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II. Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über nachstehende, auf die Sommersession 1910 eingereichte Begnadigungsgesuche.

(Vom 27. Mai 1910.)

Tit.

1. Karl Zaugg, Schlosser, Scheibenweg 28, Bern, betreffend Nichtbezahlung von Militärpflichtersatz.

, Die Militärbehörde überwies den Karl Zaugg nach fruchtlos gebliebenen Mahnungen dem Strafrichter, weil er die auf Fr. 15 angesetzte Ersatzsteuer pro 1909 nicht innert der angesetzten Fristen bezahlt hatte. Da dies auch vor der gerichtlichen Verhandlung nicht geschah, so wurde der Säumige am 31. Januar 1910 zu einem Tag Gefangenschaft und sechs Monaten Wirtshausverbot verurteilt. Am 12. Februar entrichtete er die Steuer an die Militärbehörde, und gegenwärtig stellt er das Gesuch um Straferlass durch Begnadigung, indem er behauptet, dass ihm die rechtzeitige Leistung wegen Erkrankung seiner Frau und wegen geringen Verdienstes nicht möglich gewesen sei.

Die Polizeidirektion der Stadt Bern und das Regierungsstatthalteramt empfehlen den Gesuchsteller, mit Rücksicht auf die nachträglich geleistete Zahlung, zu teilweiser Begnadigung, die erstere allerdings mit dem Beifügen, Zaugg sei öfters unsolid und habe die Steuer jedenfalls aus blosser Gleichgültigkeit zu spät entrichtet. Unter solchen Umständen kann nach der Praxis der Bundesversammlung dem Gesuche nicht entsprochen werden.

A n t r a g : Es sei das Gesuch des Karl Zaugg abzuweisen.

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2. Franz Xaver Kalt, Mechaniker in Koblenz, Kanton Aargau, betreffend Übertretung des Bundesgesetzes über die Patenttaxen der Handelsreisenden.

Franz Xaver Kalt wurde am 25. Februar 1910 ertappt, als er im Dorfe Böbikon bei Privaten Bestellungen auf landwirtschaftliche Geräte aufnahm, ohne im Besitze einer Ausweiskarte zu sein. Das Bezirksgericht Zurzach erklärte ihn deswegen schuldig der Übertretung des Bundesgesetzes über die Patenttaxen der Handelsreisenden und verurteilte ihn zu Fr. 10 Busse, im Falle der Unerhältlichkeit umgewandelt in zwei Tage Gefangenschaft ; ferner zur Tragung der auf Fr. 10.20 bestimmten Gerichtskosten und zur nachträglichen Lösung einer Halbjahrespatentkarte.

Dem Urteil ist die Notiz beigefügt, Kalt werde den Bundesbehörden angelegentlichst zur Begnadigung empfohlen.

Der Bestrafte ersucht um Brlass der Busse, indem er vorbringt, er sei wegen Invalidität arbeitsunfähig und habe den Versuch, durch Verkauf von Hauen und Kärsten an Landwirte etwas zum Lebensunterhalt zu verdienen, aus Not gemacht.

Der Petent hat sich eine Gesetzesübertretung zu Schulden kommen lassen, die gewöhnlich mit weit höheren Bussen bestraft wird, als ihm gegenüber geschehen. Das urteilende Gericht nahm offenbar bereits Rücksicht auf die ihm wohlbekannten prekären Verhältnisse des Verzeigten, und es liegt kein genügender Grund vor, die geringe Busse auf dem Wege der Begnadigung aufzuheben. Was die nachträgliche Lösung einer Taxkarte betrifft, so müsste ein Gesuch um Erlass dieser Gebühr nach positiven Gesetzesvorschriften an das eidgenössische Industriedepartement gerichtet und von diesem entschieden werden, A n t r a g : Es sei das Gesuch des Franz Xaver Kalt um Erlass der Geldbusse von Fr. 10 abzuweisen.

