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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Brotfabrik Steiger in Cassarate, vertreten durch Francesco Steiger, betreffend Verletzung des Bundesgesetzes über die Arbeit in den Fabriken.

(Vom 31. Oktober 1910.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde der Brotfabrik Steiger in Cassarate, vertreten durch Francesco Steiger, betreffend Verletzung des Bundesgesetzes über die Arbeit in den Fabriken; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

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In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

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I.

' . . ' . ' : .

In den Jahren 1907, 1908 und 1909 wurde der Vertreter der Brotfabrik Steiger in Cassarate wiederholt Verzeigt, weil in seinem Geschäft zu gewissen Nachtstunden gearbeitet worden sei, während welcher dies durch Art. 9 des inzwischen ersetzten tessinischen Gesetzes vom 3. Juli 1906 und Art. 8 des nunmehr in Kraft stehenden tessinischen Gesetzes vom .19. Juni 1908 über die Arbeit in den Bäckereien und · Konditoreien verboten ist.

Steiger focht die von den Administrativbehörden gegen ihn er-

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lassenen Bussenverfügungen bei den Gerichten an, wurde aber vom Appellationsgericht in drei Urteilen vom 18. Januar 1910 abgewiesen. Das Gericht führte in seinen Entscheiden im wesentlichen folgendes aus : Steiger, der im übrigen die ihm zur Last gelegten Tatsachen nicht bestreite, wende gegen die auf Grund der kantonalen Gesetze erlassenen Bussenverfügungen ein, sein Betrieb sei, wie sich auch aus einem Beschluss des Bundesrats vom 15. November 1909 ergebe, schon zur Zeit der gegen ihn erstatteten Anzeigen eine Fabrik im Sinne der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung und somit dieser unterstellt gewesen. Der tessinische Gesetzgeber könne keine Vorschriften über die Arbeitszeit in Fabriken erlassen, da der eidgenössische Gesetzgeber diese Materie ausschliesslich geregelt habe, und wenn die kantonale Gesetzgebung schon derartige Bestimmungen enthalte, so seien sie doch auf die dem eidgenössischen Fabrikgesetz unterstellten Betriebe nicht anwendbar.

Die Bussenverfügungen seien daher, weil sie auf kantonalem Recht beruhen, aufzuheben. Der Einwand Steigers nun, sein Betrieb unterstehe dem Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken vom 23. März 1877 und dem Bundesratsbeschluss betreffend die Nacht- und Sonntagsarbeit in Fabriken vom 14. Januar 1893, sei allerdings richtig. Allein das Appellationsgericht habe über die Verfassungsmässigkeit eines formell richtig erlassenen kantonalen Gesetzes nicht zu entscheiden. Das sei Sache der eidgenössischen Behörden. Das Gericht habe gegenteils dafür zu sorgen, dass die kantonalen Gesetze angewendet und befolgt werden, weshalb es die Bussenverfügungen nicht aufheben könne.

Gegen diese Entscheide rekurrierte Steiger zunächst ans Bundesgericht, welches aber am 2. Juni 1910 auf die Beschwerde wegen Inkompetenz nicht eintrat.

Mit Eingabe vom 19. August 1910 stellt nunmehr Steiger beim Bundesrat die Begehren: 1. der Bundesrat wolle erklären, Art. 9 des lessinischen Gesetzes vom 3. Juli 1906 über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien und Art. 8 des gleichnamigen Gesetzes vom 19. Juni 1908 seien auf Betriebe, die dem eidgenössischen Fabrikgesetz unterstehen, nicht anwendbar; 2. er wolle folgerichtig die auf jene Bestimmungen des kantotonalen Rechts sich stutzenden Bussenurteile aufheben, Eventuell : 2. er wolle die Urteile aufheben und die Akten zu neuer Behandlung an die kantonalen Gerichte zurückweisen.

215 Zur Begründung führt der Rekurrent im wesentlichen folgendes aus: Die Bntscheidungskompetenz des Bundesrates ergebe sich für ·den vorliegenden Fall aus Art. 102, Zifier 2, der Bunderverfassung und da es sich um die Verletzung eines Bundesgesetzes handle, dessen Durchführung der Bundesrat zu überwachen habe, .so müsse er sich von Amteswegen mit der Angelegenheit befassen.

