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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend authentische Interpretation des den Gesellschaftssitz bestimmenden Art. 3 der Konzession der Eisenbahn Martigny-Qrsières.

(Vom 30. Dezember 1913.)

Durch Bundesbeschluss vom 23. Juni 1904 (E. A. 8. XX, 144) haben Sie einem Initiativkomitee die Konzession für den Bau und Betrieb einer Eisenbahn von Martigny nach Orsières erteilt.

Diese Eisenbahn ist seit dem Monat September 1910 im Betrieb.

Zwischen der Bahngesellschaft und der Gemeinde MartignyVille ist nun eine Meinungsverschiedenheit entstanden in bezug auf die Bestimmung des Gesellschaftssitzes, d. h. die Interpretation des Art. 3 der Konzession, der wie folgt lautet : "Der Sitz der Gesellschaft ist in Martigny."

Es gibt im Wallis mehrere Gemeinden mit dem Namen Martigny : Martigny-Ville, Martigny-Bourg, Martigny-Combe und Martigny-Bâtiaz.

Die Gemeinde Martigny-Ville beansprucht den Gesellschaftssitz für sich allein, indem sie behauptet, dass unter dem Worte ,,Martigny" im Art. 3 der genannten Konzession Martigny-Ville zu verstehen sei.

In einem Rekurs an den Bundesrat vom 25. Februar 1911 macht diese Gemeinde im wesentlichen folgendes geltend : Gegen Ende Februar 1909 erhielten die Gemeinden des Namens Martigny ein Rundschreiben, in dem die Gesellschaft der Eisenbahn Martigny - Orsières die Absicht kundgab, ihren Gesellschaftssitz auf dem Gebiete einer der mit dem Namen Martigny bezeichneten Gemeinden zu nehmen. Indem die Gesellschaft darauf aufmerksam machte, dass die Steuern an die Gemeinde des Gesellschaftssitzes zu zahlen seien, ersuchte sie die Gemeinden Martigny, ihr Vorschläge zu machen, die es ermöglichen würden,

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den von der Gesellschaft zu bezahlenden Steuerbetrag zum voraus für eine Zeitdauer von 20 Jahren festzusetzen und gab dabei zu verstehen, dass sie ihren Gesellschaftssitz in derjenigen Gemeinde Martigny nehmen werde, in der die Leistungen am erträglichsten sein würden.

Die Gemeinde Martigny-Ville liess dieses Gesuch unbeantwortet und beschränkte sich darauf, den Gesellschaftssitz für sich allein zu beanspruchen.

Gegen Ende des Jahres 1910 machte die Gesellschaft dann durch Anzeigen im S c h w e i z . H a n d e l s a j n t s b l a t t , im B u l l e t i n o f f i c i e l du V a l a i s und in anderen Zeitungen bekannt, dass ihr Gesellschaftssitz Martigny-Bourg sei.

Die Gemeinde Martigny-Ville erachtet diese Massnahme als ungesetzlich. Nach ihrer Ansicht hatte die Gesellschaft nicht das Recht, ihren Gesellschaftssitz selbst zu bestimmen, da nach Art. 8 des Bundesgesetzes über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. Dezember 1872 ,,der Sitz der Gesellschaft jeweilen in der Konzession bestimmt wird". Es könne nun aber kein Zweifel darüber bestehen, welches die Absicht der Bundesversammlung gewesen sei, als sie die Konzessionsbestimmung ,,Der Sitz der Gesellschaft ist in Martignytt genehmigt habe. Die Bundesversammlung habe die Gemeinde Martigny-Ville, und nur diese, bezeichnen wollen.

Die Rekurrentin macht ferner folgendes geltend : Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird die Gemeinde Martigny-Ville meistens ganz kurz als ,,Martignya bezeichnet. Dieser Gebrauch beruht auf mancherlei Gründen. Martigny-Ville ist der Hauptort des Bezirkes. Die meisten Gewerbetreibenden und Kaufleute geben in ihren Reklamen, sowie in den Eintragungen im Handelsregister ^Martigny" als den Ort ihres Domiziles an. Martigny-Ville ist seit undenklicher Zeit Sitz der Kirchgemeinde, die alle benachbarten Gemeinden umfasst. Der Untersuchungsrichter, das Bezirksgericht halten ihre Sitzungen in Martigny-Ville. Der Bezirkspräfekt hat hier sein Domizil. Martigny-Ville besitzt die Station der Bundesbahnen. Die Briefe, die mit der blossen Bezeichnung ,,Martigny"eintreffen, werden Martigny-Ville zugewiesen usw.

Die Eisenbahngesellschaften werden gewöhnlich in der Weise bezeichnet, dass die Namen der Gemeinden angegeben werden, in denen die Kopfstation und die Endstation der Linie liegen, z. B.

Martigny-Châtelard, Monthey-Champéry,
usw. Die Gesellschaft der Eisenbahn Martigny-Orsieres hat sich dieser Übung angeschlossen.