3. Johann Hiltbrand, Landwirt im Wellenberg zu Oberwil, Kanton Bern, betreffend Jagdfrevel.

Der Polizeirichter des Amtes Obersimmental bestrafte den Johann Hiltbrand mit einer Geldbusse von Fr. 40, weil er ini November 1909, ohne ein Jagdpatent zu besitzen, in der Nähe seines Heimwesens einen Steinadler erlegt hatte, mit Umwandlung1

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der Busse in Gefängnis für den Fall der Nichtbezahlung innerhalb der gesetzlichen Frist. Der Bestrafte ersucht um Erlass der Busse durch Begnadigung, indem er vorbringt, er habe in der Absicht gehandelt, mit der eigens zu diesem Zwecke herbeigeholten Büchse einen Raubvogel zu erlegen, der eben ein Tier überfallen hatte. Er sei nicht auf der Schleichjagd gewesen und nicht vorbestraft. Die Bezahlung der Busse würde ihm sehr schwer fallen, da er mit geringem Einkommen eine zahlreiche Familie zu ernähren habe.

Die gegen den Gesuchsteller ausgesprochene Busse entspricht dem auf Jagen ohne Patent angedrohten Strafminimum. Die Steinadler gehören allerdings nicht zu den geschützten Vögeln ; immerhin ist das Töten derselben nicht unbedingt erlaubt, sondern nur den patentierten Jägern während offener Jagdzeit und ausserdem, gemäss § 12 der bernischen Vollziehungsverordnung zum Bundesgesetz über Jagd und Vogelschutz, ausnahmsweise den mit Schaden bedrohten Grundeigentümern und Pächtern innert der Marken ihrer Güter. Hiltbrand hat nach eigener Darstellung den Vogel ausserhalb seines Grund und Bodens erlegt und kann ·daher nicht von der über ihn verhängten Strafe befreit werden.

A n t r a g : Es sei das Begnadigungsgesuch des Johann Hiltbrand abzuweisen.

4. Kobert Schuhmacher, Landwirt in der Burg beim Sangernboden, Gemeinde Guggisberg, Kanton Bern, betreffend Jagdfrevel.

Von Nachbarn des Robert Schuhmacher wurde Ende 1909 und Anfang 1910 wiederholt bemerkt, dass im Walde eine .geladene Flinte so gelegt war, dass sie sich bei Berührung als Selbstschuss entladen musste. Als jemand gelegentlich die Flinte wegnahm, reklamierte Schuhmacher dieselbe als sein Eigentum, und er wurde darauf wegen Jagdfrevels verzeigt und vom Richteramt Schwarzenburg auf Grund des Art. 21, Ziffer l und 5, lit. a, ·des Bundesgesetzes über Jagd und Vogelschutz bestraft mit Fr. 540 Geldbusse, mit eventueller Umwandlung in Gefängnis, lind Tragung der auf Fr. 41. 90 bestimmten Kosten.

Schuhmacher hatte gegenüber dem Regierungsstatthalter sofort
885 seiner Entschuldigung brachte er vor, dass er in dem abgelegenen Tale zur Winterszeit sehr oft durch Füchse geschädigt worden sei, die ihm und seinen Verwandten Hühner und sogar Katzen geraubt hätten. Dieses Raubwild habe er zuerst durch Flintenschüsse erlegt, und ihm hätten die Selbstschüsse gegolten. Er habe geglaubt, berechtigt zu sein, in dieser Weise sein Eigentum zu verteidigen und habe die Vorsicht gebraucht, die Waffe nur des Nachts auf Stellen anzubringen, wo die Füchse zu passieren pflegen, und am Morgen das Gewehr wegzunehmen und in der Nähe zu verstecken, um Gefährdungen von Menschen zu verhüten.

Laut dem Augenscheinprotokoll des Regierungsstatthalters bestand die Schussvorrichtung aus einem geladenen Gewehre und einem hölzernen Laden, auf welchem die Waffe schussbereit befestigt werden konnte. Der Platz, woselbst das Instrument gelegt wurde, befindet sich zirka 350--400 Meter hinter der Ortschaft Sangernboden und ist ungefähr 100 Meter von der Strasse Sangernboden-Schwefelberg entfernt auf dem Sensenreisgrunde. An dieser Stelle führen sonst keine Wege vorbei, so dass eine besondere Gefährdung des öffentlichen Verkehrs nach Ansicht des Beamten nicht vorlag.

