119 Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

L a u s a n n e , den 27. Februar 1914.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichtes, Der Präsident:

G. Favey.

Der Gerichtsschreiber : Huber.

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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Volksbegehren um Einführung der Verhältniswahl für die "Wahlen in den schweizerischen Nationalrat.

(Vom 16. März 1914.)

Am 26. September 1913 haben wir Ihnen über den Eingangeines Volksbegehrens auf Abänderung der Bundesverfassung im Sinne der Einführung der Verhältniswahl des Nationalrates Bericht erstattet. Danach war das Volksbegehren von 122,631 Unterschriften von Schweizerbürgern begleitet; hiervon sind 122,080 als gültig anerkannt worden. Das Volksbegehren war somit als zustandegekommen zu betrachten.

Mit Schlussnahmen vom 5. und 11. Dezember v. J. haben Sie von unserm Berichte am Protokoll Vormerk genommen und uns eingeladen, die durch das Volksbegehren aufgeworfene Frage materiell zu prüfen und darüber zu berichten.

Das Begehren hat folgenden Wortlaut: ,,Art. 73 der Bundesverfassung ist aufgehoben und wird ,,durch folgenden Artikel ersetzt: ,,,,Die "Wahlen in den Nationalrat sind direkte. Sie finden ,,,,nach dem Grundsatze der Proportionalität statt, wobei jeder ,,,,Kanton und jeder Halbkanton einen Wahlkreis bildet.

120 ti-n Die Bundesgesetzgebung trifft über die Ausführung dieses ^,,Grundsatzes die nähern Bestimmungen. v.u.

Wir beehren uns, dem uns erteilten Auftrage ·o' mit nachstehenden Ausführungen nachzukommen.

I.

Wir bringen zunächst in Erinnerung, dass ein gleichlautendes Initiativbegehren in der Volksabstimmung vom 4. November 1900 bei einer Stimmbeteiligung von 56 °/o mit 244,666 gegen 169,008 Stimmen und 111/z gegen 10 */« Standesstimmen abgelehnt worden ist.

Ein im Jahre 1909 eingereichtes, von 142,263 Unterschriften unterstütztes Initiativbegehren unterscheidet sich von demjenigen des Jahres 1900 und dem heute in Frage stehenden nur dadurch, dass die Ausführung des verfassungsmassigen Grundsatzes bis zum Erlass des vorgesehenen Bundesgesetzes durch eine bundesrätliche Verordnung vorgesehen und die erstmalige Anwendung des proportionalen Wahlverfahrens für die Gesamterneuerung des Nationalrates im Jahre 1911 vorgeschrieben war. Dieses Initiativbegehren ist ' in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1910 bei einer Stimmbeteilignng von 60 % mit 265,194 gegen 240,305 Stimmen verworfen worden, wogegen 12 Standesstimmen für und 10 gegen die Vorlage sich aussprachen.

Wir haben mit Botschaft vom 25. Februar 1910 die Gesichtspunkte entwickelt, aus denen wir glaubten, gegen das Initiativbegehren Stellung nehmen zu sollen. Die Bundesversammlung hat ihm ebenfalls nicht zugestimmt und dem Volke Verwerfung beantragt. Man könnte nun versucht sein, einfach auf jene einlässliche Berichterstattung des Bundesrates zu verweisen, von dem Gedanken geleitet, dass voraussichtlich wenig Argumente vorgebracht werden können, die nicht schon in der Botschaft und in der sich anschliessenden Diskussion der beiden Räte erörtert worden wären. Allein sowohl die Wichtigkeit der Sache als der Respekt vor dem durch die Unterschriftensammlung ausgewiesenen Willen eines sehr erheblichen Teils des Schweizervolkes Hessen es uns angezeigt erscheinen, dass die ganze Frage nochmals einlässlich geprüft und das Ergebnis dieser Untersuchung eingehend erörtert werde. Dabei erlauben wir uns freilich in bezug auf die geschichtliche Darstellung der gesetzgeberischen Bestrebungen auf Einführung der Verhältniswahl im Bund, in den Kantonen und im Auslande auf die Ausführungen der Botschaft vom 25. Februar 1910 zu verweisen und uns auf einige kurze Nachträge zu beschenken.

