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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des August Kaminsky, Glasmacher, von Gelguhnen, Ostpreussen, in Küssnacht, Kanton Schwyz, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache.

(Vom 21. Januar 1910.)

Der s c h w e i z e r i s c h e Bundesrat hat über die Beschwerde des A u g u s t K a m i n s k y , Glasmacher, von Gelguhnen, Ostpreussen, in Küssnacht, Kanton Schwyz, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst :

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Eingabe vom Juli oder August 1909 (das genaue Datum ist aus der Eingabe nicht ersichtlich, da dieselbe das offenbar unrichtige Datum vom 25. März 1909 trägt und ein Eingangsvermerk auf der Eingabe nicht angebracht ist) hat A u g u s t K a m i n s k y , Glasmacher, von Gelguhnen, Ostpreussen, in Küss-

186 nacht, Kanton Sehwyz, beim Regierungsrat des Kantons Unterwaiden nid dem Wald das Begehren gestellt, ,,es sei ihm zur Durchführung seines Unfallentschädigungsprozesses gegen Schweizerische Glasindustrie, Siegwart & Cie., A.-G., mit Sitz in Hergiswil, vor den kantonalen Gerichten die Rechtswohltat des prozessualen Armenrechts zu erteilen und ihm ein unentgeltlicher Rechtsbeistand beizugeben." Der Petent, der seinem Gesuch unter anderm zwei ärztliche Gutachten und einen Auszug aus dem Handelsregister beilegte, führte zur Begründung seines Begehrena aus, er habe am 10. Mai 1909 zwischen 7 und 8 Uhr abends> als Arbeiter der Schweizerischen Glasindustrie, Siegwart & Cie., Hergiswil, in ihrem Etablissement in Küssnacht einen Unfall erlitten. Beim Rundblasen sei infolge der grossen Anstrengung, die wegen der Qualität des Glases und der Pfeife nötig war, beim Petenten eine plölzliche traumatische Veränderung des Ausfuhrungsganges der linken Ohrspeicheldrüse eingetreten, die eine schwere, dauernde Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit zur Folge habe. Laut ärztlichem Gutachten betrage sie 30 bis 35 °/o des bisherigen Jahresverdienstes von Fr. 1550. Der Schaden betrage demnach für den zurzeit 34 Jahre alten Rekurrenten mehr ala das gesetzliche Schadenersatzmaximum von Fr. 6000. Die Schweizerische Glasindustrie, Siegwart & Cie., A.-G., unterstehe dem eidgenössischen Fabrik- oder dem erweiterten Haftpflichtgesetz.

Da sie sich weigerte, eine angemessene Entschädigungssummeauszurichten; sei Kaminsky gezwungen, den Prozessweg zu betreten. Der Petent besitze kein Vermögen und sei nicht imstande, ausser dem nötigen Lebensunterhalt auch noch die Prozesskosten aufzubringen.

Am 30. August 1909 beschied der Regierungsrat des Kantons.

U i;tei Bälden nid dem Wald das Gesuch des August Kaminsky al schlägig.

II.

Mit Eingabe vom 1. September 1909 beschwert sich August Kaminsky beim Bundesrat. Er stellt das Begehren, ,,es sei der Eegierungsratsbescheid des Regierungsrates von Unterwaiden nid dem Wald vom 30. August 1909, durch welchen dem Rekurrenten Kaminsky der unentgeltliche Rechtsbeistand in seinem Haftpflichtstreit gegen A.-G. Schweizerische Glasindustrie, mit Sitz in Hergiswil, Nidwaiden, verweigert wurde, aufzuheben, und es sei der Regierungsrat einzuladen, dem Rekurrenten gemäss Art. 6 der nidwaldnerischen
Vollziehungsverordnung und Art. 6 des erweiterten Haftpflichtgesetzes den unentgeltlichen Rechtsbeistand zugewähren. Unter Kostenfolge für den Opponenten.14 Zur Begründung;

187 dieses Antrages wird ausgeführt: Der Regierungsrat begründe die Verweigerung des Armenrechts damit, dass der Unfall nicht auf dem Gebiet des Kantons Unterwaiden nid dem Wald passiert sei und dass der Kläger auch nicht in diesem Kanton wohne.

Diese Begründung sei unstichhaltig. Massgebend sei nicht der Wohnsitz des Klägers, sondern der Wohnsitz des Beklagten. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte ihren Wohnsitz unbestrittenermassen in Hergiswil, Kauton Nidwaiden; sie besitze keine selbständige Filiale im Kanton Schwyz, müsse also vor den nidwaldnerischen Gerichten belangt werden. Die Bedürftigkeit des Klägers sei durch ein Zeugnis der Wohnsitzgemeinde Küssnacht ausgewiesen.

III.