Immerhin geht aus den Akten hervor, dass mehrere Personen die Waffe auf dem Laden befestigt gesehen haben, bis sie von einem 14jährigen Knaben in der Nähe des Schulhauses entdeckt und nach Hause genommen wurde.

Robert Schuhmacher ersucht um Ermässigung der ihm auferlegten Busse auf den Betrag von Fr. 250, welcher ihm von Verwandten durch schriftliche Bürgschaft zur Verfügung gestellt wird. Die Kosten hat er bezahlt, und er macht zur Begründung des Begnadigungsgesuches alle die besondern Umstände des Falles geltend, die bereits in der Untersuchung zutage .getreten sind.

Mehr zu leisten, sei ihm als vermögenslosem Familienvater mit geringem Verdienste nicht möglich. Der Gemeinderat von Guggisberg bezeugt, dass Petent einen guten Leumund besitze, zurzeit vermögenslos sei, dagegen Anwartschaft auf zukünftiges Vermögen habe. Der Gemeinderat sowohl als das Statthalteramt Schwarzenburg befürworten die Ermässigung der Busse.

Nach der Strafandrohung des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1904 zieht das blosse Legen von Selbstschüssen, wenn es zu Jagdzwecken geschieht, eine Geldbusse von mindestens Fr. 500 nach sich, und der Richter hat mit
allem Rechte gegenüber Robert Schuhmacher diese Strafe erhöht, weil der Verzeigte auch sonst noch unberechtigt mit einer Flinte gejagt hatte. Die Höhe Bundesblatt. 62. Jahrg. Bd. in.

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der Hauptstrafe hat ihren Grund darin, dass durch gelegte Selbstschüsse Menschenleben gefährdet und die Tiere, die durch solche Schüsse getroffen werden, zumeist einem qualvollen Tode anheimfallen. Die Grosse der Gefahr für Menscheu bildet jedenfalls einen bestimmenden Faktor für die Ausmessung der Strafe ;, sie scheint im vorliegenden Falle nicht sehr bedeutend gewesen zu sein, und wenn daneben noch die prekäre ökonomische Lage des Fehlbaren und seiner Familie berücksichtigt wird, so erscheint es gerechtfertigt, das Strafmass im Wege der Begnadigung in der Weise zu ermässigen, wie der Gebüsste erbittet.

A n t r a g : Es sei die Strafe des Robert Schuhmacher auf Fr. 250 zu ermässigen, mit Umwandlung in Gefängnis für den Fall der Unerhältlichkeit.

5. Frau Margaretha Hartmann-Stohler, Bahnwärterin in Pratteln, betreffend fahrlässige Gefährdung eines Eisenbahnzuges, Am 27. November 1909, nachmittags zirka l Uhr, wurde auf dem Niveauübergang der schweizerischen Bundesbahnen zwischen den Stationen Niederschönthal und Pratteln durch den Schnellzug Olten-Basel ein mit zwei Ochsen bespanntes, vom Eigentümer, dem Landwirt Nikiaus Dill-Helfenberger in Pratteln geführtes Fuhrwerk, das beim Passieren des Zuges eben das Bahngeleise kreuzte, überfahren. Dill wurde dabei getötet, das Fuhrwerk zertrümmert und einem Ochsen beide Hinterbeine abgefahren j am Zuge entstand kein nennenswerter Schaden.

Schuld an dem Unglück trug die Barrierenwärterin Frau Hartmann-Stohler, die vergessen hatte, den Übergang rechtzeitig vor Eintreffen des Schnellzuges abzuschliessen. Sie will das Einfahrtssignal nicht gehört haben, muss aber zugeben, dass es ihre Pflicht gewesen, auch ohnedies den Übergang fünf Minuten vor dem Momente zu schliessen, in welchem, wie ihr bekannt war, der Zug den Strassenübergang zu passieren hatte. Die Frau will durch häusliche Sorgen in Aufregung gewesen sein und deswegen den Dienst vernachlässigt haben. Sie besorgt denselben seit bald zwanzig Jahren, und zwar nach Aussage des vorgesetzten Bahnmeisters im allgemeinen gut, grössere Verstösse gegen die Dienstpflicht seien sonst nicht vorgekommen.