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Seit dem Jahre 1910 ist in der S t a d t Z ü r i c h durch die neue Gemeindeordnung die Wahl des Grossen Stadtrates nach dem Grundsatz der Verhältniswahl festgesetzt worden, und es hat die Erneuerungswahl dieser Behörde im Frühjahr 1913 bereits nacli dem neuen Wahlverfahren stattgefunden. Das Verfahren ist dasjenige der Listenkonkurrenz mit der Möglichkeit des Panaschierens und des auf zweimalige Wiederholung beschränkten Kumulierens. Die Verteilung der Restmandate erfolgt durch Teilung: der Stimmenzahl jeder Liste durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen Vertreter und Zuweisung an diejenigen Listen,, welche je den grössten Quotienten auf weisen. Es ist ein Quorum für den einzelnen Kandidaten von 150 Stimmen eingesetzt.

Im K a n t o n Z ü r i c h sind keine gesetzlichen Bestimmungen erlassen worden, die auf das Verhältniswahlverfahren Bezug haben, dagegen sind verschiedene auf die Einführung der Verhältniswahl zielende Entwürfe zu einem neuen Wahlgesetz ausgearbeitet worden.

Im Kanton L u z er n ist die Verhältniswahl durch das Verfassungsgesetz vom 3. März 1909 für den Verfassungsrat und den Grossen Rat eingeführt worden. Es legt die Hauptgrundsätze, insbesondere über die Ausrechnung des Wahlergebnisses und die Verteilung, fest und bestimmt in § 10, dass die jeweilen vom Regierungsrat zu erlassende Wahlanordnung 1 das Nähere über das Verfahren festsetze. Der Regierungsrat hat am 15. März 1911 in Vollziehung der Verfassungsvorschrift diese Anordnung erlassen.

Das gewählte System ist dasjenige der Listenkonkurrenz mit Ausschluss des Panaschierens und Kumulierens. Hervorzuheben ist, dass die Verteilung der Restmandate in der Weise erfolgt, dass das erste zu vergebende Mandat der Wahlliste zugeteilt wird, die die absolute Mehrheit der im ganzen Wahlkreis abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigt; weitere Mandate werden denjenigen Listen zugeteilt, die bei Teilung der Wahlzahl in die Zahl der für die Listen abgegebenen Stimmen je den grössten Bruch aufweisen.

Im Kanton B a s e l S t a d t ist am 9. März 1911 ein neues Wahl- und Abslimmungsgesetz erlassen worden, das indessen, soweit die Verhältniswahl in Frage kommt, keine wesentlichen Neuerungen enthält. Das Verfahren für die Wahl des Grossen Rates und des weitern Burgerrates der Stadt Basel ist dasjenige der Listenkonkurrenz
mit der Möglichkeit des Panaschierens und des auf dreimalige Wiederholung beschränkten Kumulierens. Die Verteilung der Restmandate erfolgt i a der Weise, dass die Stimmenzahl jeder Liste jeweils durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen Mitglieder geteilt und der za

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vergebende Sitz je der Liste mit dem grössten Quotienten zugeteilt wird.

Im Kanton St. G a l l e n ist durch die Verfassungsnovelle vom 5. Februar 1911 das proportionale Wahlverfahren für die Mitglieder des Grossen Rates und des Verfassungsrates eingeführt worden. Durch das Gesetz vom 24. November 1911 ist das Verfahren der Listenkonkurrenz mit Ausschluss des Kumulierens «ingeführt; das Panaschieren wird insoweit beschränkt, als Stimmzettel, die weniger als die Hälfte der Wahlkandidaten einer Wahlliste enthalten, und bei denen zudem die weggelassenen Wahlkandidaten dieser Wahlliste durch solche anderer Wahllisten ersetzt sind, als Listenstimmen ungültig erklärt werden.

