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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Emile Monney und Konsorten in Chêne-Bourg, betreffend Stimmberechtigung.

(Vom 19. April 1910.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde des Emile Monney und Konsorten in Chêne-Bourg, betreffend Stimmberechtigung, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst : A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Am 1. November 1909 überreichte Marc Héridier, Notar in Chêne-Bourg, der Staatskanzlei des Kantons Genf ein von 96 Unterschriften bedecktes Referendumsbegehren gegen einen vom Gemeinderat von Chêne-Bourg am 16. Oktober 1909 gefassten Beschluss, betreffend den Ankauf einer Liegenschaft. Der Regierungsrat erklärte 11 Unterschriften als ungültig, konstatierte aber, das» das Referendum trotzdem zustande gekommen sei. An der am 21. November 1909 in Chêne-Bourg vorgenommenen Abstimmung wurde der Beschluss des Gemeinderates mit 102 gegen 69 Stimmen bestätigt.

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Unter den vom Regierungsrat gestrichenen Unterschriften befinden sich diejenigen der heutigen Rekurrenten, nämlich des 1. Monney, Emile, Briefträger, von Porsel, Kanton Freiburg, geb. 1884; 2. Desponds, Edouard Philippe, Fabrikangestellter, von Malapalud, Kanton Waadt, geb. 1869 ; 3. Gallay, Edouard, Schreiner, von Genf, geb. 1877.

Das Departement des Innern des Kantons Genf teilte den drei Genannten, die auch an der Gemeindeabstimmung vom 21. November 1909 nicht teilnehmen konnten, durch Zirkular, unter Hinweis auf Art. 3 des genferischen Gesetzes vom 3. März 1906 über Wahlen und Abstimmungen, mit, dass sie erst vom 30. Juni 1910 an in Chêne-Bourg stimmberechtigt seien und dass sie bis zu diesem Zeitpunkt ihr Stimmrecht in ihrer frühern Wohnsitzgemeinde ausüben könnten, nämlich Monney in Genf, Desponds in Bellevue und Gallay in Thonex. Ein gegen diese Verfügung an den Staatsrat gerichteter Rekurs wurde von diesem am 23. November 1909 abgewiesen.

II.

Mit Eingabe vom 24. November 1909 beschweren sich Emile Monney, Edouard Philippe Desponds und Edouard Gallay beim Bundesrat. Sie stellen das Begehren, der Bundesrat wolle die genferischen Behörden veranlassen, die Rekurrenten ins Stimmregister von Chêne-Bourg einzutragen und sie in dieser Gemeinde ihr Stimmrecht ausüben zu lassen. Die Beschwerdeführer hätten ein Interesse daran, bei den im nächsten Mai stattfindenden Wahlen der Gemeinderäte an ihrer Wohnsitzgemeinde ihr Stimmrecht auszuüben, statt in einer ändern Gemeinde, zu der sie heute keinerlei Beziehungen mehr hätten. Zur Begründung der Beschwerde wird in der Eingabe vom 24. November sowie in einer weitern Eingabe vom 27. Dezember 1909 im wesentlichen folgendes geltend gemacht: Da die genferische Gesetzgebung einen Unterschied zwischen Niederlassung und Aufenthalt nicht kenne, kämen die durch die Bundesverfassung den Niedergelassenen garantierten Rechte allen im Kanton Genf domizilierten Schweizerbürgern zu. Gemäss Art. 43 der Bundesverfassung erwerbe der niedergelassene Schweizerbürger in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten das Stimmrecht nach einer Niederlassung von 3 Monaten. Monney habe seinen Wohnsitz seit dem 1. Juni 1908, Desponds seit dem 27. Februar 1909 und Gallay seit der zweiten Hälfte des Jahres,

838 1908 in Chêne-Bourg. Das vom Staatsrat des Kantons Genf angerufene genferische Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 3. März 1906 habe die in Art. 43, Abs. 6, der Bundesverfassung vorgeschriebene Genehmigung des Bundesrates nicht erhalten. Art. 3 desselben, laut welchem nur alle Jahre einmal eine Bereinigung der Stimmregister stattzufinden habe und jeder Stimmberechtigte bis zu dieser Bereinigung sein Stimmrecht an seinem frühern Wohnort auszuüben genötigt sei -- falls er von diesem Rechte überhaupt Gebrauch machen wolle -- stehe mit Art. 43, Abs. 5, der Bundesverfassung, der jedem niedergelassenen Schweizerbürger nach einer Niederlassung von 3 Monaten das Stimmrecht an seinem Wohnsitz garantiere, im Widerspruch.

