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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die zwischen der Schweiz und Italien am 8. November 1882 abgeschlossene Uebereinkunft über die gegenseitige Bewilligung des Armenrechtes im Prozeßverfahren.

(Vom 21. November 1882.)

Tit.

Mit Note vom 13. September 1881 machte uns die italienische Gesandtschaft die Mittheilung, daß durch königliches Dekret vom 6. Dezember 1865 den Armen in Italien der unentgeltliche Beistand vor den Gerichten zugesichert sei, und zwar ohne irgend welchen Unterschied zwischen den Angehörigen des Landes und den Fremden, und daß die königliche Regierung kürzlich durch einen Beschluß der Deputirtenkammer augehalten worden sei, dahin zu wirken, daß die Italiener in denjenigen Staaten, wo sie in dieser Beziehung ungleich behandelt seien, unter den gleichen Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Staates zur unentgeltlichen Verbeiständung vor den Gerichten, bei denen sie ihre Rechte geltend machen müssen, zugelassen werden. In Folge dessen sei die Gesandtschaft von ihrer Regierung beauftragt worden, den Abschluß einer Convention zwischen der Schweiz und Italien zum Zwecke der Sicherung der gleichen Behandlung der Schweizer und Italiener zu beantragen.

Wir glaubten diese Anregung nicht ablehnen zu sollen, und erklärten uns daher mit der Einführung der gegenseitigen Gestattung des Armenrechtes einverstanden. Dagegen mußten wir gleichzeitig

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darauf hinweisen, daß die konstitutionellen Verhältnisse der Schweiz es uns zur Pflicht machen, eine solche Vereinbarung nur durch einen förmlichen Staatsvertrag unter Vorbehalt der Ratifikation der gesetzgebenden Rälhc einzugehen.

Die italienische Regierung ging auf diesen Standpunkt ein und präsentirte uns ein Projekt, das analog sei mit dem Ueberein kommen, welches über diese Materie zwischen Italien einerseits und Frankreich, Belgien, Monaco, Serbien und Rumänien andererseits abgeschlossen worden.

Dieses Projekt hat zum Abschlüsse einer Uebereinkunft geführt, welche am 8. November 1882 zwischen den beidseitigen Bevollmächtigten unterzeichnet worden ist und hiermit Ihrer Prüfung und Genehmigung unterstellt wird.

Mit dieser Uebereinkunft wird gegenseitig den Angehörigen des andern Staates die Bewilligung des Armenrechtes zugesichert. Wir müssen aber sogleich betonen, daß dieses Recht nicht bloß den Angehörigen des einen Staates, welche im Gebiete des andern wohnen, zusteht; vielmehr haben z. B. auch die Schweizer, welche in der Schweiz oder in einem dritten Staate wohnen, aber in die Lage kommen, ihre Rechte vor den Gerichten in Italien geltend zu machen, Anspruch auf das Annenrecht und umgekehrt die Italiener in der Schweiz. Das Armenrecht erstreckt sich jedoch nur auf diejenigen Vortheile, welche die Gesetze einem Inländer mit der Bewilligung des Armeurechtes gewähren. Die einzige positive Bestimmung geht dahin, daß die beidseitigen Angehörigen, denen das Armenrecht bewilligt worden ist, von Kautionen oder Vorschüssen befreit sind, welche nach einzelnen Gesetzgebungen von den Fremden bestellt werden müssen, um gegen die eigenen Landesangehörigen Prozeß führen zu können.

Die formellen Erfordernisse sind sehr einfach. Es ist lediglich ein Armutszeugniß nöthig, das von der Behörde am ordentlichen Wohnsitze des Petenten ausgestellt sein muß. Wohnt er im gleichen Lande, wo er den Prozeß führen will, so kann das Gericht nähere Erkundigungen über seine Vorhältnisse in der Heimat erheben.

Wenn er nicht in dem gleichen Lande wohnt, so muß das Arrnutszeugniß von dem diplomatischen Repräsentanten des Landes, in welchem es gebraucht werden will, bestätigt und unentgeltlich beglaubigt werden.

