in der Regel vom Rat auf Vorschlag der EG-Kommission festgelegt. In einigen Fällen wurde die Festlegung des Standpunktes der EG an die EG-Kommission delegiert.

5942

erfolgt über die Informationsbeauftragten der Kantone im Integrationsbüro EDA/EVD und im EJPD (Schengen-Assoziierung).

5.3.6

Phase VI: Genehmigung, Umsetzung und Publikation der Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse

Genehmigung und Umsetzung Genehmigung und Umsetzung der Beschlüsse erfolgen gemäss den innerstaatlichen Verfahren58. Wie erwähnt steht den GA die Befugnis zu, über Änderungen der Anhänge zu den Abkommen zu bestimmen59. Solche Änderungen stellen Änderungen des Staatsvertrages dar, die gestützt auf Artikel 166 Absatz 2 erster Satz BV der parlamentarischen Genehmigung bedürften. Der Bundesrat kann jedoch gemäss Artikel 166 Absatz 2 zweiter Satz BV völkerrechtliche Verträge selbständig abschliessen und ändern, soweit er durch ein Bundesgesetz oder einen von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrag dazu ermächtigt ist60.

Es handelt sich dabei um eine Kompetenzdelegation61.

Beschlüsse der GA können eine derart weitreichende Tragweite haben, dass eine Genehmigung durch die Bundesversammlung nötig ist. So müssen Beschlüsse, welche Materien betreffen, die in die Kompetenz der Bundesversammlung fallen bzw. die Anpassungen von Bundesgesetzen bedingen62, dem Parlament mit einer Botschaft vorgelegt werden. Erfordert die Umsetzung eines GA-Beschlusses Gesetzesänderungen, können diese in den Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden63. Der Übernahme von neuem EG-Recht kann im GA daher grundsätzlich nur dann zugestimmt werden, wenn die schweizerische Gesetzgebung mit den neuen 58 59

60 61

62

63

Gegebenenfalls müssen Beschlüsse der GA sogar durch die Vertragsparteien genehmigt werden. Siehe z.B. Art. 22 Abs. 3 letzter Satz Luftverkehrsabkommen.

Änderungen der Grundabkommen (also des Vertragestextes exkl. Anhänge und Anlagen) bedürfen in der Regel der Genehmigung durch die Bundesversammlung. Vorbehalten bleiben Änderungen von beschränkter Tragweite, welche gemäss Artikel 7a Absatz 2 RVOG in den Zuständigkeitsbereich des Bundesrates fallen. Zwar sehen die meisten Abkommen vor, dass Vorschläge für Revisionen bzw. Änderungen dem jeweiligen GA zu unterbreiten sind; jedoch können solche Änderungen erst nach Abschluss der jeweiligen internen Verfahren der Vertragsparteien in Kraft treten.

Art. 7a RVOG; Art. 177a Abs. 1 Landwirtschaftsgesetz, Art. 3a BG über die Luftfahrt, Art. 14 BG über die technischen Handelshemmnisse.

Auch hat die Bundesversammlung mit der Genehmigung der bilateralen Abkommen dem Bundesrat die Kompetenz zur Wahrnehmung der Aufgaben der GA übertragen; Botschaft vom 23. Juni 1999 zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG, BBl 1999 6128 ff , Ziff. 148.3. Auch mit der Genehmigung der bilateralen Abkommen II ist ­ unter Vorbehalt von Entscheidungen von bedeutender Tragweite ­ im Bezug auf einige Abkommen eine Kompetenzdelegation an den Bundesrat zur Wahrnehmung der Aufgaben der GA verbunden, s. Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union («Bilaterale II»), BBl 2004 5965 ff, z.B. Ziff. 2.3.3.6 und 2.4.3.2 In Verträgen, welche die Bundesversammlung genehmigt hat, kann auch eine stillschweigende Ermächtigung, insbesondere zur Änderung oder Ergänzung dieser Verträge, oder deren meist technischen Anhänge, enthalten sein, vgl. VPB 51 IV, S. 379.

GA-Beschlüsse, deren Umsetzung den Erlass (oder die Änderung) von Bundesgesetzen erfordert bzw. die selber wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten, unterstehen gemäss Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV dem fakultativen Referendum.

Art. 141a Abs. 2 BV.

5943

Verpflichtungen im Einklang steht64. Weiter können GA-Beschlüsse dann der parlamentarischen Genehmigung bedürfen, wenn diese Beschlüsse weitreichende institutionelle Bestimmungen enthalten oder bestimmte Kontroll- und Sanktionsaufgaben auf die EG-Organe übertragen. Gleiches gilt für den Fall, dass das Regime der bilateralen Abkommen durch die Aufnahme von neuen Erlassen des Gemeinschaftsrechts in die Anhänge auf Sachbereiche ausgedehnt wird, die davon bisher ausgenommen gewesen sind, was im Normalfall eine Änderung des Grundabkommens bedingen würde.

Publikation Ob die Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse in der Schweiz amtlich und in den drei Landessprachen veröffentlicht werden müssen, bestimmt sich nach ihrem Inhalt65. Rechtsgrundlage für die amtliche Publikation der Beschlüsse der GA ist das Publikationsgesetz66. Dieses legt die Voraussetzungen der amtlichen Publikation fest und dient neben der Verbesserung der Rechtssicherheit auch der Information der Rechtsadressaten. Abzustellen ist jeweils auf die materielle Bedeutung eines Beschlusses des GA (Analyse der rechtlichen Auswirkung z.B. einer Änderung der Anhänge). Wo Beschlüsse rechtsetzenden Inhalt haben, wird die Veröffentlichung in AS und SR notwendig. Andere Beschlüsse ­ beispielsweise Empfehlungen ­ können je nach Tragweite im Bundesblatt oder in anderen Publikationen (ev. Bericht der Staatsverträge) erfolgen. Die Möglichkeit, Rechtserlasse über einen Verweis zu publizieren, ist im Gesetz ausdrücklich vorgesehen und dürfte in der Regel gerade für Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse die sinnvollste Publikationsform sein (Verweis auf die entsprechende Fundstelle im Amtsblatt der EU).

Die vollständige Liste der gemeinschaftsrechtlichen Erlasse, die für die Schweiz auf Grund der Bilateralen Abkommen I und II relevant sind, findet sich im elektronischen Register zu den Bilateralen Abkommen67. Das Register findet seine rechtliche Grundlage in Artikel 25 Publikationsverordnung68 und wird von der Bundeskanzlei verwaltet. Es dient hauptsächlich der Information über das im Rahmen der Bilateralen I und II geltende Gemeinschaftsrecht und die mit der Umsetzung und Weiterentwicklung verbundenen Verfahren. Unabhängig vom amtlichen Publikationsbegriff sind dort sämtliche Beschlüsse der Gemischten Ausschüsse Bilaterale I (und ab Inkrafttreten auch
diejenigen zu den Bilateralen II), die auch im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden, für alle Interessierten einsehbar. Dieses Informationsinstrument soll dazu beitragen, die Transparenz insbesondere in den Verfahren zu den Gemischten Ausschüssen sicherzustellen.

64

65 66 67 68

In Ausnahmefällen kann einem solchen Beschluss schon dann zugestimmt werden, wenn der Abschluss der Revisionsarbeiten im Parlament zur Anpassung der schweizerischen Gesetzgebung an die übernommenen Verpflichtungen kurz bevorsteht. In solchen Fällen hat die Zustimmung der Schweiz aber unter Vorbehalt der entsprechenden Gesetzesänderungen zu erfolgen.

Eine generelle Veröffentlichungspflicht sieht einzig das Luftverkehrsabkommen explizit vor, siehe Art. 22 Abs. 3.

Bundesgesetz vom 18. Juni 2004 über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsgesetz, SR 170.512).

http://www.admin.ch/ch/d/eur/index.html SR 170.512.1.

5944

5.4

Regelung der Zusammenarbeit Bund-Kantone im Rahmen der Europapolitik generell

Die Frage der bestmöglichen und effizienten Zusammenarbeit Bund-Kantone in der Europapolitik stellt sich unabhängig vom Gebrauch des Instrumentariums, d.h.

unabhängig davon, ob die Schweiz Mitglied der EU ist oder nicht. Ein EU-Beitritt ermöglichte den Kantonen, auf EU-Ebene eigenständig mitzuwirken. Sie hätten eine begrenzte Zahl von Vertretern im Ausschuss der Regionen und könnten ­ mit Vorteil in gemeinsamer Kooperation ­ in Brüssel eigenes Lobbying betreiben. Da die europäische Rechtsetzung auf EU-Ebene insbesondere im EG-Ministerrat und im Europäischen Parlament erfolgt, wäre, wie bereits bei der bilateralen Zusammenarbeit, die Mitwirkung der Kantone bei der Europapolitik des Bundes von grösserer Bedeutung. Vor allem die Koordination unter den Kantonen, die Berücksichtigung der Stellungnahme der Kantone im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Bund sowie die Vertretung der Kantone in den jeweils zuständigen Delegationen sind dabei angesprochen.

5.4.1

Koordination unter den Kantonen

Stellung der KdK Aus Sicht des Bundes kann die KdK ihre Koordinationsrolle weiterhin wahrnehmen.

Die KdK hat sich in den letzten Jahren wegen ihrer schnellen Reaktionsfähigkeit und der Möglichkeit, dass die Kantone durch sie mit einer Stimme sprechen können, als Partner des Bundes in der Aussenpolitik bewährt. Deshalb erscheint es auch naheliegend, dass die KdK als primäres Kontaktorgan des Bundes wirkt. Sie verfügt über verschiedene bewährte Instrumente, um Koordination und Austausch mit dem Bund zu vereinfachen und sicherzustellen. Diese Form der Zusammenarbeit führt jedoch zu immer stärkerem Einfluss der Exekutiven auf die Rechtsetzung69. Den Kantonen obliegt es, Anstösse für die effiziente, transparente und demokratische Ausgestaltung der Koordination zu geben und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen interkantonalen Organen zu optimieren.

Stellung der Fachdirektorenkonferenzen Den Fachdirektorenkonferenzen kommt in der Aussenpolitik dann eine wichtige Rolle zu, wenn inhaltlich begrenzte Materien aus dem Kompetenzbereich der Kantone behandelt werden und besonderes Fachwissen genutzt werden soll. Gerade bei der Zusammenarbeit mit internationalen Arbeitsgruppen ist dies besonders wichtig.

So hat im Bildungsbereich wegen der Schulhoheit der Kantone die Erziehungsdirek69

Dieses Problem stellt allerdings die Demokratie in den Kantonen nicht in Frage. Sie bewegen sich bei ihrer Tätigkeit im Bereich der interkantonalen Zusammenarbeit immer im Rahmen der ihnen von der Verfassung zugestandenen Organisationsfreiheit. Der Bund kann deshalb die Kantone nicht verpflichten, die Parlamente besser in die interkantonale Zusammenarbeit mit einzubeziehen. Auf Bundesebene ist diese Tendenz der Zentralisierung und Entdemokratisierung weniger feststellbar, da das Parlament (mindestens über die Aussenpolitischen Kommissionen, Art. 24 und Art. 152 ParlG) formell wie informell in die aussenpolitische Willensbildung des Bundesrates einbezogen ist. Darüber hinaus werden die nationalen Parlamente über laufende Reformvorschläge auf EU-Ebene vorgängig informiert (s. das geltende Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union von 1997).

5945

torenkonferenz (EDK) eine zentrale Funktion. Wo in der internationalen Zusammenarbeit Bildungsminister zusammenkommen, ist die Schweiz oft nicht durch einen Bundesrat, sondern durch die Präsidentin oder den Präsidenten der EDK vertreten. Auch bei einem EU-Beitritt könnten solche Lösungen möglich sein, und zwar in Gremien der EU, sofern sich diese mehrheitlich mit Materien befassen, die in kantonaler Kompetenz liegen.

Stellung der Informationsbeauftragten Der tägliche Informationsfluss zur Europapolitik wird auch im Falle eines Beitritts durch die Informationsbeauftragten der Kantone im Integrationsbüro EDA/EVD, im EJPD und bei der Mission der Schweiz bei der EU in Brüssel sichergestellt70. Die Informationsbeauftragten sind die Drehscheiben der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen. Sie haben im Rahmen der Geheimhaltungsregeln des Bundes Zugang zu den internen Akten und Sitzungen innerhalb der Bundesverwaltung und sie übermitteln die Stellungnahmen der Kantone.

Kantonale Ressourcen Angesprochen ist die kantonsinterne und die interkantonale Organisation. Auch hier spielt der Informationsaustausch eine wichtige Rolle; die Kantone müssen sich über die europapolitischen Aktivitäten ganz generell informieren und bei Bedarf auch die sie interessierenden Informationen einfordern. Es liegt in der Organisationsautonomie der Kantone, zu prüfen, ob hierfür in jedem Kanton eine Fachstelle geschaffen werden oder ob diese Aufgabe weiterhin interkantonal (Direktorenkonferenzen, KdK) angesiedelt bleiben soll. Trotz der Problematik, dass eine verbesserte demokratische Absicherung der interkantonalen Zusammenarbeit das Verfahren zum Abschluss von Vereinbarungen verlangsamt, haben die Kantone in jüngerer Zeit Anstrengungen in diese Richtung unternommen71.

5.4.2

Stellung des Ständerats

Eine Variante wäre die Umgestaltung des Ständerats nach dem Vorbild des deutschen Bundesrats (Repräsentation der Kantone im Bundesparlament durch Mitglieder der kantonalen Regierungen, bzw. Instruktionsgebot). In der zweiten Kammer kämen dann vermehrt die Interessen der Kantonsregierungen und gegebenenfalls der Kantonsparlamente zum Zuge. Dadurch würde der Ständerat bei der Europapolitik ein wirksames Organ der Mitwirkung der Kantone. Dies würde jedoch eine Änderung des verfassungsrechtlich verankerten Instruktionsverbots (Art. 161 BV) erfordern. Die Umgestaltung des Ständerats nach dem Modell des deutschen Bundesrats könnte aber mit Nachteilen verbunden sein. Da der Ständerat dem Nationalrat in allen Fragen gleichgestellt ist ­ dies im Gegensatz zum deutschen Bundesrat im Verhältnis zum Bundestag ­ könnte damit eine zu starke Gewichtsverlagerung zu Gunsten der kantonalen Interessen verbunden sein und gegebenenfalls zu zunehmenden Spannungen zwischen den beiden Kammern führen.

70 71

Ein weiterer Vertreter der Kantone ist dem Finanzdepartement für die Dauer des Projekts NFA zugeordnet.

Zu erwähnen ist an dieser Stelle die Vereinbarung der Westschweizer Kantone vom 9. März 2001 über die Aushandlung, Ratifikation, Ausführung und Änderung der interkantonalen Verträge und der Vereinbarungen der Kantone mit dem Ausland.

5946

Eine ausführliche Behandlung dieser Grundsatzfrage würde den Rahmen des vorliegenden Berichtes sprengen. Sie wäre aber allenfalls in Zukunft weiter zu vertiefen.