Die Restmandate werden denjenigen Listen zugeteilt, welche die grössten Stirn in enreste aut'weisen.

Im Kanton W al li s liegt gegenwärtig der Entwurf einer Verfassungsänderung, durch welchen für die Grossratswahlen das Verhältniswahlverfahren vorgeschrieben wird, beim Grossen Rate.

Die zweite Lesung dieser Vorlage ist für die diesjährige Frithjahrstagung vorgesehen. Im übrigen besteht bekanntlich auf Grund des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen vom 23. Mai 1908 ·die Möglichkeit, das Verhältniswahlverfahren für Gemeinde- und Burgerratswahlen einzuführen, falls Vs der Wähler es verlangt. Das System ist dasjenige der Listenkonkurrenz mit der Möglichkeit des Panaschierens, dem Kumulationsverbot und einem ListeuQuorum von 20 % der gültigen Stimmen für die Wahlen in den Gemeinde- und Burgerrat und von 10 °/o für solche in den Generalrat.

Im Kaiiton N e u e n b u r g , in dem zurzeit die Verhältuis·wahl durch das Gesetz vom 22. November 1894 geordnet ist, haben anlässlich der letzten Bestellung der Gemeindebehörden mehrere grössere Gemeinden, insbesondere Neuchâtel, Le Lode, La Chaux-de-Fonds, das Verhältniswahlverfahren für die Wahl ihrer Generalräte zur Anwendung gebracht.

Im Kanton G e n f ist durch die Verfassungsgesetze vom 21. April und vom 10. November 1912 und die Ausführungsgesetze vom 28. Juni und S.November 1913 sowohl für die Grossratswaiilen als für die Munizipalräte, soweit letztere überhaupt nach Verhältniswahlverfahren gewählt werden, ein ListenQuorum eingeführt worden, in der Weise, dass diejenigen Listen, welche nicht mindestens 7 °/o der gültigen Stimmen erlangt haben, bei der Zuteilung der Mandale ausser
Betracht fallen.

Was die Entwicklung des Proportionalitätsgedankens bei politischen Wahlen im A u s l a n d anbelangt, so ist in Ergänzung des in der Botschaft vom 25. Februar 1910 Ausgeführten

123 der neuesten Bewegung für Einführung des VerhältniswahlVerfahrens hei den Wahlen in die Abgeordnetenkammer in F r a n k r e i c h zu gedenken. Die Wahlen von 1910 hatten den Anhängern der Wahlreform im Sinne der Verhältniswahl eine ganz entschiedene Mehrheit in der Kammer verschafft. Die Regierung legte am 30. Juni 1910 den Entwurf zu einem Wahlgesetz vor, nach welchem die Mitglieder der Abgeordnetenkammer ,,nach dem System der Listenwahl mit verhältnisrnässiger Beteiligung der Minderheiten" gewählt werden. Wahlkreise sind die Departemente. Wenn jedoch die Zahl der zu wählenden Abgeordneten höher ist als 15 und geringer als 4, so kann ein Departement in mehrere Kreise geteilt oder mit benachbarten Departementen vereinigt werden. Der Wahlquotient wird mittelst Teilung der Gesamtzahl der eingeschriebenen Wähler durch die Zahl der in dein Wahlkreis zu wählenden Abgeordneten festgestellt. Kumulation ist ausgeschlossen. Die Restmandate werden an diejenigen Kandidaten verteilt, die die höchste Stimmenzahl auf sich vereinigen, auf welcher Liste sie auch stehen mögen.

Tn der Beratung hat die Regierungsvorlage eine wesentliche Umgestaltung erlitten. Jedes Departement bildet einen Wahlkreis..

