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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung der Revision der luzernischen Staatsverfassung vom 3. März 1909.

(Vom 1. April 1910.)

Tit.

Mit Schreiben vom 26. Juli 1909 teilte uns der Regierungsrat des Kantons Luzern mit, der Grosse Rat habe am 3. März 1909 ein ,,Gesetz betreffend Ergänzung und Abänderung der Staatsverfassung des Kantons Luzern vom Jahre 1875 (Einführung der Verhältniswahl)" erlassen, das Volk habe dieses Gesetz in der Abstimmung vom 4. April 1909 mit 15,735 gegen 11,531 Stimmen angenommen, und der Grosse Rat habe es durch Dekret vom 3. Juni 1909 in Kraft erklärt.

Das neue Verfassungsgesetz schreibt das Verhältniswahlverfahren vor für die Wahl der Verfassungsräte und Grossräte, und es gestattet die Einführung dieses Verfahrens für die Wahl der Gemeindeausschüsse in den Einwohner-, Ortsbürger-, Korporations- und Kirchgemeinden. Für beide Fälle stellt es die Grundsätze des Verfahrens auf und verweist für die nähere Ausführung auf eine vom Regierungsrat zu erlassende Wahlanordnung.

I.

Was die erste Neuerung betrifft, so wurden bisher die Verfassungsrät und die Grossräte gemäss § 95, Abs. l, der Kantonsverfassung durch das absolute Mehr gewählt; nach den §§ l und 2 des Verfassungsgesetzes ist das Verhältnisverfahren anzuwenden,

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und zwar, wie in dea §§ 4--9 bestimmt wird, nach dem System der Listenkonkurrenz mit Ausschluss des Panaschierens und Kumulierens.

Gegen die Einführung des Verhältnisverfahrens zur Wahl des Verfassungsrates und des Grossen Rates ist von Bundesrechts wegen nichts einzuwenden. Die Bundesversammlung hat schon mehreremal kantonalen Verfassungsbestimmungen die Gewährleistung erteilt, welche den Grundsatz der Verhältniswahl aufstellten; wir verweisen auf die Zusammenstellung in unserm Rekursentscheid in Sachen Jahn vom 7. Juli 1900 (Bundesbl. 1900, III, 594) und auf die seitherigen Verfassungsvevisionen der Kantone Tessin (A. S. XXI, 299 ; Bundesbl. 1905,1, 759), Wallis (A. S. XXIV, 553 ; Bundesbl. 1907, V, 614), Schwyz (A. S. XXIV, 545; Bundesbl.

1907, VI, 1266). Der in den §§ l und 2 des luzernischen Verfassungsgesetzes niedergelegte Grundsatz steht also zweifellos mit dem Bundesrecht im Einklang, und es ist gegen die Gewährleistung dieses Teiles des Gesetzes keine Einsprache erhoben worden.

Das gleiche ist zu sagen von den in den §§ 4--9 aufgestellten Grundsätzen über das Verfahren. Die Unmöglichkeit, zu panasehieren, legt zwar dem Bürger einen empfindlichen Zwang auf, da er entweder für alle Kandidaten seiner Partei stimmen, oder ebensoviele Stimmen einbussen musa, als er Kandidaten streicht.

Wenn jedoch die Einfuhrung des Proportionalverfahrens bundesrechtlich zulässig ist, darf den Kantonen auch nicht verwehrt werden, das ihnen am meisten zusagende System zu wählen, sofern es nichts Willkürliches enthält; das ist aber hier nicht der Fall, da sowohl für das Verbot der Kumulation als auch für dasjenige, zu panaschieren, sachliche Gründe angeführt werden können.

Wir erblicken auch nichts Bundesrechtsvvidriges im § 10, nach welchem die jeweilige vom Regierungsrate zu erlassende Wahlanordnung das Nähere bestimmt, ohne dass es eines Ausführungsgesetzes oder sogar einer bleibenden Ausführungsverordnung des Regierungsrates bedürfte. Diese Delegation der Kompetenz zum Erlass von Ausführungsvorschriften in einer Materie, in der die Verfassung selbst schon die leitenden Grundsätze festgelegt hat, steht mit keinem Grundsatz des Bundesrechts im Widerspruch; Zweifel könnten bloss entstehen, wenn eine Kantonsverfassung der vollziehenden Behörde ohne weitere Direktive die Kompetenz delegierte, Über einen
Gegenstand, der nach allgemeiner Auffassung der Gesetzgebung angehört, von sich aus allgemein verbindliche Vorschriften zu erlassen.