5.4.3

Europakommission im Parlament

Zu überlegen wäre die Institutionalisierung einer permanenten Europakommission in den Räten.72 Ein solches Organ wäre auch bei der bilateralen Zusammenarbeit von Vorteil. Im Falle eines Beitritts ermöglicht eine spezialisierte Europakommission zudem die gebührende Wahrnehmung der in den Protokollen zum EG-Vertrag über die Stellung der nationalen Parlamente und die Subsidiarität verankerten Rechte (Frühwarnsystem). Ob allerdings dadurch auch eine Rückkoppelung an die kantonalen Interessen gewährleistet werden könnte, ist eher fraglich.

5.4.4

Zusammenarbeit im Bereich Schengen-/Dublin

5.4.4.1

Mitwirkung der Kantone

Das Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA)73 unterscheidet sich von den anderen sektoriellen Abkommen mit der EG insbesondere bezüglich der institutionellen Arrangements, die im Hinblick auf die allfällige Übernahme von neuen EU-Rechtsakten getroffen worden sind. So sind es im Rahmen der sektoriellen Abkommen grundsätzlich die Gemischten Ausschüsse (GA), die eine allfällige Übernahme von neuen Rechtsakten der EG beschliessen, wenn auch der genaue Umfang der Entscheidungsbefugnisse der GA von Abkommen zu Abkommen variiert. Eine institutionalisierte Mitsprache der Schweiz bei der Erarbeitung der neuen EU-Rechtsakte besteht indessen nicht.

Im Bereich Schengen erfolgt die Anpassung des so genannten Schengen-Besitzstands zwar ebenfalls im Rahmen der ordentlichen Rechtsetzungsverfahren der EU, doch wird die Schweiz im Unterschied zu den übrigen sektoriellen Abkommen hier bereits an den einschlägigen Rechtsetzungsverfahren auf Ebene der EU beteiligt. So ist die Schweiz neben den Ausschüssen, die die Kommission unterstützen, namentlich in allen Arbeitsgruppen des Rates vertreten, in denen neue schengenrelevante Rechtsakte erarbeitet werden. Die Schweiz verfügt in diesem Rahmen über ein gestaltendes Mitspracherecht. Die eigentliche Beschlussfassung über eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands bleibt indes den zuständigen Organen der EG bzw. EU vorbehalten.

Die Übernahme einer Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands erfolgt sodann ­ ebenfalls anders als bei den anderen sektoriellen Abkommen ­ nicht gestützt auf einen Beschluss des Gemischten Ausschusses, sondern auf der Grundlage eines besonderen, im Schengen-Assoziierungsabkommen niedergelegten Verfahrens (Art. 7 SAA): Danach erfolgt die Übernahme eines von der EU vorgängig zu notifi72 73

Vgl. hierzu die parlamentarische Initiative 06.443 vom 23.6.2006 zur Stärkung des Parlamentes in der Europapolitik.

Das Dublin-Assoziierungsabkommen kennt einen weitestgehend identischen institutionellen Aufbau, weshalb im Folgenden der einfacher Darstellung halber nur auf das Schengen-Assoziierungsabkommen Bezug genommen wird. Die Ausführungen haben aber für den Bereich Dublin entsprechende Gültigkeit.

5947

zierenden Rechtsakts im Rahmen eines Notenaustausches. Dieser stellt aus schweizerischer Sicht einen völkerrechtlichen Vertrag dar, für dessen Abschluss ­ je nach Inhalt des zu übernehmenden Rechtsakts ­ die Bundesversammlung oder ausnahmsweise der Bundesrat zuständig ist. Allenfalls kann zudem auch die Zustimmung durch das Volk im Rahmen des fakultativen Staatsvertragsreferendums erforderlich werden (Art. 141 Abs. 1 Bst. d Ziff. 3 BV). Die Umsetzung des Notenaustausches hat jeweils durch die Staatsebene (Bund/Kantone) zu erfolgen, dem die entsprechende Regelungskompetenz zukommt. Insgesamt steht der Schweiz für die Übernahme und Umsetzung einer Weiterentwicklung eine Frist von maximal 2 Jahren zur Verfügung.

Aufgrund der Tatsache, dass die Kantone im Rahmen der Schengener Zusammenarbeit in wesentlichen Kompetenzen (z.B. Polizei- und Justizhoheit) berührt sind, stellt die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen eine besondere Herausforderung dar. In der Botschaft zu den «Bilateralen II» weist der Bundesrat denn auch auf entsprechenden Handlungsbedarf im Hinblick auf die Umsetzung und die Übernahme von Weiterentwicklungen des Schengen/Dublin-Besitzstandes hin74. Die Notwendigkeit einer effizienten und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen besteht insbesondere auf drei Ebenen: ­

74 75

76

Zunächst einmal auf der Ebene der Mitsprache im Rahmen der Weiterentwicklung. Seit der Unterzeichnung der Assoziierungsabkommen ist die Schweiz an den Beratungen, die im Rahmen der ordentlichen Rechtsetzungsverfahren in den jeweiligen Ausschüssen und Arbeitsgruppen von Kommission und Rat stattfinden, vertreten. Soweit ein schengenrelevanter Rechtsakt Gegenstand der Beratungen ist, tagen diese in ihrer Zusammensetzung als «Gemischter Ausschuss«, d.h. unter Beteiligung der Schweiz und der übrigen assoziierten Staaten. Die herausragende Rolle im Entscheidungsprozess der EU kommt dabei den etwa 15 Ratsarbeitsgruppen zu, welche im Durchschnitt einmal monatlich auf Expertenstufe zusammenkommen75. Sind die Geschäfte in den Arbeitsgruppen abgeschlossen, gelangen diese auf die höheren Stufen (hochrangige Beamte: CATS [Comité de l'article trente-six, beruhend auf Art. 36 EUV], SCIFA [Strategic Commission on Immigration, Frontiers and Asylum] und COREPER[Comité des réprésentants permanants]), welche ebenfalls ein Mal pro Monat tagen, bevor sie schliesslich auf Ministerstufe (JAI[Justice and Internal Affairs Council of Ministers]) verabschiedet werden. Die Delegationen der Schweiz sind jeweils aus Vertretern des Bundes und der Kantone zusammengesetzt, wobei die Kantone in denjenigen Bereichen vertreten sind, in denen ausschliesslich oder teilweise kantonale Rechtsetzungs- oder Vollzugskompetenzen betroffen sind76. Aufgrund der bisweilen kurzen Reaktionsfristen, stellt die rechtzeitige materielle Abstimmung zwischen Bund und Kantonen im Hinblick auf die Formulierung einer Schweizerischen Position eine wichtige Daueraufgabe dar. Die Kantone sind in diesem Zusammenhang gefordert, die nötigen Kenntnisse und Ressourcen aufbringen, um ihre Interessen Botschaft «Bilaterale II», BBl 2004 6010.

Vgl. hierzu Gutzwiller Susanne, Komitologie und Gemischte Ausschüsse im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin, in: Kaddous Christine/Jametti Greiner Monique, Bilaterale Abkommen II Schweiz-EU und andere neue Abkommen, Genf/Basel/München/Brüssel/Paris 2006, S. 245 ff.

Botschaft Bilaterale II, BBl 2004 6182.

5948

auf europäischer Ebene gebührend vertreten zu können. Im Rahmen der Begleitorganisation Schengen/Dublin (BOSD) sind durch die KdK die notwendigen Strukturen geschaffen worden.

­

Zum anderen ist eine enge Abstimmung zwischen Bund und Kantonen auch im Hinblick auf die Übernahme und Umsetzung von Weiterentwicklungen erforderlich. Während die Übernahme von neuen Rechtsakten der EG bzw.

EU im Rahmen des Notenaustausches Sache des Bundes ist, kann ein gesetzlicher Umsetzungsbedarf je nach Sachlage auch oder gar nur auf kantonaler Ebene entstehen. Da der Bundesrat in der Lage sein muss, der EU innert der für den Notenaustausch vorgegebenen Frist von 30 Tagen mitzuteilen, ob für die Übernahme und Umsetzung die Frist von maximal 2 Jahren beansprucht werden muss, bedarf es eines effizienten KommunikationsMechanismus zwischen Bund und Kantonen, der sicherstellt, dass diese Frist trotz Konsultation aller Beteiligten eingehalten werden kann77. Ein solcher ist in einer Vereinbarung Bund-Kantone niedergelegt worden (Ziff. 5.4.4.2).

Seit September 2005 vertritt darüber hinaus ein Informationsbeauftragter die Kantone im EJPD.

­

Schliesslich kann die geeignete Mitwirkung der Kantone auch im Hinblick auf Aufgaben erforderlich werden, die im Rahmen völkerrechtlicher Verträge traditionellerweise dem Gemischten Ausschuss überantwortet sind.

Inhaltlich geht es dabei um die im gegenseitigen Einvernehmen zu treffenden Beschlüsse, die im Hinblick auf die Verwaltung bzw. das gute Funktionieren der Abkommen erforderlich werden können (etwa im Rahmen der vorgesehenen Streitbeilegungsmechanismen). Der Gemischte Ausschuss hat bisher allerdings erst einmal getagt und sich dabei seine Geschäftsordnung gegeben.

5.4.4.2

Vereinbarung zwischen Bund und Kantonen betreffend Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands

Im Bundesbeschluss vom 17. Dezember 2004 über die Genehmigung und die Umsetzung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin78 wurde der Abschluss einer «Vereinbarung betreffend Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen/DublinBesitzstands» in Aussicht gestellt. Die Vereinbarung konnte in der Zwischenzeit erfolgreich verhandelt und am 29. September 2006 abgeschlossen werden. Sie ist einfach gehalten und gibt die Zusammenarbeit, die sich seit der Unterzeichung der Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommen eingespielt hat, wieder. Die Formulierungen sind soweit möglich flexibel gehalten, damit künftige Optimierungen der Abläufe möglich bleiben, ohne dass hierzu die Vereinbarung abgeändert werden müsste. Die Vereinbarung enthält deshalb nur die notwendigen Eckpunkte für eine

77 78

Vgl. Botschaft Bilaterale II, BBl 2004 6130 ff.

Art. 1 Abs. 2 Bundesbeschluss vom 17. Dez. 2004 über die Genehmigung und die Umsetzung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin, BBl 2004 7149.

5949

praktische Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen. Sie orientiert sich an Verfassung und Mitwirkungsgesetz79 und geht nirgends darüber hinaus.

Die Vereinbarung regelt insbesondere: a)

die Informationsübermittlung zwischen Bund und Kantonen im Geltungsbereich der Assoziierungsabkommen von Schengen und Dublin;

b)

die Vertretung und Mitwirkung der Kantone im Gemischten Ausschuss sowie in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen der EU;

c)

die Erarbeitung gemeinsamer Positionen der schweizerischen Delegationen in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen der EU;

d)

die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Bund und Kantonen bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung von neuen Rechtsakten und Massnahmen der EU gemäss Artikel 7 SAA und Artikel 4 DAA, die von der EU an die Schweiz notifiziert sind.

5.5

Fazit: Regelung der Verfahrensabläufe in einer Rahmenvereinbarung

Wie die mit den bilateralen Abkommen und dort insbesondere mit den Assoziierungsabkommen Schengen/Dublin gemachten Erfahrungen zeigen, stellt sich die Frage der bestmöglichen und effizienten Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen in der Europapolitik unabhängig davon, ob die Schweiz Mitglied der EU ist oder nicht. Bei der Weiterentwicklung bestehender und der Verhandlung neuer Abkommen wie auch bei einem EU-Beitritt stehen die gegenseitige und rechtzeitige Information und Konsultation im Vordergrund.

Gleichzeitig gilt es, die Handlungsfähigkeit v.a. gegenüber den Verhandlungs- oder Vertragpartnern zu wahren sowie eine möglichst einheitliche Umsetzung zu garantieren.

Eine umfassende Föderalismusreform (z.B. Reform der Gebietseinteilung, des Ständerats, insb. Doppelmehr bei obligatorischen Referenden) steht unmittelbar nicht bevor. Was das Verhältnis zur EU angeht, sind zunächst mit den bestehenden Instrumenten Erfahrungen zu sammeln und Reformen schrittweise und eingebettet in andere grössere Reformen vorzunehmen. Insgesamt ist es wichtig, dass die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen auf einer partnerschaftlichen, von gegenseitigem Vertrauen geprägten Basis stattfindet. Mit dem Ziel, diese Zusammenarbeit transparent und koordiniert zu gestalten, könnte gestützt auf Artikel 55 BV und das Mitwirkungsgesetz80 eine Rahmenvereinbarung Bund-Kantone ins Auge gefasst werden, die sich von derjenigen, die für die Schengen-Dublin-Assoziierung gilt, inspirieren lassen könnte. Diese könnte folgenden Inhalt aufweisen: ­

79 80

die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Bund und Kantonen bei der Aushandlung, Umsetzung, Anwendung und Entwicklung der Abkommen sowie bei der Übernahme von EU-Recht (Sekundärrecht);

Bundesgesetz vom 22. Dez. 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK), SR 138.1.

Bundesgesetz vom 22. Dez. 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK), SR 138.1.

5950

­

die Regelung des Informationsflusses;

­

gegebenenfalls die Vertretung der Kantone in den Ausschüssen und den Arbeitsgruppen der EU (Beispiel Schengen);

­

die Abstimmung der Haltung der schweizerischen Delegation;

­

die Verfahren für die Umsetzung eines Rechtsaktes oder einer Massnahme;

­

die Sicherstellung der Einhaltung der Fristen;

­

die Konfliktregelung.

Die Berücksichtigung der Interessen der Kantone darf nicht so weit gehen, dass die aussenpolitische Handlungsfähigkeit des Bundes beeinträchtigt wird. Es kann also keine Verpflichtung des Bundes zur zwingenden Übernahme von kantonalen Stellungnahmen geben. Die Kantone werden in alle Komitees und Ausschüsse einbezogen, bei welchen ihre Zuständigkeiten oder Interessen betroffen sind. Gegebenenfalls übernehmen sie die Verhandlungsleitung und vertreten dabei die Schweiz. Da Verhandlungen nur Erfolg haben, wenn die Delegation einheitlich auftritt, bedarf es einer frühzeitigen, engen Koordination zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen. Dafür bestehen bereits ausbaufähige Knotenpunkte (insbesondere KdK, Informationsbeauftragte der Kantone).

6

Bundesstaatliche Finanzordnung und schweizerische Europapolitik

6.1

EU-Kompetenzen in der Finanz- und in der Steuerpolitik

Finanzpolitik Die Mitgliedstaaten der EU behalten grundsätzlich ihre Budget- und Ausgabenautonomie. Allerdings sieht das Gemeinschaftsrecht Rahmenbedingungen vor, an die sie sich im Rahmen ihrer Finanzpolitik zu halten haben81. Zu nennen sind dabei einerseits die Konvergenz- bzw. Stabilitätskriterien, die besagen, dass das Defizit der öffentlichen Hand (für die Schweiz: Bund, Kantone, Gemeinden, Sozialversicherungen) ausser im Fall einer schweren Rezession nicht über 3 % des BIP ansteigen soll.