Der Wahlquotient wird mittelst Teilung der Gesatntzahl der Stimmenden durch die Zahl der zu wählenden Abgeordneten erreicht. Die Restmandate werden nach folgenden Grundsätzen verteilt: Die Listenverbindung innerhalb des Wahlkreises mit Rücksicht auf die Ausnutzung der Reste ist zulässig; zunächst erhalten die verbundenen Listen soviel Mandate, als die Summe der verbundenen Reste den Wahlquotienten enthält ; dann wird ein Sitz derjenigen Liste oder Listenverbindung zugeteilt, die die absolute Majorität der Stimmenden aufweist, es sei denn, dass diese Liste oder Listenverbindung bereits die absolute Mehrheit der Zahl der Sitze erreicht haben sollte ; allfällige weitere Sitze werden unter die Listen oder Listenverbindungen auf Grundlage der Durchschnittszahlen verteilt, wobei der Durchschnitt mittelst Teilung der Stimmenzahl durch die Zahl der zugeteilten Sitze plus l ermittelt wird. Die Verteilung der Sitze, die verbundenen Listen zugeteilt wurden, erfolgt ebenfalls auf Grundlage der Durchschnittszahlen. Der erste der zu verteilenden Sitze wird der Liste oder Listenverbindung zugeteilt, die die grösste Durchschnittszahl
aufweist ; weisen mehrere Listen oder Listenverbindungen die grösste Durchschnittszahl auf, so wird der Sitz derjenigen zugeteilt, die die grösste Stimmenzahl aufweist.

Die von der Deputiertenkammer am 10. Juli 1912 angenommene Wahl vorläge ist vom Senat am 18. März 1913 und neuerding« wieder am 9. März laufenden Jahres abgelehnt worden.

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Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Konflikt zwischen den beiden Kammern noch nicht ausgeglichen.

II.

Die Verhältniswahl ist dasjenige Wahlverl'ahren, welches den in einem bestimmten Wahlkövper vorhandenen Gruppierungen politischer, wirtschaftlicher, sozialer Art, Interessenverbindungen, Vereinigungen mehr neutraler Natur etc. au einem ihrer Stärke entsprechenden und von dem Willen der in diesem Wahlkörper bestehenden Mehrheit unabhängigen Anteil an dessen Vertretung gewährleistet.

Der Gedanke, dass die in dein Wahlkörper vorhandenen Strömungen, auch wenn sie sich nicht zur Mehrheit durchringen können, in der Volksvertretung in dem ihrer Stärke entsprechenden Masse zur Geltung zu kommen haben, dass eine gleichmässige Berücksichtigung aller derjenigen Gruppierungen Platz greifen müsse, die Träger dieser Strömungen sind, hat zweifellos etwas Bestechendes an sich. Einer Idee, welche sich an die Gefühle der Gerechtigkeit und Billigkeit wendet und mit Erfolg die dem bestehenden Wahlverl'ahren innewohnenden Härten und die mit ihm getriebenen Missbräuche in Gegensatz zu dieser Gerechtigkeit und Billigkeit stellt, kommt, es kann das nicht geleugnet werden, eine grosse Werbekraft zu. Dass sie aber, wie behauptet werden will, die logische Ausbildung des Gedankens der Volksvertretung und eine natürliche Folge unserer verfassuhgsmässigen demokratischen Grundsätze sei, kann nicht zugegeben werden.

Der Grundsatz der Gleichberechtigung, angewendet auf das Wahl- und Abstimmungsrecht, kann niemals dahin führen, dass itile Bürger, oder alle diejenigen Bürger, denen kraft verfassuugsmässiger oder gesetzlicher Vorschriften das aktive Wahlrecht zukommt, auch das Recht auf tatsächliche Vertretung haben.

Wäre das richtig, so müssten zum voraus alle auf dem Grundsatz der Verhältniswahl oder demjenigen der sogenannten Minderheitsvertretung beruhenden bekannten Wahlverfahren als verfassungswidrig erklärt werden. Denn es besteht kein solches, welches vermöchte, jedem in Minderheit stehenden Bürger zu einer tatsächlichen Vertretung zu verhelfen. Von einem auf tatsächliche Vertretung gehenden I n d i v i d u a l r e c h t kann keine Rede sein.

