07.076 Botschaft zum Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vom 21. September 2007

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen mit dieser Botschaft den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

21. September 2007

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2007-1146

7251

Übersicht Das von der UNESCO-Generalkonferenz am 17. Oktober 2003 verabschiedete Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes soll von der Schweiz ratifiziert werden. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, die notwendigen Massnahmen zur Bewahrung ihres immateriellen Kulturerbes zu treffen und die Zusammenarbeit auf regionaler und internationaler Ebene zu fördern.

Ausgangslage Das im Jahr 2003 von der UNESCO-Generalversammlung verabschiedete und am 20. April 2006 in Kraft getretene Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes [Übereinkommen] regelt das gesellschaftliche Verhältnis zu einem bisher rechtlich kaum anerkannten Bereich, der zuweilen ­ und nur teilweise zutreffend ­ auch als traditionelle Kultur, Folklore oder Volkskultur bezeichnet wird. Das Abkommen zielt auf die Erhaltung, Förderung und Erforschung von traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen wie Musik, Theater, Legenden, Tanz sowie traditionelles Wissen über Umwelt und Handwerkstechniken. Mit dem Übereinkommen werden die bestehenden internationalen Übereinkünfte, Empfehlungen und Beschlüsse zum Natur- und Kulturerbe durch neue Bestimmungen zum immateriellen Kulturerbe wirksam bereichert und ergänzt.

Das Übereinkommen schliesst an die seit Jahrzehnten von der UNESCO verfolgte und von der Schweiz unterstützte Kulturpolitik an. Sie ist als Ergänzung zu den Übereinkommen zum Welterbe (1972), zum Kulturgütertransfer (1970) sowie zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) zu sehen, welche sich auf materielle Kulturgüter beschränken. Komplementär ist das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auch zu dem 2005 verabschiedeten Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Das immaterielle Kulturerbe, das lange in seiner Bedeutung für regionale und nationale Identitätsverständnisse unterschätzt wurde, erfährt durch das UNESCO-Übereinkommen die notwendige Aufwertung. Insofern das Übereinkommen nun von einer grossen Zahl von Staaten ratifiziert wird, kommt ihm eine grosse Bedeutung zu.

In der Schweiz ist die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes für die kulturelle Vielfalt, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für das kulturelle Selbstverständnis sowie für das Erscheinungsbild des Landes anerkannt. Viele nationale und
regionale Eigenheiten definieren sich über immaterielle Kulturaspekte. Offenkundig ist dies im Brauchtum, in der Volksmusik und im Volkstanz, im traditionellen Handwerk sowie in mündlich überlieferten Traditionen und Ausdrucksweisen, einschliesslich der Sprache als Träger dieses Erbes.

7252

Inhalt des Übereinkommens Im Übereinkommen wird die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für die Kontinuität des immateriellen Kulturerbes anerkannt, ebenso die globale Vielfalt traditioneller kultureller Ausdrucksweisen. Die Vertragsstaaten des Übereinkommens werden auf nationaler Ebene und durch internationale Zusammenarbeit zu Massnahmen angehalten, günstige Rahmenbedingungen für die Praxis und Überlieferung des immateriellen Kulturerbes zu schaffen. Auf internationaler Ebene sieht das Übereinkommen die Einrichtung einer repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit vor. Weitere Projekte und Programme zur Bewahrung und Förderung des immateriellen Kulturerbes werden durch Mittel aus einem eigens geäufneten Fonds finanziert.

Auch wenn der Begriff des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz selten verwendet wird, ist die Erhaltung und die Förderung traditioneller kultureller Ausdrucksweisen durch die Unterstützung von Kulturveranstaltungen, durch die Förderung von Kulturvermittlung und durch Beiträge an Kulturschaffende fest in der staatlichen Kulturförderung verankert. Deshalb stärkt und bekräftigt das Übereinkommen die in der Schweiz bestehenden Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Mit der Ratifikation schliesst sich die Schweiz dem von der UNESCO verabschiedeten kohärenten internationalen Rechtsrahmen zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt an.

Die Ratifikation des Übereinkommens hat geringfügige finanzielle Auswirkungen auf den Bund. Diese ergeben sich hauptsächlich aus der Verpflichtung, alle zwei Jahre einen Beitrag an den UNESCO-Fonds für das immaterielle Kulturerbe zu entrichten.

7253

Inhaltsverzeichnis Übersicht

7252

1 Grundzüge des Übereinkommens 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Zur Bedeutung des immateriellen Kulturerbes 1.1.2 Internationale Bestrebungen und bestehende Instrumente zum Schutz der Folklore 1.1.3 UNESCO-Programme zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes 1.2 Entstehung des Übereinkommens 1.3 Übersicht über das Übereinkommen 1.3.1 Zweck 1.3.2 Rechtsnatur 1.3.3 Anwendungsbereich 1.4 Die Position der Schweiz 1.5 Würdigung 1.5.1 Bedeutung des Übereinkommens auf internationaler Ebene 1.5.2 Bedeutung des Übereinkommens für die Schweiz 1.5.3 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 1.6 Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen in der Schweiz 1.6.1 Zuständigkeit 1.6.2 Rechtliche Grundlagen und bestehende Praxis auf Bundesebene 1.6.3 Inventarisierung, Dokumentation und immaterialgüterrechtliche Regelungen

7255 7255 7255

7257 7258 7259 7259 7260 7261 7261 7262 7262 7264 7265

2 Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Übereinkommens

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3 Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.2 Auswirkungen auf die Kantone 3.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft 3.4 Andere Auswirkungen: die Rolle der Zivilgesellschaft

7274 7274 7275 7275 7276

4 Verhältnis zur Legislaturplanung

7276

5 Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.3 Verhältnis zu geplanten immaterialgüterrechtlichen Regelungen 5.4 Staatsvertragsreferendum

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Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (Entwurf)

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Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes

7281

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7266 7266 7267 7268

Botschaft 1

Grundzüge des Übereinkommens

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Zur Bedeutung des immateriellen Kulturerbes

Die internationale Anerkennung des immateriellen Kulturerbes erwächst aus dem Bedürfnis der Gesellschaften nach kultureller Kontinuität und nach der Stärkung regionaler und nationaler Identitäten. Der beschleunigte gesellschaftliche Wandel, die globale Vernetzung der Kommunikation und des Handels sowie die damit einhergehenden Angleichungstendenzen liessen die zentrale Bedeutung des immateriellen Kulturerbes bei der Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen, bei der Kommunikation zwischen den Generationen, bei der Wertevermittlung, bei der Ausformung kultureller Selbstverständnisse sowie im interkulturellen Dialog ins Bewusstsein rücken.

Seit den 1950er-Jahren hat die Generalversammlung der UNESCO eine Reihe von internationalen Abkommen zur Erhaltung des Kultur- und Naturerbes verabschiedet.

Sukzessive wurden bewegliche und unbewegliche Kulturgüter und Naturlandschaften Gegenstand internationaler Schutzvereinbarungen. Die wichtigsten UNESCOÜbereinkommen, welche die Schweiz alle ratifiziert hat, zeigen das zunehmende Bedürfnis nach internationalen Regelungen im Bereich der Kulturerbe-Bewahrung: das Hager Abkommen von 1954, das Kulturgütertransfer-Übereinkommen von 1970 und das Welterbe-Übereinkommen von 1972.1 Zusammen mit europäischen Abkommen (Granada-Übereinkommen 1985, Valetta-Übereinkommen 1992)2 tragen die genannten Regelungen mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen zum umfassenden Konzept einer Kulturerbe-Politik bei.

Mit dem Welterbe-Übereinkommen von 1972 wurde eine erfolgreiche internationale Kulturpolitik im Bereich der Kulturstätten, Kultur- und Naturlandschaften lanciert.

In der UNESCO-Weltliste des Kultur- und Naturerbes figurieren gegenwärtig 851 Güter (Juli 2007). Allerdings sind rund ein Fünftel davon auf die fünf kleineren westeuropäischen Staaten Italien, Spanien, Deutschland, Frankreich und Grossbritannien konzentriert, während Stätten in Staaten Afrikas und Ozeaniens deutlich unterrepräsentiert sind. Zum Teil liegt dies daran, dass in vielen Regionen dieser Kontinente das Kulturerbe primär als traditionelles Wissen und als Fertigkeiten präsent ist und seinen Ausdruck in Musik und Tanz, Theater und Ritualen findet.

Da dieses Kulturerbe vom Welterbe-Übereinkommen von 1972 unberücksichtigt

1

2

Haager Abkommen vom 14. Mai 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (und Ausführungsbestimmungen sowie Protokolle von 1954 und 1999; SR 0.520.3); Übereinkommen vom 14. November 1970 über die Massnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (SR 0.444.1); Übereinkommen vom 23. November 1972 zum Schutz des Kulturund Naturgutes der Welt (SR 0.451.41). Mit einem weiteren, bisher noch nicht in Kraft getretenen und von der Schweiz nicht ratifizierten Übereinkommen zielte die UNESCO 2001 auf den Schutz des archäologischen Kulturgutes unter Wasser.

Übereinkommen vom 3. Oktober 1985 zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa (SR 0.440.4); Europäisches Übereinkommen vom 16. Januar 1992 zum Schutz des archäologischen Erbes (rev. Fassung; SR 0.440.5).

7255

blieb, konnten viele Länder ihr bedeutendes immaterielles Kulturerbe nicht für die Welterbe-Liste nominieren.

Es waren Staaten des Südens, die bereits bei der Verabschiedung des WelterbeÜbereinkommens von 1972 Bedürfnisse nach Schutzregelungen und Bewahrungsmassnahmen für das immaterielle Kulturerbe angemeldet haben. Doch auch Länder Osteuropas und Ostasiens setzten sich für eine Berücksichtigung des immateriellen Kulturerbes in den kulturpolitischen Tätigkeiten der UNESCO ein. Japan hatte bereits in den 1950er-Jahren im Zuge rasanter gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen nationale Regelungen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes erlassen und hat seit 1993 UNESCO-Programme zugunsten des immateriellen Kulturerbes sowie die Vorarbeiten zum Übereinkommen massgeblich unterstützt.