Andererseits darf die gesamte Staatsverschuldung (brutto) die Schwelle von 60 % des BIP nicht übersteigen.

Steuerpolitik Auch in der EU ist das Recht zur Erhebung von Steuern eine hoheitliche Tätigkeit, die traditionellerweise den Mitgliedstaaten bzw. den Gliedstaaten zukommt. So regelt der Vertrag nur die Harmonisierung der indirekten Steuern explizit (Art. 93 EGV), und in zahlreichen Fällen (Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern) ist eine solche Harmonisierung auch erfolgt. Für alle EU-Mitgliedstaaten bestehen somit Vorgaben für die Gestaltung ihres Steuersystems im Bereich der indirekten Steuern.

Deren wichtigste besteht darin, dass der Normalsatz bei der Mehrwertsteuer mindestens 15 % und die reduzierten Sätze mindestens 5 % betragen müssen. Gleichzeitig werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, «soweit erforderlich«, zugunsten ihrer Staatsangehörigen die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemein81

Vgl. umfassende Ausführungen im Europabericht 2006, BBl 2006 6880 ff.

5951

schaft sicherzustellen (Art. 293, 2. Spiegelstrich EGV). Eine explizite Harmonisierungsvorschrift im Bereich der direkten Steuern, darunter fallen auch die Unternehmenssteuern, kennt der EG-Vertrag nicht. Der Rat kann allerdings auf die allgemeine Kompetenzgrundlage für die Angleichung von Rechtsvorschriften zurückgreifen (Art. 94 EGV)82. In allen Fällen gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Erlass und Durchsetzung von steuerlichen Massnahmen hängen daher stark vom Willen der Mitgliedstaaten ab, der Ansatz für die Durchführung der Verfahren ist in der Regel ein intergouvernementaler. In dieser Logik wurde zur Eindämmung schädlichen Steuerwettbewerbs ein Massnahmenpaket erlassen, dessen wichtigster Bestandteil der sog. «Verhaltenskodex Unternehmensbesteuerung» von 1997 ist83. Der Kodex ist kein rechtlich bindendes Instrument ­ weder für die Kommission, noch für die Mitgliedstaaten. Er bindet die Mitgliedstaaten jedoch politisch und postuliert ferner, wie auch die sogenannte Zinsbesteuerungsrichtlinie84, den Einbezug von Drittstaaten.

Steuererleichterungen für Unternehmen können staatliche Beihilfen darstellen, die vom EG-Recht verboten sind (Art. 87 ff. EGV). In der Beihilfenpolitik hat die EU und dort v.a. die EG-Kommission viel weiter gehende Kompetenzen als in der Steuerpolitik. Sie kann Massnahmen einfacher durchsetzen, der Ansatz für die Durchführung der Verfahren ist in der Regel ein gemeinschaftsrechtlicher. Schliesslich müssen einzelstaatliche Regelungen der Mitgliedstaaten im Steuerbereich in jedem Fall mit den im EG-Vertrag verankerten Grundfreiheiten vereinbar und nicht diskriminierend sein. In diesem Sinne oder infolge der Qualifizierung als verbotene staatliche Beihilfen können Steuerangelegenheiten dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Prüfung unterbreitet werden, dessen Praxis tendenziell gemeinschaftsfreundlich ausfällt.

Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts es den Mitgliedstaaten weitgehend frei steht, wie sie ihre Steuersysteme gestalten wollen, um ihren Finanzbedarf zu decken. Allerdings wird mittlerweile z.B. im Rahmen der Reform des EU-Finanzierungssystems85 die Einführung einer gemeinschaftsweit erhobenen Steuer sowie ganz generell zur Beseiti-

82 83

84 85

Darauf gehen insbesondere die Fusionsrichtlinie 90/434/EWG und die sog. MutterTochter-Richtlinie 90/435/EWG zurück.

Entschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1.12.1997 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, ABl. C 2 vom 6.1.1998, S. 2. 1999 identifizierte die mit dem Kodex institutionalisierte «Gruppe Verhaltenskodex» in ihrem Bericht 66 schädliche Steuerpraktiken, die laufend überprüft werden. 2003 schliesslich vervollständigten zwei Richtlinien (Zinsbesteuerungsrichtlinie [Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. L 157 vom 26.6.2003, S. 38] und die Richtlinie über Zins und Lizenzzahlungen zwischen verbundenen Unternehmen) das Massnahmenpaket zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs (sog. «Steuerpaket») [Richtlinien 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. L 157 vom 26.6.2003, S. 49].

Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. L 157 vom 26.6.2003, S. 38.

S. Ausführungen der Kommission in ihrem Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems, «Finanzierung der Europäischen Union», vom 6.9.2004, KOM(2004) 505 endg./2, insbesondere S. 10 ff.

5952

gung von Steuerhemmnissen und Diskriminierungen die Koordinierung der Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten86 diskutiert.

Die nachfolgenden Ausführungen beleuchten die Auswirkungen der bilateralen Zusammenarbeit wie auch eines allfälligen Beitritts zur EU auf die beiden zentralen Aspekte für die bundesstaatliche Finanzordnung. Zum einen geht es um die Umsetzung der Konvergenzkriterien und die Aufstellung eines Stabilitätsprogramms im föderalen Staat und zum anderen um die Auswirkungen auf das Steuersystem.

An dieser Stelle soll nicht weiter auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der jeweiligen europapolitischen Instrumente eingegangen werden, da diese im Rahmen des Integrationsberichts 1999 bzw. der seinerzeit in Auftrag gegebenen Studien sowie im Europabericht 2006 umfassend analysiert wurden87. Dies betrifft auch die Auswirkungen eines EU-Beitritts auf die öffentlichen Haushalte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Erhöhung der Mehrwertsteuereinnahmen, die Nettozahlungen der Schweiz an die EU und das höhere Zinsniveau im Falle eines Beitritts zur Währungsunion. Längerfristig wäre jedoch gemäss Studien mit einem Wachstumsimpuls aufgrund der vollen Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt zu rechnen, der sich positiv auf die Staatseinnahmen auswirken würde.

6.2

Einhaltung der Konvergenzkriterien in einem föderalen Staat

6.2.1

Haushaltspolitische Vorgaben der EU

Als Mitglied der EU müsste die Schweiz die Regeln zur Haushaltsdisziplin einhalten. Diese beinhalten Referenzwerte für das Defizit und die Verschuldung des Gesamtstaates, d.h. Bund, Kantone, Gemeinden und die Sozialversicherungen88. Die Verschuldung darf nicht höher sein als 60 % des BIP und das Defizit darf sich höchstens auf 3 % des BIP belaufen. Die Mitgliedstaaten der Währungsunion sind angehalten, Budgetdefiziten vorzubeugen, die die Zielsetzung der EZB, nämlich die Sicherung der Preisstabilität des Euro, gefährden könnten. Bei Nichteinhaltung dieser 60 % und 3 % BIP-Referenzwerte kann sanktioniert werden. Nicht jede

86

87 88

Vgl. insbesondere Mitteilung der Kommission vom 19.12.2006 an den Rat, an das Europäische Parlament und an den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, «Koordinierung der Regelungen der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern im Binnenmarkt», KOM(2006) 823 endg.; Mitteilung der Kommission vom 19.12.2006 an den Rat, an das Europäische Parlament und an den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, «Wegzugsbesteuerung und die Notwendigkeit einer Koordinierung der Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten», KOM(2006) 825 endg.

Europabericht 2006, BBl 2006 6815, insbesondere Ziff. 4.2.3, 4.3.3. und 4.4.3.

Die Sozialversicherungen umfassen die AHV, IV, EO und die ALV. Nicht mehr enthalten ist gemäss Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (ESVG95) die SUVA. Diese wird neu zu den finanziellen Kapitalgesellschaften gezählt.

5953

Überschreitung führt zu einer Sanktion89. Falls die Defizitquote nur ausnahmsweise und vorübergehend den Referenzwert überschreitet und sie in der Nähe dieses Referenzwerts bleibt, dürfte die Nichteinhaltung des Defizitkriteriums keine Sanktionen zur Folge haben.90 Analog wird eine Schuldenquote über 60 % des BIP geduldet, wenn die Quote hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert (Art. 104 EGV). Beim Defizitkriterium ist das Verfahren festgelegt, wie bei einer Verletzung des Grenzwerts von 3 % vorzugehen ist91, nicht hingegen beim Verschuldungskriterium. Der letztendliche Entscheid, ob ein Mitgliedstaat ein übermässiges Defizit aufweist, wird vom Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister auf Empfehlung der EU-Kommission getroffen.

Neben der Einhaltung der Defizit- und der Verschuldungsgrenze müsste die Schweiz jährlich ein Stabilitätsprogramm, bzw. ein Konvergenzprogramm im Falle einer Nicht-Teilnahme an der Währungsunion aufstellen. Dies bildet Bestandteil des präventiven Teils der Budgetstabilitätsregeln, währenddem die Sanktionen den korrektiven Teil darstellen. In diesem Programm müssen die EU-Mitglieder aufzeigen, wie sie mittelfristig über den Konjunkturzyklus hinweg einen nahezu ausgeglichenen Haushalt oder einen Haushaltsüberschuss aufrechterhalten bzw. erreichen wollen. Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, sind alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um eine jährliche Verbesserung der konjunkturbereinigten Haushaltsposition um mindestens 0.5 % des BIP sicherzustellen92. Die Revision der Regelung im Jahre 2005 hat ein Mehr an Flexibilität hinsichtlich der Handhabe der Sanierungsmassnahmen des Staatshaushaltes in Funktion zum Konjunkturzyklus eingeführt. Nur ein strukturell ausgeglichener Haushalt ist in der Lage, im Falle einer Rezession die automatischen Stabilisatoren voll wirken zu lassen, ohne dass das Risiko eines Überschreitens der Defizitgrenze von 3 % des BIP auftritt. Im Weiteren gebietet die absehbare Mehrbelastung der öffentlichen Haushalte, welche durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft verursacht wird, eine Beseitigung der zur 89

90

91

92

Sanktionen werden verhängt, wenn ein Mitgliedstaat mit übermässigem Defizit die Empfehlungen des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister zur Budgetkorrektur nicht befolgt. Die Sanktionen erfolgen zunächst in Form einer unverzinslichen Einlage, welche nach zwei Jahren in eine Geldbusse umgewandelt wird, falls das Defizit übermässig bleibt. Die Höhe der Einlage bzw. Busse berechnet sich aus einer fixen Komponente von 0.2 % des BIP und einem variablen Teil von 1/10 des Betrages, um welchen das Defizit den Referenzwert von 3 % übersteigt. Maximal beträgt die Einlage bzw. Busse 0.5 % des BIP, d.h. bei einem Defizit von 6 % des BIP; vgl. die bereits erwähnte Verordnung 1467/97. Bisher wurde dieser Sanktionsmechanismus aber noch bei keinem EUMitgliedstaat durchgesetzt.

Der Referenzwert für das öffentliche Defizit beträgt 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Der Referenzwert gilt dann als ausnahmsweise überschritten: ­ wenn dies auf ein aussergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, zurückzuführen ist; ­ wenn es auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist (und sich die Überschreitung des Referenzwerts von 3 % des BIP aus einer negativen jährlichen Wachstumsrate des BIP-Volumens oder einem Produktionsrückstand über einen längeren Zeitraum mit einem äusserst geringen jährlichen Wachstum ergibt).

Neben der bereits erwähnten Verordnung 1467/97 (ergänzt durch die Verordnung 1056/2005) sind die Verordnung 1466/97 des Rats der europäischen Union über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitik vom 7.7.1997 (ergänzt durch die Verordnung 1055/2005) sowie das Protokoll über das Verfahren betreffend die übermässigen Defizite, in dem die Grenzwerte festgelegt sind, zu nennen, ABl. EU 174 vom 7.7.2005.

Empfehlung der Kommission für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Zeitraum 2003-2005 vom 8.4.2003.

5954

Zeit immer noch bestehenden strukturellen Defizite. Ein Stabilitätsprogramm beinhaltet im Wesentlichen eine Darstellung der geplanten Budgetsaldi für den Gesamtstaat und die zugrundeliegenden makroökonomischen Annahmen für die kommenden drei Jahre. Die Programme werden jährlich aktualisiert und dienen als Ziel für die Finanzpolitik. Während bei Nichteinhaltung der Zielvorgaben des Stabilitätsprogramms keine Sanktionen zu befürchten sind, besteht im Fall einer Überschreitung der Defizitgrenze, wie oben bereits erwähnt worden ist, ein expliziter Sanktionsmechanismus. Auch wenn bei Nichterreichung der in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik aufgestellten Ziele keine Geldstrafen drohen, wirkt immerhin eine Art Gruppendruck, so dass sich die Mitgliedsländer nicht so leicht über diese Ziele hinwegsetzen können.

Nachfolgend sollen alternative Koordinationsmodelle kurz skizziert werden.

6.2.2

Instrumente für eine verstärkte Koordinierung der Finanzpolitik

Bei der Koordinierung der Finanzpolitik zwischen dem Bund und den Kantonen geht es zum einen um die Einhaltung des Defizit- und des Verschuldungskriteriums und zum anderen um die Aufstellung der Stabilitätsprogramme. Als erstes soll auf die Frage der Umsetzung der beiden Konvergenzkriterien eingegangen werden.

6.2.2.1

Umsetzung der Konvergenzkriterien

Als Ausgangspunkt sind im Anhang in den Tabellen 1 und 2 die Rechnungssaldi und die Verschuldung für den Staat insgesamt und die einzelnen Staatsebenen aufgeführt. In Tabelle 1 ist ersichtlich, dass die Schweiz seit 1980 nur in den Jahren 1992 und 1993 das Defizitkriterium von 3 % verletzt hätte. Die Überschreitung ist dabei zu einem wesentlichen Teil dem Bund zuzuschreiben. Tabelle 2 zeigt, dass die Bruttoverschuldung der drei Staatsebenen in der Vergangenheit stets unterhalb des kritischen Werts von 60 % des BIP lag. Der Bundesanteil ist dabei wesentlich höher als derjenige der Kantone und der Gemeinden. Die Zahlen zeigen, dass für die Einhaltung der Kriterien in erster Linie der Bund gefordert sein dürfte. Die Schuldenbremse wird im Falle eines EU-Beitritts ein wirksames Mittel sein, um die haushaltspolitischen Vorgaben der EU zu erfüllen.

Da neben der Schuldenbremse ähnliche Regelbindungen in verschiedenen Kantonen bestehen, könnte man die Ansicht vertreten, dass zwischen dem Bund und den Kantonen keine verstärkte Koordinierung der Finanzpolitik erfolgen muss. Bei der Aufstellung des Stabilitätsprogramms würde jedoch dieser Ansatz nicht mehr funktionieren, da der Bund gegenüber der EU aufzeigen müsste, wie die öffentlichen Haushalte der Schweiz die Ziele der Grundzüge der Wirtschaftspolitik zu erreichen gedenken. Dies bedeutet, dass der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen eine Art Finanzplanung für den gesamten öffentlichen Haushalt durchführen müsste.