Eventuell machen die Rekurrenten geltend, dass sie auf Grund des kantonalen Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen am 30. Juni 1909 in das bereinigte Stimmregister von Chêne-Bourg hätten eingetragen werden sollen, da dieses Gesetz die Bereinigung der Stimmregister von Amtes wegen vorsehe und die Rekurrenten zur Zeit der Bereinigung sowohl im Register über -die letzte Bevölkerungsaufnahme als auch im Steuerregister von Chêne-Bourg eingetragen gewesen seien.

III.

Der Staatsrat des Kantons Genf bestreitet in seinen Berichten, d. d. 7. Dezember 1909 und 18. Januar 1910, nicht, dass die Rekurrenten seit der in der Rekurseingabe angegebenen Zeit ihren Wohnsitz in Chêne-Bourg haben. Er beantragt aber trotzdem die Abweisung der Beschwerde, und zwar im wesentlichen mit folgender Begründung: Das genferische Gesetz vom 3. März 1906 über Wahlen und Abstimmungen stehe vollständig auf dem Boden der Bundesverfassung. Art. 43 B. V. verlange nur, dass der seit drei Monaten in einem Kanton niedergelassene Schweizerbürger sein Stimmrecht auch in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten in gleicher Weise ausüben könne wie der Kantonsbürger, was im Kanton Genf laut Art. l, leg. cit., der Fall sei. Weitergehende Vorschriften enthalte die Bundesverfassung nicht, sie sehreibe speziell auch nicht vor, an welchem Orte der Schweizerbürger sein Stimmreeht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten auszuüben habe. Diejenigen Schweizerbürger, die ihren Wohnsitz im Kanton Genf neu begründen, seien nach einer dreimonatlichen Niederlassung an ihrem Wohnsitz stimmberechtigt; Art. 3 des

839 genferischen Gesetzes vom 3. März 1906 über Stimmrecht und Wahlen betreffe nur diejenigen Stimmberechtigten, die ihren Wohnsitz innerhalb des Kantonsgebiets wechseln. Es sei Sache der Kantone, gesetzliche Vorschriften über die Ausübung des Stimmrechts zu erlassen.

Es sei richtig, dass die Rekurrenten Anspruch darauf gehabt hätten, bei der letzten Bereinigung der Stimmregister als in Chêne-Bourg stimmberechtigt eingetragen zu werden. Allein sie hätten es unterlassen, vor dem 30. Juni 1909 ihre Eintragung zu verlangen und hätten es daher nur sich selber zuzuschreiben, wenn sie nun bis zum 30. Juni 1910 in ihrer früheren Wohnsitzgemeinde ihr Stimmrecht ausüben müssten.

IV.

Art. 3 des genferischen Gesetzes über Stimmrecht und Wahlen vom 3. März 1906 lautet: ,,Les mutations des électeurs d'une commune dans une autre et d'un arrondissement électoral dans un autre ne s'opèrent que le 30 juin de chaque année.

,,Les demandes de changements doivent être faites au Département de l'Intérieur avant cette date.tt B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Das Gesetz des Kantons Genf vom 3. März 1906 betreffend Abstimmungen und Wahlen unterscheidet nicht zwischen Niedergelassenen und Aufenthaltern, sondern es stellt einfach auf das Requisit des Wohnsitzes ab. Daraus folgt, dass jedem im Kanton Genf domizilierten Schweizerbürger diejenigen Rechte zustehen, die die Bundesverfassung den niedergelassenen Schweizerbürgern einräumt, vorausgesetzt, dass er die Bedingungen erfüllt, die ihn nach Art. 45 B. V. zum Erwerb der Niederlassung berechtigen.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Rekurrenten Monney und Desponds ihre Heimatscheine beim Justizund Polizeidepartement des Kantons Genf hinterlegt haben ; Gallay ist zugegebenermassen Genfer. Dass einer der in Art. 45, Abs. 2--7, aufgeführten Gründe für die Verweigerung oder den Entzug der Niederlassung vorliege, ist nicht behauptet worden.

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li.

Art. 43 B. V. stellt den Grundsatz auf, dass der Schweizerbürger sein Stimmrecht sowohl in eidgenössischen als auch in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten an seinem Wohnsitz auszuüben hat. Für kantonale und Gemeindeangelegenheiten muss zum Erwerb des Wohnsitzes auch noch eine dreimonatliche Niederlassung hinzukommen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so darf der stimmfähige Schweizerbürger an der Ausübung seines Stimmrechts an s e i n e m W o h n s i t z nicht gehindert werden.

