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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des Marc Héridier, Notar in Chêne-Bourg, betreffend die von der Gemeinde Bernex beschlossene und vom Staatsrat des Kantons Genf am 6. August 1909 genehmigte Übertragung des Eigentums an der Kirche und dem Pfarrhaus an die römisch-katholische Kultusgemeinschaft von Bernex.

(Vom 18. März 1910.)

Tit.

Mit Schreiben d. d. 10. Dezember 1909 (auf der Bundeskanzlei eingelangt am 13. Dezember 1909) hat alt Staatsrat und alt Ständerat Marc Héridier, Notar in Chêne-Bourg, Kanton Genf, beim Bundesrat einen an die Bundesversammlung gerichteten staatsrechtlichen Rekurs gegen die von der Gemeinde Bernex beschlossene und vom Staatsrat des Kantons Genf am 6. August 1909 genehmigte Übertragung des Eigentums an der Kirche und dem Pfarrhaus an die römisch-katholische Kultusgemeinschaft von Bernex mit dem Antrag eingereicht, der Bundesrat wolle den Rekurs an die Bundesversammlung weiterleiten und seinerseits der Bundesversammlung die Gutheissung des Rekurses beantragen.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 1909 überwies der schweizerische Ständerat dem Bundesrat einen dem Ständerat eingereichten,

309 ebenfalls an die Bundesversammlung gerichteten und wörtlich gleich lautenden Rekurs desselben Beschwerdeführers zum Bericht. Der Bundesrat hat, einem in der letzten Dezembersession im Nationalrat geäusserten Wunsche Folge leistend, dem Rekurrenten mitgeteilt, dass die eidgenössischen Räte mangels Kompetenz nicht in der Lage sein werden, auf die Beschwerde einzutreten.

Es war jedoch nicht möglich, den Rekurrenten dadurch zum Rückzug der Beschwerde zu veranlassen.

1.

Ihre hohe Versammlung hat am 7. April 1908 dem Verfassungsgesetz des Kantons Genf über die Abschaffung des Kultusbudgets vom 15. Juni 1907 die eidgenössische Gewährleistung erteilt (vergi. Bundesbl. 1907, VI, 1258 ff., und A. G. 8., Bd. 24, S. 555). Die für den Bericht über den vorliegenden Fall in Betracht fallenden Bestimmungen desselben lauten : Art. 2, Abs. 2 : ,,Die Kirchen können, gemäss den Vorschriften des schweizerischen Obligationenrechts, die juristische Persönlichkeit mit allen ihren rechtlichen Folgen erwerben. Sie können sich mit Einwilligung des Grossen Rates als Stiftungen organisi eren.u Art. 3, Abs. 2 und 3 : ,,Unter Vorbehalt der Genehmigung des Regierungsrates können die Gemeinden das Eigentumsrecht an diesen Gebäuden (Kirchen und Pfarrhäusern, welche Gemeindeeigentum sind), mit der Verpflichtung zu ihrem Unterhalt, auf die Vertreter derjenigen Kultusgemeinschaft übertragen, die sie besitzt. Diese Übertragung erfolgt kostenlos und frei von Handänderungsgebühren.

,,Im Fall der Übertragung des Eigentums an den vorgenannten Gebäuden durch die Gemeinden muss vereinbart werden, dass die Gebäude ihre religiöse Bestimmung beibehalten und dass über sie nicht gegen Entgelt verfügt werden könne.a In seiner Sitzung vom 17. Juli 1909 beschloss nun der Gemeinderat von Bernex, das Eigentumsrecht an der Kirche und dem Pfarrhaus im Sinne der oben zitierten Gesetzesbestimmungen auf die römisch-katholische Kultusgemeinschaft von Bernex, die durch die am 5. Mai 1909 erfolgte Eintragung ins Handelsregister juristische Persönlichkeit erlangt hatte, zu übertragen. Mit diesen Gebäuden sollten auch einige zum Pfarrhaus gehörige Grundstückparzellen übertragen werden, über die die Kultusgemeinschaft zum Zwecke der nötigen grossen Reparaturen an den Gebäuden

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nach Gutfinden sollte verfügen dürfen. Am 24. November 1909 erhob der Rekurrent gegen die Eintragung des Eigentumsüberganges in die Grundbuchregister Einsprache, über die der Regierungsrat jedoch am 26. November 1909 zur Tagesordnung übergingU.