1.1.2

Internationale Bestrebungen und bestehende Instrumente zum Schutz der Folklore

Die Initiativen zur Schaffung eines international verbindlichen Rechtsinstruments betreffend das immaterielle Kulturerbe waren lange von einem urheberrechtlichen Ansatz dominiert. Der Fokus richtete sich auf den Schutz der vom Urheberrecht nicht erfassten bzw. als Gemeingut qualifizierten «Folklore», welche einen grossen Bereich des immateriellen Kulturerbes umfasst.

Mit der Revision der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (1967 in Stockholm und 1971 in Paris)3 wurde die Möglichkeit geschaffen, den Schutz von Folklore dem Staat zu übertragen: «Für die nichtveröffentlichten Werke, deren Urheber unbekannt ist, bei denen jedoch aller Grund zu der Annahme besteht, dass ihr Urheber Angehöriger eines Verbandslands ist, kann die Gesetzgebung dieses Landes die zuständige Behörde bezeichnen, die diesen Urheber vertritt und berechtigt ist, dessen Rechte in den Verbandsländern wahrzunehmen und geltend zu machen» (Art. 15 Abs. 4 Bst. a Berner Übereinkunft). Obwohl einige Staaten nach 1967 Ausdrucksweisen der Folklore innerhalb ihres nationalen Urheberrechts geschützt haben, entfaltete der Artikel der Berner Übereinkunft kaum Wirkung auf nationaler Ebene.

Die UNESCO erörterte im Laufe der 1970er-Jahre eigenständig und in Zusammenarbeit mit der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) Schutzoptionen für Folklore. 1982 verabschiedeten UNESCO und WIPO gemeinsam die Model provisions for national laws on the protection of expressions of folklore against illicit exploitation and other prejudicial actions. Diese knüpfen an die Berner Übereinkunft an, wonach der Schutz der Folklore-Ausdrucksweisen einer zuständigen Behörde des Staates übertragen wird. Auf der Basis der Model provisions wurde 1984 von der UNESCO und der WIPO gemeinsam ein Entwurf für ein internationales Abkommen zum Schutz der Folklore vorgelegt, jedoch als unausgereift eingestuft und deshalb nicht verabschiedet.4

3 4

Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst, revidiert in Paris am 24. Juli 1971 (SR 0.231.15).

UNESCO-WIPO Draft Treaty for the Protection of Expressions of Folklore Against Illicit Exploitation and Other Prejudicial Actions.

7256

Daraufhin beschloss die UNESCO, die Bewahrung der Folklore in Form einer Empfehlung anzugehen. Die Generalkonferenz der UNESCO verabschiedete 1989 die Empfehlung zum Schutz der traditionellen Kultur und Folklore, die den Mitgliedstaaten Richtlinien zu Identifizierung, Bewahrung, Verbreitung und Schutz von Folklore bietet. Das Dokument konnte keine grosse Wirkung entfalten, markiert aber eine wichtige Zwischenetappe auf dem Weg zum Übereinkommen.

1.1.3

UNESCO-Programme zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes

Im Laufe der 1990er-Jahre förderte die UNESCO Projekte zur Bewahrung und Verbreitung traditioneller Musik und gefährdeter Sprachen. Mit den beiden Programmen «Trésors humains vivants» und «Proclamation des chefs-d'oeuvre du patrimoine oral et immatériel de l'humanité» sammelte die UNESCO dann wichtige Erfahrungen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und im Hinblick auf die Schaffung eines neuen Rechtsinstruments.

Trésors humains vivants Mit dem 1993 von der UNESCO eingeführten Programm «Trésors humains vivants» sollte die mündliche und imitationsbasierte Tradierung von Wissen und Fertigkeiten von historisch und künstlerisch herausragendem Wert in den Bereichen Musik, Tanz, Theater, Spiele und Rituale gefördert werden. Dazu diente das Lehrlingswesen im Handwerksbereich als Vorbild. Lehrmeister und -meisterinnen, welche über ein aussergewöhnliches Wissen und spezielle Fertigkeiten für ihre Gesellschaft oder soziale Gruppe verfügen, sollten die Prestige-Auszeichnung «Trésors humains vivants» und staatliche Unterstützung erhalten. 1996 publizierte die UNESCO die ersten Richtlinien zur Umsetzung. In einigen Ländern wurde das Förderungsmodell auf nationaler Ebene bereits eingeführt (China, Frankreich, Japan, Korea, Philippinen, Rumänien, Thailand, Tschechien).

Proclamation des chefs-d'oeuvre du patrimoine oral et immatériel de l'humanité Das 1997 geschaffene Programm «Proclamation des chefs-d'oeuvre du patrimoine oral et immatériel de l'humanité» sollte durch die Ernennung herausragender Beispiele des immateriellen Kulturerbes das Bewusstsein um den Wert dieses Erbes fördern, die UNESCO Mitgliedstaaten zu Massnahmen anregen und schliesslich die Erfahrungen im Bereich der Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene erweitern.5 Von 150 Kandidaturen, die zunächst von Spezialistinnen und Spezialisten aus Nichtregierungsorganisationen evaluiert wurden, hat eine internationale Jury in drei Runden (2001, 2003, 2005) 90 ausgewählt und zu «Meisterwerken» erklärt. Die Übersicht zeigt eine breite geographische Streuung. Die «Meisterwerke» stammen aus über 70 verschiedenen Ländern und Regionen: 14 aus Afrika, 8 aus arabischen Staaten, 30 aus der asiatisch-pazifischen Region, 21 aus Europa und 17 aus Lateinamerika und der Karibik.

5

Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity: Proclamations 2001, 2003 and 2005, Paris: UNESCO 2006.

7257

1.2

Entstehung des Übereinkommens

Der Erfolg der Programme, insbesondere der «Proclamation des chefs-d'oeuvre du patrimoine oral et immatériel de l'humanité», gab dem Streben nach einem Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes Auftrieb. Mit den geopolitischen Veränderungen seit dem Ende der 1980er-Jahre, der Ausbreitung der Marktwirtschaft, den Möglichkeiten der digitalen Vervielfältigung und der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechnologie wuchs das Bedürfnis nach griffigen Massnahmen zur Bewahrung traditioneller Kultur. Die UNESCO-Empfehlung von 1989 wurde als nicht ausreichend angesehen und stattdessen ein verbindliches juristisches Instrument gefordert.

Die Evaluation der UNESCO-Empfehlung von 1989 Die Ausarbeitung des Übereinkommens wurde 1999 in Gang gebracht, als die UNESCO eine umfassende Evaluation der UNESCO-Empfehlung von 1989 durchführte. Diese erbrachte folgende Schlussfolgerungen6: ­

Als soft law führte die Empfehlung von 1989 nicht zur erwünschten Umsetzung auf nationaler Ebene.

­

Die Bewahrungsmassnahmen sollten von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen. Neben der «Folklore» sollte das traditionelle Wissen sowie materielle und natürliche Kulturelemente stärker berücksichtigt werden.

­

Im top-down-Ansatz der Empfehlung von 1989 werden Dokumentation und Archivierung zu stark gewichtet, die dynamische Tradierungspraxis und die Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes jedoch zu wenig berücksichtigt.

Eine Machbarkeitsstudie7 gelangte zum Schluss, dass ein ausschliesslich immaterialgüterrechtlicher Schutz, wie er lange von der UNESCO angestrebt wurde, den Bestrebungen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes nicht gerecht werde.

Ein Rechtsinstrument solle deshalb nicht von einem immaterialgüterrechtlichen Ansatz her entwickelt werden und auch nicht einzelne immaterialgüterrechtliche Regelungen enthalten. Als Modell könne das Welterbe-Übereinkommen von 1972 dienen.

Der Entwurf des Sekretariats der UNESCO Im Juli 2002 legte der Generaldirektor der UNESCO den Mitgliedstaaten ein Vorprojekt für ein Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zur Konsultation vor. Der Entwurf nahm das Übereinkommen von 1972 zum Ausgangspunkt, sah die Schaffung von Listen des immateriellen Kulturerbes vor und betonte die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit und der Partizipation der Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes.

6

7

Peter Seitel (Hrsg.), Safeguarding Traditional Cultures: A Global Assessment of the 1989 UNESCO Recommendation on the Safeguarding of Traditional Culture and Folklore (http://www.folklife.si.edu/resources/Unesco/index.htm).

Janet Blake, Developing a New Standard-setting Instrument for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage: Elements for Consideration (UNESCO Dokument CLT-2001/WS/8 Rev.), Paris 2002 (rev. ed.).

7258

Die Bestrebungen der UNESCO zur Schaffung eines verbindlichen Rechtsinstruments fanden Unterstützung durch den Dritten Runden Tisch der Kulturminister und -ministerinnen (Istanbul, 16.­17. September 2002), der unter dem Thema «Patrimoine culturel immatériel, miroir de la diversité culturelle» stand. Die Vertreter und Vertreterinnen von 110 Staaten, darunter 72 Kulturminister und ­ministerinnen verabschiedeten die Erklärung von Istanbul,8 in welcher sie die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes in seiner kreativen Wandelbarkeit für lokale Gemeinschaften, für die kulturelle Vielfalt, für den interkulturellen Dialog und für die nachhaltige Entwicklung anerkennen sowie zur Förderung des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene und durch internationale Zusammenarbeit aufrufen.

Die zwischenstaatlichen Expertentreffen Die Verhandlungen wurden, ausgehend vom Entwurf des Sekretariats der UNESCO vom Juli 2002, bereits im September aufgenommen. Es wurden drei zwischenstaatliche Expertentreffen (September 2002, Februar 2003, Juni 2003) und ein Treffen einer Arbeitsgruppe einberufen. Die Vorarbeiten wurden im Juni 2003 abgeschlossen.

Die 32. Generalkonferenz der UNESCO Der ausgehandelte Entwurf wurde vom UNESCO-Generaldirektor dem Exekutivrat in seiner 167. Sitzung im September 2003 vorgelegt. Auf Initiative von Japan brachten 44 der 58 Mitgliedstaaten des Exekutivrates den Vorschlag ein, das Vorprojekt bereits in der nächsten Sitzung der UNESCO-Generalkonferenz zur Verabschiedung als Übereinkommen vorzulegen, was einstimmig begrüsst wurde. Die 32. UNESCOGeneralkonferenz hat schliesslich am 17. Oktober 2003 das Übereinkommen mit 120 Ja-Stimmen und ohne Gegenstimmen verabschiedet. Die Schweiz enthielt sich der Stimme zusammen mit weiteren sieben Staaten: Australien, Dänemark, Grossbritannien, Kanada, Neuseeland, Russland und Vereinigte Staaten von Amerika.