Dagegen bedarf § 3 des Verfassungsgesetzes einer näheren Prüfung; er lautet:

597 § 3.

,,Wenn in (Einwohner-, Ortsbürger-, Eorporations- und Kirch-) Gemeinden mit weniger als sechshundert Stimmberechtigten wenigstens ein Drittel derselben, in Gemeinden mit sechshundert und mehr Stimmberechtigten mindestens zweihundert stimmberechtigte Bürger spätestens drei Monate vor der Gesamterneuerungswahl der Gemeinderäte mittelst Namensunterschrift ein Begehren um Anwendung des Verhältniswahlverfahrens auf die Wahl der Gemeindeausschusse (Rechnungskommission, in der Stadt Luzern Grosser Stadtrat etc.) stellen und in einer spätestens vierzig Tage nach erfolgter Unterschrifteneinreichung stattfindenden Gemeindeabstimmung mindestens ein Drittel der gültig Stimmenden sich für die Verhältniswahl ausspricht, so ist diese während der nächsten Amtsdauer für die Wahl der Gemeindeausschüsse anzuwenden.

Hat eine Gemeinde die Einführung der Verhältniswahl für die Wahl der Gemeindeausschüsse beschlossen, so findet die Verhältniswahl von Amtsdauer zu Amtsdauer so lange Anwendung, bis in einer auf das Begehren eines Drittels der Stimmberechtigten, bezw. von zweihundert Stimmberechtigten einberufenen Gemeindeversammlung mit mindestens zwei Drittel der gültig Stimmenden die Abschaffung der Verhältniswahl beschlossen wird.11

n.

Gegen diese Ordnung der Verhältniswahl in den Gemeinden hat sich der Stadtrat von Luzern in einer Eingabe vom 19. August 1909 an den Bundesrat gewendet, und gestutzt auf ein Gutachten von Dr. J. Wiokler das Gesuch gestellt, es sei dieser Bestimmung die eidgenössische Gewährleistung zu verweigern. Die Regierung des Kantons Luzern, der wir diese Einsprache mitgeteilt haben, hat uns am 23. November 1909 zur Widerlegung der erhobenen Einwendungen ein Gutachten von Professor Dr. L. R. von Salis eingereicht, mit dem Bemerken, sie schliesse sich diesem Gutachten in allen Teilen an. Beide Teile haben sodann noch ergänzende Gutachten der gleichen Verfasser vom 31. Dezember 1909 und 25. Januar 1910 eingereicht.

Der Stadtrat von Luzern hält sowohl den Grundsatz, dass die Abstimmung durch 200 Stimmberechtigte, ohne Rucksicht auf die Gesamtzahl der Stimmberechtigten, verlangt werden kann, als auch den Grundsatz, dass in der Genieindeabstimmung mit einem Drittel der Stimmenden gegen zwei Drittel über die Einführung der Verhältniswahl entschieden wird, für bundesrechtswidrig.

598 Der erste Grundsatz, sagt das vom Stadtrat vorgelegte Gutachten, führt im Kanton Luzern dazu, dass in den Gemeinden mit 600 oder weniger Stimmberechtigten ein Drittel, in der Gemeinde Luzern aber mit zirka 8000 Stimmberechtigten bloss ein Vierzigstel und in Kriens, der zweitgrössten Gemeinde, ein Siebentel der Wählerschaft die Gemeinde zur Abstimmung veranlassen kann.

Diese ungleiche Verhältniszahl widerspricht der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, die vor allem für die politischen Rechte zu gelten hat; besondere Gründe lassen sich für die ungleiche Verhältniswahl der Initianten nicht anführen ; die gleiche Bruchzahl, nehme man nun lla oder 1/s, hätte sich ohne Schwierigkeit durchführen lassen.

