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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des Apothekers Hans Müller in Genf gegen den Entscheid des Bundesrates vom 9. Juni 1910 betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 7. Oktober 1910.)

Tit.

I.

Am 31. Mai 1909 verurteilte das genferische Polizeigericht den Apotheker Hans Müller in Genf wegen Übertretung des Art. 276 des genferischen Strafgesetzbuchs, sowie verschiedener Vorschriften der Vollziehungsverordnung zum genferischen Gesetz über die Ausübung der Heilkunst zu einer Busse von Fr. 400 und zu den Kosten, und dieses Urteil wurde am 3. Juli 1909 vom genferischen Kantonsgericht bestätigt. Hiergegen rekurrierte Hans Müller, gestützt auf Art. 31 der Bundesverfassung, zunächst an das Bundesgericht, das am 28. Oktober 1909 auf die Beschwerde wegen Inkompetenz nicht einzutreten beschloss. Mit Beschwerde vom 22. Mai 1910 verlangte Hans Müller hierauf beim Bundesrat die Aufhebung der angefochtenen Entscheide der genferischen Gerichte wegen Verletzung der Art. 4 und 31 der Bundesverfassung. Der Bundesrat beschloss am 9. Juni 1910, auf die Beschwerde nicht einzutreten, weil die 60 tägige Beschwerdefrist lange vor Einreichung der Beschwerde gegen das Urteil des genferischen Kantonsgerichts vom 3. Juli 1909 abgelaufen sei. Gegen diesen Entscheid richtet sich die an die Bundes-

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Versammlung gerichtete Beschwerde des Apothekers Hans Müller vom 15. Juli 1910, worin er verlangt, die Bundesversammlung solle den Entscheid des Bundesrates, sowie die Entscheide der genferischen Gerichte aufheben. Das vom Rekurrenten mit Eingabe vom 19. Juli 1910 gestellte Begehren um Erlass einer vorsorglichen, die Vollstreckung des angefochtenen Strafurteils des genferischen Kantonsgerichts hemmenden Verfügung ist vom Bundesrat mit Beschluss vom 27. August 1910 abgewiesen worden.

Zur Begründung des Begehrens um Aufhebung des bundesrfltlichen Entscheids vom 9. Juni 1910 führt der Rekurrent aus, die rechtsgültige Zustellung eines Urteils müsse nach genferischem Recht durch einen Gerichtsweibel geschehen, der über die Zustellung ein Protokoll aufzunehmen hat. Auf diesem Wege sei dem Rekurrenten das genferische oberinstanzliche Urteil erst am 18. Mai 1910 zugestellt worden, und da die Beschwerde an den Bundesrat vom 22. Mai 1910 datiere, sei sie nicht verspätet.

II.

In seiner Vernehmlassung vom 20. September 1910 gelangt der Regierungsrat des Kantons Genf zum Schluss, die Beschwerde müsse abgewiesen werden.

Im Gegensatz zu Zivilurteilen bedürfen im Kanton Genf die Strafiirteile keiner besondern Zustellung durch den Weibel. Sie werden vielmehr durch Verlesung in öffentlicher Gerichtssitzung dem Angeschuldigten eröffnet. Zu unterscheiden sei im vorliegenden Fall der strafrechtliche und der zivilrechtliche Teil des Urteils. Die Zivilpartei, welcher im Urteil ihre Ansprüche gewahrt und ihre Kosten zugesprochen worden seien, habe, um ihre Kosten einzutreiben, das Urteil dem Rekurrenten durch den Weibel mitteilen lassen müssen. Allein das gelte nicht für den Strafanspruch des Staates und überhaupt für das eigentliche Strafurteil, gegen welches sich die Beschwerde richte. Dieses sei dem Rekurrenten am Tag der Urteilsfällung in öffentlicher Gerichtssitzung verkündet worden, und seine erst am 22. Mai 1910 dem Bundesrat eingereichte Beschwerde sei mit Recht als verspätet erklärt worden.

III.

Wie sich aus der Vernehmlassung des genferischen Regierungsrates ergibt, ist das vom Rekurrenten angefochtene Strafurteil ihm in der Person seines Anwalts in rechtsgültiger Weise am

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3. Juni 1909 in der Gerichtssitzung eröffnet worden. Die Beschwerdefrist des Art. 178, Ziffer 3, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege lief also von diesem Tage an, und die dem Bundesrat erst am 22. Mai 1910 eingereichte Beschwerde Müllers war somit in der Tat verspätet.

Müller hat dies übrigens durch konkludenle Handlungen selbst anerkannt, indem er das Strafurteil seinerzeit innert nützlicher Frist mit demselben Rechtsmittel der staatsrechtlichen Beschwerde, dessen rechtzeitige Einreichung beim Bundesrat in Frage steht, ans Bundesgericht weitergezogen hat. Dass die im Strafprozess gegen Müller mitbeteiligte Zivilpartei die ihr aus dem Kostenzuspruch .erwachsene Forderung gegenüber dem Rekurrenten nur vermittelst einer Urteilszustellung durch den Gerichtsweibel vollstreckbar machen kann, ändert nichts am Beginn der Frist für die Anfechtung des Strafurteils im Wege des staatsrechtlichen Rekurses.

Wir stellen Ihnen, Tit., daher den An t rag :

Die Beschwerde sei abzuweisen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 7. Oktober 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des Apothekers Hans Müller in Genf gegen den Entscheid des Bundesrates vom 9. Juni 1910 betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 7. Oktober 1910.)

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12.10.1910

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