Die Schweiz hat bis jetzt einzig mit Frankreich eine vertragsmäßige Vereinbarung über gegenseitige Gewährung des Armeurechtes eingegangen. Sie ist enthalten im Artikel 14 des Vertrages über die civilrechtlichen Verhältnisse vom 15. Juni 1869, dahin lautend :

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,,Die Schweizer in Frankreich und die Franzosen in der Schweiz haben Anspruch auf gerichtliche Verbeiständung in Gemäßheit der Gesetze des Landes, in welchem sie die Verbeiständung verlangen.

Jedoch soll neben den Förmlichkeiten, welche jene Gesetze vorschreiben, die Armut noch außerdem durch Urkunden der kompetenten Behörden der Heimat der betreffenden Partei konstatirt werden.

,,Diese Urkunden hat der diplomatische Agent des andern Landes zu legalisiren und seiner Regierung zu übermitteln." (Amtl.

Samml. Bd. IX, S. 1002.)

Dieser Artikel ist dem wesentlichen Inhalte nach übereinstimmend mit der Uebereinkunft, welche uns gegenwärtig beschäftigt. Es ist bloß der Prozeßkautionea und der Vorschüsse darin nicht erwähnt.

Allein hierauf bezieht sich der Artikel 13 des gleichen Vertrages mit Frankreich, wonach von einem Franzosen, der in der Schweiz eine Klage anheben will, keine andere Gebühr, Kaution oder Hinter^ läge verlangt werden darf, als eine solche, die nach den Gesetzen des betreffenden Kantons auch von Schweizern anderer Kantone gefordert wird und umgekehrt die Schweizer in Frankreich nur die Gebühren, Hinterlagen oder Kautionen leisten müssen, denen auch die Franzosen nach französischen Gesetzen unterworfen sind.

Nach diesem Vorgange mit Frankreich glauben wir die Frage, ob der Bund kompetent sei, eine solche Uebereinkunft abzuschließen, nicht weiter erörtern zu sollen. Wir dürfen sie als definitiv in bejahendem Sinne erledigt betrachten. Uebrigcns ist kaum zu denken, daß auch ohne diesen Vorgang die eidgenössischen Käthe einem Uebereinkomrnen ihre Zustimmung versagen könnten, das dazu bestimmt ist, die im Verkehr unter den Staaten allgemein anerkannte Pflicht zur gegenseitigen Gewährung der Rechtshülfe, auch den Armen und Dürftigen zu siehera, zumal nach unsern Erfahrungen die Kantone schon jetzt allen Staaten gegenüber die Beobachtung des Gegenrechtes in Bezug auf Armenrecht und Prozeßkautionen gewähren können und durch die vorliegende Uebereiokunft mit Italien ihre Gesetze gewahrt bleiben. Der praktische Vortheil dieser Uebereinkuuft reduzirt sich daher so ziemlich darauf, daß für die Beobachtung des Gegenrechtes und die Formen zur Sicherung desselben allgemeine Regeln aufgestellt werden, und daß nicht mehr für den einzelnen Fall das Gegenrecht konstatirt werden muß.

Wir schließen mit dem Antrage, Sie möchten der beiliegenden Uebereinkunft Ihre Genehmigung ertheilen.

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Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommensten Hochachtung.

B e r n , den 21. November 1882-.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Bavier.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

(Entwurf)

Bundes beschluß betreffend

die Ratifikation der am 8. November 1882 mit Italien abgeschlossenen Uebereinkunft Über die gegenseitige Bewilligung des Armenrechtes im Prozeßverfahren.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrathes vom 21. November 1882, beschließt: Art. 1. Der zwischen der Schweiz und Italien am 8. November 1882 abgeschlossenen Uebereinkunft betreffend die gegenseitige Bewilligung des Armenrechtes im Prozeßverfahren wird hiemit die vorbehaltene Ratifikation ertheilt.