Der zweite Grundsatz verstösst gegen die Forderung des Art. 6 der Bundesverfassung, dass die kantonalen Verfassungen die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen sichern sollen. Zur republikanischen Staatsform gehört es vor allem, dass die Mehrheit entscheide, und zwar wie seinerzeit gegenüber Graubünden festgestellt wurde, die Mehrheit der Individuai-, nicht der Gemeindestimmen (Ullmer, I, Nr. 31). Die Bundesverfassung fordert es allgemein, für die Ausübung aller politischen Rechte. Das Stimmrecht in der Gemeinde ist so gut ein politisches Recht, wie das Stimmrecht im Kanton. Bei Beschlüssen über Formfragen, wie die Form der Abstimmung oder zur Herbeiführung von eigentlichen Beschlüssen, mag man einer Minderheit Rechte einräumen ; in Sachfragen aber, wie die der Proportionalwahl, steht die Entscheidung der Mehrheit zu. Deshalb hat die Bundesversammlung einem im Jahre 1906 angenommenen Artikel der Obwaldner Verfassung die Gewährleistung versagt, weil er einer Minderheit von Bürgern gestattete, die Ausführung der Gesetze und Verordnungen zu sistieren, und in ähnlicher Weise wurde bei der Gewährleistung der Urner Verfassungsrevision von 1892 ausgesprochen, dass der Wille der Mehrheit der stimmenden Bürger frei und ungehindert zum Ausdruck gelangen müsse (Salis, I, S. 235").

Es ist schon mit der Bundesverfassung nicht vereinbar, wenn eine Minderheit der Stimmberechtigten einer Gemeinde durch schriftliches Begehren die Einführung der Proportional wähl verlangen kann, wie es die Verfassungen von Zug und Wallis und das freiburgische Gesetz vom 19. Mai 1894 gestatten, namentlich wenn
die Minderheit nicht mehr als ein Zehntel ist; offenbar bundesverfassungswidrig ist es aber, dass eine Gemeinde zur Abstimmung zusammenberufen wird, damit das beschlossen werde, was die Minderheit will. Entweder soll der Kanton den Gemeinden das Wahlverfahren gebieterisch vorschreiben oder den Entscheid der Mehrheit in der Gemeinde überlassen. Die Regelung, die das

599 luzernische Verfassungsgesetz getroffen hat, steht auch mit der Autonomie der Gemeinden, wie sie bisher verfassungsgemäss bestanden hat, und wie sie in der Verfassung heute noch gewährleistet ist, in schroffem Widerspruch.

m.

Der Regierungsrat des Kantons Luzern erwidert hierauf durch das von ihm vorgelegte Gutachten, es sei nichts Bundesrechtswidriges, wenn der Kanton Luzern den Gemeinden die Wahl zwischen zwei Wahlverfahren lasse, und die Form, in der sich die Gemeinde darüber auszusprechen habe, sei ebensowenig bundesrechtswidrig. Die Verfassungen von Zug und Wallis, heisst es weiter, gestatten einer Minderheit der Stimmberechtigten, die Anwendung des Verhältniswahlverfahrens zu verlangen, und sie sind durch die Bundesversammlung gewährleistet worden. Das luzernische Verfassungsgesetz unterscheidet sich von jenen bloss dadurch, dass das Begehren der Initianten in einer Gemeindeabstimmung durch einen Drittel der Stimmenden unterstutzt werden muss. Eine eigentliche Willensäusserung und Beschlussfassung der Gemeinde ist das nicht, sondern die Ausübung einer Kollektivberechtigung der Bürger. Es ist richtig, dass die Vorschrift des § 3 über das Begehren auf Einführung der Verhältniswahl zwischen den Gemeinden mit mehr als sechshundert Stimmberechtigten und den andern eine Ungleichheit schafft; aber zwischen den kleinen und den grossen Gemeinden bestehen auch die mannigfachsten tatsächlichen Ungleichheiten, die die verschiedene rechtliche Behandlung durchaus rechtfertigeia; die Stimmberechtigten stehen sich in den kleinen Gemeinden viel näher als in grossen; die Unterschriften sind daher in jenen leichter zusammenzubringen, als in diesen. Die zweihundert Stimmen für Luzern finden übrigens ihre Analogie in den dreihundert Stimmen, die nach der städtischen Organisation für Einberufung einer Gemeindeversammlung nötig sind. Es wäre auch nichts dagegen einzuwenden, wenn für alle Gemeinden die gleiche absolute Stimmenzahl gefordert würde, so gut als in der Gemeindeversammlung selbst jeder einzelne Bürger, ohne Rücksicht auf die Grosse der Gemeinde, das Recht hat, eine Abstimmung zu veranlassen. Die Regelung, die die luzernische Verfassung getroffen hat, ist daher nicht KU beanstanden, um so weniger, als das der Minderheit eingeräumte Recht nicht entscheidenden, sondern nur vorbereitenden Charakter hat, also von untergeordneter Bedeutung ist.'