Wie beim Abstimmungsrecht, erschöpft sich auch beim Wahlrecht die Berechtigung darin, gleichmässig an den Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen. Sowenig diese Teilnahme an den Abstimmungen gegebenenfalls zu einem tatsächlichen Erfolge fuhrt, sowenig ist das bei der Beteiligung an den Wahlen der Fall.

Wir anerkennen durchaus den sanz natürlichen Unterschied

125 zwischen Wahlen und Abstimmungen. Wir gehen also keineswegs so weit, aus dem Umstände, dass nach demokratischen Grundsätzen bei Abstimmungen die Mehrheit König sein rnuss, den Folgesatz ableiten zu wollen, dass nach den gleichen demokratischen Grundsätzen bei Wahlen das Mehrheitsprinzip Anwendung finden müsse. Allein wir können nicht zugeben, dass die'Nichtgewährleistung eines tatsächlichen Wahlerfolges ein Einbruch in den Grundsatz der verfassungsmässigen Gleichberechtigung sei.

Wenn, immer vom Standpunkt der verfassungsmässigen Rechtsgleichheit aus, verlangt wird, dass bei der Wahl in die gesetzgebende Behörde die Vertreter so bestellt werden müssen, dass sie die Ansichten und Richtungen der Wähler als ihrer A u f t r a g g e b e r vertreten, so ist diese Auffassung schon deshalb nicht haltbar, weil der Abgeordnete im Parlament nicht der Vertreter und Beauftragte seines Wählers ist. Es hiesse seine Stellung herabmindern, wollte man in ihm nur das Sprachrohr und den Willensvollstrecker der Wähler erblicken. Gemäss Art. 91 Bundesverfassung stimmen die Mitglieder beider Räte ohne Instruktionen ; man kann sie also auch nicht auf einem Umwege zu blossen Beauftragten degradieren.

Aber auch wenn man von einem eigentlichen Auftragsverhältnis absieht und den Nachdruck darauf verlegt, dass durch ·die Verhältniswahl ein m ö g l i c h s t g e t r e u e s A b b i l d der im Volke vorhandenen Meinungen, der politischen und wirtschaftlichen Strömungen hervorgebracht werden solle, vermögen -wir die Richtigkeit dieser Auffassung nicht anzuerkennen. Man setzt dabei unseres Erachtens Verhältnisse voraus, wie sie in Tat und Wahrheit nicht bestehen ; man will die Volksvertretung zum Abbild aller im Volke lebendigen Strömungen im verjüngten Masstab gestalten und muss dabei abstellen auf viel zu wenig abgeklärte, viel zu wenig durchsichtige und viel zu wenig stabile Verhältnisse, als dass auf diesem Wege ein richtiges Bild erreichbar wäre. Die Strömungen im Volke sind absolut keine einheitlichen, genau abgrenzbaren; sie sind so mannigfach, sich widersprechend und durchkreuzend, so viele Abstufungen und Schattierungen aufweisend, dass es völlig ausgeschlossen ist, sie auch nur einigermassen vollständig und zuverlässig in der Volksvertretung wiederzugeben. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, auch nur die wichtigeren
vertretungswürdigen Strömungen und Interessen finden ihren Ausdruck in den uns geläufigen Parteiprogrammen und können in dem Mosaik einer auf diesen Parteiprogrammen sich aufbauenden Volksvertretung zum Ausdruck gelangen. Es bestehen in heutiger Zeit nicht mehr lediglich einige nach grossen kulturellen Gesichts-

