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Kreisschreiben des

schweizerischen Bundesgerichtes an die schweizerischen Kantons- und Obergerichte, betreffend die genaue Angabe des Thatbestandes in den kantonalen Urtheilen.

(Vom 22. September 1882.)

Tit.

Der Artikel 30 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874*) enthält bezüglich der Stellung des Bundesgerichtes gegenüber Rechtsstreitigkeiten, welche nach Art. 29 leg. cit. an dasselbe weiter gezogen werden können, folgende Bestimmung : ,,Das Bundesgericht hat seinem Urtheile den von den kantonalen Gerichten festgestellten Thatbestand zu Grunde zu legen. Sollte aber über bestrittene Thatsachen, welche von entscheidendem Einfluß auf die Urtheilsfällung sind, durch die kantonalen Instanzen ein Beweis überhaupt nicht zugelassen worden sein, so kann das Bundesgericht eine Aktenvervollständigung durch die nämliche Instanz, welche das Urtheil gefällt hat, anordnen und hierauf ohne weitere Partei vorträge das Endurtheil erlassen.a Aus diesem Wortlaut, in Verbindung mit der bundesräthlichen Botschaft zu dem bezüglichen Gesetzesentwurf, in welchem der erste Theil obiger Vorschrift bereits enthalten war (Bundesblatt 1874, I, S. 1068 ff., 1089, Art. 26), ergiebt sich, daß das Bundesgericht in Fällen dieser Art keine eigentliche Appellationsinstanz ist, sondern daß es, unter Zugrundelegung des von den kantonalen Gerichten festgestellten Thatbestandes, lediglich die Frage der richtigen Anwendung des Gesetzes zu prüfen hat, mit alleiniger Ausnahme der Anordnung einer Aktenvervollständigung, wenn bestrittene erhebliche Thatsachen vom kantonalen Richter nicht dem Beweis unterstellt wurden.

*) Siehe eidg. Gesetzsammlung neue Folge, Band I, Seite 136.

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Der Grund, warum dem Bundesgerichte die thatsächliche Würdigung des Streitverhältnisses entzogen wurde, liegt in der Mannigfaltigkeit der kantonalen Prozeßformen, welche auch für das Bundesgericht maßgebend sein müßten und eine gleichförmige Praxis ausschließen würden, sowie in dem Umstände, daß das kantonale Akten material keineswegs immer zur Würdigung der faktischen Verhältnisse genügen würde, indem z. B. die Zeugenverhöre nicht in allen Kantonen protokollirt werden.

Um so mehr muß das Bundesgericht darauf halten, wenn es der ihm durch Verfassung und Gesetz zugewiesenen Aufgabe nach jeder Richtung nachkommen soll, daß die kantonalen Gerichte im Sinne des Art. 30 leg. cit. in ihren Urtheilen den jeweiligen Thatbestand, der dem Prozesse zu Grunde liegt, genau angeben, indem Lücken oder Unrichtigkeiten leicht von Nachtheil für die Rechtsprechung der oberen lastanz werden können. (Vergleiche auch Geschäftsbericht des Bundesgerichtes pro 1881, Bundesblatt II, S. 697 ff.). Da bis anhin die kantonalen Urtheile in dieser Beziehung hie und da zu wünschen übrig gelassen haben, die Sache aber mit ·dem Inkrafttreten des schweizerischen Obligationenrechts doppelte Wichtigkeit erhält, so glauben wir, Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf diesen Punkt richten zu müssen, dies um so mehr, als nach Art. 29 leg. cit., im Einverständnisse beider Parteien, auch erstinstanzliche kantonale Haupturtheile, mit Umgehung einer .zweiten Instanz in den Kantonen, sofort an das Bundesgericht gezogen werden können, Art. 30 leg. cit. also auch von den erstinstanzliehen Gerichten zu befolgen ist in all' denjenigen Rechtsstreitigkeiten, welche nach Art. 29 der Berufung an das Bundesgericht fähig sind.

Damit der angeführten Gesetzesbestimmung in genügender Weise nachgelebt werde, ist es daher nothwendig, daß die kantonalen Urtheile, wenn auch in gedrängter Darstellung, genaue und vollständige Angaben enthalten über: 1) die Anträge der Parteien; 2) die zur Begründung derselben von den Parteien angeführten Thatsachen ; 3) die Vorgänge des Verfahrens, namentlich die aufgenommenen Beweise und das Resultat derselben; 4) die dem Rechtsstreite zu Grunde liegenden Thatsacheu, wie sich dieselben nach der Würdigung des Richters als Ergebniß der Verhandlungen und insbesondere der Beweisaufnahmen darstellen.