Was die Abstimmung selbst betrifft, so mag es im Grundsatze richtig sein, dass in der Republik die Mehrheit König ist;

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indessen stehen auch der Minderheit teils als solcher, teils in ihren Mitgliedern Rechte zu. Das Recht, das ihr die Luzerner Verfassung zugestehen will, bezieht sich allerdings nicht nur auf die Veranlassung eines Volksentscheides oder auf die Form der Abstimmung; daraus folgt aber keineswegs, dass diese Verfassungsvorschrift dem verfassungsmässigen Mehrheitsprinzipe widerspreche, weil Überhaupt nicht die Beschlussfassung eines staatlichen Organes in Frage steht. Die Verhältniswahl gilt in der Gemeinde kraft kantonaler Satzung ; nur der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verhältniswahl wird durch den Willen der Minderheit bestimmt. Die Gemeinde wird nicht einberufen zur Beschlussfassung, sondern damit die Minderheit die ihr eingeräumte Befugnis ordnungsgeraäss ausüben könne. Bei der Verfassung von Graubünden handelte es sich nicht um das Mehrheitsprinzip als solches, sondern um seine Tragweite; im Urner Fall wurde betont, dass stets der wahre Wille der Stimmenden zur Geltung kommen müsse, und die Obwaldner Verfassung wurde beanstandet, weil sie eine Minderheit zum Herrn über das Schicksal der durch die verfassungsmässige Mehrheit zustande gebrachten Gesetze machte. Keiner dieser Fälle liegt hier vor. Die Gemeindeautonomie endlich ist als solche durch die Bundesverfassung nicht gewährleistet, und wenn die Luzerner Verfassung, die sie bisher sanktionierte, sie durch eine spätere Bestimmung einschränkt, so ist hiergegen nichts einzuwenden.

IV.

Prüft man, ob die angefochtenen Vorschriften des luzernischen Verfassungsgesetzes mit den Grundsätzen der Bundesverfassung vereinbar seien, so ergibt sich folgendes: 1. Das Recht der Bürger, eine Gemeindeabstim muüg herbeizufuhren, ist ein politisches Recht, wenn es auch nur zur Vorbereitung eines Beschlusses dient, nicht zum Beschlüsse selbst.

Es muss in einer Weise geordnet werden, die vor dem Grundsatz; der Rechtsgleichheit standhält. Es wäre nun vom Standpunkte der Rechtsgleichheit nichts dagegen einzuwenden, dass einer Minderheit das Recht eingeräumt würde, eine Gemeindeabstimmung über die Einführung des Proportionalverfahrens zu verlangen; denn durch ein solches Begehren wird in der Sache selbst nichts entschieden und nichts präjudiziert. Wenn aber eine Minderheit dieses Recht haben soll, so muss sie in allen Gemeinden eines und desselben Kantons in
gleicher Weise bestimmt werden. Es geht nicht an, in den einen Gemeinden vorzuschreiben, dass ein Drittel der Stimmberechtigten das Initiativrecht haben solle, in den andern aber die feste Zahl von zweihundert. Wohl ist es