Dieses Verfassungsrecht ist massgebend auch dann, wenn widersprechendes kantonales Recht bestehen sollte.

Für das vom Regierungsrat angerufene genferische Gesetz vom 3. März 1906 über Abstimmungen und Wahlen ist die in Art. 43, Abs. 6, der Bundesverfassung vorgeschriebene Genehmigung des Bundesrates nicht nachgesucht worden. Die Auslegung dieses Gesetzes, wonach nur diejenigen Schweizerbürger Anspruch darauf haben, ihr Stimmrecht nach dreimonatlicher Niederlassung an i h r e m W o h n s i t z auszuüben, die früher keinen Wohnsitz im Kanton hatten, steht mit der Bundesverfassung im Widerspruch. Abgesehen davon, dass Art. 43 B.V.

nicht die geringste Handhabe für eine derartige, sachlich unbegründete Unterscheidung bietet, erscheint dieselbe auch im Hinblick auf Art. 4 B. V. als bundesrechtlich unzulässig.

m.

Es kann sich somit nur noch um die Entscheidung der Frage handeln, ob sich die Bestimmung des Art. 43 der Bundesverfassung, wonach der niedergelassene Schweizerbürger in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten das Stimmrecht nach einer Niederlassung von drei Monaten erwirbt, bloss auf die in einem Kanton niedergelassenen Bürger aus ändern Kantonen bezieht oder auch auf die eigenen Kantonsangehörigen, mit ändern Worten, ob auch der Rekurrent Gallay sich auf diese Verfassungsbestimmung berufen kann. Bei der Entscheidung dieser Frage ist, wie der Bundesrat bereits arn 4. Februar 1876 in Sachen Nessi und Konsorten gegen Tessin ausführte, davon auszugehen, dass durch die in Art. 43 der Bundesverfassung enthaltenen Vorschriften die politischen Rechte der Bürger im allgemeinen geregelt werden wollen. Im Hinblick auf den verfolgten Zweck muss der Artikel dahin ausgelegt werden, dass allen Schweizern, ohne Unterschied ob sie eigene Kantonsbürger oder Bürger anderer Kantone sind, das Recht zusteht, an ihrem Wohnsitz zu stimmen,

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sofern sie überhaupt stimmfähig sind und die Voraussetzung der dreimonatlichen Niederlassung erfüllt haben. Auch verlangt Art. 4 der Bundesverfassung, dass den Kantonsbürgern ebensoviel politische Rechte an ihrem Niederlassungsort eingeräumt werden als den aus ändern Kantonen stammenden Niedergelassenen. Die Bundesversammlung hat sich am 1. Juli 1876 dieser Auffassung des Bundesrates angeschlossen (Bundesbl. 1876, I, 953; III, 191; Salis, Bundesrecht III, Nr. 1160).

IV.

Die Frage, ob der Stimmberechtigte nach dreimonatlicher Niederlassung von Amteswegen in das Stimmregister seiner Wohnsitzgemeinde einzutragen ist oder ob diese Eintragung nur .auf Begehren des Stimmberechtigten vorgenommen werden muss, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Denn die Rekurrenten haben ja, gestützt auf ihren mehr als dreimonatlichen Aufenthalt in Chêne-Bourg, ein bezügliches Begehren gestellt, sind aber mit demselben unter Hinweis auf Art. 3 des genferischen Gesetzes über Stimmrecht und Wahlen vom 3. März 1906 abgewiesen worden. Der Rekurs müsste also selbst dann gutgeheissen werden, wenn angenommen werden sollte, es dürfe dem Stimmberechtigten zugemutet werden, die zur Ausübung seines Stimmrechts erforderliche Formalität, die Eintragung ins Stimmregister, selbst zu begehren.

Demgemäss wird erkannt: Der Rekurs wird gutgeheissen.

Der Staatsrat des Kantons Genf wird- eingeladen, die Eintragung der Rekurrenten in das Stimmregister ihrer Wohnsitzgemeinde zu veranlassen.

B e r n , den 19. April 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Comtesse.

Der I. Vizekanzler: David.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Emile Monney und Konsorten in ChêneBourg, betreffend Stimmberechtigung. (Vom 19. April 1910.)

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27.04.1910

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