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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend die durch die Kantone aufzustellenden Vollzugsbestimmungen zum neuen Fabrikgesetz.

(Vom 12. Oktober 1915.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Gemäss Art. 83, Absatz l, liegt der Vollzug des neuen Bundesgesetzes vom 18. Juni 1914 betreffend die Arbeit in den Fabriken*), sowie der Vorschriften, die der Bundesrat nach Massgabe des Gesetzes erlässt, den Kantonen ob. Diese haben auch selbst gewisse Vollzugsbestimmungen aufzustellen. Um die Kantone über die Natur dieser Bestimmungen näher zu orientieren, erachten wir es für angezeigt, ihnen nachstehende Wegleitung zu geben : Ad Art. 29 (Gerichtsstand und Verfahren für

Zivilstreitigkeiten).

Während das Rechtsverhältnis zwischen dem Fabrikinhaber und den Angestellten sich ausschliesslich nach dem Obligationenrechte richtet, wird das Rechtsverhältnis zwischen dem Fabrikinhaber und den Arbeitern nur insoweit durch das Obligationenrecht geregelt, als im Fabrikgesetze keine besondern Bestimmungen getroffen sind (Art. '20). Solche Bestimmungen enthalten die Art. 21--28 ; sie regeln die Kündigungsfristen, die Kündigungstermine, die Beschränkung des Kündigungsrechtes, die Probezeit, die Auszahlung des Lohnes, den Décompte, die Folgen der rechtswidrigen Auflösung des Dienstverhältnisses, den Lohnzuschlag, die Unentgeltlichkeit der Arbeitseinrichtungen und die Lohnabzüge.

Die Anwendung dieser Bestimmungen, sowie derjenigen des Obligationenrechtes, die den Dienstvertrag betreffen und mit Art. 21--28 des Fabrikgesetzes nicht in Widerspruch stehen, *) Siehe Gesetzsammlung n. F., Bd. XXX, S. 535.

353 kann zu Streitigkeiten zwischen dem Fabrikinhaber und dem Arbeiter führen. Über diese Zivilstreitigkeiten entscheiden die durch die Kantone bezeichneten zuständigen Gerichtsstellen (Art. 29, Abs. l und 2). Die Absätze. 3, 4, 5 und 6 des genannten Artikels enthalten verschiedene Prozessvorschriften, die bei der Untersuchung und Beurteilung der in Frage stehenden Streitigkeiten zu befolgen sind.

Es wird sich in der Regel um Sachen mit kleinem Streitwert handeln ; darum ist vorgeschrieben, dass sie im mündlichen und beschleunigten Verfahren zu erledigen sind. Auch haben Arbeiter und Arbeitgeber das gleiche Interesse an einer prompten Erledigung ihrer Streitigkeiten. Berufsmässige Prozessvertretung ist unzulässig, sofern eine solche nicht durch besondere persönliche Verhältnisse einer Partei als gerechtfertigt erscheint. Der Richter hat von Amts wegen die für den Entscheid erheblichen Tatsachen zu erforschen ; er ist nicht an die Beweisanträge der Parteien gebunden und würdigt die Beweisergebnisse nach freiem Ermessen. Es ist dies die Offizialmaxime im Gegensatz zur Verhandlungsmaxime. Der Richter soll niemals über die Klagebegehren hinausgehen. Das Verfahren ist kostenlos. In Fällen von mutwilliger Prozessführung ist der Richter befugt, gegen die fehlbare Partei Bussen auszusprechen und ihr die Kosten ganz oder teilweise aufzuerlegen.

Die Kantone, die schon ein besonderes Verfahren für die Untersuchung und Beurteilung der in Frage stehenden Zivilstreitigkeiten zwischen dem Fabrikinhaber und dem Arbeiter besitzen, werden dieses Verfahren dem Art. 29 des Fabrikgesetzes anpassen, soweit es mit ihm nicht in Einklang steht. Was die ändern Kantone anbelangt, so werden sie die Gerichtsstellen bezeichnen, die solche Streitigkeiten zu entscheiden haben ; ferner haben sie Prozessvorschriften zu erlassen, die dem Inhalt von Art. 29 des Fabrikgesetzes entsprechen müssen. Es steht den Kantonen frei, eine Rekursinstanz vorzusehen.

Die Kantone werden überdies ersucht, zu prüfen, ob nicht die Bestimmungen des Art. 29 freiwillig auf andere Lohnarbeiter oder überhaupt auf alle im Lohnvertrag stehenden Personen auszudehnen seien. Findet eine solche Ausdehnung nicht statt, so wird der Richter nur dann materiell zuständig sein, wenn zur Zeit des Beginnes der Streitigkeit das beteiligte Unternehmen dem Fabrikgesetz unterstellt gewesen ist.