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Das Kriminalgericht Liestal erklärte die Frau Hartmann der fahrlässigen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes im Sinne von Art. 67, Lemma 2, des Bundesstrafrechtes schuldig und verurteilte sie zu sechs Tagen Gefängnis und Fr. 50 Geldbusse sowie zur Tragung der Kosten, inklusive einer Urteilsgebühr von Fr. 5.

Nunmehr gelangt die Bestrafte an die Bundesbehörden mit dem Ersuchen um Erlass der Gefängnisstrafe durch Begnadigung.

Sie will die Weiterziehung des Urteils an die kantonale Berufungsinstanz deswegen unterlassen haben, weil ihr bekannt geworden, dass dort wenig Aussicht gewesen wäre, die gänzliche Aufhebung der Freiheitsstrafe zu erlangen. -- Sie erklärt, dass sie sich des begangenen Fehlers wohl bewusst sei und denselben aufs tiefste bereue. Tag und Nacht verfolge sie der Anblick des Unglücks, und er zehre an ihrer Gesundheit. Wenn sie nun als 54 Jahre alte Frau nach zwanzigjährigem gewissenhaftem Dienste noch ins Gefängnis wandern müsste, so wäre dies sehr schwer und es würde ihre Gesundheit vollends zerstört. Sie verweist sodann darauf, dass laut Zeitungsberichten in einem ganz ähnliehen Falle vor kurzer Zeit die Mehrheit einer Kammer des zürcherischen Obergerichtes sich nicht dazu habe entschliessen können, eine Barrierenwärterin, durch deren Fahrlässigkeit ein Kind vom Bahnzug überfahren und getötet worden, zu Freiheitsstrafe zu verurteilen.

Dieser Entscheid der bezeichneten Instanz stund indessen im strikten Widerspruch mit dem Wortlaut des revidierten Artikels 67 b des Bundessstrafrechtes, der zwar, in Milderung früheren Rechtes, es als zulässig erklärte, dass in leichteren Fällen fahrlässiger Eisenbahngefährdung blosse Geldbusse verhängt werde, dagegen ausdrücklich daran festhielt, dass wenn durch ein solches Delikt ein Mensch bedeutend verletzt oder getötet oder wenn sonst ein erheblicher Schaden verursacht wurde, Gefängnis bis zu drei Jahren verhängt werden solle und damit noch Geldbusse verbunden werden könne. Das Urteil des Kriminalgerichtes von Baselland entsprach daher weit eher der Intention des Gesetzgebers und hielt sich bezüglich der Strafausmessung in sehr massigen Schranken, wenn berücksichtigt wird, dass durch die offenbare Vernachlässigung der einfachen dienstlichen Funktion seitens der Angeklagten nicht nur erheblicher Materialschaden verursacht, sondern noch ein Mensch
getötet wurde. Die Gründe, welche Frau Hartmann mehr zur Erklärung als zur eigentlichen Entschuldigung ihres Verhaltens vorzubringen vermag, waren dem Richter bekannt und wurden von ihm vollauf berücksichtigt.

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Antrag: weisen.