Ohne Beizug der Kantone dürfte dies kaum möglich sein. Zudem wäre allenfalls im Voraus festzulegen, wie eine allfällige Geldstrafe aufgrund eines übermässigen Defizits auf Bund und Kantone zu verteilen wäre. Da der Bund gegenüber der EU in der Verantwortung steht, hat er ein Interesse, diejenigen Kantone in die Pflicht nehmen zu können, die zum übermässigen Defizit beigetragen haben.

5955

Wie erwähnt, besteht aber bei den Schulden ein deutliches Übergewicht des Bundes.

Deshalb ist im Falle eines EU-Beitritts entweder ­ auf Zusehen hin ­ eine lockere Form der Zusammenarbeit nötig, oder aber eine verstärkte Koordination zwischen dem Bund und den Kantonen93. Die Koordinierung erfolgte dabei vertikal, d.h.

zwischen dem Bund und den Kantonen (inkl. Gemeinden), und horizontal, d.h.

zwischen den Kantonen untereinander. Bei der vertikalen Zuständigkeitsverteilung legen der Bund und die Kantone ein Verfahren fest und bestimmen Regeln, damit die Konvergenzkriterien eingehalten werden. Dabei bestehen mehrere Möglichkeiten94. An dieser Stelle soll der Ansatz der Verteilungsregel diskutiert werden. Bund und Kantone stellen dabei gemeinsam einen Verteilungsschlüssel auf, der die Zuordnung des zugelassenen Defizits im Voraus regelt. In einem ersten Schritt sind die Grenzwerte (3 % für das Defizit, 60 % für die Verschuldung) auf die einzelnen Staatsebenen und in einem zweiten Schritt ist der jeweilige Anteil der Kantone (inkl.

Gemeinden) auf die einzelnen Kantone zu verteilen.

Beim ersten Schritt, d.h. bei der vertikalen Verteilung, bestehen verschiedene Alternativen95. So kann entweder das gesamte zulässige Defizit von 3 % verteilt werden oder nur ein Teil, womit eine Art Manövriermasse besteht. Unabhängig, ob das gesamte zulässige Defizit oder nur ein Teil verteilt werden, ist festzulegen, welche Kriterien für die vertikale wie auch die horizontale Verteilung massgebend sind.

Eine Zuordnung aufgrund vergangener Defizite wäre suboptimal, da diejenigen Gebietskörperschaften mit der geringsten Haushaltsdisziplin belohnt würden, wenn sie einen verhältnismässig grossen Anteil des zulässigen Defizits erhielten. Ein besseres Kriterium wäre das Volumen des Haushalts, gemessen an Einnahmen oder Ausgaben (laufende Ausgaben und Investitionen, ohne Abschreibungen). Dabei könnten die Einnahmen als Zuordnungskriterium gelten, da bei den Ausgaben hinsichtlich der Abgrenzung verschiedene Möglichkeiten bestehen. Es wäre indessen empfehlenswert, die 3 % nicht vollständig auf Bund, Kantone und Gemeinden zu verteilen, sondern eine Sicherheitsmarge für die Defizite bei den Sozial versicherungen zurückzubehalten. Denkbar wäre beispielsweise auch die Zusammenlegung des Bundesanteils und des Anteils der
Sozialversicherungen sowie die Übernahme der Verantwortung durch den Bund, da die Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich der finanziellen Entwicklung der Sozialversicherungen primär auf Bundesebene liegen96. Tabellen 1 und 2 zeigen, dass vor allem der Bund in der Vergangenheit ein teilweise zu hohes Defizit aufgewiesen hätte. Das Defizit der Kantone hätte in der ersten Hälfte der 90er-Jahre den Grenzwert teilweise überschritten, während die Gemeinden ihren Anteil tendenziell nicht ausgeschöpft hätten.

93

94 95

96

Die IDA-Wachstum schlägt in ihrem Bericht vom 18. Dez. 2002 eine Intensivierung der Koordinierung der Budgetpolitik zwischen dem Bund und den Kantonen im Hinblick auf eine konjunkturgerechte Finanzpolitik vor (Bericht IDA-Wachstum, S. 64).

EuRefKa-Bericht 2001, 103 ff. Genannt werden dabei Selbstdisziplin, ein Marktmechanismus sowie die Einführung einer klaren und transparenten Verteilungsregel.

Für die Schweiz interessant ist in diesem Zusammenhang die Regelung in Österreich. Da die Einhaltung der haushaltspolitischen Vorgaben der EU (Stabilitäts- und Wachstumspakt) eine verstärkte Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften erfordert, haben die verschiedenen Staatsebenen Österreichs einen nationalen Stabilitätspakt abgeschlossen, der in 4 Bereiche gegliedert ist: Haushaltskoordinierung (Bildung von Koordinationsgremien), mittelfristige Ausrichtung der Haushaltsführung, Stabilitätsprogramme sowie die Aufteilung der Defizitquoten und der Sanktionslast zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. In Österreich wurde die Defizitquote wie folgt aufgeteilt: Bund 2.7 %, Länder 0.11 %, Wien 0.09 %, Gemeinden 0.10 %.

Mit der NFA sollen AHV und IV ohnehin ausschliesslich durch den Bund finanziert werden.

5956

Die horizontale Verteilung, d.h. die Zuordnung des Kantons- und des Gemeindeanteils auf die einzelnen Kantone, könnte beispielsweise anhand der Einwohnerzahl erfolgen oder wiederum gemäss der Grösse des Haushalts. Die Aufteilung des kantonalen Anteils zwischen dem Kanton und seinen Gemeinden schliesslich ist Sache des jeweiligen Kantons.

Nachdem ein Verteilschlüssel aufgestellt worden ist, stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit dieses Schlüssels. Das Spektrum reicht dabei von einer eher unverbindlichen Empfehlung bis zu einer rechtsverbindlichen Abmachung mit Durchsetzungs- und Sanktionsmechanismus. Letzteres wäre dem föderalen Staatsaufbau der Schweiz eher fremd. Falls die Schweiz die finanzpolitischen Vorgaben gegenüber der EU nicht einhalten könnte, wäre es allerdings angezeigt. Dies gilt insbesondere für die Aufstellung des Stabilitätsprogramms.

Die Verschuldung ergibt sich weitgehend aus den in der Vergangenheit verzeichneten Rechnungsabschlüssen. Sind die Rechnungen über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichen, nimmt die Verschuldungsquote ab. Es ist indessen zu berücksichtigen, dass die (Brutto-)Verschuldung zunehmen kann, selbst wenn in der Finanzrechnung kein Defizit besteht, da gewisse Finanzierungsvorgänge lediglich die Bilanz, nicht aber die Finanzrechnung tangieren. Für den Verteilschlüssel hinsichtlich der Verschuldungsgrenze stehen mehrere Kriterien zu Auswahl, wie die getätigten Investitionen, das Verwaltungsvermögen oder der gegenwärtige Schuldenstand. Eine Verteilung auf der Basis des aktuellen Schuldenstands wäre die naheliegendste Lösung. Sie würde allerdings auch ein Verhalten privilegieren, das problematische Aspekte hat. Ein Verteilschlüssel, der die hochverschuldeten Kantone und/oder den Bund zu einer substantiellen Reduktion der Verschuldung verpflichtete, wäre politisch kaum ein gangbarer Weg. Gegebenenfalls ist ein Mittelweg zu suchen.

In den bisherigen Ausführungen wurde davon ausgegangen, dass die Schweiz die finanzstatistischen Anforderungen der EU hinsichtlich der Berechnung der Haushaltssaldi und der Verschuldung erfüllt. Die heutige Finanzstatistik der Schweiz ist jedoch zurzeit nicht in der Lage, die finanzstatistischen Anforderungen der Verordnungen der EU vollständig einzuhalten. Dies betrifft sowohl Definition und Abgrenzung der Referenzgrössen wie
auch Umfang und Detaillierungsgrad der geforderten Daten. Bereits die Umsetzung des bilateralen Abkommens im Bereich der Statistik97 hat eine Reform der Finanzstatistik zur Folge, die bei einem allfälligen Beitritt zur Europäischen Union noch weiter gehen müsste. Insbesondere müsste ein für alle staatlichen Ebenen gültiger Rechnungslegungsstandard durchgesetzt werden können, der den Anforderungen der EU genügt. Es waren denn gerade auch der Stabilitätsund Wachstumspakt der EU-Mitgliedländer und die Beitrittsprogramme für die neuen Mitglieder, die in den 90er-Jahren in diesen Ländern zu grossen Reformanstrengungen bei der öffentlichen Rechnungslegung und der Finanzstatistik geführt haben.

Wenn einmal der Verteilschlüssel vertikal und horizontal festgelegt ist, sollte das Vorgehen im Falle einer Nichteinhaltung geregelt werden. Zu unterscheiden sind dabei zwei Fälle: A) der Referenzwert von 3 % wird von den öffentlichen Haushalten insgesamt nicht eingehalten und die EU gibt zuerst Empfehlungen ab und verhängt später eine Sanktion (Busse), da die Empfehlungen nicht befolgt wurden. In 97

SR 0.431.026.81

5957

diesem Fall muss festgelegt werden, wer für die Bezahlung der Busse aufkommen muss98. B) Der Referenzwert von 3 % wird insgesamt nicht erreicht, oder er wird überschritten, aber das Defizit wird nicht als übermässig eingestuft. In diesem Fall ist zu diskutieren, ob und wann eine Gebietskörperschaft sanktioniert werden muss, wenn sie den ihr zustehenden Anteil am gesamten zulässigen Defizit überschreitet.

Stellt die EU beispielsweise fest, dass aufgrund einer schweren Rezession kein übermässiges Defizit besteht, so erübrigt sich eine Sanktionierung einzelner Gebietskörperschaften. Anders präsentiert sich die Situation, wenn keine schwere Rezession herrscht und das zulässige Defizit insgesamt oder partiell dennoch überschritten wird. Ohne die Möglichkeit einer Sanktionierung dürfte es schwierig sein, die notwendige haushaltspolitische Disziplin durchzusetzen.

6.2.2.2

Aufstellung des Stabilitätsprogramms

Die Mitgliedstaaten der EU müssen jährlich ihre Stabilitäts- respektive Konvergenzprogramme aufstellen, in denen aufgezeigt wird, dass mittelfristig das Haushaltsgleichgewicht gewahrt bzw. erreicht wird. Dazu müssen jeweils die Einnahmen- und die Ausgabenentwicklung für das laufende Jahr und die folgenden drei Jahre und die zugrundeliegenden makroökonomischen Annahmen aufgezeigt werden. Im Falle einer EU-Mitgliedschaft müsste der Bund ein solches Programm für alle Gebietskörperschaften aufstellen. Damit in einem föderalen Staat überhaupt ein solches Programm konzipiert werden kann, müssen mehrjährige Projektionen der Einnahmen und Ausgaben (Finanzpläne) für alle Gebietskörperschaften bestehen, die von einheitlichen volkswirtschaftlichen Eckwerten ausgehen. Für die Schweiz ist dies gegenwärtig nicht der Fall. Im Weiteren sollte ein Korrekturmechanismus bestehen, der bei einer Zielverfehlung wirksam wird. Mit anderen Worten, die Finanzpolitik der drei Staatsebenen sollte so koordiniert werden, dass insgesamt ein Haushaltsausgleich erzielt wird. Um dieses Ziel zu erreichen, dürfte sich eine weitergehende Koordinierung der Finanzpolitik als im Falle der Konvergenzkriterien als notwendig erweisen. In Bezug auf die Verbindlichkeit stellen sich die selben Fragen wie oben.

In einer zentralistischen Lösung könnte der Bund den Kantonen explizit die Vorgabe machen, ein bestehendes Defizit während des Planungszeitraums zu beseitigen. Ein Sanktionsmechanismus wäre notwendig, um haushaltspolitische Disziplin durchzusetzen. In einer dezentralen Lösung könnten der Bund und die Kantone zusammen ­ beispielsweise mittels Empfehlungen ­ auf das Ziel eines mittelfristigen Haushaltsausgleichs hinarbeiten. Denkbar wäre auch eine Ergänzung durch das Setzen von entsprechenden Anreizen, um das finanzpolitische Verhalten in die gewünschte Richtung zu lenken99.

98

99

Bevor eine Sanktionierung erfolgt, erteilt die EU im Falle eines übermässigen Defizits Empfehlungen. Damit diese Empfehlungen umgesetzt werden können, ist es von Vorteil, wenn im föderalen Staat entsprechende Mechanismen für die finanzpolitische Koordinierung bestehen.

Solche Anreize könnten beispielsweise durch Bussgelder finanziert werden, die durch diejenigen Gebietskörperschaften bezahlt wurden, die wegen der Überschreitung ihrer Defizitlimite sanktioniert worden waren.

5958

6.3

Auswirkungen auf den Finanzausgleich

Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA)100 wurde so konzipiert, dass sie bei einem allfälligen EU-Beitritt der Schweiz nicht grundlegend überarbeitet werden müsste. Die Grundsätze der NFA wären nach einem EU-Beitritt nicht hinfällig, sondern würden weiterhin wichtige Eckpfeiler eines wirksamen und politisch steuerbaren bundesstaatlichen Finanzausgleichs darstellen. Für die im Zusammenhang mit einem EU-Beitritt notwendige Überprüfung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen würden die in der NFA entwickelten Grundsätze eine Erleichterung darstellen. Bei einem EU-Beitritt würde die von der NFA ohnehin angestrebte Stärkung der interkantonalen Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnen. Die Klärung und Entflechtung der Aufgaben zwischen dem Bund und den Kantonen vereinfacht die durch einen allfälligen EU-Beitritt ausgelösten Veränderungen der öffentlichen Aufgaben. Durch eine Aufgabenverteilung nach föderalen Grundsätzen zwischen dem Bund und den Kantonen kann die Verzettelung sowie die Vermischung von Verantwortung und Kompetenzen reduziert werden, wodurch die Schweiz im Falle eines EU-Beitritts eine erhöhte Handlungsfähigkeit erreichen würde.

6.4

Auswirkungen auf das Steuersystem

6.4.1

Grundsätzliches: Steuerhoheit der Kantone

Die originäre Steuerhoheit der Kantone, d.h. das Recht der Kantone, vorbehaltlich einer anders lautenden Verfassungsgrundlage des Bundes, die Steuern festzulegen, ist ein zentraler Pfeiler des Föderalismus der Schweiz, mit einem Höchstmass an direktdemokratischer Mitwirkung. Die Grundsätze der Besteuerung ergeben sich aus der Verfassung, Artikel 127 BV. Der Bund darf nur subsidiär direkte Steuern erheben (Art. 128 BV).