Unter ,,Martignytt hat auch sie Martigny-Ville verstanden, das allein Kopfstation ist.

29 Die Rekurrentin stellt den Antrag, der Bundesrat möge nach Massgabe der Konzession vom 23. Juni 1904 Mârtigny-Ville als Sitz der Eisenbahngesellschaft Martigny-Orsières bezeichnen und anordnen, dass die in den genannten Zeitungen veröffentlichten Anzeigen in diesem Sinne berichtigt werden.

Der Staatsrat des Kantons Wallis, dem das Eisenbahndepartement die erwähnte Rekurseingabe am 10. März 1911 zur Vernehmlassung mitteilte, hat sich mit Schreiben vom 19. Oktober 1912 wie folgt ausgesprochen : ,,Es gibt im Wallis drei Gemeinden mit dem Namen Martigny, nämlich Mârtigny-Ville, Martigny-Bourg und Martigny-Combe.

Die Bezeichnung Mârtigny wird auf alle diese Gemeinden angewendet. Unter diesen Umständen nahen wir vom kantonalen Standpunkte aus in bezug auf das Gesuch der Gesellschaft der Eisenbahn Martigny-Orsières keine Bemerkungen zu machen.

Wir legen unserm Schreiben eine Denkschrift bei, die von der Gemeinde Martignj'-Bourg in Beantwortung des Gesuches der Gemeinde Martigny-Ville unserm Departement der Öffentlichen Arbeiten mit dem Ersuchen eingereicht worden ist, sie der Bundesbehörde zu übermitteln."

Unter Bezugnahme auf den Rekurs der Gemeinde MartignyVille und die obenerwähnte Vernehmlassung des Staatsrates des Kantons Wallis ersuchte das Eisenbahndepartement die Gesellschaft wiederholt um Einreichung eines Gesuches um Abänderung ihrer Konzession im Sinne einer genauen Bezeichnung ihres Gesellschaftssitzes.

Nach mehrmaligem Briefwechsel teilte die Gesellschaft dem Departement mit Schreiben vom 4. September 1913 mit, die Bezeichnung von Martigny-Bourg als Sitz der Gesellschaft stehe im Einklang mit der Konzession, weshalb kein Grund vorliege, diesen Sitz zu verlegen. Sie bestritt übrigens der Gemeinde Martigny-Ville jede Berechtigung, sie zur Bestimmung eines neuen Sitzes anzuhalten.

Sodann hat die Gesellschaft in einer an den Bundesrat gerichteten Denkschrift vom 20. November 1913 in Beantwortung des Rekurses der genannten Gemeinde im wesentlichen folgendes eingewendet : Der Bundesrat, führt sie aus, ist nicht kompetent, auf den Rekurs einzutreten. Es handelt sich nicht um eine Beschwerde gegen eine Eisenbahngesellschaft, die die ihr nach der Konzession und nach den gesetzlichen Vorschriften (Art. 28 des Bundesgesetzes über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. De-

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zember 1872) obliegenden Verpflichtungen nicht erfüllt. Selbst wenn der im Art. 28 des genannten Gesetzes angeführte Fall vorläge, würde der Entscheid nicht dem Bundesrate, sondern der Bundesversammlung zustehen (Art. 28 in fine). Im Art. 8 des genannten Gesetzes ist gesagt: ,,Der Sitz der Gesellschaft wird jeweilen in der Konzession bestimmt"'. Nun hat die Konzession der Eisenbahn Martigny-Orsieres ihn durch die Angabe von ,,Martigny" bestimmt. Die Gesellschaft ist daher in ihrem Rechte, da die Kantonsregierung erklärt, dass die Bezeichnung ,,Martignya auch auf Martigny-Bourg Anwendung finde.

Da die Bestimmung des Gesellschaftssitzes durch die Bundesbehörde stattgefunden hat, so ist die Rekurrentin nicht berechtigt, wegen der von der Kantonsregierung gegebenen Interpretation des Wortes ,,Martigny a Beschwerde zu führen.

Die Inkompetenz des Bundesrates in dem von der Rekurrentin eingeschlagenen Verfahren geht übrigens schon daraus hervor, dass sich deren Beschwerde nicht auf die Nichtbeachtung bundesgesetzlicher Vorschriften über das Eisenbahnwesen, sondern auf eine angebliche Zuwiderhandlung der Gesellschaft gegen die das Handelsregister betreffenden Vorschriften des schweizerischen Obligationenrechtes stützt. Die Gesellschaft hat sich im Handelsregister gemäss Art. 865 des alten Obligationenrechtes eintragen lassen ; sie hat als ihren Sitz Martigny-Bourg bezeichnet, auf das die Benennung ,,Martigny" ebenso Anwendung findet, wie auf Martigny-Ville. Die Rekurrentin hat es unterlassen, nach Massgabe der vom Bundesrat in Anwendung des schweizerischen Obligationenrechtes aufgestellten besondern Vorschriften gegen diese Eintragung Beschwerde zu führen. Auf den Rekurs ist daher nicht einzutreten, denn der Bundesrat entscheidet nur über Rekurse gegen die Beschlüsse der kantonalen Aufsichtsbehörde über das Handelsregister (siehe Reglement betreffend das Handelsregister, Art. 25 und 26).