1.3

Übersicht über das Übereinkommen

1.3.1

Zweck

Das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes bezweckt die Förderung und Pflege von traditionellen kulturellen Ausdruckweisen, Praktiken und Fachkenntnissen in ihrer kreativen Vielfalt. Es verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, auf nationaler Ebene die notwendigen Massnahmen zur Sicherung der Lebensfähigkeit ihres immateriellen Kulturerbes zu treffen, und lädt sie dazu ein, in Hinblick auf dieses Ziel auf regionaler und internationaler Ebene zusammenzuarbeiten.

Die vom Übereinkommen vorgesehenen Massnahmen zur Bewahrung umfassen Identifizierung, Dokumentation, Erforschung, Erhaltung, Schutz, Förderung, Aufwertung, Weitergabe sowie Belebung der verschiedenen Aspekte des immateriellen Kulturerbes. Ziel ist neben der reinen Bewahrung auch die Stärkung des Bewusstseins für die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes. Zur Umsetzung der Massnahmen sollen deshalb die zuständigen Stellen ­ dies wird im Übereinkommen an

8

Istanbul Declaration, Round Table of Ministers of Culture (abgedruckt in UNESCO Dokument 165 EX/INF.9, Paris, 3. Oktober 2002).

7259

mehreren Stellen betont ­ mit den Gemeinschaften, Gruppen und Individuen, die dieses Erbe schaffen, pflegen und weitergeben, eng zusammenarbeiten.

Die wichtigsten Instrumente des Übereinkommens sind ­

die Schaffung einer «Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» und dazu einer «Liste des dringend bewahrungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes», welche die besonders bedrohten und schutzbedürftigen Bestandteile des Erbes benennt; und

­

die Errichtung eines «Fonds für die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes», alimentiert durch Beiträge der Vertragsstaaten und anderer Quellen, zur Finanzierung von technischer und finanzieller Unterstützung an die Vertragsstaaten für die Konkretisierung ihrer Verpflichtungen.

1.3.2

Rechtsnatur

Die Adressaten des Übereinkommens sind die Vertragsstaaten. Das Übereinkommen enthält keine einklagbaren Rechte des oder der Einzelnen, so auch nicht auf Förderung von Seiten von Trägern und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes. In seinem programmatischen Charakter ist das Übereinkommen nicht unmittelbar anwendbar (non self-executing). Seine Ziele ­ Bewahrung und Förderung des immateriellen Kulturerbes durch geeignete Institutionen und unter Einschluss seiner Träger und Trägerinnen ­ bedürfen der Umsetzung auf einzelstaatlicher Ebene.

Die aus dem Übereinkommen abzuleitenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten sind allgemeiner und spezifischer Art: ­

In allgemeiner Weise verpflichtet das Übereinkommen die Vertragsstaaten dazu, die zur Bewahrung des in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen immateriellen Kulturerbes erforderlichen Massnahmen zu ergreifen. Die aus dieser zentralen Aufgabe abzuleitenden allgemeinen Verpflichtungen gelten im Rahmen der Möglichkeiten und der einem Staat zur Verfügung stehenden Mittel sowie im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung. Allgemeine Verpflichtungen in diesem Sinn enthalten namentlich die Artikel 13 (Massnahmen zur Bewahrung), Artikel 14 (Bildung und Erziehung, Sensibilisierung und Stärkung professioneller Kapazitäten), Artikel 15 (Beteiligung der Gemeinschaften, Gruppen und Individuen). Diese Bestimmungen haben keinen rechtsverbindlichen Charakter und sind daher entsprechend offen formuliert («unternimmt Anstrengungen», «bemüht sich unter Einsatz aller geeigneten Mittel», «bemüht sich»).

­

Die spezifischen Verpflichtungen haben rechtsverbindlichen Charakter: Es sind dies namentlich die Artikel 11 und 12 (Inventarisierung des im Hoheitsgebiet befindlichen immateriellen Kulturerbes), Artikel 26 (Beitrag an den Fonds für das immaterielle Kulturerbe), Artikel 29 (Berichterstattung über die erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und über übrige Massnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens).

7260

1.3.3

Anwendungsbereich

Das Übereinkommen findet Anwendung auf Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Der Begriff «immaterielles Kulturerbe» ist in Artikel 2 des Übereinkommen definiert und erläutert (vgl. Ziff. 2, Abschnitt «Allgemeine Bestimmungen»).

1.4

Die Position der Schweiz

Der Bundesrat will das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zusammen mit dem UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ratifizieren, da die beiden Übereinkommen hinsichtlich ihrer Ziele komplementär sind. So ist einerseits das bewahrenswerte immaterielle Kulturerbe ein Spiegel der kulturellen Vielfalt, andererseits kann es kulturelle Vielfalt ohne die Ausdrucksweisen des immateriellen Kulturerbes nicht geben. Zudem hat sich gezeigt, dass das Übereinkommen international breite Unterstützung geniesst. In seiner Antwort auf die Anfrage MüllerHemmi (05.1173) hat der Bundesrat bekräftigt, dass es sein Ziel ist, alle für die Schweiz relevanten UNESCO-Übereinkommen im Kulturbereich zu ratifizieren.

Bei der Verabschiedung des Übereinkommens an der UNESCO-Generalkonferenz im Oktober 2003 hat sich die Schweiz der Stimme enthalten. Damals war die Schweiz der Ansicht, dass das Tempo der Verhandlungen zu hoch war ­ vorgesehen war ursprünglich eine Verabschiedung für 2005. Vor allem aber räumte die Schweiz der Erarbeitung eines Übereinkommens zur kulturellen Vielfalt Priorität ein. Dieses Übereinkommen konnte ­ mit tatkräftiger Unterstützung der Schweiz ­ im Oktober 2005 verabschiedet werden.

Während der Verhandlungen vertrat die Schweiz die folgenden Positionen: ­

Verhältnis zu immaterialgüterrechtlichen Regelungen: Verschiedene UNESCO-Mitgliedstaaten, darunter auch die Schweiz, hatten darauf gedrängt, vor der Verabschiedung eines Übereinkommens zum immateriellen Kulturerbe die weitere Entwicklung der Arbeiten bei der WIPO abzuwarten (siehe Ziff. 5.3). Um Überschneidungen mit einer künftigen WIPO-Regelung zu vermeiden, wurde daher im Übereinkommen ein Ansatz zur ganzheitlichen Bewahrung des immateriellen Kulturerbes angestrebt und auf die Regelung von Eigentumsrechten verzichtet (vgl. Art. 3 Bst. b).

­

Anwendungsbereich: Während der Ausarbeitung des Übereinkommens wurde eine präzise, klar abgegrenzte und operationell anwendbare Definition des Anwendungsbereichs des Übereinkommens gefordert ­ so auch von der Schweiz. Durchgesetzt hat sich jedoch eine offene und weite Definition.

Diese vermag die globale Vielfalt des immateriellen Kulturerbes einzuschliessen und gewährt Spielraum für die Umsetzung auf nationaler Ebene.

Zudem ist die Weite des Anwendungsbereichs mit dem Umfang der gewährten Rechte ins Verhältnis zu setzen. Da Gemeinschaften, Gruppen und Individuen aus dem Übereinkommen keinerlei Rechte auf Förderung ableiten können, hat die offene Definition des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene keine unmittelbare Auswirkung.

7261

­

Verhältnis zum Welterbe-Übereinkommen von 1972: Der enge innere Zusammenhang zwischen den Bereichen des materiellen und des immateriellen Kulturerbes ist unbestritten (vgl. Präambel, 3. Erwägungsgrund). Zur Vermeidung von Überschneidungen und Konflikten mit dem WelterbeÜbereinkommen von 1972 wurde jedoch von der Schweiz und weiteren Staaten gefordert, das materielle Kulturerbe aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens auszuschliessen. Dieser umfasst nun materielle «Objekte, Instrumente, Artefakte und Kulturräume» nur insofern, als sie einen direktem Zusammenhang zum immateriellen Kulturerbe aufweisen (Art. 2 Abs. 1).

­

Inventare und Listen des immateriellen Kulturerbes: Verschiedene Länder, darunter auch die Schweiz, haben die systematische Inventarisierung des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene als ein dem immateriellen Kulturerbe nicht angemessener Ansatz kritisiert. Die Inventarisierung des immateriellen Kulturerbes wurde als staatliches Verwaltungsinstrument bezeichnet, dessen Kosten zu Lasten der Förderung der kulturellen Praxis gehen und letztlich zu einer Musealisierung dieser eigentlich dynamischen Ausdrucksweisen führen könnte.

Die Inventarisierung wurde schliesslich doch als zentrales Element in das Übereinkommen aufgenommen, weil sie die Voraussetzung für die Identifizierung des immateriellen Kulturerbes darstellt und so erst eine gezielte Bewahrung und Förderung einzelner Elemente des immateriellen Kulturerbes ermöglicht. Die Inventarisierung ist nicht als konservierende Massnahme, sondern als Ausdruck der Wertschätzung des immateriellen Kulturerbes zu verstehen und soll seinen Fortbestand ermöglichen.9 Die moderne Informationstechnologie ermöglicht dabei ein kosteneffizientes Vorgehen.

Schliesslich ist die Inventarisierung die Grundlage für die Auswahl von Elementen für die vom Übereinkommen vorgesehene internationale «Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit». Diese soll die öffentliche Anerkennung fördern und die Aufwertung des immateriellen Kulturerbes unterstützen.

1.5

Würdigung

1.5.1

Bedeutung des Übereinkommens auf internationaler Ebene

Mit dem UNESCO-Übereinkommen von 2003 finden der Begriff und der Gegenstand des immateriellen Kulturerbes Eingang ins Völkerrecht. Die Verabschiedung des Übereinkommens an der UNESCO-Generalkonferenz von 2003 ist das Resultat internationaler Bestrebungen von über drei Jahrzehnten zur Schaffung eines verbindlichen Rechtsinstruments. Schon während der Entstehungsphase ab 1999 zeigte sich, dass gewisse Staaten entsprechende nationale Regelungen besassen oder einzufüh9

Gerade in der Schweiz hat sich gezeigt, dass das Sammeln und Publizieren immaterieller Kulturgüter auf Bild- und Tonträgern Anstösse für eine lebendige Tradierung geben oder gar zur Wiederbelebung von weitgehend vergessenen oder ausgestorbenen kulturellen Ausdrucksweisen führen kann, wie beispielsweise bei den Patois romands oder in bestimmten Bereichen der Volksmusik.