Im Gegensatz zu anderen föderalistischen Staaten (z.B. Deutschland) stellen die Steuern einen wesentlichen Bestandteil des Standortwettbewerbes unter den Kantonen dar. Der Steuerwettbewerb gilt als eine der Ursachen für die verhältnismässig günstige Steuerbelastung in der Schweiz. Er beruht auf drei Pfeilern: der kantonalen Einnahmenautonomie durch das Festlegen der Steuergesetze, der kantonalen Ausgabenautonomie durch das Bestimmen des Budgets sowie dem Finanzausgleich auf Bundesebene, mit welchem die kantonalen Unterschiede teilweise ausgeglichen werden. In den Kantonen befinden Volk, Parlament und Regierung damit einerseits über die Steuerbelastung, anderseits aber auch über die Ausgaben ihres Gemeinwesens. Zwar sieht das Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG)101 eine Vereinheitlichung der Steuerobjekte, der zeitlichen Bemessung u.ä. vor. Dabei handelt es sich jedoch nur um eine formelle Harmonisierung. Die Steuertarife, Freibeträge und Sozialabzüge hingegen bilden nicht Gegenstand des StHG (vgl. auch Art. 129 BV). Rund 50 % der Steuereinnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden sind materiell harmonisiert (z.B.

direkte Bundessteuer, Mehrwertsteuer, Verrechnungssteuer, Stempelabgabe).

100 101

Vgl. Fussnote 22.

Bundesgesetz vom 14. Dez. 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG), SR 642.14.

5959

Der Steuerföderalismus ist somit ein wichtiger Teil des schweizerischen Föderalismus und spielt eine zentrale Rolle für dessen Vitalität.

6.4.2

Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit

Unter den gegenwärtigen Umständen ist davon auszugehen, dass bei der Anwendung und Weiterentwicklung des bestehenden Vertragswerks das föderalistische Steuersystem kaum tangiert wird102. Zwar ist hervorzuheben, dass die Steuerharmonisierungsbestrebungen innerhalb der EU in letzter Zeit zunehmend auch Auswirkungen auf Nichtmitglieder haben. Beispiele neueren Datums sind die EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung (RL 2003/48/EG), welche Bezugspunkt für das Zinsbesteuerungsabkommen mit der EG ist, oder der bereits erwähnte Verhaltenskodex Unternehmensbesteuerung (Ziff. 6.1.), der im Verhältnis Schweiz-EU jedoch keine vertragliche Verankerung hat.

In dieser Logik hat die Europäische Kommission in ihrer Entscheidung vom 13. Februar 2007 ausgeführt, dass einzelne Bestimmungen zur Unternehmensbesteuerung in gewissen Kantonen mit dem Freihandelsabkommen Schweiz-EU von 1972103 (Art. 23 Abs. 1 iii FHA) nicht vereinbar seien. Aus diesem Grunde fordert die Kommission eine Beseitigung dieser kantonalen Steuerstatus. Am 14. Mai 2007 hat der EU-Ministerrat dem Antrag der Kommission, ihr ein Mandat für Verhandlungen mit der Schweiz zu erteilen, zugestimmt. Der Bundesrat hat Verhandlungen stets abgelehnt, aber Bereitschaft zum klärenden Dialog signalisiert. Er betont, dass es zwischen der Schweiz und der EU keine vertragliche Regelung zur Angleichung der Unternehmensbesteuerung gibt. Insofern sind auch keine Verstösse gegen irgendwelche Abmachungen möglich. Dies gilt insbesondere für das Freihandelsabkommen, welches ausschliesslich den Handel mit bestimmten Waren zwischen der Schweiz und der EU regelt. Die kantonalen Massnahmen der Unternehmensbesteuerung stellen keine Diskriminierung der inländischen Gesellschaften und keine Vorzugsbehandlung ausländischer Konzerne dar: sie sind nicht selektiv, sondern stehen allen wirtschaftlichen Akteuren offen ­ unbesehen von deren Nationalität oder deren Produktions- oder Wirtschaftszweig. Die Unternehmenstypen, für die die kritisierten Steuerbestimmungen gelten, üben in der Schweiz keine bzw.

allenfalls nur eine untergeordnete warenverkehrsorientierte Geschäftstätigkeit aus, wobei im letzteren Fall Einkünfte aus schweizerischer Geschäftstätigkeit ordentlich besteuert werden.

Ganz allgemein ist der Bereich der direkten Steuern, worunter auch die Unternehmensbesteuerung fällt,
auf Gemeinschaftsebene lediglich in den Ansätzen harmonisiert. Ein gewisser Trend zur (formellen) Harmonisierung ist allerdings, wie eingangs erwähnt, nicht von der Hand zu weisen. Entsprechende Entwicklungen könnten allenfalls auch auf dem bilateralen Weg Forderungen der EU an die Schweiz und andere Drittstaaten nach sich ziehen.

102

Das Doppelbesteuerungsabkommen über die Ruhegehälter (SR 0.672.926.81) sieht vor, dass Kantone und Gemeinden unter bestimmten Umständen keine Einkommenssteuer auf den Renteneinkünften ehemaliger EU-Beamter mit Wohnsitz in der Schweiz erheben dürfen.

103 SR 0.632.401

5960

Auch von Seiten internationaler Gremien wie der OECD wird versucht, Einfluss auf die Entwicklung der Schweizer Steuerpolitik zu nehmen. Solche oder ähnliche Begehren können bei jedem EU-Szenario (d.h. sowohl bei Weiterführung des bilateralen Wegs als auch bei einem EU-Beitritt) an die Schweiz herangetragen werden.

Direkte Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Steuerföderalismus haben auch sie nicht, denn die Empfehlungen der OECD sind für die Schweiz nur dann verbindlich, wenn sie ihnen explizit zustimmt.

6.4.3

Instrumente eines EU-Beitritts

In Bezug auf die Steuern herrscht, wie eingangs (Ziff. 6.1.) erwähnt, in der EU der Grundsatz der Harmonisierung der indirekten Steuern (unabdingbar für das Funktionieren des Binnenmarktes und die Abschaffung der Zollgrenzen), während die direkten Steuern im Prinzip von der Harmonisierung ausgeklammert bleiben. Dieses Prinzip wird aber regelmässig durchbrochen, indem auch im Bereich der direkten Steuern harmonisiert wird (z.B. Mutter-Tochter-Richtlinie 90/435, Fusionsrichtlinie 90/436, Verhaltenskodex Unternehmensbesteuerung). Seit 1996 ist festzustellen, dass die EU und vor allem die Europäische Kommission viel deutlicher auf eine gemeinsame Steuerpolitik hin arbeiten. Diese geht allerdings noch nicht so weit, dass eine vollständige Harmonisierung der Systeme, der Tarife und der Bemessungsgrundlagen angestrebt würde. Bei einem EU-Beitritt käme die Schweiz einerseits in den Genuss gewisser Vorteile, die ihr heute als Drittstaat nicht zustehen (z.B.

bei grenzüberschreitenden Fusionen). Anderseits ist wahrscheinlich, dass die Kantone gewisse Regeln bei der Unternehmensbesteuerung abschaffen müssten. Obwohl der Steuerföderalismus dadurch nicht in materieller Hinsicht (Tarife) tangiert würde, wären die Folgen darob dennoch nicht zu unterschätzen. Sollte sich das ­ zum heutigen Zeitpunkt eher unwahrscheinliche ­ Szenario einer materiellen Harmonisierung der direkten Steuern in der EU durchsetzen, wären die Auswirkungen einschneidend.

Mit einem EU-Beitritt nähme der Anpassungsdruck in unserem Quellensteuersystem zu. Da die Schweiz das Gemeinschaftsrecht zu übernehmen hätte, wäre der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und damit der Gleichbehandlung bzw.

Nichtdiskriminierung der EU-Bürger im Bereich des Steuerrechts umfassend Folge zu leisten.

Im Bereich der indirekten Steuern würden sich Konsequenzen für das Steuersystem ergeben. Hier ist zu unterscheiden zwischen den besonderen Verbrauchssteuern und der Mehrwertsteuer: Bei den besonderen Verbrauchssteuern (Mineralölsteuer, Tabaksteuer, Automobilsteuer, Biersteuer, Steuer auf Spirituosen) 104 wären im Falle eines EU-Beitritts zwar teilweise gewisse Anpassungen nötig. Doch handelt es sich hier um Bundessteuern, so dass der Steuerföderalismus erneut nicht betroffen wäre, auch wenn ein Teil der Erträge aus einigen dieser Abgaben in die Kantone
fliesst. Ein gewisser Vorbehalt wäre allenfalls bei der Mineralölsteuer anzubringen, bei der die an die Kantone fliessenden Steueranteile relativ hoch sind. Am Rande sei bemerkt, dass die 104

Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Feb. 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren, ABl. L 76 vom 23.3.1992, S. 1.

5961

nötigen Anpassungen bei der Tabak- und der Automobilsteuer zu Mehreinnahmen führen dürften.

Der grösste Anpassungsbedarf im Falle eines EU-Beitritts ergäbe sich bei der Mehrwertsteuer. Zwar ist das gegenwärtige schweizerische Umsatzsteuerrecht in den meisten Bereichen bereits EU-konform und müsste nur punktuell angepasst werden. Eine einschneidende Änderung würde sich hingegen bei den Steuersätzen ergeben. Die EU-Mitgliedstaaten haben einen Normalsatz anzuwenden, der nicht niedriger als 15 Prozent sein darf. Daneben ist es ihnen erlaubt, einen oder zwei ermässigte Steuersätze von mindestens 5 Prozent vorzusehen. In der Schweiz gelten zurzeit Sätze von 7,6 Prozent, 3,6 Prozent und 2,4 Prozent. Eine Anhebung unserer Sätze auf das EU-Mindestmass würde im heutigen Zeitpunkt 16 bis 17 Milliarden Franken Mehreinnahmen bringen (im Einführungsjahr würden allerdings nur rund 75 % davon erzielt). Nicht auszuschliessen ist ein verstärktes Ausweichen in die Schattenwirtschaft, d.h. es könnte vermehrt Schwarzarbeit geleistet werden. Zurzeit befinden sich verschiedene Reformvorschläge für ein neues Mehrwertsteuergesetz in der Vernehmlassung. Der Ausgang dieser Reform ist noch ungewiss, dürfte jedoch in Bezug auf den Anpassungsbedarf an das Gemeinschaftsrecht keine Auswirkungen haben.

Ferner wäre bei einem EU-Beitritt mit Mindereinnahmen bei anderen Bundessteuern (z.B. bei den Stempelabgaben) zu rechnen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Nettotransfer zu finanzieren wäre. Die jährlichen Nettozahlungen an die EU105 wären aller Voraussicht nach mit Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer zu finanzieren. Um die steuerliche Standortattraktivität zu bewahren, müsste die fiskalische Belastung in anderen Bereichen im Ausmass der Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer abzüglich der Nettozahlungen an die EU und der beitrittsbedingten Mindereinnahmen bei anderen Steuern reduziert werden.

Hier wären schwierige politische Weichenstellungen erforderlich, die an dieser Stelle nicht vorweg genommen werden können. Anzustreben wäre, dass die Massnahmen zur Kompensation wirtschafts- und sozialverträglich erfolgen. Insbesondere wären die Umverteilungswirkungen der Steuerlast zwischen juristischen Personen sowie Konsumenten und Konsumentinnen, zwischen hohen und kleinen Einkommen sowie zwischen den Kantonen einer vertieften
Prüfung zu unterziehen. Zudem müssten den Kantonen weiterhin ausreichende Finanzquellen zur Verfügung stehen.

Würde hingegen eine Kompensation bei den Einkommenssteuern (beispielsweise durch eine Beteiligung der Kantone am Ertrag der Mehrwertsteuer und eine entsprechende Senkung der kantonalen Steuern) ins Auge gefasst, wären erhebliche Auswirkungen auf den Steuerföderalismus zu erwarten. Eine solche Prüfung müsste denn auch in engster Zusammenarbeit mit den Kantonen erfolgen, und entsprechende Vorschläge bedürften voraussichtlich einer Verfassungsänderung.

Soll jedoch eine Kompensation allein auf Bundesebene angestrebt werden, dann könnte diese bei der Finanzierung der Sozialversicherungen gesucht werden, indem die zusätzlichen Einnahmen aus der Mehrwertsteuer dazu verwendet würden, die Lohnprozente zu senken. Dabei wären die damit verbundenen Auswirkungen vertieft abzuklären.

105

Im Europabericht 2006 wird von einem Nettotransfer in der Höhe von 3,34 Mrd. Fr.

ausgegangen. Die Festlegung dieses Beitrags müsste jedoch Bestandteil der Beitrittsverhandlungen sein.

5962

Der Schweiz müsste für diesen Umbau eine gewisse Übergangsfrist zugestanden werden. Allerdings ist zu erwarten, dass die Nettozahlungen bereits ab dem ersten Beitrittsjahr eingefordert würden.

6.5

Fazit

Auswirkungen auf die bundesstaatliche Finanzordnung und den Steuerföderalismus hätte insbesondere ein EU-Beitritt: Für die Beurteilung der Finanzpolitik der EU-Mitgliedstaaten wird der Rechnungssaldo des Gesamtstaates inklusive Sozialversicherungen verwendet. Bei einem allfälligen Beitritt wäre der Bund gegenüber der EU für die Einhaltung der Zielvorgaben (Defizit- und Verschuldungskriterium) für die gesamte öffentliche Hand verantwortlich. Im Weiteren bezieht sich das Stabilitätsprogramm ebenfalls auf aggregierte Daten der öffentlichen Haushalte.

Ohne Beteiligung der Kantone könnte der Bund ein solches Stabilitätsprogramm nicht aufstellen. Die Koordinierung der Finanzpolitik zwischen Bund und Kantonen müsste verstärkt werden, da es gegenwärtig keine rechtlich-institutionalisierte Koordinierung in finanzpolitischen Fragen gibt106, sondern (nur) Begegnungen und Gespräche zwecks Meinungsaustauschs auf politischer und Verwaltungsebene.

Gleichzeitig sollte die finanzpolitische Autonomie der Kantone soweit wie möglich aufrechterhalten werden107. Da ein erheblicher Gestaltungsspielraum besteht, kann nicht abschliessend ermittelt werden, wie stark die Finanzautonomie der Kantone im Falle eines EU-Beitritts beschnitten würde.

Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen bezweckt eine Stärkung des Föderalismus. Die neu eingeführten Ausgleichsinstrumente wie der Ressourcenausgleich sowie der Ausgleich für geografisch-topografische bzw. soziodemografische Lasten würden durch einen EU-Beitritt nicht in Frage gestellt. Sie müssten indessen aufgrund der erheblichen Verschiebungen in den Finanzen von Bund und Kantonen neu austariert werden.