601 richtig, dass der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht die absolute, schablonenhafte Gleichheit fordert, sondern nur gleiche Rechtsgrundsätze für gleich geartete tatsächliche Verhältnisse. Wenn aber eine rechtliche Differenzierung eingeführt wird, muss sie sich auch durch erhebliche tatsächliche Verschiedenheiten rechtfertigen lassen, und wir sehen nicht ein, weiche erhebliche Verschiedenheit zwischen grossen Gemeinden mit mehr als 600 Stimmberechtigten und kleineren namhaft gemacht werden könnte, die die rechtsungleiche Behandlung zu rechtfertigen vermöchte. Der Unterschied, den das Gutachten der Luzerner Regierung erwähnt, dass nämlich die Unterschriften in kleineren Gemeinden relativ leichter zusammengebracht werden können, als in grossen, scheint uns nicht zuzutreffen; eher das Gegenteil wird der Fall sein. Die Verfassungen von Zug und Wallis haben beide einem bestimmten Prozentsatz der Stimmberechtigten, dem gleichen für alle Gemeinden, die Befugnis gegeben, die Verhältniswahl zu verlangen; das Freiburger Gesetz vom 19. Mai 1894 aber, welches den Prozentsatz mit zunehmender Bevölkerung der Gemeinden herabsetzt und die höchsterforderliche Zahl auf 25 festsetzt, hat als blosses Gesetz die eidgenössische Gewährleistung nicht erhalten und könnte noch gelegentlich im Wege des staatsrechtlichen Rekurses der Prüfung des Bundesrates und der Bundesversammlung unterbreitet werden.

Zudem trägt dieses Gesetz der verschiedenen Grosse der Gemeinden wenigstens dadurch Rechnung, dass es den Prozentsatz der Stimmberechtigten nach der Grosse der Gemeinden abstuft.

Wir halten daher dafür, dass die Regelung des Initiativbegehrens im § 3 des Luzerner Gesetzes mit dem Grundsatz des Art. 4 B. V. in Widerspruch steht.

2. Ob auch die weitere Bestimmung des Verfassungsgesetzes, dass in der Gemeindeabstimmung ein Drittel der gültig Stimmenden entscheidet, der Bundesverfassung widerspreche, mag zweifelhafter erscheinen. Es ist wohl nicht zu bestreiten, dass die republikanische Staatsform, wie sie Art. 6, lit. b, der Bundesverfassung vorschreibt, wie auch die Rechtsgleichheit im allgemeinen verlangen, dass die Mehrheit entscheide und nicht die Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufdränge. Jene Grundsätze der Bundesverfassung schliessen es zwar nicht aus, dass einer Minderheit gegenüber der Mehrheit
gewisse formelle Rechte eingeräumt werden, z. B. das Recht, eine bestimmte Art der Abstimmung zu verlangen, wie die Urnenabstimmung, statt des offenen Handmehrs; das Ergebnis der Abstimmung wird dadurch nicht beeinflusst, uud es wird der Minderheit dadurch auf das Ergebnis nicht ein grösserer Einfluss eingeräumt, als ihr im Verhältnis ihrer numerischen Stärke zukommt.

602 Die Verfassungen von Zug (§ 78, der Partialrevision von 1894) und von Wallis vom 8. März 1907 (Art. 87) gehen allerdings weiter; sie gestatten einer Minderheit von einem Zehntel und von einem Fünftel der Stimmberechtigten, die Anwendung des Proportionalverfahrens auf die Gemeindewahlen zu verlangen; sie geben also in jeder Gemeinde einer kleinen Minderheit die Entscheidung über die grundsätzliche Frage des Wahl Verfahrens in die Hand. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob es richtiger gewesen wäre, die Proportionalwahl entweder von Gesetzes wegen allen Gemeinden vorzuschreiben, wenn man in den Gemeinden nicht, wie über andere Fragen, die Mehrheit entscheiden lassen wollte. Es ist aber nicht zu verkennen, dass gerade im Grundsatz der verhältnismässigen Vertretung ein Moment liegt, das es zulässig erscheinen lässt, das erwähnte Recht einer Minderheit ohne weiteres einzuräumen. Deshalb wurde den beiden Verfassungen die eidgenössische Gewährleistung erteilt.