Die Beschwerde diene nur als Anzeige.

In konstanter Praxis habe der Bundesrat an dem Satz festgehalten, dass auf Gebieten die durch die eidgenössische Fabrikgesetzgebung geregelt sind, kein Raum für eine abweichende kantonale Regelung mehr bleibe. Wenn nun die tessinischen Gesetze über die Arbeit in Bäckereien und Konditoreien die Nachtarbeit verbieten, während der in Ausführung des Fabrikgesetzes ·erlassene Bundesratsbeschluss vom 14. Januar 1893 sie gestatte,, .so setze sich das kantonale Gesetz in Widerspruch mit dem eidgenössischen Recht, wenigstens soweit es sich um Betriebe handle, die, wie der des Rekurrenten, als Fabriken zu betrachten sind.

Auf diese Betriebe dürfe das kantonale Recht nicht angewendet werden und da dies in vorliegenden Fall durch die angefochtenen Bussenentscheide dennoch geschehe, so seien sie entweder ohne "weiteres aufzuheben oder die Angelegenheit müsse wenigstens unter Aufhebung der angefochtenen Urteile zu neuer Behandlung .an die kantonalen Gerichte zurückgewiesen werden.

II.

In seiner Vernehmlassung vom 12. September 1910 beaniragt der Regierungsrat des Kantons Tessin in erster Linie, der Rekurs sei wegen Verspätung abzuweisen, eventuell er sei mindestens, soweit er die Aufhebung der Urteile des Appellationsgerichts und Rückweisung der Angelegenheit an die kantonalen Instanzen verlange, als verspätet zu erklären.

Die drei angefochtenen Urteile, so führt der Regierungsrat .aus, seien dem Rekurrenten am 15. März 1910 mitgeteilt worden.

Die bis zum 15. Mai 1910 laufende GOtägige Beschwerdefrist (Art. 190 und 178 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege) sei somit längst abgelaufen gewesen, als der Rekurrent am 19. August seine Beschwerde beim Bundesrat eingereicht habe und hieran ändere die rechtzeitige Beschwerde bei der inkompetenten Bundesbehörde, beim Bundesgericht nichts.

Die Behauptung des Rekurrenten, der Bundesrat habe im vor-

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In materieller Hinsicht sei zu bemerken, dass eigentlich gar kein Anlass vorhanden sei, im vorliegenden Fall die Frage der Verfassungsmässigkeit des kantonalen Gesetzes über die Arbeit in den Bäckereien aufzuwerfen. Als die angerufenen kantonalen Gesetze erlassen worden seien, haben im Tessin noch keine Bäckereibetriebe bestanden, die als Fabriken im Sinne der eidgenössischen Gesetzgebung hätten gelten können. Und wenn später solche entstanden seien, so habe das nicht zur Folge, dass: das kantonale Gesetz verfassungswidrig geworden sei, es sei vielmehr nach wie vor gültig für die nicht fabrikmässigen Betriebe.

Auf die fabrikmässigen Betriebe könne es natürlich nicht Anwendung finden, da für diese einzig die eidgenössische Fabrikgesetzgebung massgebend sei. Hierüber bestehe also keinerlei Meinungsverschiedenheit.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Das erste Begehren des Rekurrenten, der Bundesrat wolle erklären, Art. 9 des tessinischen Gesetzes vom 3. Juli 1906 über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien und Art. 8 des gleichnamigen Gesetzes vom 19. Juni 1908 seien auf den der eidgenössischen Fabrikgebung unterstehenden Betrieb des Rekurrenten nicht anwendbar, ist dadurch gegenstandslos geworden, dass der Regierungsrat in seiner Vernehmlassung die Richtigkeit

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dieses Satzes anerkennt. Es wird Sache des Regierungsrats sein, dafür zu sorgen, dass das kantonale Gesetz nur auf die ihm unterstehenden, nicht fabrikmässigen Betriebe zur Anwendung kommt.

n.