Der grösste Anpassungsbedarf im Falle eines EU-Beitritts ergäbe sich bei den Steuersätzen der Mehrwertsteuer. Eine Anhebung der schweizerischen Sätze auf den EU-Mindestsatz würde im heutigen Zeitpunkt 16 bis 17 Milliarden Franken Mehreinnahmen bringen. Die steuerliche Mehrbelastung bzw. die Mehreinnahmen des Bundes wären wirtschafts- und sozialverträglich zu kompensieren und den Kantonen müssten weiterhin ausreichende Finanzquellen zur Verfügung stehen. Je nachdem, welche Kompensationsmassnahmen getroffen würden, wären auch die Umverteilungswirkungen zwischen den Kantonen einer vertieften Überprüfung zu unterziehen. Entsprechende Entscheide wären in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen vorzubereiten und müssten voraussichtlich auf Verfassungsstufe verankert werden.

106

Es bestehen jedoch Ansätze für die Koordinierung: In Art. 100 Abs. 4 BV werden der Bund, die Kantone und die Gemeinden aufgerufen, die Konjunkturlage bei ihrer Einnahmen- und Ausgabenpolitik zu berücksichtigen. Art. 19 Finanzhaushaltsgesetz vom 7. Oktober 2005 (SR 611.0) besagt, dass der Bundesrat soweit als möglich die Finanzplanung des Bundes mit derjenigen der Kantone koordiniert. Es bestehen indessen keine institutionalisierten Gremien für die Koordinierung der Finanzpolitik.

107 So wäre «mittels geeigneter Massnahmen sicherzustellen [...], dass in der Schweiz alle Gebietskörperschaften die notwendige Haushaltsdisziplin ausüben, wobei die bestehende finanzpolitische Autonomie von Bund und Kantonen so weit als möglich aufrechtzuerhalten wäre», Integrationsbericht 1999, S. 372.

5963

In den Beitrittsverhandlungen sollten für den Umbau des Steuersystems mindestens Übergangsfristen festgelegt werden.

7

Die Europapolitik der Schweiz und die Judikative

Der Europäische Gerichtshof gehört neben dem Europäischen Parlament, dem Ministerrat, der Kommission und dem Europäischen Rechnungshof zu den Organen der Gemeinschaft (Art. 7 Abs. 1 EGV). Der Gerichtshof (EuGH, Art. 221 f. EGV) und das Gericht erster Instanz (EuG, Art. 224 f. EGV) sowie die dem EuG beigeordneten gerichtlichen Kammern (Art. 225a EGV) nehmen in diesem System die Funktion der rechtsprechenden Gewalt wahr. Ein umfassender Katalog im EUV/EGV sowie die Satzung des Gerichtshofs und die Verfahrensordnungen regeln die Zuständigkeiten. Im Rahmen dieser Zuständigkeiten obliegt es dem EuGH und dem EuG nach Art. 220 EGV, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags sicherzustellen.

Der EuGH nimmt vor diesem Hintergrund eine besondere Stellung zwischen Rechtsprechung und Rechtsgestaltung ein. Ziel ist ein vollständiges Rechtsschutzsystem108, das den effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte gewährleistet, die sich aus der EU-Rechtsordnung ergeben.

7.1

Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit

Im Anwendungsbereich der Bilateralen I und II stellt sich die Frage nach Art und Umfang der Zusammenarbeit der Gerichtsbehörden insbesondere beim Freizügigkeitsabkommen (FZA) und beim Luftverkehrsabkommens (LVA)109 sowie beim Schengen-Assoziierungsabkommen: Für die Behandlung von Beschwerden sind in der Regel weiterhin die nationalen Rechtspflegebehörden zuständig (vgl. Art. 11 FZA). Soweit das Gemeinschaftsrecht berührt wird, berücksichtigen die schweizerischen Gerichte im Anwendungsbereich des FZA und des Luftverkehrsabkommens allerdings die bis zum Datum der Unterzeichnung des Abkommens (21. Juni 1999) erfolgte Rechtsprechung des EuGH (Art. 16 Abs. 2 FZA, Art. 1 Abs. 2 LVA). Später ergangene Urteile können, müssen jedoch grundsätzlich nicht berücksichtigt werden.

Im Anwendungsbereich des Schengen-Assoziierungsabkommens (SAA) wird im Gemischten Ausschuss die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH und der schweizerischen Gerichte gegenseitig zur Kenntnis gebracht ­ mit dem Ziel, die relevanten Bestimmungen möglichst einheitlich anzuwenden und auszulegen. Die Schweiz kann in bestimmten Fällen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen und schriftliche Erklärungen abgeben

108

Der umfassende Rechtsschutz ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, wie er sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie aus Art. 6 und Art. 13 EMRK ergibt. S. nun auch Art. II-47 EVV.

109 Rechtsprechungsbefugnisse verbleiben in der Autonomie der Vertragsparteien. Gemischte Ausschüsse sind grundsätzlich für die Verwaltung der Abkommen, die Überwachung der Umsetzung, für Anpassungen in den Anhängen, die Streitschlichtung und den Informationsaustausch zuständig.

5964

(Art. 8 Abs. 2 SAA). Bei Unklarheiten über die Auswirkungen eines Urteils ist ­ so die jeweiligen Abkommensbestimmungen ­ der Gemischte Ausschuss zu befassen.

Eine interdepartemental zusammengesetzte Arbeitsgruppe, in welcher auch die Kantone vertreten sind, beschäftigt sich mit der Frage, wie die Berücksichtigung der Rechtsprechung (auch durch die Verwaltungsbehörden) im Bereich der sozialen Sicherheit (FZA) und des Luftverkehrs wahrgenommen werden soll. Das Integrationsbüro EDA/EVD koordiniert darüber hinaus Arbeiten, die eine transparente Auslegungspraxis der genannten Bestimmungen gewährleisten sollen, die auch den kantonalen Interessen gerecht werden.

Für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden ist gemäss Bundesverfassung das Völkerrecht, zu dem auch die sektoriellen Abkommen mit der EU zu zählen sind, massgebend (Art. 190 BV). Diese Massgeblichkeit bezieht sich zwar auf die Verträge selbst und nicht auf die Rechtsprechung zu diesen Verträgen, war und ist es ja gerade eines der Ziele der bilateralen Zusammenarbeit, sich nicht an den EuGH zu binden. Urteile des EuGH sind jedoch im Rahmen der Anwendung der Abkommen dann zu berücksichtigen, wenn sie z.B. Sekundärrecht auslegen (Rechtsfortbildung), auf welches in den Anhängen verwiesen wird, oder wenn eine Bestimmung der Abkommen Gegenstand der Rechtsprechung ist. Zwar kann oder muss das Bundesgericht und können auch kantonale Gerichte nicht, wie das in der EU der Fall ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH gelangen. Berücksichtigen heisst vielmehr, dass Normenkonflikten mittels «völkerrechtskonformer, bzw. europarechtskonformer Auslegung» bzw. nach «Treu und Glauben» (Art. 26 und Art. 27 VRK) zu begegnen ist, d.h. dem Landesrecht ist jene Bedeutung zuzumessen, die dem Sinn der völkerrechtlichen bzw. europarechtlichen Norm am nächsten kommt. Ziel bleibt die Wahrung der Homogenität des Rechtsraums. In diesem Sinne wird es in Bezug auf die oben angesprochene Möglichkeit der Schweiz, im Rahmen der Schengener Zusammenarbeit bei Vorabentscheidungsverfahren Schriftsätze einzureichen und schriftliche Erklärungen abzugeben, auch darum gehen, die Kantone ­ wie bereits im Freizügigkeitsdossier ­ entsprechend in die Verfahren einzubeziehen.

7.2

Instrumente eines EU-Beitritts

7.2.1

Grundsätzliche Verfahrenshoheit der Mitgliedstaaten und Vorschriften der EU

Es ist Aufgabe der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die zuständigen Gerichtsinstanzen für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind dabei grundsätzlich frei, wie sie Organisation und Verfahren gestalten.

Vorbehalten bleiben jedoch vom Gemeinschaftsrecht vorgegebene Spezialregeln: Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben den Vorrang, die direkte Geltung und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Zudem hat der EuGH eigene Rechtsschutzgrundsätze entwickelt, die sie beachten müssen. Die Anforderungen an diesen Rechtsschutz richten sich weitgehend nach Artikel 6 und Artikel 13 EMRK.

5965

In der «Charta der Grundrechte der Union«110 finden sich entsprechende Garantien. Zu diesen zählen beispielsweise die Rechtsweggarantie, die strafrechtliche Unschuldsvermutung oder das sogenannte «ne bis in idem» ­ Prinzip. Der EuGH hat die Rechtsweggarantie in verschiedenen Urteilen konkretisiert. So hat er beispielsweise den Begriff des Gerichts definiert, die Anforderungen an die Kognition der Gerichte präzisiert und das Diskriminierungsverbot im Verfahren konkretisiert111.

7.2.2

Verfahren auf Ebene der EU

Da die gerichtliche Durchsetzung des EU-Rechts in erster Linie den mitgliedstaatlichen Gerichten obliegt, sind auf europäischer Ebene nur spezifische Verfahren vorgesehen. Danach entscheidet der Gerichtshof über: ­

Streitigkeiten «verfassungsrechtlicher» Natur (Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen von Mitgliedstaaten oder EG-Organen, Art. 230 Abs. 1, Art. 232 Abs. 2 EGV; Vertragsverletzungsverfahren, Art. 226 und Art. 227 EGV; Gutachten, Art. 300 Abs. 6 EGV);

­

Streitigkeiten «verwaltungsrechtlicher» Natur (Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen Einzelner gegen EG-Organe, Art. 230 Abs. 4, Art. 232 Abs. 3 EGV; Schadenersatzklagen, Art. 235 i.V.m. Art. 288 Abs. 2 EGV; Personalstreitigkeiten, Art. 236 EGV);

­

Vorabentscheidungsbegehren (Art. 234 EGV).

Vertragsverletzungsverfahren Vor allem die Klagen an den EuGH im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 226 EGV) und die daraus ergangenen Urteile stellen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt das wirksamste Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dar. Mit dem Urteil ist der betreffende Mitgliedstaat zur Beseitigung des Vertragsverstosses verpflichtet. Er hat die beanstandete nationale Vorschrift oder administrative Massnahme abzuändern.

Vorabentscheidungsverfahren Auch die Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV) tragen selbstverständlich zur Implementierung des Gemeinschaftsrechts bei. Der EuGH beansprucht innerhalb des EU-Raumes das Monopol für die Auslegung des EU-Rechts. Deshalb kommt dem Vorabentscheidungsverfahren zur Wahrung der Rechtseinheit sowie, immer mehr, als Garant für den Individualrechtsschutz entscheidende Bedeutung zu. Letztinstanzliche und nicht letztinstanzliche Gerichte können dem EuGH eine Rechtsfrage vorlegen, sofern sie erhebliche Zweifel an der Gültigkeit eines Rechtsaktes oder Anwendungsaktes haben (Art. 234 Abs. 2 EGV). Es verpflichtet letztinstanzliche Gerichte eines Mitgliedstaates, den EuGH mit Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Gültigkeit der Handlungen der Organe zu befassen (Art. 234 Abs. 3 EGV).

110 111

Grundrechtecharta der Europäischen Union, ABl. EU Nr. C 364 vom 18.12.2000, S. 1.

Vgl. Jacot-Guillarmod Olivier, Conséquences d'une adhésion à l'Union européenne sur l'organisation judicaire et le droit procédural suisse, in : Cottier Thomas/Kopse Alwin R.

(Hrsg.), Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union. Brennpunkte und Auswirkungen, Zürich 1998, 383 ff.

5966

7.2.3

Konsequenzen für die Schweiz bei einem Beitritt

7.2.3.1

Vorrang des EU-Rechts

Sollte die Schweiz der EU beitreten, beanspruchte das Europarecht Geltung in der gesamten Rechtsordnung. Die Schweizer Gerichte aller Stufen wären verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die Rechtsprechung des EuGH und des EuG zu berücksichtigen. Gemeinschaftswidrige Erlasse ­ auch Bundesgesetze ­ dürften nicht angewendet werden. Artikel 190 BV bezeichnet jedoch Bundesgesetze (und Völkerrecht) als massgebend. Dies bedeutet, dass das Bundesgericht Bundesgesetze zwar auf ihre EU Rechtmässigkeit überprüfen kann, im Falle einer Inkompatibilität die entsprechende Bestimmung jedoch anwenden muss. Es wäre daher zu prüfen, ob diese Bestimmung insofern abgeändert werden sollte, dass eine entsprechende Normenkontrolle möglich würde.

Die Schweiz würde die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht erfüllen. Dies täte sie insbesondere auch darum, weil sie als Vertragspartnerin der EMRK die dort vorgeschriebenen Garantien zu gewährleisten hat. Bisher sind in den Kantonen zwar Ausnahmen zur Verfahrensgarantie zulässig, es ist jedoch anzunehmen, dass mit der Justizreform und dem neuen Art. 29a BV (Rechtsweggarantie) diese Ausnahmen abnehmen werden.

Das Bundesgericht wäre weiter verpflichtet, im Vorabentscheidungsverfahren dem EuGH Auslegungsfragen des EU-Rechts zur Prüfung vorzulegen. Auch kantonale Gerichte könnten im Zweifelsfall dem EuGH Fragen vorlegen112. Dieses Vorabentscheidungsverfahren wäre im schweizerischen Verfahrensrecht vorzusehen. Auch wäre es möglich, in den Bundes- und kantonalen Prozessordnungen Verfahren zum Entscheid einer Einstellungs- und Vorlageverfügung vorzusehen. Auch die Frage der pflichtwidrigen Verweigerung der Vorlage könnte in der Bundesgesetzgebung explizit geregelt werden. Schliesslich wäre zu prüfen, ob ein spezielles Instrument geschaffen werden sollte, das es Betroffenen ermöglichte, Entscheide über die EU-Rechtmässigkeit von schweizerischem Recht an das Bundesgericht weiterzuziehen.

Die zuständigen Personen auf allen Ebenen der Rechtsprechung müssten sich vertiefte Kenntnisse des Europarechts aneignen. Dies könnte über eine entsprechende Weiterbildung der Richterinnen und Richter und Gerichtsmitarbeitenden erfolgen. In Bezug auf kantonale Gerichte ist es allerdings Aufgabe der Kantone, die Betriebsfähigkeit sicherzustellen.

7.2.3.2

Tendenzen zur Vereinheitlichung des Prozessrechts

Die Tendenzen, das Prozessrecht innerhalb von Europa zu vereinheitlichen, würden bei einem EU-Beitritt der Schweiz zu Eingriffen in das Prozessrecht von Bund und Kantonen führen, wobei diese Eingriffe zum Teil schon heute stattfinden. So wird die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung durch das Lugano-Übereinkommen (LugÜ)113 geregelt. Weitere Bestrebungen zur Vereinheitlichung des euro112 113

Vgl. EuRefKa-Bericht 2001, 233, 244.

Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988, SR 0.275.11.

5967

päischen Prozessrechts bestehen in verschiedenen Bereichen des EU-Rechts. Je nach Zeitpunkt eines allfälligen Beitritts dürften weitere Anpassungen im Zivilprozessrecht oder sogar Strafprozessrecht notwendig werden.