Wir ersuchen die Kantone, die mit Art. 29 bereits in Einklang stehenden, die ihm angepassten, sowie die in Anwendung

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dieses Artikels noch zu erlassenden Prozessvorschriften für die Untersuchung und Beurteilung von Zivilstreitigkeiten aus dem Dienstverhältnis dem schweizerischen Volkswirtschaftsdepartement, Abteilung für Industrie und Gewerbe, mitteilen zu wollen.

Ad Art. 30--35 (Einigungsstellen).

Gemäss Art. 30 des neuen Fabrikgesetzes haben die Kantone ständige Einigungsstellen zu errichten, behufs Vermittlung von Kollektivstreitigkeiten zwischen Fabrikinhabern und Arbeitern. Die Organisation dieser kantonalen Einigungsstellen unterliegt der Genehmigung des Bundesrates.

Die Kantone, die bereits Vorschriften über Einigungsstellon besitzen, werden ersucht, sie den in Art. 30--35 festgelegten Grundsätzen anzupassen und der Genehmigung zu unterbreiten.

Was die ändern Kantone anbelangt, so haben sie die entsprechenden Bestimmungen unverzüglich aufzustellen. Wir empfehlen den Kantonen, die den Weg der Gesetzgebung beschreiten müssen, besonders denjenigen, die das obligatorische Referendum haben, die Arbeit sofort an die Hand zu nehmen. Die Entwürfe sind möglichst früh, spätestens aber bis 30. Juni 1916 dem schweizerischen Volkswirtschaftsdepartement, Abteilung für Industrie und Gewerbe, mitzuteilen. Dieses Departement wird sie, unter eventueller Mitwirkung des schweizerischen Justizdepartements, einer Vorprüfung unterziehen und die Genehmigungsanträge an den Bundesrat stellen. Für die Vorlagen, die der Volksabstimmung unterliegen, wird die Genehmigung nur unter dem Vorbehalt der Annahme durch das Volk erteilt werden können.

Damit die Bestimmungen betreffend die Organisation der kantonalen Einigungsstellen mit den Art. 30--35 in Einklang stehen, möchten wir die Grundsätze erörtern, die bei dieser Organisation zu befolgen sind.

a. Die Einigungsstellen sind staatliche Organe mit öffentlichrechtlichem Charakter; ihre Aufgabe wird die Vermittlung der Kollektivstreitigkeiten zwischen dem Fabrikinhaber und den Arbeitern sein.

Unter Kollektivstreitigkeiten sind Differenzen zu verstehen, die sich aus den entgegengesetzten Interessen der Arbeitgeber und der Arbeiter in den Arbeitsbedingungen, sowie in der Auslegung und Ausführung von Gesamtarbeits- oder Normalarbeits-

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vertragen ergeben. Als Folgen dieser Gegensätze können Streiks.

Sperren und Aussperrungen auftreten.

Die Einigungsstelle wird sich also nicht mit Zivilstreitigkeiten aus dem Dienstverhältnis -zu befassen haben. Wie schon ausgeführt, entscheidet der zuständige Richter über solche Streitigkeiten.

b. Nach dem Fabrikgesetze müssen die kantonalen Einigungsstellen ständige Einrichtungen sein. Sie lassen ihre Vermittlung von Amts wegen oder auf das Begehren einer Behörde oder von Beteiligten eintreten, und zwar nicht nur, um einen ausgebrochenen Konflikt beizulegen, sondern auch, um einem drohenden vorzubeugen.

c. Wenn Kantone von der ihnen durch Art. 35 übertragenen Befugnis Gebrauch machen, so empfehlen wir, den für Fabriken errichteten Einigungsstellen auch Differenzen aus ändern Betrieben zuzuweisen, sei es für Berufsarten, die das Fabrikgesetz gar nicht, sei es für solche, die es nur teilweise erfasst. Streiken z. B. die Spengler, Schlosser, Holzarbeiter, so kann sich das Einigungsverfahren auf die ganze Berufsgruppe erstrecken, obschon -das Fabrikgesetz nur auf einen Teil davon Anwendung findet.

d. Da die im neuen Fabrikgesetz vorgesehenen Einigungsstellen öffentlich-rechtlichen Charakter haben, müssen sie im Besitz amtlicher Zwangsbefugnisse sein. Alle von der Einigungsstelle Vorgeladenen sind bei Busse verpflichtet, zu erscheinen, zu verhandeln und Auskunft zu erteilen. Diese Obliegenheit betrifft nicht nur die beteiligten Parteien, sondern auch die Zeugen, die Sachverständigen, die zur Vorlage gewisser Dokumente verpflichteten Personen usw.