7262

ren planten und dass ein internationales Übereinkommen breit abgestützt sein würde.

Dies bestätigte sich mit der raschen Ratifikation des Übereinkommens durch viele Staaten. Zweieinhalb Jahre nach seiner Verabschiedung und mit dem Beitritt des dreissigsten Staates trat das Übereinkommen am 20. April 2006 in Kraft. Gegenwärtig (August 2007) haben bereits 79 Staaten aus allen Weltregionen das Übereinkommen ratifiziert, darunter die europäischen Staaten Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Griechenland, Island, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Mazedonien, Monaco, Norwegen, Rumänien, Slowakei, Spanien und Ungarn.

Das Übereinkommen stützt sich auf den erweiterten, materielle und immaterielle Aspekte einschliessenden Kulturbegriff der UNESCO, wie er 1982 auf der Zweiten Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko formuliert worden war: «Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.»10 Das Übereinkommen stellt somit eine auf die aktuelle Kulturauffassung gestützte Ergänzung zu den bisherigen internationalen Abkommen dar (vgl. Ziff. 1.1.1). Sie verpflichtet die Staaten dazu, eine ganzheitliche Kulturerbe-Politik anzustreben.

Das Übereinkommen geht davon aus, dass das immaterielle Kulturerbe für Gesellschaftsgruppen eine identitätsstiftende Funktion erfüllt, den gesellschaftliche Zusammenhalt und den interkulturellen Dialog fördert und zur nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklung beiträgt. Besondere Bedeutung kommt diesbezüglich dem immateriellen Kulturerbe in Entwicklungs- und Schwellenländern zu. Für den Erfolg von Entwicklungsprojekten in diesen Ländern ist ein sensibler Umgang mit angestammten kulturellen Praktiken häufig von entscheidender Bedeutung. Aus diesen Gründen werden in der internationalen und der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit kulturelle Aspekte, das immaterielle Kulturerbe und seine Träger und Trägerinnen zunehmend berücksichtigt.11 Auf internationaler Ebene bietet das Übereinkommen die Chance, das immaterielle Kulturerbe weltweit aufzuwerten,
dessen Bedeutung ins allgemeine Bewusstsein zu bringen und zur Herausbildung eines kulturellen Fundaments beizutragen, das Solidarität und Toleranz sowie den Respekt für Unterschiede zwischen den Gesellschaften fördert. Mit einer Ratifikation des Übereinkommens setzt die Schweiz ein Zeichen, bekräftigt auf nationaler und internationaler Ebene ihr Engagement für den respektvollen Umgang zwischen den Kulturen und fördert die Vermittlung ihrer eigenen Kultur sowie die Kenntnis fremder Kulturen.

10

11

Déclaration de Mexico sur les politiques culturelles, verabschiedet in Mexiko an der Zweiten Weltkonferenz über Kulturpolitik der UNESCO, 26. Juli­5. August 1982, Präambel und Abs. 23.

Für die Schweiz vgl. die Broschüre der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA): La culture n'est pas un luxe ­ coopération et développement: l'aspect culturel, September 2003.

7263

1.5.2

Bedeutung des Übereinkommens für die Schweiz

Eine Ratifikation des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes liegt aus verschiedenen Gründen im Interesse der Schweiz. So fördern die vom Übereinkommen vorgesehenen Massnahmen die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Schweiz und sind daher für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die Integration ländlicher und städtischer Bevölkerungen und das Erscheinungsbild des Landes von grosser Bedeutung. Die Schweiz soll aber ihre Erfahrungen bei der Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auch auf internationaler Ebene einbringen und umgekehrt als Vertragsstaat des Übereinkommens von der Praxis in anderen Staaten profitieren können. Mit einer Ratifikation des Übereinkommens bekräftigt die Schweiz ihre Partizipation am multilateralen kulturpolitischen Dialog. Dank dem programmatischen Charakter des Übereinkommens kann sich die Schweiz gleichzeitig den notwendigen Spielraum erhalten, Massnahmen zur Bewahrung des Kulturerbes nach eigenen Bedürfnissen ausgestalten zu können.

Eine Ratifikation des Übereinkommens liegt im Speziellen aus folgenden Gründen im Interesse der Schweiz: ­

Das immaterielle Kulturerbe ist in seiner Bedeutung für das kulturelle Selbstverständnis und für die kulturelle Vielfalt der Schweiz anerkannt: Viele nationale und regionale Selbstverständnisse und Besonderheiten definieren sich über immaterielle Kulturaspekte. Offenkundig ist dies bei Sprachdialekten und bei Minderheitensprachen wie dem Rätoromanischen.

Das Übereinkommen schreibt zwar nicht den Erhalt von Sprachen als solchen fest, aber ihrer Ausdrucksweisen in Erzählungen, Liedern und anderen mündlichen Vermittlungsformen. Eine Reihe von Bräuchen sind repräsentativ für regionale ­ und auch transnationale ­ Fasnachtstraditionen, so beispielsweise der Rabadan in Bellinzona oder die Basler Fasnacht mit ihrem Morgenstraich. Ebenso haben der Auszug der Tschäggättä im Lötschental, das Appenzeller Silvesterchlausen, der Chalandamarz in Graubünden oder die Fête des Vignerons von Vevey über ihre lokale Bedeutung hinaus eine nationale Ausstrahlung. Identitätsstiftende Funktion kommt auch der verbreiteten Volksmusikpraxis und der Tanzpraxis von Trachtengruppen in der Schweiz zu. Dasselbe gilt für die vielfältige traditionelle Heim- und Handwerksarbeit wie das Holzschnitzen im Berner Oberland, die Bündner Kreuzstickarbeiten oder die Glarner Textilkunst.

Die genannten Beispiele des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz zeigen die Verankerung des immateriellen Kulturerbes in ländlichen Regionen wie in städtischen Zentren. Die direkte und indirekte Partizipation vieler Bevölkerungsgruppen an solchen Anlässen sowie die Identifikation mit den Formen traditionellen Handwerks weisen auf die integrierende Funktion hin, welche dem immateriellen Kulturerbe allgemein zukommt. Die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes trägt auch zum positiven Erscheinungsbild der Schweiz bei und wird für aussenwirtschaftliche und touristische Zwecke eingebunden. Im Alpentourismus beispielsweise gehören Alphornklänge seit dem 19. Jahrhundert zum klingenden Inbegriff des Schweizerischen.

­

7264

Die Erforschung und Vermittlung des immateriellen Kulturerbes wird in der Schweiz staatlich unterstützt: Auch wenn der Begriff des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz selten verwendet wird, ist die Erhaltung und die Förderung traditioneller kultureller Ausdrucksweisen durch die Unterstüt-

zung von Kulturveranstaltungen, durch die Förderung der Kulturvermittlung sowie durch Beiträge an Kulturschaffende fest in der staatlichen Kulturförderung verankert. Die Mitwirkung der Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes ist durch ein Netz von kulturerhaltenden und kulturvermittelnden Institutionen garantiert. Auch wissenschaftliche Forschung und Archive leisten ihren Beitrag zur Wahrung des immateriellen Kulturerbes. In der Schweiz führt der Verein Memoriav (Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz) in Zusammenarbeit mit interessierten und spezialisierten Institutionen Projekte zur Erhaltung und zum Zugänglichmachen von audiovisuellem Kulturgut im Bereich der Volkskultur durch.

Institutionen wie die Nationalphonothek oder regionale Volksmusikzentren (Ollon VD, Altdorf UR, Gonten AI) sind Bindeglieder zwischen der Sicherung des Erbes und seiner lebendigen Weitergabe. Neuerdings bestehen auch Bildungsangebote im Bereich des immateriellen Kulturerbes, so beispielsweise mit dem jüngst eingerichteten Nachdiplomkurs Schweizer Volksmusik an der Musikhochschule Luzern. Unter Berücksichtigung des Spielraums, den das Übereinkommen den Vertragsstaaten für die Umsetzung gewährt, erfüllt die Schweiz die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zur Förderung des immateriellen Kulturerbes in einem grossen Masse bereits (siehe hierzu auch Ziff. 1.6.2).

­

1.5.3

Das immaterielle Kulturerbe ist eng mit dem materiellen Kulturerbe verbunden: Häufig lässt sich ein Kulturerbe nur im Zusammenhang von materiellen und immateriellen Aspekten sinnvoll bewahren. Dies zeigt sich etwa in gegenwärtigen Ausstellungsformen von Museen. Durch die heutigen Möglichkeiten multimedialer Vermittlung sowie durch Workshops und LiveDarbietungen präsentieren Museen ihre materiellen Bestände häufig im Zusammenhang mit immateriellen Aspekten, mit denen die einzelnen Ausstellungsobjekte in ihrem ursprünglichen Kontext verbunden waren. Kulturgeschichtliche Museen wie das Schweizerische Freilichtmuseum für ländliche Kultur (Ballenberg) wählen vermehrt einen ganzheitlichen, immaterielle Aspekte einschliessenden Ansatz zur Kulturvermittlung.

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Das Übereinkommen betrifft wesentliche Interessen der Kantone. Aus diesem Grund führte das Departement des Inneren (EDI) im Frühjahr 2007 ein Vernehmlassungsverfahren zum UNESCO-Übereinkommen durch. Dessen Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden: Die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer begrüsst die Ratifikation des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Die Befürworter und Befürworterinnen ­ sämtliche Kantone, alle Bundesratsparteien (ausser SVP), die Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, alle Dachverbände der Wirtschaft (ausser Gewerbeverband und Centre Patronal) sowie zahlreiche Organisationen aus den Bereichen Kultur, Entwicklungszusammenarbeit, Wissenschaft, Bildung und Medien ­ sehen in der Ratifikation ein Bekenntnis zur ideellen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Bedeutung des immateriellen Kulturerbes für die Schweiz. Durch das Übereinkommen erfahre dieses die notwendige gesellschaftliche und politische Aufwertung.