7.3

Fazit

In der Rolle der Judikative liegt für die Schweiz ein wesentlicher Unterschied zwischen der Weiterverfolgung der bilateralen Zusammenarbeit und einem allfälligen EU-Beitritt: Während bei einem Beitritt die Rechtsprechung des EuGH massgebend wird, bleibt bei der bilateralen Zusammenarbeit zumindest theoretisch die Rechtsprechung von Bund und Kantonen von derjenigen des EuGH unberührt. Die Rechtspraxis zu den sektoriellen Abkommen zeigt allerdings eine Zunahme der Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung durch die mit der Anwendung der Abkommen betrauten Behörden und Gerichte. Der Nachvollzug ist damit nicht nur auf die Rechtsetzung beschränkt.

Bei einem EU-Beitritt wären insbesondere folgende Änderungen auf Verfassungswie Gesetzesstufe (Bund und Kantone) zu prüfen: ­

Ausweitung der Normenkontrolle (Art. 190 BV) und Regelung des Vorabentscheidungsverfahrens im schweizerischen Verfahrensrecht;

­

Harmonisierung der Prozessordnungen des Bundes und der Kantone mit denjenigen auf europäischer Ebene.

Zudem sind ausreichende Fachkenntnisse im Europarecht sicherzustellen.

8

Unionsbürgerschaft und kommunales Wahlrecht

8.1

Instrumente der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit

Gegenwärtig ist nicht davon auszugehen, dass sektorielle Abkommen abgeschlossen werden, die EU-Bürgerinnen und Bürgern in der Schweiz oder Schweizerinnen und Schweizern in der EU das kommunale Wahlrecht zugestehen. Jedenfalls folgt ein solches Recht nicht aus dem Freizügigkeitsabkommen. In der Kompetenz der Kantone (und der Gemeinden) liegt es, Ausländerinnen und Ausländern, und damit auch EU-Bürgerinnen und Bürgern, das Wahlrecht einzuräumen. Einige Kantone und Gemeinden sehen solche Rechte auch vor.

8.2

Instrumente eines EU-Beitritts

8.2.1

Unionsbürgerschaft

Das Konzept der Unionsbürgerschaft ist in Artikel 17 ff. EGV festgehalten. Unionsbürgerin und Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Diese Bürgerschaft ersetzt jedoch die nationale Staatsbürgerschaft nicht, vielmehr ergänzt sie diese. Die Regelung der Staatsbürgerschaft bleibt weiterhin den Mitgliedstaaten vorbehalten.

5968

Das Unionsbürgerrecht umfasst folgende Elemente: ­

das Recht auf Freizügigkeit (Art. 18 Abs. 1 EGV): Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, vorbehaltlich gewisser Beschränkungen, frei zu bewegen und aufzuhalten;

­

das Kommunalwahlrecht (Art. 19 Abs. 1 EGV; vgl. unten);

­

das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 19 Abs. 2 EGV): Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsbürgerschaft er nicht besitzt, hat das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Dabei gelten für ihn dieselben Bedingungen wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates;

­

diplomatischer und konsularischer Schutz (Art. 20 EGV): Dem einzelnen Unionsbürger wird hier das Recht eingeräumt, bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten diplomatischen und konsularischen Schutz zu suchen;

­

Petitionsrecht/Ombudsmann (Art. 21 EGV): Jeder Unionsbürger besitzt das Petitionsrecht und das Recht, sich an den vom Europäischen Parlament ernannten Bürgerbeauftragten (Ombudsmann) zu wenden. Diese Rechte werden nicht nur den Unionsbürgern zuerkannt, sondern auch jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz bzw. Sitz in einem Mitgliedstaat.

8.2.2

Kommunalwahlrecht (Art. 19 EGV)

Jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, haben in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen.

Dabei gelten für sie dieselben Bedingungen wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Dementsprechend sieht das Gemeinschaftsrecht keine Vereinheitlichung der nationalen Wahlrechtsordnungen vor.

Das so geregelte Kommunalwahlrecht ist Ausfluss aus dem Grundsatz der Gleichheit zwischen in- und ausländischen Unionsbürgern und stellt damit eine Ergänzung zum Recht auf Freizügigkeit dar. Gewisse Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung sind jedoch möglich. Ausführende Regelungen zum Kommunalwahlrecht finden sich in der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen114.

Die Richtlinie 94/80/EG lässt Ausnahmen vom allgemeinen Grundsatz zu, wenn dies durch spezifische Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Anteil wahlberechtigter Unionsbürger, welche die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Staates nicht besitzen, über 20 Prozent der Gesamtzahl der wahlberechtigten Bevölkerung ausmacht (Art. 12 der Richtlinie 94/80/EG). Die genannte Ausnahmeregelung lässt es zudem nicht zu, das aktive und passive Wahlrecht grundsätzlich auszuschliessen. Es sind einzig strengere Bedingungen bezüglich Wohnsitzdauer möglich.

114

Ausführliche Erläuterungen hierzu in: EuRefKa-Bericht 2001, 209, 216 ff.

5969

Interessant ist insbesondere die Frage, in welchen Körperschaften das Kommunalwahlrecht anwendbar ist. Die Richtlinie 94/80/EG lässt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum. Nach deren Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a gehören zu den lokalen Gebietskörperschaften der Grundstufe, in denen das Kommunalwahlrecht der Unionsbürger zur Anwendung kommt, «die im Anhang [der Richtlinie] aufgeführten Verwaltungseinheiten, die nach Massgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in allgemeiner unmittelbarer Wahl gewählte Organe besitzen und auf der Grundstufe der politischen und administrativen Organisation für die Verwaltung bestimmter örtlicher Angelegenheiten unter eigener Verantwortung zuständig sind».

Es ist davon auszugehen, dass unter Gebietskörperschaften in diesem Sinn zumindest diejenigen zu verstehen sind, die öffentlich-rechtliche Aufgaben der politischen Gemeinde erfüllen115.

8.2.3

Auswirkungen auf die Schweiz

Dem im EG-Vertrag verankerten Kommunalwahlrecht wohnt eine integrationspolitische und eine demokratische Idee inne: Im Gemeindebereich sollen Bürgerinnen und Bürger der jeweils anderen Mitgliedstaaten einander näher kommen, und politische Entscheide sollen bürgernah, idealerweise durch die Betroffenen selbst gefällt werden. Bei einem Beitritt zur EU hätte die Schweiz den gesamten acquis communautaire, d.h. insbesondere das Primär- und Sekundärrecht, in das schweizerische Recht zu übernehmen und damit das Kommunalwahlrecht den Unionsbürgerinnen und ­bürgern zu gewähren. Nun befindet sich dieses in der Verfassungsautonomie der Kantone (Art. 39 Abs. 1 BV), und ein EU-Beitritt hätte demnach einen «Einbruch» in diese Autonomie zur Folge.

Das im EG-Vertrag verankerte Wahlrecht bezieht sich allerdings nur auf kommunale Wahlen. Die in der Schweiz bedeutend häufiger vorkommenden Abstimmungen sind nicht berührt. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass die Kantone den Unionsbürgern auch das Recht geben könnten, an Abstimmungen teilzunehmen, oder dass sie das Kommunalwahlrecht auch den Staatsangehörigen von Drittstaaten zugestehen würden (entsprechende Regelungen gibt es bereits in den Kantonen Freiburg, Appenzell Ausserrhoden [als Ermächtigung an die Gemeinden], Graubünden [als Ermächtigung an die Gemeinden], Waadt, Neuenburg [ohne Wählbarkeit] und Jura).

Nach Artikel 12 Absatz 4 der Richtlinie 94/80/EG übermitteln die Mitgliedstaaten, die die Ausnahmeregelung nach Absatz 1 anwenden, der Kommission die erforderlichen Begründungen. Luxemburg116 hat als einziger Mitgliedstaat von der Möglichkeit einer Ausnahmeregelung gemäss Artikel 12 Absatz 1 Gebrauch gemacht und beschränkt das Wahlrecht auf ausländische Unionsbürger, die mindestens fünf Jahre vor Eintragung ihren rechtmässigen Wohnsitz im luxemburgischen Hoheitsgebiet hatten. In Bezug auf das passive Wahlrecht fordert Luxemburg von ausländischen Unionsbürgern, dass sie mindestens fünf Jahre vor Einreichen der Kandidatur in Luxemburg ansässig waren.

115 116

EuRefKa-Bericht 2001, 218.

Für Belgien ist eine «Kann-Vorschrift» in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen, Art. 12 Abs. 2.

5970

Wollte die Schweiz von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen, könnte sie dies unter Vorlegung der entsprechenden Daten in den Beitrittsverhandlungen geltend machen.

8.3

Fazit

Die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger bedeutete einen Eingriff in die Autonomie der Kantone, und dies auf einem Gebiet, das im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger einen wesentlichen Teil der kantonalen Autonomie ausmacht. Gemäss Artikel 39 Absatz 1 BV regeln die Kantone die Ausübung der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten. Die Pflicht zur Umsetzung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger würde demnach prinzipiell den Kantonen obliegen. Aus Transparenzgründen könnte jedoch anlässlich einer Beitrittsabstimmung die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger ausdrücklich in der Bundesverfassung verankert werden117.

Bei allfälligen EU-Beitrittsverhandlungen bestünde die Möglichkeit, entweder eine Ausnahmeregelung oder eine Übergangsregelung auszuhandeln, die es den Kantonen erlaubt, das Wahlrecht schrittweise einzuführen.

9

Abschliessende Überlegungen

9.1

Europapolitik als Interessenwahrung

Zur Regelung ihrer Beziehungen mit der EU und zur Verfolgung ihrer europapolitischen Ziele stehen der Schweiz verschiedene europapolitische Instrumente zur Verfügung118. Im Hinblick auf den Gebrauch des europapolitischen Instrumentariums stellt sich die Frage, wie die ideellen und materiellen Interessen der Schweiz am besten gewahrt und wahrgenommen werden können.

In seinem Europabericht 2006 hat der Bundesrat festgehalten, dass mit dem heute bestehenden Vertragswerk und dessen kontinuierlicher Anpassung bzw. Ergänzung an neue Bedürfnisse einerseits und den eigenständigen Politiken der Schweiz andererseits die Interessen der Schweiz zurzeit am Besten gewahrt werden können119.

Diese gegenwärtige Einschätzung steht unter dem Vorbehalt, dass erstens zur bestmöglichen Vertretung der schweizerischen Interessen in ihrem Verhältnis zur EU eine permanente Überprüfung und Verbesserung der Instrumente unabdingbar ist und zweitens die Fortführung der bilateralen Zusammenarbeit an Voraussetzungen geknüpft ist wie die hinreichende Teilnahme an der Entscheidungsfindung, die aussenpolitische Machbarkeit (welche bspw. durch die Leistung eines Beitrags zum Abbau der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten in Europa positiv beeinflusst werden kann), sowie an die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

117 118 119

Vgl. den Vorschlag für eine Verfassungsbestimmung, EuRefKa-Bericht 2001, 229.

Vgl. Europabericht 2006, BBl 2006 6830 ff.

Vgl. Europabericht 2006, BBl 2006 6983.

5971

Die schweizerischen Behörden müssen sich auf eine koordinierte und kohärente Weise den Herausforderungen stellen, die die Entwicklungen des Gemeinschaftsrechts mit sich bringen, und zwar sowohl verwaltungsintern wie auch zwischen den verschiedenen Ebenen des Bundesstaates und schliesslich zwischen den Gewalten (Regierung ­ Parlament ­ Gerichte). In diesem Sinne gewinnen Ausgestaltung und Praxis der innerstaatlichen Konsultations- und Mitwirkungsverfahren bei jeder Form der Zusammenarbeit mit der EU an Bedeutung.

9.2

Vereinbarkeit von Föderalismus und europäischer Zusammenarbeit

Die Abklärung der möglichen Formen der Zusammenarbeit mit der EU und ihres Verhältnisses zum Föderalismus zeigt: Der dreistufige bundesstaatliche Aufbau stellt bei einer Fortführung der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU eine Herausforderung, aber kein Hindernis dar.

Die EU überlässt es grundsätzlich ihren Mitgliedstaaten, wie sie ihren Staatsaufbau organisieren wollen. Im Zuge der Verträge von Maastricht, Amsterdam und schliesslich Nizza ist die Stellung der Gliedstaaten («Regionen») innerhalb der EU-Institutionen tendenziell gestärkt worden. Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es sowohl föderalistische Staaten (Deutschland, Österreich und Belgien) wie auch zentralistisch organisierte Staaten. Bei letzteren sind in den letzten zwanzig Jahren Tendenzen in Richtung Dezentralisierung (Frankreich, Vereinigtes Königreich) oder gar in Richtung Föderalismus (Spanien und Italien) zu beobachten. Der bundesstaatliche Aufbau der Schweiz wäre bei einem allfälligen EU-Beitritt deshalb kein Nachteil. Im Gegenteil: Die durch den Föderalismus gewährleistete Machtteilung, Flexibilität und Bürgernähe wären auch eine wertvolle «Mitgift».

Der Föderalismus könnte es der Schweiz erlauben, ihre föderalistischen Grundsätze bei der Diskussion der künftigen Gestaltung der EU besser einzubringen. Die Erfahrung zeigt allerdings auch, dass in der Frage einer weiteren Zentralisierung von Kompetenzen bei den EU-Behörden die Haltung der EU-Mitgliedstaaten nicht durch ihre innere Organisation geprägt ist und dass föderalistisch geprägte Staaten in Bezug auf die Kompetenzen der EU-Behörden nicht grundsätzlich autonomieschonender argumentieren als zentralistisch organisierte Staaten.

9.3

Massgeschneiderte Lösungen

Die Bundesstaaten Deutschland, Österreich und Belgien haben je eigene Lösungen entwickelt, um den Herausforderungen der EU-Mitgliedschaft zu begegnen und ihre föderalistischen Strukturen fruchtbringend einzusetzen und weiterzuentwickeln: Deutschland mit einem durch die zweite Kammer (Bundesrat) und die Landesregierungen geprägten Entscheidungssystem, Österreich durch kooperatives Zusammenwirken der Exekutiven seiner zehn Länder und Belgien mit einer starken Kooperation seiner vier Regionen bzw. Gemeinschaften mit der Bundesebene in aussenpolitischen Fragen.

Bereits in der jüngeren Vergangenheit haben die drei Länder, beispielsweise bei der Erarbeitung des Bundesgesetzes über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes, als Inspirationsquelle gedient. Ihre Lösungen können aber nicht 5972

im Massstab 1:1 auf die Schweiz übertragen werden, da die Gegebenheiten unterschiedlich sind. Zu diesen Unterschieden zählen beispielsweise: ­

eine unterschiedliche Zahl von Gliedstaaten (3 bzw. 4 in Belgien, 9 in Österreich und 16 in Deutschland gegenüber 26 in der Schweiz)

­

eine unterschiedliche Stellung der zweiten Kammer gegenüber der ersten (einander gleichgestellt in der Schweiz, nicht aber in den anderen drei Staaten)

­

eine unterschiedliche Aufgabenteilung zwischen den Ebenen (hohe Ausgaben- und Einnahmenanteile und Finanzautonomie der Kantone und Gemeinden im Unterschied zu den anderen drei Staaten)

­

ein unterschiedliches Ausmass der Aufgabenverflechtung zwischen den drei Ebenen (gross in der Schweiz und in Deutschland, eher klein in Österreich und vor allem Belgien).