Eventuell ist der Rekurs als unbegründet abzuweisen, da nach der Interpretation der kantonalen Regierung die Benennung ,,Martignytt auch für Martigny-Bourg gilt.

Übrigens liegt das Hauptgebäude der Gesellschaft in MartignyBourg. Sie besitzt kein Gebäude auf dem Gebiete von MartignyVille, auch kein Bureau oder sonst eine Einrichtung. Der fiskalische Standpunkt der Gemeinde Martigny-Ville vermag ihre Handlungsweise
keineswegs zu rechtfertigen.

Dies ist in Kürze der Inhalt der Denkschrift, die von der Gesellschaft der Eisenbahn Martigny-Orsieres in Beantwortung des vorliegenden Rekurses eingereicht worden ist.

31 Der · Bundesrat hält sich nicht für zuständig, über diesen Rekurs zu entscheiden. Nach seiner Ansicht ist es Sache der Bundesversammlung, die die Konzession vom 23. Juni 1904 erteilt hat, den Art. 3 der genannten Konzession zu interpretieren.

Dieser Art. 3 lautet : ,,Der Sitz der Gesellschaft ist in Martigny".

Wie bemerkt, hat das Eisenbahndepartement die Gesellschaft wiederholt aufgefordert, ein Gesuch um Abänderung ihrer Konzession im Sinne einer genauen Bestimmung ihres Gesellschaftssitzes einzureichen. Statt dieser Aufforderung nachzukommen, hat die Gesellschaft behauptet und behauptet auch jetzt noch, dass sie der Konzession gemäss gehandelt habe, als sie zu ihrem Sitze Martigny-Bourg bestimmte.

Obwohl die Kantonsregierung das Wort ,,Martignya in dem Sinne ausgelegt hat, dass es auf alle Gemeinden mit dem Namen tt in ihrer Gesamtheit und auf jede einzelne für sich flMartigny anwendbar sei, halten wir dafür, dass es Sache der Bundesversammlung sei, dieses Wort authentisch zu interpretieren.

Nun ist zu sagen, dass man im gewöhnlichen Sprachgebrauche in der Schweiz im allgemeinen unter ,,Martigny" die Stadt Martigny, welche Hauptort des Bezirkes ist, versteht.

Der Art. 3 der Konzession ist daher in dem Sinne zu interpretieren, dass der Sitz der Gesellschaft in Martigny-Ville sein soll.

Aus dieser Interpretation folgt, dass die Gesellschaft der genannten Eisenbahn zu ihrem Gesellschaftssitz Martigny-Ville bestimmen und sich demgemäss im Handelsregister hätte eintragen lassen müssen.

Das Publikum hat ein Interesse daran, den Sitz einer industriellen Gesellschaft genau zu kennen.

Die Gesellschaft selbst hat die Notwendigkeit anerkannt, ihren Sitz genau zu bestimmen, da sie ihn im Handelsregister ausdrücklich mit Martigny-Bourg bezeichnet hat.

In Zürich z. B. wird eine in dieser Stadt niedergelassene Gesellschaft im Handelsregister immer mit der genauen Bezeichnung des Stadtviertels, in dem sie ihren Sitz hat (Zürich I, Zürich II usw.) eingetragen.

Mit Rücksicht auf die vorstehenden Ausführungen empfehlen wir Ihnen die Annahme des folgenden Beschlussesentwurfes betreffend Interpretation des Art. 3 der Konzession der Eisenbahn Martigny-Orsières vom 23. Juni 1904.

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Wir benützen diesen Anlass, Sie, Tit., unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 30. Dezember 1913.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Müller.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

(Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

authentische Interpretation des Art. 3 der Konzession der Eisenbahn Martigny-Orsières vom 23. Juni 1904.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht 1. einer Rekurseingabe der Gemeinde Martigny-Ville, vom 11. Februar 1911; 2. einer Denkschrift der Gesellschaft der Bisenbahn MartignyOrsières vom 26. November 1913; 3. des Berichtes und Antrages des Bundesrates vom 30. Dezember 1913, beschliesst: 1. Artikel 3 der Konzession der Eisenbahn Martigny-Orsières vom 23. Juni 1904 (E. A. S. XX, 144) ist in dem Sinne aufzufassen, dass der Sitz der Gesellschaft in Martigny-Ville ist.

2. Artikel 3 dieser Konzession erhält demnach folgenden Wortlaut : ,,Der Sitz der Gesellschaft ist in Martigny-Ville.u 3. Der Bundesrat ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses, der am 1914 in Kraft tritt, beauftragt.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend authentische Interpretation des den Gesellschaftssitz bestimmenden Art. 3 der Konzession der Eisenbahn Martigny-Qrsières. (Vom 30. Dezember 1913.)

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07.01.1914

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