Eine derartige Befugnis gibt indessen die Luzerner Verfassung der Minderheit nicht. Sie gibt der Minderheit nicht das Recht, auf dem Wege der schriftlichen Initiative die Einführung des Proportionalverfahrens zu verlangen, sondern sie gestattet zuerst einem Drittel oder 200 Stimmberechtigten, eine Gemeindeabstimmung herbeizuführen, also eine Willensäusserung der ganzen Wählerschaft der Gemeinde, und in dieser Abstimmung lässt sie die Mehrheit gegenüber einer Drittelsminderheit unterliegen. Darin liegt nach unserm Dafürhalten ein Missbrauch der republikanisch demokratischen Formen. Nicht dass es einer Minderheit ermöglicht wird, die Anwendung eines ihr günstigen Wahlverfahrens zu bewirken, beanstanden wir, sondern dass man darrüber eine förmliche Abstimmung inszeniert, damit schliesslich doch das gelte, was die Mehrheit nicht gewollt hat. Das hat unverkennbar etwas Stossendes, wie die Regelung dieses ganzen Verfahrens etwas Gekünsteltes an sich hat. Die Stimmkraft des einzelnen Stimmberechtigten wird eine ungleiche, die Wirkung seiner Stimme wird verschieden, je nachdem er der Mehrheit oder der Minderheit angehört. Wenn man der Minderheit ein Sonderrecht einräumen wollte, verlangte es die republikanisch demokratische Staatsform, dass man sie allein zur Erklärung ihres Willens aufforderte, und nicht die ganze Gemeinde, deren Wille doch
nicht entscheiden soll.

Wenn man hiergegen einwendet, dass die Kantonsverfassung die Proportionalwahl jeder Gemeinde hätte vorschreiben können, ohne sie zu befragen, auch gegen den Willen aller Wähler einzelner Gemeinden, so bestreiten wir dies nicht; dieses Obliga-

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torium hätte allerdings auf den Willen der Gemeindemehrheit noch weniger Rucksicht genommen, als das gegenwärtige Verfassungsgesetz. Es hätte aber auch das Undemokratiache vermieden, das darin liegt, dass eine Gemeinde zur Entscheidung gerufen wird, damit die Minderheit der Mehrheit das Gesetz mache.

Wir sind daher der Ansicht, dass dem § 3 der Luzerner Yerfassungsrevision auch aus diesem Grunde die eidgenössische Gewährleistung nicht erteilt werden kann, und beantragen Ihnen, diese. Bestimmung nach beiliegendem Beschlussesentwurf von der Gewährleistung auszunehmen.

B e r n , den 1. April

1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

Bundesblatt.

62. Jahrg. Bd. II.

40

604 .

(Entwurf.)

Bundesbeschluss über

die Gewährleistung des Gesetzes betreffend Ergänzung und Abänderung der Staatsverfassung des Kantons Luzern vom Jahre 1875 (Einführung der Verhältniswahl).

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft und eines Antrages des Bundesrate» vom 1. April 1910 betreffend das in der Volksabstimmung vom 4. April 1909 angenommene Gesetz über die Ergänzung und Abänderung der Staatsverfassung des Kantons Luzern vom Jahre 1875 (Einführung der Verhältniswahl); in Erwägung: dass § 3 dieses Gesetzes mit den Art. 4 und 6, lit. b, der Bundesverfassung in Widerspruch steht; dass das Gesetz im übrigen nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung widerspräche 5 in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschliesst:

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1. Dem in der Volksabstimmung vom 4. April 1909 angenommenen Gesetze betreffend Ergänzung und Abänderung der Staatsverfassung des Kantons Luzern vom Jahre 1875 (Einführung der Verhältniswahl) wird, mit Ausnahme des § 3, die eidgenössische Gewährleistung erteilt.

2. Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

60)

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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend teilweise Revision der Bundesverfassung (Gesetzgebung über Automobil verkehr und Luftschiffahrt).

(Vom 22. März 1910.)

Tit.

I.

Am 9. Dezember 1908 reichten die Herren Nationalrat Walther und Mitunterzeichner dem Nationalrate eine Motion folgenden Wortlauts ein: ,,Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und ,,Bericht und Antrag vorzulegen, ob nicht die Bundesverfassung ,,in dem Sinne zu revidieren sei, dass die Grundlage für die ,,bundesgesetzliche Regelung des gesamten Automobilverkehrs ge,,schaffen würde."

Herr Walther begründete diese Motion in der Sitzung des Nationalrates vom 26. März 1909. Er führte in der Hauptsache aus, dass die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung des Automobilverkehrs allgemein anerkannt werde und dass sich auf eine Anfrage des Redners 16 Kantone ausdrücklich zu Anhängern der Idee bekannt haben. Was die Frage der Kompetenz des Bundes zu bezüglicher Gesetzgebung betreffe, so sei sie zum mindesten zweifelhaft. Der Bundesrat sollte daher eingeladen

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung der Revision der luzernischen Staatsverfassung vom 3. März 1909. (Vom 1. April 1910.)

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06.04.1910

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