7265

Die SVP sowie die Wirtschaftsverbände Gewerbeverband und Centre Patronal lehnen eine Ratifikation ab, weil sie darin keinen konkreten Nutzen für die Schweiz erkennen. Die Ziele des Übereinkommens seien durchaus löblich, die inhaltlichen Bestimmungen aber vage und die finanziellen Auswirkungen unabsehbar. Die Schweiz habe daher kein Interesse daran, das Übereinkommen zu ratifizieren.

1.6

Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen in der Schweiz

1.6.1

Zuständigkeit

Die Umsetzung des Übereinkommens obliegt in Anbetracht der verfassungsmässigen Aufteilung der Zuständigkeiten im Bereich Kultur sowohl den Kantonen als auch dem Bund. Gemäss Artikel 69 der Bundesverfassung12 verfügen die Kantone im Bereich der Kultur über eine allgemeine Zuständigkeit, die sich auf alle Formen der Kultur und der Kulturförderung erstreckt (Abs. 1). Der Bund ist lediglich für die Unterstützung von kulturellen Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse zuständig, und er kann Kunst und Musik fördern, insbesondere im Bereich der Ausbildung (Abs. 2). Das Übereinkommen ändert nichts an der internen Aufteilung der Zuständigkeiten im Bereich der Kultur.

Das Übereinkommen verpflichtet in allgemeiner Weise die Vertragsstaaten zur Bewahrung des in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen immateriellen Kulturerbes durch geeignete Institutionen und unter Einbindung der Träger und Trägerinnen des Erbes (Art. 11 Bst. a). Diese zentrale Bewahrungsaufgabe, die sich gemäss Übereinkommenstext aus einem ganzen Bündel von möglichen Schutz- und Fördermassnahmen zusammensetzt (vgl. Art. 13 und 14), betrifft gleichermassen Bund und Kantone. Da die primäre Verantwortung für die Kultur den Kantonen obliegt, liegt es in deren verfassungsmässigen Kompetenz zu bestimmen, wie und in welchem Umfang sie das kulturelle Erbe auf ihrem Gebiet schützen. Gemäss den Bestimmungen des Übereinkommens über bundesstaatliche Verfassungssysteme bringt der Bund diejenigen Bestimmungen, deren Durchführung in die Zuständigkeit der Kantone fallen, den zuständigen Stellen der Kantone zur Kenntnis und empfiehlt ihnen ihre Umsetzung (Art. 35 Bst. b).

Das Übereinkommen enthält ausserdem einige spezifische Vertragsbestimmungen, die direkt vom Bund umzusetzen sind, namentlich: ­

Alle zwei Jahre ist ein Beitrag an den UNESCO-Fonds für das immaterielle Kulturerbe zu entrichten, der ein Prozent des Beitrags zum ordentlichen Haushalt der UNESCO nicht übersteigen soll (Art. 26 Abs. 1).

­

Dem Zwischenstaatlichen Komitee ist periodisch Bericht über die erlassenen Rechtsvorschriften betreffend das immaterielle Kulturerbe, die Inventarlisten und über sonstige Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu erstatten (Art. 29).

Zwingend ist auch die Verpflichtung, «zur Sicherstellung der Identifizierung im Hinblick auf die Bewahrung» eine oder mehrere Inventarlisten des im Hoheitsgebiet befindlichen immateriellen Kulturerbes zu erstellen (Art. 12). Diese Inventarlisten 12

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101).

7266

sind im Sinne von nicht geldwerten Fördermassnahmen zu verstehen und dienen der Aufwertung des immateriellen Kulturerbes. Sie sind rein deklaratorischer Natur und haben keinerlei rechtsbeschränkende Wirkungen (siehe hierzu auch Ziff. 1.6.3).

1.6.2

Rechtliche Grundlagen und bestehende Praxis auf Bundesebene

Der Begriff des immateriellen Kulturerbes und ein spezifischer Bewahrungs- und Förderungsauftrag fehlt in der Gesetzgebung des Bundes. Die vom Übereinkommen vorgesehenen Massnahmen, insofern diese «auf die Sicherung der Lebensfähigkeit des immateriellen Kulturerbes gerichtet sind» (Art. 2 Abs. 3), decken sich allerdings in mancher Hinsicht mit der bestehenden Praxis der Kulturförderung des Bundes und der Kantone. Denn das Übereinkommen anerkennt den dynamischen Charakter des immateriellen Kulturerbes und bezweckt die Bewahrung des lebendigen und praktizierten immateriellen Kulturerbes. Dies umfasst kreative Leistungen und ihre Vermittlung im Rahmen von kulturellen Anlässen und in Bildungsinstitutionen, wie sie von der staatlichen Kulturförderung in der Schweiz unterstützt werden. Dementsprechend lassen sich die für die Umsetzung des Übereinkommens erforderlichen Massnahmen aus der bisherigen Praxis, aus dem künftigen Kulturförderungsgesetz (KFG) und aus den bestehenden kantonalen Kulturerlassen ableiten.

Die Kulturarbeit des Bundes ist dem weiten Kulturbegriff der UNESCO verpflichtet.

Dieses Kulturverständnis ist vielschichtig, geht weit über ein enges Verständnis von Kunst hinaus und umfasst auch die traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen.

Massgeblich für die Förderungstätigkeit des Bundes sind ­ auf der Grundlage des Kulturartikels 69 BV ­ namentlich das Kriterium des gesamtschweizerischen Interesses und das Prinzip der kulturellen Vielfalt. Unter diesen Voraussetzungen bilden Erhaltung und Förderung des immateriellen Kulturerbes einen Bestandteil der Kulturaufgaben des Bundes.13 Der Bund kommt dieser Aufgabe in vielfacher Weise nach. So hat beispielsweise der bis 2011 laufende Fonds zur Bewahrung und Pflege naturnaher Kulturlandschaften zum Gegenstand, «traditionelle und standortgerechte Nutzungs- und Bewirtschaftungsformen zu sichern und zu fördern», worunter auch die vom Übereinkommen erfassten traditionellen Wissensbestände und Praktiken im Umgang mit der Natur fallen.14 Auch die Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt «Volksmusik» bzw.

«Alltags- und Volkskultur», insbesondere dort, wo sie der Verständigung dient und wo sie die Auseinandersetzung mit kulturellen Formen der Gegenwart sucht.15 Im Herbst 2006 initiierte Pro Helvetia zusammen mit 15 Kantonen das Programm «echos ­ Volkskultur
für morgen», mit welchem die Bedeutung der Volkskultur, ihre Potenziale und ihre Rolle in der schweizerischen Kulturpolitik zur Diskussion gestellt werden soll. Indirekt fördert ferner der Bund das künstlerische Schaffen und 13 14 15

Zur Bedeutung der Volkskultur in der Kulturförderung des Bundes vgl. auch die Antwort des Bundesrates auf die Interpellation Schenk (04.3106) vom 18. Mai 2004.

Art. 2 Bst. b des Bundesbeschlusses vom 3. Mai 1991 über Finanzhilfen zur Erhaltung und Pflege naturnaher Kulturlandschaften (SR 451.51).

Vgl. Art. 9 Bst. b und Art. 12 Bst. a der Verordnung vom 22. August 2002 über Beiträge der Stiftung Pro Helvetia (SR 447.12). Das Bundesgesetz vom 17. Dezember 1965 betreffend die Stiftung «Pro Helvetia» (SR 447.1), das die Tätigkeiten der Stiftung festlegt (Art. 2 Abs. 1), befindet sich derzeit in Revision.

7267

die Erhaltung der kulturellen Vielfalt über die Unterstützung von gesamtschweizerisch tätigen Organisationen von professionellen Kulturschaffenden und von kulturell tätigen Laien aller Sparten.16

1.6.3

Inventarisierung, Dokumentation und immaterialgüterrechtliche Regelungen

Der Verpflichtung zur Inventarisierung (Art. 12) kommen Staaten, welche das Übereinkommen bereits ratifiziert haben, in unterschiedlicher Weise nach. In den meisten Ländern bestehen Datenbanken über Studien zu traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen, Kenntnissen und Fertigkeiten sowie Dokumentations- und Archivstellen. Einige Länder haben Kommissionen eingesetzt, welche einzelne Elemente für ein nationales Inventar auswählen. Nationale Inventare fehlen aber bislang in vielen Staaten.17 Es wird die Aufgabe des mit dem Übereinkommen geschaffenen Zwischenstaatlichen Komitees sein, Empfehlungen für den Inhalt und den Detaillierungsgrad der Inventarlisten zu erarbeiten. Angesichts der vielfältigen Formen und des dynamischen Charakters des immateriellen Kulturerbes wird das Komitee den Staaten einen grossen Spielraum zubilligen müssen. Das Übereinkommen besagt ausdrücklich, dass die Inventarlisten «in einer der Situation der Vertragsstaaten angemessenen Form» zu erstellen sind (Art. 12 Abs. 1).

Gestützt auf die verfassungsmässige Kompetenzaufteilung sind für den Inhalt der Inventarlisten ausschliesslich die Kantone verantwortlich: Ihnen obliegt die Identifikation des immateriellen Kulturerbes auf ihrem Hoheitsgebiet und dessen Inventarisierung. Im Rahmen seiner Kompetenzen ermuntert und begleitet der Bund die Kantone bei der Inventarisierung, beispielsweise durch administrative oder fachliche Unterstützung. Die sich aus Artikel 69 Absatz 2 BV ergebenden gesetzgeberischen Kompetenzen des Bundes beschränken sich auf Massnahmen zur Kulturförderung, sie erstrecken sich nicht auf den Bereich der Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Das Inventar stellt dagegen eine Massnahme im Hinblick auf die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes dar.

Als Fachbehörde für die Kulturpolitik des Bundes18 wird das Bundesamt für Kultur (BAK) die Kantone darin unterstützen, einheitliche Selektionskriterien zu entwickeln. Das BAK wird die Meldungen der Kantone entgegennehmen und diese in einer Liste indicative ohne Rechtswirkung zusammenführen (vgl. Ziff. 1.6.1).