Es sei das Gesuch der Frau Hartmann abzu-

6. Wilhelm Göldi, Tramkondukteur bei der elektrischen Strassenbahn Altstätten-Berneck, geb. 1872, Robert Erni, Tramführer bei der elektrischen Strassenbahn Altstätten-Berneck, geb. 1861, beide wohnhaft in Altstätten, Kanton St. Gallen, betreffend fahrlässige Eisenbahngefahrdung, Sonntag den 25. Oktober 1908, abends nach 9 Uhr, als Kurs 51 der elektrischen Strassenbahn Altstätten-Berneck auf der Strecke Stadt-Bahnhof als Doppelkurs ausgeführt werden sollte, ereignete sich ein Unfall, dessen Verlauf und Ursache im Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen vom 25. September 1909 in folgender Weise geschildert werden: ,,Der erste Wagen fuhr unbestritten rechtzeitig und richtig um 908 beim Rathause ab und weiter, bis er bei der Weiche im ,,Bilda vom zweiten erreicht und infolge eines wuchtigen Anpralles stark beschädigt wurde. Die Ursache dieses Zusammenstosses war folgende : die Strecke Rathaus-Weiche ,,Bild" beträgt 148 m. Dieselbe weist ein sehr starkes Gefall auf, nämlich 464--457,9 m = 6,1 m oder durchschnittlich über 41 °/oo, und zwar gleich anfangs 50 °/oo, am Schlüsse noch 22 %o. Nach Einhaltung einer unauffälligen, aber unmöglich der in Art. 9 des Dienstreglementes für Wagenführer und Kondukteure vorgeschriebenen Distanz von 150 m gab Kondukteur Göldi, auf dem hintern Perron des zweiten Wagens stehend, das Glockenzeichen zur Abfahrt und löste sofort auch die Bremse, worauf sich der Wagen, kraft seines Gewichtes, auf der schiefen Ebene in Bewegung setzte. Göldi fing nun an, den ihm obliegenden Billetdienst zu besorgen. Etwa auf halber Strecke zur Weiche fiel ihm auf, dass der Wagen so rasch fahre. Beim Nachsehen gewahrte er zu seinem Schrecken, dass der Wagen ohne Führer sei. Jetzt eilte er der Bremse zu, aber zu spät. Vom andern Wagen aus scheint einzig der Kondukteur das unheimliche Herannahen des hintern Wagens bemerkt zu haben, und zwar eben im Momente des fast völligen Stillstandes seines Wagens bei der

889 Weiche.. Fatalerweise wurde sein Ruf ,,lass laufen"1 vom Wagenführer und, wie es scheint, auch von den Insassen nicht gehört oder doch dessen Bedeutung nicht erfasst. Jetzt, nachdem der Anprall erfolgt war, kam Wagenführer Erni vom Rathause her, wo er einen Putsch und ein Geklirr vernommen, dahergesprungen.

Er war noch kurz vor der Abfahrtszeit beim Wagen gestanden ; dann aber hatte er sich wegbegeben, und zwar ins nahe Hotel zu den ,,Drei Königen", sei es, wie er, unterstützt von Kondukteur Thuer, behauptet, ins Parterrepissoir, sei es, wie der Betriebsdirektor vermutet, ins Parterrerestaurant. Entgegen der Bestimmung in Art. 4 des Dienstreglementes für die Wagenführer und Kondukteure: ,,Der Führer darf sich von seiner Maschine nur im Einverständnis mit dem Kondukteur entfernen'1, hatte er sich entfernt, ohne jegliche Mitteilung an den Kondukteur.

Erni machte dann auch dem Mitbeklagten Göldi, ferner dem Kondukteur Eugster und besonders dem Betriebsdirektor (act. 1°, Ie, 7") den Eindruck etwelcher Betrunkenheit, welche er auch auf Vorhalt hin nicht bestritt. In act. 7b erklärt der Direktor überdies, das3 Erni vor dem Unfälle auch schon wegen leichter Betrunkenheit verwarnt und wegen öfteren zu späten Dienstantrittes habe gebüsst werden müssen."· Durch den Zusammenprall wurde an den beiden Wagen ein Materialschaden von zirka Fr. 500 verursacht. Ausserdem wurden zwei Passagiere leichter und ein Fräulein Rosa Zellweger ernsthaft verletzt. Sie trug durch Aufschlagen auf einer Fensterscheibe auf der linken Seite des Hinterkopfes eine S'/a cm lange bis auf den Knochen gehende Wunde davon, die am untern Ende eine l J /2 cm lange Knochenverletzung zeigte. Parallel damit verlaufend fand sich noch eine 3ya cm lange, oberflächlich verlaufende Wunde vor. Der rasch herbeigezogenen ärztlichen Hülfe gelang es, die Blutung zu stillen und die Wunden zu vernähen.

Dagegen verzögerte sich die Heilung infolge eingedrungener Glassplitter, die erst durch mehrfache Operationen entfernt werden konnten. Es resultierte eine gänzliche Arbeitsunfähigkeit von sechs Monaten und eine ebensolange teilweise Arbeitsunfähigkeit, immerhin ohne bleibenden Nachteil.