In seiner Beschwerde an Ihre hohe Versammlung verlangt der Rekurrent die Nichtigerklärung der vom Gemeinderat von ßernex beschlossenen Eigentumsübertragung, sowie aller übrigen infolge dieses Beschlusses erfolgten Rechtshandlungen. Er sucht darzutun, dass diese Eigentumsübertragung die Art. 2, 49 und 50, Abs. 2, der Bundesverfassung verletze und in Widerspruch steho mit den Art. 2, 3 und 8 des erwähnten Verfassungsgesetzes über die Abschaffung des Kultusbudgets und Art. 6, 61 und 139 der Verfassung des Kantons Genf von 1847. Abgesehen davon sei die beschlossene Eigentumsübertragung schon deswegen als nichtig zu erklären, weil, entgegen dem Art. 13 des Gesetzes vom 25 Ventose XI über das Notariat, weder dem Gemeinderat von Bernex noch dem Regierungsrat ein vollständiges Exemplar der Statuten der römisch-katholischen Kultusgemeinschaft von Bernex vorgelegen habe. Der Rekurrent kritisiert sodann in längern Ausführungen die Statuten dieser Kultusgemeinschaft, von denen er behauptet, dass sie den in den Art. 58 und 4 der Bundesverfassung niedergelegten Grundsätzen widersprechen. Es handle sich im vorliegenden Fall um nichts Geringeres als um ^la revanche de 1789, le retour à la féodalité ecclésiastique"1.

Die Kompetenz der Bundesversammlung zur Behandlung seiner Beschwerde leitet der Rekurrent aus den Art. 5, 71 und 85, Ziff. 7 und 8, der Bundesverfassung ab. Dabei beruft er sich noch besonders auf den Umstand, dass den angeblich verletzten Artikeln der Genfer Verfassung die eidgenössische Gewährleistung erteilt worden sei und somit die Angelegenheit in engem Konnex mit der der Bundesversammlung vorbehaltenen Gewährleistung von Kantons Verfassungen stehe. Die Beschwerde sei gemäss Art. 102, Ziff. 3, 8, 9, 10, dem Bundesrat zuhanden der Bundesversammlung überreicht worden.

in.

Die Bundesversammlung ist nicht kompetent, auf die vorliegende Beschwerde einzutreten.

311 Die in dea Art. 2 und 5 der Bundesverfassung enthaltene allgemeine Zusicherung des Bundesschutzes für die verfassungsmässigen Rechte des Einzelnen gegenüber den Behörden hat durch die Art. 102, Ziff. 2, 85, Ziff. 12, und 113, Ziff. 3, ihre Ausführung und zugleich ihre praktische Bedeutung erhalten. G-emäss Art. 113 der Bundesverfassung urteilt das Bundesgericht -- unter Vorbehalt der durch die Bundesgesetzgebung festzustellenden Adrninistrativstreitigkeiten -- über Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger. Die im vorliegenden Fall angeblich verletzten Art. 49 und Art. 50, Abs. 2, der Bundesverfassung gehören nicht zu den nach Art! 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege der Beurteilung der politischen Behörden vorbehaltenen Verfassungsbestimmungen. Auf den Rekurs, soweit er sich auf diese Bestimmungen stützt, ist daher nicht einzutreten.

Der Rekurrent beruft sich unter Hinweis auf Art. 85, Ziff. 7 und '8, und 102, Ziff. 3, der Bundesverfassung im weitern darauf, dass die von ihm angefochtenen Verfügungen einen Eingriff in Art. 2, 3 und 8 des Genfer Verfassungsgesetzes von 1907 und in Art. 6, 61 und3 139 der Genfer Verfassung von 1847 enthalten. Die Bundesversammlung ist jedoch nicht kompetent, in die Prüfung dieser Frage einzutreten. Nach Art. 175, 178 und 189 des Organisationsgesetzes der Bundesrechtspflege hat das Bundesgericht als Staatsgerichtshof darüber zu urteilen. Die Auffassung des Rekurrenten, es habe ohne weiteres die Behörde, welche den kantonalen Verfassungen die bundesrechtliche Sanktion erteile, auch über Verletzungen der von ihr genehmigten Verfassung zu erkennen, ist eine irrtümliche.

Fernerhin ist festzustellen, dass es nicht Sache der Bundesversammlung sein kann, über die korrekte Anwendung des genferischen Gesetzes vom 25 Ventose XI zu wachen.

Wenn der Rekurrent endlich die Statuten der römischkath'olischen Kultusgemeinschaft Bernex zum Gegenstand seiner Kritik macht und dabei behauptet, es verstossen einzelne statutarische 'Bestimmungen gegen Art. 4 und 58 der Bundesverfassung, so ist wiederum unter Hinweis auf Art. 189 des Organisationsgesetzes zu bemerken, dass es .dem Bundesgerichto zusteht, über Verletzungen dieser Verfassungsvorschriften zu erkennen.

Da demnach unseres Erachtens die sachliche Unzuständigkeit Ihrer hohen Versammlung zur Behandlung des vorliegenden Rekurses ausser allem Zweifel steht, erscheint die Erörterung der

312 Fragen, ob nicht eventuell auch mangels Legitimation des Rekurrenten wegen Nichteinhaltung der Beschwerdefrist und wegen Nichterschöpfung des Instanzenzuges auf die Beschwerde nicht einzutreten sei, als überflüssig.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 18. März 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates., 0 ' Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schatzmann.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des Marc Héridier, Notar in Chêne-Bourg, betreffend die von der Gemeinde Bernex beschlossene und vom Staatsrat des Kantons Genf am 6. August 1909 genehmigte Übertragung des Eigentum...

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23.03.1910

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