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Nur aus einem so festgestellten Thatbestand kann das Bundesgericht mit Sicherheit entnehmen, was von den kantonalen Gerichten zu entscheiden war und inwieweit wegen mangelhafter Auffassung der Thatsachen oder unrichtiger Anwendung des Gesetzes Grund zur Abänderung des Urtheils gegeben ist.

Ebenso ist es selbsverständlich, daß das kantonale Urtheil, da, dasselbe in that sächlich er Beziehung die Basis für die Beurtheilung in der obern Instanz bilden soll, stets einen vollständigen Thatbestand enthalten muß, und sich nicht auf diejenigen faktischen Punkte beschränken darf, welche nach der Auffassung des kantonalen Richters erheblich sind, indem hei abweichender Beurtheilung durch das Bundesgericht auch der übrige thatsächliehe Inhalt von Bedeutungwerden kann.

Dabei ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß auf vorangegangene Zwischenurtheile oder auf Urtbeile einer frühem Instanz oder anderweitige vorliegende Aktenstücke Bezug genommen werde, nur nicht in der Art, daß durch bloße Bezugnahme der Thatbestand unverständlich wird.

Da die bezeichneten Erfordernisse durchaus nichts Besonderes verlangen, sondern nur das enthalten, was nach allgemeinen prozessualischen Grundsätzen in jedem korrekten Urtheil gefunden werden soll, so zweifeln wir nicht daran, daß es bei gutem Willen auch denjenigen Gerichten leicht möglich sein wird, der erwähnten Gesetzesvorschrift nachzukommen, deren Urtheile sich bisher mit derselben nicht im Einklang befanden.

Indem wir Sie daher ersuchen, diesem Kreisschreiben sowohl für Ihre eigenen Urtheile, soweit es nicht schon bisher geschehen ist, als auch für diejenigen der ersten Instanzen Nachachtung verschaffen zu wollen in all' denjenigen Rechtsstreitigkeiten, welche an das Bundesgericht weiter gezogen werden können, legen wir zur Mittheilung an die in Frage kommenden Gerichtsbehörden eine Anzahl Exemplare desselben bei.

Genehmigen Sie bei diesem Anlaße die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

L a u s a n n e , den 22. September 1882.

Im Namen des schweizerischen Bundesgerichtes : Der Präsident,

Haus Weber.

Der G e r i c h t s s c h r e i b e r , Rott.

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Kreisschreiben des

Bundesrathes an sämmtliche eidgenössischen Stände, betreffend die Werbungen nach Egypten.

(Vom 13. Oktober 1882.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Nachdem als ziemlich sicher angenommen werden darf, daß die Werbungen nach Egypten, welche mit ziemlichem Erfolg betrieben zu werden scheinen, es, wenn nicht ausschließlich, so doch der Hauptsache nach auf Individuen abgesehen haben, welche in der Schweiz den Rekrutenunterricht durchmachten und sich hierüber durch ihre Militärdienstbüchlein ausweisen können, glauben wir, dem Fortgange jener Werbungen nicht mehr ruhig zusehen zu sollen.

Wenn auch vor der Hand noch dahingestellt bleiben mag, in wie weit auf Werber und Angeworbene die Bestimmungen des Werbegesetzes anwendbar sind, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß der, ohne Erlaubniß der kompetenten Behörde erfolgte, Uebertritt eingetheilter schweizerischer Militärpflichtiger in die Dienste eines fremden Staates als etwas schon vom rein militärischen Staudpunkte aus durchaus Unstatthaftes anzusehen ist.

Durch die Bundesverfassung von 1874 und die in Ausführung, derselben erlassenen Gesetze ist das Band zwischen dem Bund und dem militärpflichtigen und militärisch geschulten schweizerischen Angehörigen ein weit engeres geworden, als es früher war. Dieser wird auf Kosten des Bundes instruirt, gekleidet und ausgerüstet; er darf nicht einmal seinen Aufenthalt in der Schweiz ändern, ohne-:

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Kreisschreiben des schweizerischen Bundesgerichtes an die schweizerischen Kantons- und Obergerichte, betreffend die genaue Angabe des Thatbestandes in den kantonalen Urtheilen. (Vom 22. September 1882.)

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1882

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49

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14.10.1882

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6-9

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