Die Schweiz wird deshalb innovative eigene Lösungswege entwickeln müssen, die auf ihre spezifischen institutionellen Gegebenheiten zugeschnitten sind. Je nachdem kann sie solche auch in allfällige Beitrittsverhandlungen einbringen und in der Beitrittsakte verankern lassen. Dies gilt insbesondere für die notwendigen Übergangsfristen.

9.4

Allgemeine Auswirkungen

Aufgrund der engen politischen, wirtschaftlichen und ­ über die Abkommen ­ rechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sowie der geografischen Lage der Schweiz gewinnen die EU und ihr Rechtsbestand für die Schweiz zunehmend an Bedeutung. Tendenziell geht damit eine Anpassung der nationalen Gesetzgebung und Rechtsanwendung an EU-Regelungen ­ über den sogenannten autonomen Nachvollzug sowie die Weiterentwicklung oder den Abschluss neuer Abkommen ­ einher. Schweizerisches Recht erfährt eine «Europäisierung».

Bei einem EU-Beitritt wären die Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen durch die Verpflichtung der systematischen Übernahme des europäischen Rechtsbestands offensichtlicher und weitergehend eingeschränkt als bei der Fortführung der bilateralen Zusammenarbeit. Die Schweiz verfügte nicht mehr über denselben Handlungsspielraum, das «ob» der Übernahme zu prüfen, das «wie» höchstens bei der Umsetzung von Richtlinien. Die Verringerung des Handlungsspielraums wäre durch die vollumfänglich garantierten Mitentscheidungsrechte bei der EU-Rechtsetzung kompensiert.

Bei der Verfolgung beider Instrumente kommt es zu Kompetenzverschiebungen und es besteht die Gefahr eines Zentralisierungsschubs oder einer Machtverlagerung in zweierlei Hinsicht: einmal von der Kantons- in Richtung Bundes- und supranationale Ebene, dann aber auch von der parlamentarischen in Richtung exekutive Ebene. Sowohl die bilaterale Zusammenarbeit wie auch ein allfälliger EU-Beitritt haben bzw. hätten vielfältige Auswirkungen auf den Föderalismus. Die Auswirkungen betreffen vor allem:

5973

­

die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik bzw. EU-Politik,

­

die durch die Zusammenarbeit betroffenen Aufgabengebiete (nur sektorale Aufgaben bei der bilateralen Zusammenarbeit, umfassende Folgen bei einem EU-Beitritt) und

­

die Umsetzung der internationalen Verträge durch die Kantone sowie

­

eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen in der Finanzplanung und -koordination.

Unabhängig von der Wahl der Instrumente ist es insofern unerlässlich, dass die Mitwirkungsrechte der Kantone im Hinblick auf die europäische Ebene sowie damit verbunden die Transparenz in den Verfahren gewährleistet sind, bei gleichzeitiger Wahrung einer einheitlichen schweizerischen Position.

9.5

Verstärkter Anpassungsbedarf für alle Staatsebenen

Die Regelung der Zusammenarbeit mit der EU ist nicht die einzige Herausforderung, die auf Bund, Kantone und Gemeinden zukommt. Die föderalistische Ordnung ist vielmehr durch weitere Entwicklungen herausgefordert, wie die zunehmende Komplexität der Staatsaufgaben, die hohe Mobilität von Personen und Kapital, das räumliche Auseinanderfallen von sachlicher Zuständigkeit und Entscheidungswirkung, das Erfordernis der Zusammenarbeit in den Ballungsräumen (auch grenzüberschreitend), die Notwendigkeit raschen und problemorientierten Handelns u.a.m.

Die Kantone haben auf diese Herausforderungen bereits mit namhaften Anstrengungen reagiert: vor allem mit Verfassungs-, Regierungs- und Verwaltungsreformen sowie der Stärkung der interkantonalen Zusammenarbeit (z.T. unter Einbezug der Parlamente).

9.6

Schrittweise Anpassungen

Ein dringender unmittelbarer Reformbedarf ist nicht gegeben. Vielmehr gilt es schrittweise vorzugehen. Mit der NFA ist bereits ein Reformprojekt in Umsetzung, das auch bei einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit der EU nicht obsolet ist, sondern im Gegenteil die für die hier diskutierten Instrumente notwendige Kooperation zwischen Bund und Kantonen sowie unter den Kantonen fördert. Es wird ergänzt durch die mit der Umsetzung und Weiterentwicklung insbesondere der Schengen-/Dublinassoziierungsabkommen gemachten Erfahrungen. Änderungen am System sollen deshalb nur dann vorgenommen werden, wenn sie sinnvoll oder allenfalls zwingend nötig sind, letzteres z.B. vorgängig, mindestens aber im Gleichschritt mit einem eventuellen EU-Beitritt. Ein schrittweises Vorgehen erlaubt, Erfahrungen insbesondere mit Anwendung, Umsetzung und Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen I und II zu sammeln und diese bei der Gestaltung weiterer Reformschritte zu berücksichtigen. Und Neuentwicklungen innerhalb der EU wie die Diskussion über den Verfassungsvertrag erfordern von Zeit zu Zeit wieder eine Neubeurteilung der Situation und des Reformbedarfs, bzw. eröffnen auch Chancen für eine Vertiefung des Föderalismus (wie in der Vergangenheit die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips).

5974

Unter dem Regime der bilateralen Zusammenarbeit verbleiben dem Bund und den Kantonen bis anhin substanzielle Handlungsspielräume. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der bilateralen Zusammenarbeit, die tendenzielle Zunahme der Delegationsnormen und der Entscheid zum Nachvollzug von Gemeinschaftsrecht schränken Rechtsetzungskompetenzen von Bund und Kantonen und ihre Spielräume allerdings zunehmend ein. Die im Rechtsetzungsverfahren vorgesehene Prüfung des Verhältnisses einer Vorlage mit dem europäischen Recht und mit den Abkommen Schweiz-EU hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.

Vor diesem Hintergrund könnten mit Blick auf den Status quo folgende Massnahmen zur Anpassung des Föderalismus an die europapolitische Wirklichkeit zur Diskussion stehen: ­

Die Aufgabenverteilung ist ­ unter engem Einbezug der Kantone ­ permanent zu überprüfen. In diesem Sinne wird das Subsidiaritätsprinzip (vgl.

neuer Art. 5a sowie 43a BV) an Bedeutung gewinnen.

­

Die Mitwirkungsrechte der Kantone (und der Parlamente) sind im Hinblick auf die europäische Ebene zu gewährleisten, bei gleichzeitiger Wahrung einer einheitlichen schweizerischen Position. Unabdingbar ist hierbei auch ein reibungsloser, wechselseitiger Informationsfluss zwischen Bund und Kantonen. Zur Sicherstellung der Wahrnehmung der Stellungnahmerechte müssen entsprechende innerstaatliche Strukturen und Verfahren in den parlamentarischen Kommissionen und mit der Konferenz der Kantonsregierungen (bzw. den Direktorenkonferenzen) noch besser genutzt werden. Dies könnte auch, wo nötig, über die Ausarbeitung einer Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen erfolgen, die sich an den Verfahren der bestehenden Vereinbarung im Rahmen der Schengen-/Dublinassoziierung orientieren könnte. Zudem ist zu prüfen, ob Informationsbeauftragte der Kantone in weitere Departemente eingebettet werden sollten.

­

Die Aus- und Weiterbildung der verschiedenen Akteure in den Kantonen und auf Bundesebene, dies auf Verwaltungs-, Parlaments- und Gerichtsstufe in europapolitischen Angelegenheiten spielt dabei eine wichtige Rolle. Dabei kann auch auf die Erfahrungen anderer Bundesstaaten Rückgriff genommen werden (z.B. Organisation von rechtsvergleichenden Seminaren).

­

Alle Staatsorgane, d.h. auch diejenigen der Kantone und Gemeinden, haben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten darauf zu achten, dass die vertraglich mit der EU eingegangenen Verpflichtungen in Rechtsetzung und Rechtsanwendung respektiert werden. Dies stellt wiederum grosse Anforderungen an die Kenntnisse der Kantone über EU-Recht, an deren administrative Kapazitäten und an deren Koordinationsfähigkeiten bzw. diejenigen interkantonaler Organe (kantonale Direktorenkonferenzen und Konferenz der Kantonsregierungen). Die aussenpolitische Verantwortung trägt der Bund. Bei der Umsetzung internationalen Rechts bzw. der vertraglich mit der EU eingegangenen Verpflichtungen könnte der Bund zum Beispiel auf kooperative Instrumente oder Vereinbarungen zwischen Bund und Kantonen zurückgreifen.

Ein wichtiger Reformbedarf ergäbe sich aus föderalistischer Perspektive im Falle eines EU-Beitritts infolge der zwingenden Erhöhung der Mehrwertsteuersätze. Eine Anhebung der schweizerischen Sätze auf den EU-Mindestsatz würde im heutigen Zeitpunkt dem Bund 16 bis 17 Milliarden Franken Mehreinnahmen bringen. Die steuerliche Mehrbelastung bzw. die Mehreinnahmen des Bundes wären wirtschafts5975

und sozialverträglich zu kompensieren und den Kantonen müssten weiterhin ausreichende Finanzquellen zur Verfügung stehen. Dies müsste auf Verfassungsstufe verankert werden. In allfälligen Beitrittsverhandlungen müssten für den Umbau des Steuersystems mindestens Übergangsfristen festgelegt werden. Entscheide im Bereich der Finanz- und der Steuerpolitik sind in jedem Fall in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen vorzubereiten. Die NFA wurde jedoch so konzipiert, dass sie bei einem allfälligen EU-Beitritt der Schweiz nicht grundlegend überarbeitet werden müsste. Hingegen sind Auswirkungen der europapolitischen Instrumente auf den Steuerwettbewerb oder den Steuerföderalismus schwierig einzuschätzen.

Die Fortführung der Zusammenarbeit mit der EU ­ auf welchem Weg auch immer ­ erfordert verstärkte Konsultation (zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen bzw. den dazu geschaffenen interkantonalen Organen) und rasche und einheitliche Umsetzung, auch in kantonalen Sachgebieten. Dies wird den Anpassungsbedarf in den Kantonen verstärken. Je bessere Voraussetzungen geschaffen werden, dass Bund und Kantone ­ auch bei knappen Fristen ­zielorientiert und konstruktiv miteinander kommunizieren und dass die Kantone ihre Erfahrung, ihren politischen Willen und ihre Bürgernähe einbringen können, desto weniger beschwerlich wird der weitere Weg der Regelung des Verhältnisses zur EU sein. Vielversprechende Anfänge sind bei den bilateralen Verhandlungen I und II sowie bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Abkommen (insbesondere bei der Schengener-Zusammenarbeit) gemacht worden. Der kooperative Föderalismus ist mithin eine wichtige Rahmenbedingung der Regelung der Beziehungen mit der EU. Diese Erfahrungen und das Engagement der Kantone im Rahmen von EuRefKa bilden für den Bundesrat eine tragfähige Ausgangslage, so dass auch allfällige weitere Schritte in Richtung Vertiefung der Beziehungen Schweiz-EU aus der Leistungsfähigkeit des Föderalismus Nutzen ziehen und den Föderalismus wiederum stärken werden.

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Anhang Tabelle 1 Rechnungssaldi der öffentlichen Haushalte Saldo Bund

Saldo Kantone

Saldo Gemeinden

Saldo Soz.vers.

Saldo Staat

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005* 2006*

­0.8 ­0.3 ­0.5 ­0.7 ­0.5 ­0.6 0.4 0.1 0.1 ­0.1 ­0.2 ­1.2 ­1.4 ­2.7 ­1.9 ­1.3 ­1.5 ­1.5 0.0 ­0.8 0.9 ­0.4 ­0.1 ­0.9 ­0.8 0.1 0.4

­0.1 ­0.2 ­0.3 ­0.3 ­0.1 0.1 0.2 0.2 0.2 ­0.1 ­0.6 ­1.1 ­1.2 ­1.5 ­1.0 ­0.5 ­0.6 ­0.8 ­0.3 0.2 0.6 0.3 ­0.1 ­0.5 ­0.2 0.1 0.4

0.3 0.1 ­0.2 ­0.2 0.0 0.1 0.1 0.2 0.0 ­0.1 ­0.3 ­0.6 ­0.7 ­0.3 ­0.2 ­0.2 ­0.1 ­0.2 ­0.1 0.2 0.4 0.3 0.3 0.0 0.1 0.2 0.3

0.5 0.8 0.5 0.4 0.2 0.4 0.5 0.6 0.7 1.0 0.8 0.7 ­0.1 0.7 0.1 ­0.1 0.0 ­0.3 ­0.4 ­0.1 0.3 ­0.2 ­0.4 0.0 ­0.3 ­0.2 0.0

­0.2 0.4 ­0.5 ­0.8 ­0.4 ­0.1 1.2 1.2 1.0 0.8 ­0.2 ­2.2 ­3.5 ­3.9 ­3.0 ­2.1 ­2.3 ­2.7 ­0.7 ­0.6 2.2 0.0 ­0.3 ­1.4 ­1.3 0.1 1.1

Mittelwert

­0.7

­0.3

­0.1

0.4

­0.6

Zahlen in % des BIP. ­ * teilweise geschätzte Zahlen Quelle: EFV

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Tabelle 2 Verschuldungsquoten der öffentlichen Haushalte

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005* 2006*

Bund

Kantone

Gemeinden

Staat

17.3 16.1 16.0 15.6 16.0 16.2 15.3 14.6 14.0 12.7 11.8 12.8 15.8 18.4 19.9 21.5 23.0 24.5 27.0 24.7 25.3 25.0 28.4 28.5 28.3 28.6 26.1

12.2 11.7 11.9 12.1 11.8 11.4 11.1 10.9 10.6 9.9 9.3 10.1 11.5 13.0 13.9 14.2 15.0 15.6 16.1 15.7 15.4 16.3 17.0 17.9 18.0 16.1 15.0

12.6 11.7 11.4 11.5 11.0 10.5 10.2 10.0 9.6 9.3 8.9 9.0 9.6 9.8 9.8 9.9 10.0 10.0 9.9 9.7 9.1 9.0 8.9 9.0 8.8 8.4 7.8

42.1 39.4 39.2 39.2 38.8 38.1 36.6 35.6 34.3 31.9 29.9 31.9 36.8 41.1 43.6 45.6 48.1 50.1 52.9 50.1 49.9 50.4 54.4 55.3 55.1 53.1 48.9

Zahlen in % des BIP. ­ * teilweise geschätzte Zahlen Quelle: EFV

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