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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen betreffend die Unfallversicherung.

(Vom 3. September 1915.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Gemäss dem Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 hat eine bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern versicherte Person, wenn sio einen Unfall erleidet, unter anderem Anspruch auf ärztliche Behandlung und Arznei. Art. 73 des Gesetzes, der diese Ansprüche des näheren festsetzt, erklärt die Art. 15 bis 25 als sinngemäss anwendbar. Diese Bestimmungen handeln von der Krankenpflege der Mitglieder anerkannter Kassen und von den Beziehungen zwischen Ärzten und Apothekern einerseits und anerkannten Krankenkassen und deren Mitgliedern andererseits. Bei der Ordnung dieser Verhältnisse haben die Kantonsregierungen in der Weise mitzuwirken, dass sie gemäss Art. 22 die Tarife der ärztlichen Leistungen und der Arzneien festzusetzen und gemäss Art. 25 die schiedsgerichtliche Instanz und das Verfahren zu bezeichnen haben.

Mit Kreisschreiben vom 15. April 1913 haben wir die Kantonsregierungen eingeladen, unter anderem diese für den Gesetzesvollzug erforderlichen Massnahmen zu treffen. Die meisten Kan' tonsregierungen haben uns denn auch die von ihnen aufgestellten Tarife, sowie die Bezeichnung des Schiedsgerichts und des Verfahrens zur Kenntnis gebracht. Die bezüglichen Erlasse beschränken sich aber ihrer Natur nach und gemäss unserem erwähnten Kreisschreiben auf die von den anerkannten Krankenkassen zu gewährenden Krankenpflege. Verschiedene Tarife behalten sogar die für die Gewährung der Krankenpflege in der Unfallversicherung zu treffenden Massnahmen ausdrücklich vor.

Beim Fortschreiten der Organisation der Unfallversicherung durch die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern ist es jetzt an der Zeit, dass die in Art. 73 vorgeschriebene sinngemässe Anwendung der Art. 22 und 25 durch die Kantonsregierungen vorgenommen wird. Steht auch die Eröffnung des Betriebes der Anstalt vor Anfang des Jahres 1917 nicht zu er-

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warten, so müssen die Tarife der ärztlichen Leistungen und der Arzneien doch spätestens in der ersten Hälfte des Jahres 1916 festgesetzt werden, damit die Anstalt in der Lage ist, auf Grund derselben mit den Ärzten und Apothern in Vertragsunterhandlungen zu treten, und dadurch soweit möglich die Krankenpflege auf den Tag der Betriebseröffnung nach dieser Richtung hin zu organisieren.

Demgemäss laden wir die Kantonsregierungen ein, uns bis am 31. März 1916 vorzulegen: 1. Die Tarife der ärztlichen Leistungen und der Arzneien für die Krankenpflege der bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern versicherten Personen (Art. 22 und 73 des Bundesgesetzes).

2. Die Bezeichnung der schiedsgerichtlichen Instanz und des Verfahrens zur Erledigung von Streitigkeiten zwischen der Anstalt und Ärzten oder Apothekern (Art. 25 und 73 des Bundesgesetzes).

Dabei machen wir auf folgendes aufmerksam: 1. Die Tarife müssen für die einzelnen Leistungen und Arzneien Mindest- und Höchstbeträge enthalten. Als Tarife können die bereits für die Krankenversicherung aufgestellten bezeichnet werden. Jedenfalls aber ist vor ihrer Aufstellung die Anhörung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern und der Berufsverbände der Ärzte und der Apotheker erforderlich.

2. Diese Anhörung der Beteiligten ist nicht vorgeschrieben hinsichtlich der Bezeichnung der schiedsgerichtlichen Instanz und des Verfahrens. Dagegen verlangt das Bundesgesetz, dass im Schiedsgericht beide Parteien eine Vertretung von gleicher Zahl erhalten. Als Partei gegenüber Ärzten und Apothekern kann sowohl die Unfallversicherungsanstalt, als auch eine gemäss Art. 55 unfallversichernde Kasse in Betracht kommen. In letzterem Falle wird sich die Vertretung im Schiedsgericht nach den gleichen Grundsätzen gestalten, wie sie von den Kantonsregierungen für das in der Krankenversicherung amtende Schiedsgericht geregelt ist. Soweit sodann die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern Partei ist und als solche Anspruch auf Vertretung im Schiedsgericht hat, ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Vertreter der Anstalt im Sinne von Art. 25 eigene Beamte derselben bezw. Mitglieder ihrer Organe sein können oder ob nur ausserhalb der Anstalt stehende Personen als deren Vertreter bezeichnet werden dürfen. Mit ihrem Zirkular Nr. 22 vom 24. Februar 1915 ist die Anstalt in dieser Frage bereits bei den

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Kantonsregierungen vorstellig geworden. Sie vertritt dea Standpunkt, dass es ihr schwer fallen würde, ausserhalb der Anstalt genügend sachkundige Leute zu finden, und dass daraus eine Verschlechterung ihrer prozessualen Stellung gegenüber derjenigen der Gegenpartei resultieren könne. Wir halten die Auffassung der Anstalt für durchaus zutreffend. Dem Einwände, dass die Anstalt nicht in eigener Sache Richter und Partei sein dürfe, ist folgendes entgegenzuhalten : einmal haben die Beamten und Organe der Anstalt kein unmittelbares und auch kein wesentliches mittelbares Interesse am Streit; sodann steht nicht ein ordentliches, sondern ein Schiedsgericht in Frage, für das begrifflich und der ausdrücklichen Gesetzesbestimmung gemäss ein Einfluss der Parteien auf die Zusammensetzung vorgesehen ist. Wird dieser Einfluss durch Entsendung von Beamten oder von Mitgliedern der Organe der Anstalt in das Schiedsgericht ausgeübt, so liegt in der Verantwortlichkeit, die diese Personen den Versicherten und der Öffentlichkeit gegenüber tragen, eine Gewähr für eine sachliche und loyale Ausübung des Schiedsrichtermandatos. Dieser Entsendung wird nun allerdings der prozessrechtliche Ablehnungsgrund des Abhängigkeitsverhältnisses entgegenstehen, wo er für die Bildung von Schiedsgerichten nicht ohnehin ausgenommen ist.

Allein da das Schiedsgericht des Art. 25 nicht ein Glied der kantonalen Gerichtsorganisation ist, sondern durch Bundesrecht eingesetzt wird, so besteht für die mit der Bezeichnung des Schiedsgerichts bundesrechtlich beauftragton Kantonsregierungen kein Hindernis, den erwähnten Ablehnungsgrund auf die Vertretung der Anstalt nicht anzuwenden. Wir laden domgemäss die Kantonsregierungen ein, Art. 25, Absatz 3, des Bundesgesetzes in der Weise auszuführen, dass bei der Organisation der schiedsgerichtlichen Instanz als Vertreter der Anstalt auch Beamte oder Mitglieder von Organen derselben bezeichnet werden können.

Wir benützen auch diesen Anlass, Sie, getreue, Jicbe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 3. September 1915.

Im Namen des Schweiz. Bundesratcs, Der B u n d e s p r ä s i d o n t : Motta.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Sckatzimmii.

=I©C=

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