Der Regierungsrat des Kantons Unterwaiden nid dem Wald beantragt in seiner Vernehmlassung vom 30. September 1909 mit Ergänzung vom 19. November 1909 im wesentlichen mit folgender Begründung Abweisung des Rekurses: Für die Eotscheiduug der Frage, welcher Kanton zur Erteilung des Armenrechts verpflichtet sei, komme es nicht auf den Wohnsitz der beklagten Unternehmung, sondern darauf an, in welchem Kanton der Unfall sich zugetrauen habe. Das ergebe sich schon daraus, dass nach der Fabrikgesetzgebung und nach dem Kreisschreibeo des Bundesrates vom 25. Oktober 1887 die Fabriken von den Behörden derjenigen Kantone zu beaufsichtigen sind, in deren Gebiet sie sich befinden. Es gehe vom Standpunkte der Gerechtigkeit aus nicht an, dass ein Kanton, der kein Recht habej die Fabriken anderer Kantone zu beaufsichtigen, dadurch ,,quasi bestraft werde", dass man ihn verhalte, auch für Unfälle, die sich ausserhalb seiner Kantonsgrenzen ereignen, das Armenrecht zu gewähren.

Kaminsky könne auch deshalb das Armenrecht nicht beanspruchen, weil sich seine Kluge schon nach vorläufiger Prüfung des Falles als unbegründet herausstelle. Das ärztliche Gutachten gebe zu,7 dass das Übel weiter zurückdatiere. Zudem werde die O Beklagtschaft nachweisen, dass der Rekurrent schon vor Jahren wegen Erweiterung der linken Ohrspeicheldrüse die Arbeit zeitweise einstellen musste.

Endlich weist der Regierungsrat darauf hin, dass Kaminsky nie im Kauton Nidwaiden wohnte und dass der Nachweis der BedUrfiigkeit nicht in rechtsgenüglicher Weise erbracht sei. Ein Arbeiter, der Fr. 15SO pro Jahr verdiene, gehöre nicht zu den Bedürftigen im Sinne des Gesetzes. Es sei dem Rekurrenten auch

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nicht möglich gewesen, ein Zeugnis seiner Heimatgemeinde, dass er kein Vermögen besitze, beizubringen. Das vom Rekurrenten produzierte Zeugnis der Bezirkskanzlei Küssnacht vom 21. Juli 1909, lautend : ,,Die unterzeichnete Amtsstelle bescheint hierdurch, dass Herr August Kaminsky, von Gelguhnen, Ostpreussen, derzeit Glasmacher in Küssnacht, soviel hierorts bekannt ist kein* Vermögen besitzt" werde sowohl formell als auch inhaltlich nicht anerkannt.

JV.

§ 7 der Verordnung des Kantons Nidwaiden vom 14. April betreffend die Haftpflicht lautet: ,,Für dürftige Arbeiter, welche nach Massgabe der zitierten eidgenössischen Gesetze Klage erheben und deren Erwerb und Vermögen nicht ausreicht, neben dem Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen die Prozesskosten zu bestreiten, übernimmt der Staat die Führung des Prozesses durch den Staatsanwalt oder einen vom Regierungsrate beauftragten Anwalt und die Kosten, sofern dieselben nicht der beklagten Partei auferlegt werden können.

,,Zum Ausweis der Bedürftigkeit seitens des Klägers ist ein .Zeugnis seiner Heimat- oder Wohngemeinde erforderlich. Bei Anständen über dessen Haftbarkeit entscheidet der Regieruugsrat.

Diese Rechtswohltat kann vom Regieruogsrate auch verweigert werden, wenn die Klage zum voraus sich als unbegründet herausstellt."

Das ärztliche Gutachten des Dr. S. Stocker jun. in Luzern, auf das sich der Regierungsrat des Kantons Nidwaiden beruft, lautet, soweit es hauptsächlich in Betracht fällt, wörtlich : ,,Es handelt sich hier zweifellos um eine Erweiterung des Ausführungsganges der linken Ohrspeicheldrüse, die, wenn die Angaben des K. richtig sind, plötzlich unter Schmerzen und Eintreten von Luft sich bemerkbar machte. Die Angaben des K. scheinen mir glaubwürdig. Er behauptet, dieselben noch durch zwei Zeugen bekräftigen zu können. Wenn wir auch annehmen, dass durch die länger dauernde, tägliche, starke Anstrengung beim Glasblasen eine Prädisposition zu dieser Erkrankung da war, wurde dieselbe doch erst durch diese einmalige stärkere Anstrengung so enorm, dass K. dadurch arbeitsunfähig wurde. Es hat deshalb das Reichsversicherungsamt am 8. August 1903 (Kaufmann, Handbuch etc.

1907, S. 23ti) in einem ähnlichen Fall, der, wie es scheint, noch geringer war wie der unsvige, eine Rente für Erwerbsunfähigkeit von 30 % zuerkannt. Ich taxiere deshalb die Erwerbsunfähigkeit des K. auf 30 bis 35 °/o.u 1888

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Das ebenfalls bei den Akten liegende Gutachten des Dr. Egli in Küssnacht, der den Rekurrenten am 11. Mai 1909 erstmals untersuchte, konkludiert dahin : ,,Der Unfall des Kaminsky ist durch Überanstrengung beim Blasen plötzlich entstanden.tt