Hinsichtlich der beiden übrigen Begehren des Rekurrenten um Aufhebung der angefochtenen Bussenurteile ohne weiteres oder Rückweisung der Angelegenheit zu neuer Beurteilung an die kantonalen Instanzen, besteht eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Rekurrenten und der Kantonsregierung insofern, als jener den Standpunkt verteidigt, der Bundesrat könne die Urteile von Amteswegen jederzeit aufheben, während der Regierungsrat annimmt, die Urteile können nur mit dem Rechtsmittel der Beschwerde angefochten werden und seien, da der Rekurrent sich dieses Rechtsmittels nicht rechtzeitig bedient habe, endgültig in Rechtskraft erwachsen.

Der Rekurrent geht bei seiner Anrufung des Art. 102, Ziffer 2, der Bundesverfassung von der irrtümlichen Auffassung aus, der Bundesrat könne in jedem Fall, wo die Verletzung .einer Norm des Bundesrechts in Frage steht, von Amteswegen einschreiten. Diese Tragweite hat aber Art. 102, Ziffer 2, der Bundesverfassung keineswegs. Soweit nämlich zur Anfechtung solcher Verletzungen des Bundesrechts im Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege ein Rechtsmittel vorgesehen ist, tritt das Offizialverfahren nicht ein. Das gilt insbesondere überall da, wo eine solche Verletzung, wie hier, durch eine individuelle Entscheidung oder Verfügung einer kantonalen Behörde bei der Anwendung objektiven Rechtes auf den einzelnen Fall geschehen sein soll, sofern nämlich gegen diese Entscheidung ein Rekurs an das Bundesgericht oder an den Bundesrat gegeben ist. Denn die Normierung der besondern, an Fristen und andere Voraussetzungen gebundenen Beschwerdeverfahren im Organisationsgesetz wäre offenbar überflüssig, wenn der Verletzte einfach vermittelst einer Anzeige das Offizialverfahren in Gang setzen und damit jene erschwerenden Bedingungen des Rekursverfahrens umgehen könnte. Eine derartige Konkurrenz der beiden Verfahren in ein und demselben Fall würde zudem die üble und darum vom Gesetzgeber sicher nicht gewollte Folge haben, dass die kantonalen Verfügungen nie unanfechtbar würden, dass sie nie die für die Rechtssicherheit unentbehrliche Rechtskraft erlangen könnten (vgl. Burckhardt, Kommentar, S. 800 ff.J. Da es nun keinem Zweifel unterliegen kann, dass der Rekurrent die

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angefochtenen Entscheide des tessinischen Appellationsgericht vom 18. Januar 1910 sei es wegen Nichtanwendung des eidgenössischen Rechts auf Grund von Art. 160 ff. des Organisationsgesetzes an das Bundesgericht (vgl. hierzu Th. Weiss in Schweiz.

Zeitschrift für Strafrecht, 1900, S. 128), sei es wegen unzulässiger Beschränkung seines Gewerbebetriebes auf Grund von Art. 31 in Verbindung mit Art. 4 der Bundesverfassung und Art. 189 des Organisationsgesetzes an den Bundesrat hätte weiterziehen können, so ist die Aufhebung dieser individuellen Entscheidungen im Offizialverfahren ausgeschlossen.

Liesse sich aber auch die vorliegende Eingabe des Rekurrenten, was allerdings ihre Begründung nicht wohl gestattet, als staatsrechtliche Beschwerde im Sinne des Organisationsgesetzes auffassen, so könnte der Bundesrat doch nicht mehr auf sie eintreten, weil am 19. August 1910, von welchem Tag sie datiert, die Frist für Einreichung des staatsrechtlichen Rekurses gegenüber den am 15. März 1910 dem Beschwerdeführer mitgeteilten Entscheiden längst abgelaufen war.

Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

B e r n , den 31. Oktober

1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

-SK>SÏ-

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Brotfabrik Steiger in Cassarate, vertreten durch Francesco Steiger, betreffend Verletzung des Bundesgesetzes über die Arbeit in den Fabriken. (Vom 31. Oktober 1910.)

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1910

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09.11.1910

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