Das Bezirksgericht Oberrheintal erklärte sowohl Erni als Göldi auf Grund dieses Tatbestandes der fahrlässigen Gefahrdung der Sicherheit des Eisenbahnverkehres schuldig und verhängte über Erni zehn Tage Gefängnis und Fr. 50 Geldbusse, über Göldi sechs Tage Gefängnis und Fr. 30 Geldbusse. Das Kantonsgericht

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St. Gallen, an welches die Sache infolge Appellation der Angeklagten gelangte, hatte nur noch über das Strafmass zu befinden, da der objektive Tatbestand klar vorlag und auch von der Verteidigung nicht bestritten wurde. Vor dieser Instanz beantragte die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen Verurteilung des Gröldi zu drei Tagen Gefängnis und Fr. 30 Geldbusse, des Erni zu einem Tag Gefängnis und Fr. 30 Geldbusse. Der Verteidiger verlangte Aufhebung der Gefängnisstrafe, indem er den Fall als einen leichteren im Sinne des Schlusssatzes von Art. 67, Lemma 2, des Bundesstrafrechts qualifizierte. Das Kantonsgericht aber erkannte für jeden der beiden Angeklagten auf eine Strafe von fünf Tagen Gefängnis, verbunden mit Fr. 30 Geldbusse und Kostenauflage. Es fand, dass ein wesentlicher Unterschied des Verschuldens, der ein verschiedenes Strafmass rechtfertigen würde, nicht vorliege. Von einem leichtern Falle, in welchem blosse Geldbusse angewendet werden könnte, sei keine Rede, sowohl wegen der Grosse des Materialschadens als wegen der Bedeutung der Verletzung des einen Passagiers. Auch die Gefährdung sei, abgesehen von den konkreten Folgen, eine sehr erhebliche gewesen. Ein auf einer Steilhalde führerlos und ungebremst daherrasender Strassenbahnwagen bilde zweifellos eine beträchtliche Gefährde für die Insassen und für die auf der Strasse befindlichen Passanten, Fuhrwerke etc. Das Verschulden der beiden Angeklagten sei, abgesehen von den Übertretungen des allgemeinen Dienstreglementes, kein leichtes, sie seien auch nicht etwa durch die Eigenart des Betriebes oder besondere Verumständungen, die in anderen von der Verteidigung herangezogenen Fällen eine Rolle spielten, entschuldbar. Deshalb dürfe die Sache nicht als mit blosser Geldbusse abgetane Bagatelle behandelt werden.

Wohl könne im Eisenbahndienst eine Fahrlässigkeit und eine Unvorsichtigkeit schwerere Folgen nach sich ziehen als in manch anderem Beruf. Allein der Strassenbahndienst sei der selbstgewählte Beruf der Angeklagten, dessen Anforderungen sie kannten und der auch wieder besondere Vorteile biete.

Gegenüber diesem Urteile ersuchen die Bestraften um Nachlass der Gefängnisstrafe, indem sie im wesentlichen diejenigen Tatsachen und Rechtsgründe wiederholen, die sie bereits vor Gericht zu ihrer Entlastung geltend machten. Es kann ihnen aber
nicht zugestanden werden, dass die urteilenden Richter ohne zwingende Gründe den Fall als einen solchen behandelt haben, der mit Gefängnis bestraft werden müsse, und dass die verhängte Strafe in ihrer Höhe den Verhältnissen nicht entsprochen habe. Insbe-

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sondere haben sie sich die Folgen der Verletzung des Fräulein Zellweger in vollem Umfang als von ihnen verschuldet zurechnen au lassen, selbst wenn, wie von der Verteidigung angedeutet wird, in der Behandlung ärztliche Kunstfehler unterlaufen sein sollten.

A n t r a g : Es sei das Gesuch des Wilhelm Göldi und des Robert Erni abzuweisen.

B e r n , den 27. Mai 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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II. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über nachstehende, auf die Sommersession 1910 eingereichte Begnadigungsgesuche. (Vom 27. Mai 1910.)

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08.06.1910

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