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Nach Art. 6 des Bundesgesetzes über die Ausdehnung der Haftpflicht vom 26. April 1887 haben die Kantone dafür zu sorgen, dass den bedürftigen Personen, welche nach Massgabe dieses Gesetzes oder denjenigen vom 1. Juli 1875 und 25. Juni 1081 Klage erheben, auf ihr Verlangen, wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt, die Wohltat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen erlassen werden. Der Regierungsrat des Kantons Unterwaiden nid dem Wald hat nun in dem angefochtenen Entscheid vom 30. August 1909 angenommen, Voraussetzung dieser den Kantonen auferlegten Pflicht sei, dass der Unfall sich im Kanton zugetragen habe und dass der Kläger im Kauton wohne. Diese Argumentation ist unzutreffend. Wenn das Bundesgesetz den Erlass der Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen vorschreibt, so will es offenbar dazu jeweils denjenigen Kanton verpflichten, vor dessen Gerichten der Prozess geführt werden muss. Denn jeder Kanton kann nur die seinen eigenen Gerichtsbehörden nach Massgabe seiner Gesetzgebung zu entrichtenden Gebühren erlassen. Auch der unentgeltliche Rechtsbeistand ist von demjenigen Kanton zu gewähren, vor dessen Gerichten der Haftpflichtprozess geführt wird. Es wäre eine höchst unzweckmässige Einrichtung, wenn ein anderer Kanton als der des Gerichtsstandes den Anwalt bestellen müsste; denn er könnte nur die in seinem Gebiete wohnenden Anwälte zur Annahme dieses Mandates anhalten, und diese Anwälte stünden wiederum nicht unter der Aufsicht des Kantons, wo der Prozess geführt wird. Zudem wären sie selbst, wie auch der Kanton, der sie bestellt hat, mit dem Prozessverfahren des Prozesskautons nicht vertraut. Alles spricht also dafür, dass der Kanton, in dem der Prozess anhängig ist, den Armenanwalt bestelle.

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n.

Auch der Einwand, dass sich die Klage schon nach vorläufiger Prüfung des Falles als unbegründet herausstelle, ist unzutreffend. Das eine der beiden ärztlichen Gutachten konkludiert dahin, dass ein Unfall und nicht eine Berufskrankheit vorliege.

Das andere Gutachten schliesst auf einen durch Prädisposition begünstigten Unfall. Unter diesen Umständen kann jedenfalls nicht behauptet werden, die Klage stelle sich zum voraus als unbegründet heraus.

in.

Endlich ist seitens der rekursbeklagten Regierung der Einwand erhoben worden, der Kläger gehöre nicht zu den bedürftigen Personen. Dabei geht der Regierungsrat von der Annahme aus, der Kläger habe vor dem Unfall jährlich Fr. 1550 verdient. An Hand des ärztlichen Gutachtens muss angenommen werden, dass der Rekurrent infolge des erwähnten Vorfalles eine Erwerbseinhusse von 30 bis 35 °,'o erlitten hat, dass er demnach zurzeit jährlich noch Fr. 1000 bis 1100 zu verdienen imstande ist. Mit diesem Einkommen kann der Rekurrent neben dem nötigen Unterhalt nicht auch noch die Prozesskosten bestreiten.

Wenn daher die Angabe des Rekurrenten, er besitze kein Vermögen, richtig ist, so gehört er nach Massgabe des Bundesgesetzes zu den bedürftigen Personen.

Der Rekurrent stützt seine Behauptung, er besitze kein Vermögen, auf die bereits erwähnte Erklärung der Bezirkskanzlei Küssnacht. Der Regierungsrat des Kantons Nidwaiden erachtet diesen Ausweis nicht als genügend und verlangt, dass der Rekurrent auch ein Zeugnis seiner Heimatgemeinde vorlege. Dieses Verlangen steht mit dem Bundesrecht nicht im Widerspruch. Und da die Bezirkskanzlei Küssnacht das Zeugnis nur verklausuliert ausgestellt und damit angedeutet hat, dass sie nicht .in der Lage sei, über die Vermögensverhältnisse des Rekurrenten sichern Aufschluss zu geben, ist das Verlangen auch dann nicht willkürlich, wenn -- was der Regierungsrat des Kantons Unterwaiden nid dem Wald zu bestreiten scheint -- angenommen werden sollte, die Bezirkskanzlei sei die zur Ausstellung des Zeugnisses zuständige Behörde der Wohngemeinde des Rekurrenten. Der Regierungsrat darf mit der Bewilligung des Armenrechts zuwarten, bis der Rekurrent ein Zeugnis derjenigen Behörde beigebracht hat, die nao.h dem Rechte des Heimatstaates des' Rekurrenten zur Ausstellung der Bescheinigung, dass der Rekurrent kein Vermögen

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besitze, zuständig ist. Sobald das aber der Fall sein wird, ist der Regierungsrat verpflichtet, dem Rekurrenten das Armenrecht zu gewähren.

Demgemäss wird erkannt: Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen a b g e w i e s e n .

B e r n , den 21. Januar

1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des August Kaminsky, Glasmacher, von Gelguhnen, Ostpreussen, in Küssnacht, Kanton Schwyz, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache. (Vom 21. Januar 1910.)

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1910

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04

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26.01.1910

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185-191

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