Die Einigungsstellen sind an die Parteibegehren nicht gebunden, sondern können von Amts wegen alle Massnahmen treffen, die als geeignet erscheinen, um einer Kollektivstreitigkeit vorzubeugen, sie abzuklären oder beizulegen.

Das Verfahren ist kostenlos.

e. In der Einigungsstelle müssen die Arbeitgeber und Arbeiter der hauptsächlichsten Industriezweige des Kantons vertreten sein ; es entspricht dem Charakter der Einrichtung, dass Arbeitgeber und Arbeiter in gleicher Zahl vertreten sind. Ausserdem empfiehlt sich die Wahl von Ersatzleuten.

f. Nachdem die Einigungsstelle sich über die Ursachen und die Natur des Konfliktes orientiert und die Untersuchung beendigt

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hat, wird sie eine Vermittlung anstreben. Sie wird den Parteien eine Lösung vorschlagen, der sie beipflichten können oder nicht.

Der Antrag der Einigungsstelle soll von Billigkeitsgefühl und von der festen Absicht getragen sein, die abweichenden Interessen der Parteien in Einklang zu bringen und die Gemüter zu beruhigen. Er soll möglichst objektiv sein und die Umstände jedes einzelnen Falles berücksichtigen. Wenn einem solchen Antrag nicht beigepflichtet wird, so kann er gleichwohl eine Wirkung mit sich bringen, indem er die öffentliche Meinung, die in Arbeitskonflikten eine bedeutende Rolle spielt, zu beeinflussen geeignet ist. Auch der verworfene Antrag kann die Grundlage zu einer baldigen Verständigung bilden.

g. Die Parteien können den Einigungsstellen im einzelnen Falle die Befugnis übertragen, verbindliche Schiedssprüche zu fällen.' Für diese Eventualität wird den Kantonen empfohlen, dafür zu sorgen, dass der Kompromiss klar und bestimmt abgefasst wird, die streitigen Punkte enthält, jedes Missverständnis ausschliesst, dass er im Protokoll der Sitzungen der Einigungsstelle aufgenommen wird und nach Massgabe des kantonalen Prozessrechts die ganze Vollstreckung des Schiedsspruches sicherstellt.

h. Fabrikinhaber und Arbeiter einer und derselben Industrie können eine freiwillige Einigungsstelle errichten, die an die Stello der amtlichen tritt. Die Errichtung solcher Einigungsstellen ist sehr wünschenswert, denn sie haben in der Praxis schon gute Ergebnisse erzielt. Die freiwilligen Einigungsstellen sind den zwingenden Vorschriften der Art. 30--35 des neuen Fabrikgesetzes nicht unterstellt. Sie können nach Belieben organisiert werden und verbindliche Schiedssprüche fällen, wie z. B. heute schon im Buchdruckereigewerbe.

i. Für den Fall, dass eine Kollektivstreitigkeit über die Grenzen eines Kantons hinausreicht, behalten wir uns die Möglichkeit vor, gemäss Art. 32 entweder eine ausserordentliche, nicht ständige Einigungsstelle zu ernennen, oder, je nach den Umständen, eine kantonale Einigungsstelle mit der Vermittlung zu betrauen. Wenn nach dem Inkrafttreten des Art. 32 eine Kollektivstreitigkeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Grenzen eines Kantons hinausreicht, so haben die beteiligteu Kantone uns davon sofort in Kenntnis zu setzen, damit wir rechtzeitig die erforderlichen Massnahmen treffen können.

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Wir machen noch darauf aufmerksam, dass gemäss Art.36--39 des neuen Fabrikgesetzes die Bestimmungen betreffend die Einigungsstellen auf die eidgenössischen Werkstätten und auf die Werkstätten der Bundesbahnen keine Anwendung finden.

Ad Art. 83, Absatz 3. Die Kantone, die beabsichtigen, bestimmte Befugnisse der Orts- und Bezirksbehörden für den ganzen Kanton einer und derselben Behörde zu übertragen, werden ersucht, ihre Anordnungen unserer Genehmigung möglichst früh zu unterbreiten.'

Für die den Kantonen obliegende Aufstellung von Vollzugsbestimmungen entscheidet ihr Verfassungsrecht darüber, ob sie den Weg der Gesetzgebung oder der Verordnung zu beschreiten haben.

Das schweizerische Volkswirtschaftsdepartement, Abteilung für Industrie und Gewerbe, ist gerne bereit, den Kantonen jede weitere wünschbare Auskunft zu erteilen.

Wir benutzen den Anlass, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns, in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 12. Oktober 1915.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Motta.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend die durch die Kantone aufzustellenden Vollzugsbestimmungen zum neuen Fabrikgesetz. (Vom 12.

Oktober 1915.)

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