Bei der Inventarisierung des immateriellen Kulturerbes sind die bestehenden Regelungen der verwandten Schutzrechte zu beachten (Art. 13 Bst. d ii in Verbindung mit Art. 3 Bst. b des Übereinkommens). Träger und Trägerinnen können als Ausführende die Dokumentation und deren Verbreitung verbieten und haben Schutzrechte an 16

17

18

Die Vergabe folgt bis jetzt den Richtlinien über die Verwendung des Kredits zur Unterstützung kultureller Organisationen vom 16. November 1998. Im Rahmen des neuen Kulturförderungsgesetzes wird eine spezifische gesetzliche Grundlage geschaffen.

In der Schweiz bestehen bereits einschlägige Erfahrungen: Die schweizerische Sektion des Conseil International des Organisations de Festivals de Folklore et d'Arts Traditionnels (CIOFF) mit seinem Internet-Projekt Schweizerisches Inventar des immateriellen Kulturerbes einen Pilotversuch für eine Auflistung des immateriellen Kulturerbes der Schweiz gestartet (http://www.cioff.ch).

Vgl. Organisationsverordnung vom 28. Juni 2000 für das Eidgenössische Departement des Innern (SR 172.212.1), Art. 6 Abs. 1, sinngemäss auch in Art. 26 Abs. 1 E-KFG.

7268

den Aufnahmen während 50 Jahren.19 Als ausführende Künstlerinnen und Künstler gelten gemäss dem derzeit in der Schweiz im Ratifikationsprozess befindlichen WIPO Performances and Phonograms Treaty sowie dem Revisionsentwurf des schweizerischen Urheberrechtsgesetzes ausdrücklich auch Personen, die «Ausdrucksformen der Folklore» darbieten (Art. 2 Bst. a WPPT; Art. 33 Abs. 1 E-URG).

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Übereinkommens

Präambel In der Präambel wird in insgesamt 13 Erwägungsgründen die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes und die Notwendigkeit seiner Bewahrung unterstrichen sowie das Übereinkommen in seinem juristischen Kontext situiert.

Anknüpfend an die Empfehlung der UNESCO zur Bewahrung traditioneller Kultur und Folklore von 1989, die Erklärung der UNESCO zur kulturellen Vielfalt von 2001 und die Erklärung von Istanbul von 2002 wird das immaterielle Kulturerbe als «Triebfeder kultureller Vielfalt und Garant der nachhaltigen Entwicklung» gewürdigt (2. Erwägungsgrund). Gleichzeitig wird daran erinnert, «dass die Prozesse der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels, neben den Bedingungen, die sie für einen neuen Dialog zwischen Gemeinschaften schaffen, ebenfalls ­ und gleich wie die Phänomene von Intoleranz ­ grosse Gefahren für den Verfall, den Verlust und die Zerstörung des immateriellen Kulturerbes mit sich bringen.» (4. Erwägungsgrund). Unter Bezug auf die erfolgreiche Tätigkeit der UNESCO zum Schutz des Kulturerbes wird deshalb gefordert, dass die bestehenden internationalen Rechtsinstrumente zum Kultur- und Naturerbe durch neue Bestimmungen zum immateriellen Kulturerbe bereichert und ergänzt werden sollen (7.­9. Erwägungsgrund). Bereits in der Präambel kommt auch der Leitgedanke der zentralen Rolle der Träger der Traditionen und des immateriellen Kulturerbes bei dessen Bewahrung zum Ausdruck (6. Erwägungsgrund).

Abschnitt 1: Allgemeine Bestimmungen (Art. 1­3) Die allgemeinen Bestimmungen legen die Ziele und den Anwendungsbereich des Übereinkommens fest. Ausserdem wird der zentrale Begriff «Bewahrung» umschrieben und das Verhältnis des Übereinkommens zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten geregelt.

Die Ziele des Übereinkommens sind in Artikel 1 aufgeführt. Diese sind (a) die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes; (b) die Sicherung des Respekts vor dem immateriellen Kulturerbe der betreffenden Gemeinschaften, Gruppen und Individuen; (c) die Förderung des Bewusstseins für die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes und seiner gegenseitigen Wertschätzung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene; und (d) die internationale Zusammenarbeit und Unterstützung in diesem Bereich.

19

Art. 39 des Bundesgesetzes vom 9. Oktober 1992 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (SR 231.1); Art. 14 des WTO-Abkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS-Abkommen, SR 0.632.20).

7269

Art. 2 Der Anwendungsbereich des Übereinkommens wird in Artikel 2 anhand einer zweiteiligen Definition des immateriellen Kulturerbes umschrieben. Das immaterielle Kulturerbe umfasst nach dem ersten Teil (Abs. 1) Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksweisen, Kenntnisse und Fertigkeiten sowie die damit verbundenen Instrumente, Objekte, Artefakte und Kulturräume, die ­

Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Individuen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen;

­

von einer Generation an die nächste weitergegeben werden;

­

von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte fortwährend neu zum Ausdruck und zur Anwendung gebracht werden; und

­

diesen ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermitteln.

Es wird ausdrücklich festgehalten, dass im Sinne des Übereinkommens nur das immaterielle Kulturerbe Berücksichtigung findet, das «mit den bestehenden internationalen Rechtsinstrumenten im Bereich der Menschenrechte sowie mit der Forderung nach gegenseitiger Achtung zwischen den Gemeinschaften, Gruppen und Individuen und nach einer nachhaltigen Entwicklung im Einklang steht». Mit diesem Kompatibilitätskriterium sollen unmenschliche Praktiken, die mit dem Hinweis auf die Tradition gerechtfertigt werden, beispielsweise Mädchenbeschneidungen, ausgeschlossen werden. Die Definition schliesst sinngemäss Praktiken aus, die mit den bestehenden Gesetzen, der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten nicht vereinbar sind.

Der zweite Teil der Definition ist ein nicht abgeschlossener Katalog von Manifestationen des immateriellen Kulturerbes (Abs. 2). Demnach ist das immaterielle Kulturerbe in folgenden Bereichen anzutreffen: ­

in mündlich überlieferten Traditionen und vokalen Ausdrucksweisen, einschliesslich der Sprache als Trägerin des immateriellen Kulturerbes (Beispiele: Sagen, Märchen, gesungene Epen und Sprichwörter);

­

in darstellenden Künsten (Beispiele: musikalische oder theatralische Darbietungen, Maskentänze, Marionettentheater);

­

in gesellschaftlichen Praktiken, Ritualen und Festen (Beispiele: jahreszeitliche Riten, Prozessionen und Umzüge, Fasnachtsbräuche, traditionelle Lebensweisen);

­

in Kenntnissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum (Beispiele: medizinales oder landwirtschaftliches traditionelles Wissen);

­

im Fachwissen über traditionelle Handwerkstechniken (Beispiele: die Verarbeitung von Holz, Erde, Metall, Leder, Glas, Papier, traditionelle Webtechniken oder Bauernmalerei).

Der Begriff der Bewahrung (Abs. 3) ist weit reichend und umfasst: Identifizierung, Dokumentation, Erforschung, Erhaltung, Schutz, Förderung, Aufwertung, Weitergabe und Neubelebung. Alle diese Massnahmen sollen die «Lebensfähigkeit» des immateriellen Kulturerbes in seinem dynamischen und wandlungsfähigen Charakter sichern und eine Musealisierung von Einzelelementen verhindern. Das Übereinkommen betrifft somit die Bedingungen, unter denen das immaterielle Kulturerbe 7270

praktiziert, angewandt und nachhaltig tradiert werden kann. Entsprechend betreffen Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes verschiedene kulturpolitische Bereiche gleichermassen: Kulturpflege, Kulturförderung, Kulturvermittlung, kulturelle Bildung, Kulturaustausch und die Gewährleistung des Zugangs zu Kultur.

Art. 3 Hinsichtlich des Verhältnisses zu anderen Übereinkommen wird festgehalten, dass durch das Übereinkommen «keine Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten berührt werden, die sich aus einem internationalen Rechtsinstrument zur Regelung der geistigen Eigentumsrechte oder der Nutzung der biologischen und ökologischen Ressourcen (...) ergeben.» (Bst. b). Entsprechend werden im Text des Übereinkommens an keiner Stelle Voraussetzungen und Rechtfertigungen für Eingriffe in die Eigentumsgarantie bei Immaterialgüterrechten genannt. Zudem macht die Formulierung des Vorbehalts im Präsens («tout instrument international [...] auquel ils sont parties») deutlich, dass nicht nur bereits abgeschlossene Verträge, sondern auch zukünftige internationale Regelungen betreffend das geistige Eigentum und die Nutzung der biologischen und ökologischen Ressourcen eingeschlossen sind.

Im Hinblick auf die Abgrenzung zum Anwendungsbereich des Welterbe-Übereinkommens von 1972 bestimmt Artikel 3, Buchstabe a, dass der Text des Übereinkommens nicht dahingehend auszulegen ist, dass Status und Schutzniveau eines Gutes, welches mit einem Element des immateriellen Kulturerbes verbunden ist und unter das Welterbe-Übereinkommen von 1972 fällt, geändert oder verringert wird.

Abschnitt 2: Organe des Übereinkommens (Art. 4­10) Die mit dem Übereinkommen geschaffene institutionelle Organisation ist minimal.

Sie besteht aus der Vollversammlung der Vertragsstaaten und dem Zwischenstaatlichen Komitee zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes.

Als souveränes Organ des Übereinkommens fungiert die Vollversammlung der Vertragsstaaten, die alle zwei Jahre zu einer ordentlichen Sitzung zusammentritt (Art. 4). Das Zwischenstaatliche Komitee (Art. 5) sichert die Umsetzung der Ziele des Übereinkommens und erarbeitet operationelle Richtlinien zur Umsetzung, welche von der Vollversammlung genehmigt werden. Es besteht aus sachverständigen Vertreterinnen und Vertretern von 24 Vertragsstaaten. Zu seinen Aufgaben (Art. 7)
gehören insbesondere die Verwaltung einer «Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» sowie einer «Liste des dringend bewahrungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes» und die Prüfung der Kandidaturen. Das Zwischenstaatliche Komitee ist der Vollversammlung rechenschaftspflichtig und erstattet dieser über ihre Tätigkeiten Bericht (Art. 8 Abs. 1).