Art. 2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Uebereinkunft zwischen

der Schweiz und Italien, betreffend die gegenseitige Bewilligung des Armenrechtes im Prozeßverfahren.

(Vom 8. November 1882.)

Der Bundesrath der schweizerischen Eidgenossenschaft und Seine Majestät der König von Italien,

von dem gemeinsamen Wunsche geleitet, den dürftigen Bürgern beider Staaten gegenseitig den Vortheil der unentgeltlichen Rechtshilfe vor den Gerichten zu sichern, haben sich geeinigt, zu diesem Zwecke eine Uebereinkunft abzuschließen, und als ihre Bevollmächtigten ernannt : Der Bundesrath der schweizerischen Eidgenossenschaft: Herrn Bundesrath L o u i s R u c h o n ne t, Chef des eidg. Justiz-und Polizeidepartements ; Seine Majestät der König von Italien: Herrn Graf A l e x a n d e r Fé d ' O s ti a n i , außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister bei der schweizerischen Eidgenossenschaft, welche nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten über folgende Artikel sich geeinigt haben :

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Artikel I.

Die Schweizer genießen in Italien und die Italiener genießen in der Schweiz den Vortheil der unentgeltlichen Verbeiständung vor Gericht, gleich wie die Landesangehörigen, wenn sie die jeweilen in Kraft bestehenden Gesetze des Landes beobachten, in welchem das Armenrecht nachgesucht wird.

Art. II.

In allen Fällen soll das Armutszeugniß dem Fremden, welcher das Armenrecht verlangt, von den Behörden seines gewöhnlichen Wohnsitzes ausgestellt werden.

Wohnt er nicht in dem Lande, in welchem das Begehren gestellt wird, so soll das Armutszeugniß von dem diplomatischen Agenten des Landes, in welchem dasselbe gebraucht werden will, bestätigt und unentgeltlich beglaubigt werden.

Wohnt der Fremde in dem Lande, wo das Begehren gestellt wird, so können außerdem bei den Behörden seines Heimatlandes Erkundigungen eingezogen werden.

Art. III.

Die Schweizer, welchen in Italien, und die Italiener, welchen in der Schweiz die Vortheile des Armenrechtes bewilligt worden sind, werden von Rechts wegen von jeder Bürgschaft oder Hinterlage hefreif, die unter irgendwelcher Bezeichnung von den Fremden, welche gegen Landesangehörige einen Rechtsstreit führen, gemäß der Gesetzgebung des Landes, wo die Klage augestellt \vird, sonst gefordert werden können.

Art. IV.

Die vorstehende Uebereinkunft ist für die Dauer von fünf Jahren, vom Tage des Ratifikationsaustausches an, abgeschlossen.

In dem Falle, wo keine der beiden hohen kontrahireuden Parteien ein Jahr vor dem Ablaufe dieses Termins die Absicht kundgegeben, ihre Wirkung aufzuheben, soll die Uebereinkunft in Kraft bestehen bis nach geschehener Kündigung Seitens des einen oder des andern Theiles ein Jahr verflossen sein wird.

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Art. V.

Diese Uebereinkunft soll der Ratifikation der kompetenten Behörden unterstellt werden.

Sie tritt mit dem Tage der Auswechslung der Ratifikationsurkunden, welche so bald als möglich in Bern stattfinden wird, in Kraft.

Zur Urkunde dessen haben die beidseitigen Bevollmächtigten diese Uebereinkunft unterzeichnet und ihre Siegel beigedrückt.

So geschehen in B e r n den achten November eintausend achthundert zwei und achtzig (8. November 1882).

(L. S.)

(Sig.) L. Ruchomiet.

(L. S.) (Sig.) Fé.

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Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die zwischen der Schweiz und Italien am 8. November 1882 abgeschlossene Uebereinkunft über die gegenseitige Bewilligung des Armenrechtes im Prozeßverfahren. (Vom 21. November 1882.)

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