Abschnitt 3: Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene (Art. 11­15) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die erforderlichen Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auf ihrem Hoheitsgebiet zu ergreifen (Art. 11 Bst. a). Mit dem Hinweis auf das Territorialprinzip wird unterstrichen, dass einem Vertragsstaat keine Pflichten zur Bewahrung ausserhalb seines Hoheitsgebietes erwachsen.

Zur gezielten Bewahrung und Förderung identifiziert jeder Vertragsstaat die verschiedenen Elemente des immateriellen Kulturerbes auf seinem Hoheitsgebiet und 7271

erstellt eine oder mehrere Inventarlisten, die regelmässig zu aktualisieren sind (Art. 11 Bst. b, Art. 12 Abs. 1). Bei allen seinen Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, insbesondere bei dessen Identifizierung, «bemüht sich jeder Vertragsstaat, um eine möglichst weit reichende Beteiligung der Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Individuen, die dieses Erbe schaffen, pflegen und weitergeben» (Art. 15; siehe auch Art. 11 Bst. b). Diese Bestimmung kann in der Schweiz beispielsweise im Rahmen der Inventarisierung konkretisiert werden (vgl.

Ziff. 3.2).

Das Übereinkommen empfiehlt sodann eine Reihe von weiteren Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (Art. 13): So sollten Vertragsstaaten die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes in ihren Kulturpolitiken berücksichtigen, eine oder mehrere Fachstellen bezeichnen, die Erforschung des immateriellen Kulturerbes fördern, entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten schaffen, Dokumentationszentren einrichten und den Zugang zu diesen Dokumentationszentren gewährleisten.

Im Bildungsbereich sollen Anstrengungen unternommen werden, die Gesellschaft hinsichtlich des immateriellen Kulturerbes, dessen möglicher Gefährdung und der Notwendigkeit seiner Bewahrung zu sensibilisieren und zu informieren (Art. 14 Bst. a­b). Die Vertragsstaaten sollen sich auch für die Ausbildung zum Schutz von Naturräumen und Gedenkstätten einsetzen, deren Bestehen für den Ausdruck des immateriellen Kulturerbes erforderlich ist (Art. 14 Bst. c).

Abschnitt 4: Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auf internationaler Ebene (Art. 16­18) Um die Sichtbarkeit des immateriellen Kulturerbes, das Bewusstsein für dessen Bedeutung sowie den interkulturellen Dialog zu fördern, erstellt, aktualisiert und veröffentlicht das Zwischenstaatliche Komitee aufgrund der Vorschläge der betreffenden Vertragsstaaten eine «Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» (Art. 16 Abs. 1). Der Vorbereitung geeigneter Massnahmen zugunsten gefährdeter Traditionen dient eine «Liste des dringend bewahrungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes», dies in Absprache mit den betreffenden Vertragsstaaten (Art. 17 Abs. 1 und 3). Kriterien für die Verwaltung beider Listen werden vom Komitee ausgearbeitet (Art. 16 Abs. 2 und 17 Abs. 2).

Zur Bewahrung des Erbes können
Vertragsstaaten dem Komitee Vorschläge für Programme, Projekte und Aktivitäten unterbreiten. Das Komitee prüft und wählt die Anträge aus und begleitet deren Umsetzung durch die Verbreitung von Best Practices (Art. 18).

Abschnitt 5: Internationale Zusammenarbeit und Unterstützung (Art. 19­24) Die Vertragsstaaten anerkennen das allgemeine Interesse an der weltweiten Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Sie verpflichten sich daher zur Zusammenarbeit auf bilateraler, subregionaler, regionaler und internationaler Ebene gemäss den Zielen des Übereinkommens (Art. 19 Abs. 2; vgl. Art. 1 Bst. d).

Vertragsstaaten können einzeln oder gemeinsam Anträge auf eine ­ in der Regel lediglich subsidiäre ­ internationale Unterstützung stellen (Art 23 Abs. 1 und 2, Art. 24 Abs. 2). Diese kann unter anderem für folgende Ziele gewährt werden: Bewahrung des Erbes aus der «Liste des dringend bewahrungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes», Erstellung der nationalen Inventarlisten, Unterstützung von 7272

Programmen, Projekten und Aktivitäten zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (Art. 20). Eine Unterstützung kann in verschiedenen Formen finanzieller und technischer Hilfe erfolgen (Art. 21). Die Anträge werden vom Komitee geprüft (Art. 22; vgl. Art. 7 Bst. g).

Abschnitt 6: Fonds für das immaterielle Kulturerbe (Art. 25­28) Mit dem Übereinkommen wird ein «Fonds für die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes» geschaffen (Art. 25). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, mindestens alle zwei Jahre einen Beitrag an den Fonds zu zahlen, dessen Höhe nach einem einheitlichen, für alle Staaten geltenden Schlüssel errechnet und von der Vollversammlung beschlossen wird, jedoch ein Prozent des regulären Beitrags eines Vertragsstaates zum UNESCO-Haushalt nicht überschreiten soll (Art. 26 Abs. 1). Bei der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme- Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde kann sich ein Vertragstaat mit einer Erklärung von dieser Beitragsverpflichtung entbinden (Art. 26 Abs. 2).

Neben den Pflichtbeiträgen der Vertragsstaaten bestehen die Mittel des Fonds aus: freiwilligen Beiträgen der Vertragsstaaten; von der UNESCO-Generalkonferenz zu diesem Zweck bewilligten Mitteln; Zahlungen, Spenden oder Vermächtnissen von Staaten, die nicht dem Übereinkommen angehören, von Organisationen und Programmen des Systems der Vereinten Nationen (insbesondere des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen), von anderen internationalen Organisationen sowie von öffentlichrechtlich und privatrechtlich organisierten Institutionen und natürlichen Personen; den für die Mittel des Fonds anfallenden Zinsen; den Mitteln, welche durch Sammlungen und Einnahmen aus Veranstaltungen zu Gunsten des Fonds aufgebracht werden; sonstigen Mitteln (Art. 25 Abs. 3 und Art. 26­28).

Abschnitt 7: Berichte (Art. 29 und 30) Die Vertragsstaaten legen dem Zwischenstaatlichen Komitee in der von ihm festgelegten Weise und Periodizität Berichte über die erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie über andere getroffene Massnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens vor (Art. 29). Die Berichte sollen aussagekräftige Informationen über die nationalen Inventarlisten enthalten (Art. 12 Abs. 2).

Auf der Grundlage dieser Berichte und seiner Tätigkeiten legt das Zwischenstaatliche Komitee der Vollversammlung einen Bericht vor, der auch
der Generalkonferenz der UNESCO zur Kenntnis gebracht wird (Art. 30, vgl. Art. 8 Abs. 1).

Abschnitt 8: Übergangsbestimmung (Art. 31) Nach Inkrafttreten des Übereinkommens erfolgen keine weiteren Ernennungen von «Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit»; bereits zu «Meisterwerken» ernannte Elemente nimmt das Zwischenstaatliche Komitee in die «Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» auf, ohne dass damit aber auf die noch festzulegenden (Art. 16 Abs. 2) Kriterien für die Aufnahme in diese Liste vorgegriffenen wird.

Abschnitt 9: Schlussbestimmungen (Art. 32­40) Die Schlussbestimmungen des Übereinkommens umfassen die üblichen Schlussklauseln für multilaterale Abkommen: Ratifikation, Annahme oder Genehmigung durch die Mitgliedstaaten der UNESCO (Art. 32), Beitritt durch andere Staaten und Hoheitsgebiete (Art. 33), Inkrafttreten des Übereinkommens (Art. 34), Sonderbe7273

stimmungen für bundesstaatliche oder nicht einheitsstaatliche Verfassungssysteme (Art. 35), Kündigung des Übereinkommens durch die Vertragsstaaten (Art. 36), Aufgaben des Generaldirektors der UNESCO als Verwahrer des Übereinkommens (Art. 37), Änderungen des Übereinkommens (Art. 38), Festlegung der verbindlichen Wortlaute des Übereinkommens (Art. 39) und Registrierung des Übereinkommens beim Sekretariat der Organisation der Vereinten Nationen (Art. 40).

Art. 35 Die Bestimmungen für bundesstaatliche oder nicht einheitliche Verfassungssysteme betreffen direkt die Schweiz. Diese für die Übereinkommen der UNESCO typische Klausel stellt eine ausdrückliche Anerkennung der internen Kompetenzverteilung in föderativen Staaten dar. Wenn es, gestützt auf die interne Kompetenzverteilung, den Kantonen obliegt, Massnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens zu ergreifen, informiert der Bund die kantonalen Behörden über die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens und empfiehlt ihnen ihre Umsetzung. Die Klausel hat dagegen keinen Einfluss auf die Kompetenz des Bundes, das Übereinkommen zu ratifizieren, die sich aus Artikel 54 BV ergibt.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Ratifikation des Übereinkommens sollte geringe finanzielle Auswirkungen auf den Bund haben. Diese ergeben sich einerseits aus der Verpflichtung, alle zwei Jahre einen Beitrag an den UNESCO-Fonds für das immaterielle Kulturerbe zu entrichten, der ein Prozent des Beitrags zum ordentlichen Haushalt der UNESCO nicht übersteigen soll (Art. 26 Abs. 1). Im Jahr 2006 leistete die Schweiz einen Beitrag von 5 065 440 Franken zum ordentlichen Haushalt der UNESCO, der statutarische Zweijahres-Beitrag an den Fonds für das immaterielle Kulturerbe wird demnach im Bereich von 50 000 Franken liegen. Von der Möglichkeit, bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde sich von dieser Verpflichtung zu entbinden (Art. 26 Abs. 2), wird die Schweiz nicht Gebrauch machen.

Weitere Auswirkungen erwachsen aus den übrigen spezifischen Verpflichtungen der Vertragsstaaten: a)

eine oder mehrere Inventarliste des immateriellen Kulturerbes zu führen (Art. 11 Bst. b, Art. 12 Abs. 1); und

b)

über die zur Umsetzung des Übereinkommens getroffenen Massnahmen sowie über die Inventarlisten periodisch Bericht zu erstatten (Art. 12 Abs. 2 und Art. 29).

Die Modalitäten der Berichterstattung sind vom Zwischenstaatlichen Komitee erst noch festzulegen.

Die Erstellung und Führung der Inventarliste soll in Zusammenarbeit mit den Kantonen erfolgen. Der Bund wird den Kantonen einen geeigneten Rahmen (webbasierte Plattform) zur Verfügung stellen und sie darin unterstützen, einheitliche Selektionskriterien für die Liste zu entwickeln. Die Konzeption und Realisierung der Datenbank verursacht einen einmaligen Investitionsbedarf von maximal 50 000 Franken und jährliche Unterhaltskosten von rund 5000­10 000 Franken. Es ist nicht 7274

geplant, zu diesem Zweck eine neue Verwaltungsstelle zu schaffen. Die notwendigen Mittel werden im Budget des Bundesamtes für Kultur eingestellt.

Die Umsetzung der allgemeinen Verpflichtung, erforderliche Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu treffen (Art. 11 Abs. 1), wird keine direkten Kostenfolgen haben. Allfällige längerfristige Massnahmen in diesem Sinne sind im Rahmen der Prioritätensetzung in der Kulturförderung zu diskutieren und werden somit in die ordentliche Budget- und Finanzplanung einfliessen.

3.2

Auswirkungen auf die Kantone

Auf die Kantone und Gemeinden sollte das Übereinkommen keine direkten finanziellen Auswirkungen haben. Da Kultur in die Zuständigkeit der Kantone fällt (Art. 69 Abs. 1 BV), liegt es an ihnen, den Umfang ihrer Bewahrungs- und Förderungsmassnahmen für das immaterielle Kulturerbe zu bestimmen. Gemäss den Bestimmungen des Übereinkommens über bundesstaatliche Verfassungssysteme ist der Bund lediglich dazu verpflichtet, diejenigen Bestimmungen, deren Durchführung in die Zuständigkeit der Kantone fallen, den zuständigen Stellen der Kantone zur Kenntnis zu bringen und ihnen ihre Annahme zu empfehlen (Art. 35 Bst. b).

Kantone können diese allenfalls in den Leitlinien ihrer Kultur- und Bildungspolitik verankern oder ihnen durch Aufnahme in ihre Gesetzgebung zusätzliche Rechtswirkung geben. Die Kantone werden ferner dazu ermuntert, Bestandteile ihres immateriellen Kulturerbes in die vom Bund geführte Inventarliste einzuschreiben. Dafür sollten sie sich ­ unter Beizug von Fachwissen ­ auf die Vorschläge der Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes abstützen.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Eine Ratifikation und Umsetzung des Übereinkommens durch die Schweiz hat keine direkten Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Die positiven Werte, die mit einer Aufwertung des immateriellen Kulturerbes geschaffen werden, könnten indes Kulturbetrieben und dem Tourismus-Sektor zugute kommen. Am Beispiel des traditionellen Handwerks, etwa der Holzbildhauerei in und um Brienz, zeigt sich die enge Wechselwirkung zwischen Wirtschaft, Tourismus und kultureller Identität einer Region.

Die UNESCO hat durch ihr Branding («UNESCO Welterbe») erfolgreich und kostengünstig Kulturstätten nach dem Übereinkommen von 1972 bekannt gemacht, deren touristische Attraktivität gefördert und damit zur Wirtschaftsentwicklung von Regionen beigetragen. Die Idee, ein Kulturerbe mit repräsentativem Charakter für die Menschheit, für eine Nation oder eine Bevölkerungsgruppe auf internationaler Ebene bekannt zu machen, wurde 1997 mit dem Programm «Proclamation des chefs-d'oeuvre du patrimoine oral et immatériel de l'humanité» und mit der Schaffung der «Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» im Übereinkommen von 2003 auf das immaterielle Kulturerbe übertragen. Wie die Welterbe-Liste könnte auch die «repräsentative Liste» eine positive Wirkung in diesem Sinne entfalten. Dabei wird allerdings darauf zu achten sein, dass die Fördermassnahmen unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Entwicklung erfolgen

7275

und die Bedürfnisse der Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes respektiert werden.

3.4

Andere Auswirkungen: die Rolle der Zivilgesellschaft

Die Massnahmen, welche der Staat zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu ergreifen hat, sind nicht dahingehend auszulegen, dass den Trägern und Trägerinnen des Erbes Pflichten zur Tradierung auferlegt werden; das Übereinkommen will die Tradierung fördern, aber nicht forcieren. Dennoch erfordert eine Umsetzung des Übereinkommens eine Partizipation der Zivilgesellschaft und besonders der Träger und Trägerinnen des immateriellen Kulturerbes. Die Massnahmen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz werden vom Engagement der betroffenen Gemeinschaften, Gruppen und Individuen abhängen. Ein Recht auf Förderung können diese jedoch aus dem Übereinkommen nicht ableiten.

Bund und Kantone werden sich bei der Umsetzung des Übereinkommens für eine aktive Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und den Behörden sowie für die organisatorische Integration der Träger und Trägerinnen sowie der Fachleute einsetzen.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Legislaturplanung 2003­200720 nicht angekündigt, weil das Übereinkommen erst im Oktober 2003, nach seiner Verabschiedung durch die Mitgliedsstaaten der UNESCO, zur Ratifikation aufgelegt wurde (vgl. Ziff. 1.2).

Die Eröffnung der Vernehmlassung bzw. die Verabschiedung der Botschaft ist in den Zielen des Bundesrats 2006 und 2007 vorgesehen (Ziel 12).

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV genehmigt die Bundesversammlung völkerrechtliche Verträge, mit Ausnahme von Verträgen, für deren Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetz oder eines völkerrechtlichen Vertrags zuständig ist. Im hier vorliegenden Bereich sieht weder ein Bundesgesetz noch ein Vertrag eine solche Delegation der Abschlusskompetenz vor. Das Übereinkommen muss daher dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet werden.

20

BBl 2004 1149

7276

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Definition des immateriellen Kulturerbes gemäss Artikel 1 des Übereinkommens steht im Einklang mit den bestehenden internationalen Rechtsinstrumenten zu den Menschenrechten (vgl. Ziff. 2, Abschnitt «Allgemeine Bestimmungen»). In der Präambel (1. Erwägungsgrund) wird insbesondere auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (UNO-Pakt I) und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (UNO-Pakt II) verwiesen.

Das Verhältnis zum Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt (Welterbe-Übereinkommen 1972) sowie zu internationalen Instrumenten zur Regelung der geistigen Eigentums oder der Nutzung der biologischen und ökologischen Ressourcen ist in Artikel 3 geregelt (vgl. Ziff. 2, Abschnitt «Allgemeine Bestimmungen»).

Schliesslich bildet das Übereinkommen eine Ergänzung zum Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksweisen von 2005.

Darin wird ausdrücklich auf «traditionelles Wissen» Bezug genommen wird (Präambel, 8. Erwägungsgrund).

5.3

Verhältnis zu geplanten immaterialgüterrechtlichen Regelungen

Ein grosser Teil des globalen immateriellen Kulturerbes ist aus der Sicht des Immaterialgüterrechts als Gemeingut zu bestimmen. Dieses wird in einer zunehmend integrierten Weltgesellschaft vermehrt auch über die angestammten nationalen und regionalen Kulturgruppen hinaus genutzt. Viele Staaten und Interessengruppen haben sich jedoch gegen die globale Verfügbarkeit ihrer traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen gewendet. Insbesondere Entwicklungsländer haben geltend gemacht, dass die orale Tradierungspraxis ihrer traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen auch kreative Leistungen beinhaltet und eine fremde, nicht autorisierte Nutzung unter Umständen negative Auswirkungen auf die traditionelle Kulturvermittlung haben könnte. Sie fordern deshalb immaterialgüterrechtliche Eigentumsrechte an ihren traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen.

Bei der WIPO prüft ein Zwischenstaatliches Komitee gegenwärtig Optionen für einen international verbindlichen Schutz von genetischen Ressourcen, traditionellem Wissen und traditionellen kulturellen Ausdrucksweisen (Intergovernmental Committee on Intellectual Property and Genetic Resources, Traditional Knowledge and Folklore). Bereits in den zahlreichen, seit den 1970er Jahren geführten Diskussionen bei UNESCO und WIPO (vgl. Ziff. 1.1.2) hat es sich allerdings als schwierig erwiesen, eine Globallösung zu finden, welche die unterschiedlichen nationalen Schutzforderungen einschliessen könnte, dem immateriellen Kulturerbe angemessen ist und gleichzeitig praktikabel ist. Der Gegenstand des traditionellen Wissens ist kaum einzugrenzen, da es beim Vollzug einer solchen Regelung zu Konflikten zwischen den Konzeptionen von Tradition und Innovation kommen muss. Ferner ist die Bestimmung der anspruchsberechtigten Rechtssubjekte bei kollektiv vermittelten Traditionen problematisch.

7277

Das Übereinkommen bietet in seinem umfassenden Ansatz zur Bewahrung, Förderung und Erforschung des immateriellen Kulturerbes eine flexible und kosteneffiziente Alternative zu weitreichenden Schutzregelungen betreffend traditionelles Wissen und traditionelle kulturelle Ausdrucksweisen. Insbesondere anerkennt das Übereinkommen die Notwendigkeit, bei den betroffenen Gemeinschaften vorgängig die Zustimmung zur Verbreitung von deren Kulturerbe einzuholen (vgl. Art. 13 Bst. d ii und Ziff. 1.6.3).

5.4

Staatsvertragsreferendum

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Das Übereinkommen von 2003 ist unbefristet, aber es kann jederzeit gekündigt werden (Art. 36 des Übereinkommens). Es sieht nicht den Beitritt zu einer internationalen Organisation vor. Bleibt zu prüfen, ob das Übereinkommen wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält oder ob seine Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Als rechtsetzend gelten nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes21 jene Bestimmungen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. «Wichtige rechtsetzende Bestimmungen» sind solche, die im internen Rechte im Lichte von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines formellen Gesetzes zu erlassen wären.

Das Übereinkommen von 2003 sieht insbesondere vor, dass die Vertragsstaaten regelmässig einen Beitrag an den «Fonds für die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes» entrichten. Das Entrichten von Beiträgen gehört zu denjenigen Bestimmungen, die nach Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe e BV in der Form eines formellen Gesetzes zu erlassen sind.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens untersteht daher dem fakultativen Referendum im Sinne von Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV.

21

Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (SR 171.10).

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