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punkten geschiedene Parteien ; die wirtschaftlichen Fragen führen stets zu neuen Gruppierungen, fast in vorderste Linie treten die beruflichen, lokalen und Standesinteressen; alle diese verschiedenen Richtungen laufen bunt neben- und übereinander, verbinden sich und lösen sich und sind einem fortwährenden Wechsel unterworfen. Man muss daher zum vorneherein darauf verzichten, sie alle oder auch nur die wichtigeren Strömungen vertreten zu sehen. Will oder muss man sich dagegen nur auf die Vortretung einiger grosser politischer, kulturelle]1 oder wirtschaftlicher Strömungen beschränken, so leidet doch wohl dei1 Grundgedanke der Verhältniswahl Schiffbruch. Dazu kommt, dass nicht alle im Volke vorhandenen Strömungen so abgeschlossen sind, dass der Wähler, der sich für sie entscheidet, nicht Gefahr liefe, durch diesen Entscheid andern Strömungen, für die er ehenfalls Interesse hat, direkt entgegenzuarbeiten. Vor allem ist das der Fall bezüglich derjenigen Strömungen und Interessen, denen nur eine vorübergehende Bedeutung zukommt. Der Wähler, der wegen eines einzelnen Programmpunktes sich für eine bestimmte Liste entschieden hat, muss es unter Umständen über sich ergehen lassen, dass, nachdem dieses eine Postulat seine Erledigung gefunden hat, andere Fragen in einer seinen Interessen und Sympathien geradezu widersprechenden Art und Weise gelöst werden. All das kann ja freilich unter der Mehrbeitswahl auch vorkommen allein die Gefahr ist weniger gross, wenn sich diese Strömungen und Gegenströmungen irn Innern des Parteilebens geltend machen können. Unter der Herrschaft der Verhältniswahl bedeutet es einen erheblichen Mangel des Systems und beweist das Unzutreffende in der Konstruktion der Volksvertretung als Spiegelbild aller im Volke lebendigen Strömungen und Interessen.

Der Gedanke einer Vertretung a l l e r im Volke vorhandenen Strömungen ist aber auch von einem andern Gesichtspunkte aus anfechtbar. Es heisst doch wohl, dem Staate Unmögliches zumuten, wenn er Bestrebungen, die offensichtlich auf seine Zerstörung hinarbeiten, soweit als berechtigt anerkennen soll, dass sie in der Volksvertretung zum Worte kommen sollen ; der Staat kann doch nicht ein Element, das seine eigene Negation bedeutet, als Glied der staatlichen Einrichtungen gewährleisten. Und was von der Gegnerschaft gegen den Staatsbegriff
als solchen gilt, muss auch gelten von der Staatsform, die verfassungsgemäss festgestellt ist, vom unantastbaren Bestände des betreffenden Staatswesens. Revolutionäre Bestrebungen, die auf die Zertrümmerung des Staates, auf den Umsturz der Staatsform, auf die Lostrennung

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einzelner Teile vom Staate hinzielen, anarchistische, royalistische, irredentistische Strömungen sind keine schütz- und vertretungswürdigen Strömungen. Hier hat also der Grundsatz der Verhältniswahl haltzumachen. Darüber ist wohl in unserm Lande alles einig, keineswegs aber in andern Ländern, und es muss zugestanden werden, dass auch in dieser Richtung die Durchführung des Grundsatzes vom photographischen Abbilde aller im Volke zutage tretenden Strömungen versagt.

Von einem getreuen Abbilde der im Volke vorhandenen,, vertretungswürdigen Strömungen zu sprechen, wäre übrigens nur möglich, wenn gleichzeitig die Erfüllung der Wahlpflicht in einer völlig einwandfreien Form sichergestellt würde. Solange Wahlrecht und Wahlpflicht nicht gleichgeordnet sind, also nicht tatsächlich dafür gesorgt ist, dass die gleichmässige Verkündung der Anhängerschaft für gewisse Ideen durch den Wahlakt erfolgt, solange kann von einer der Stärke dieser Anhängerschaft entsprechenden Vertretung nicht die Rede sein. Solange wird dieBestellung der Volksvertretung allen Zufälligkeiten ausgesetzt und das Abbild der tätsächlich vorhandenen Strömungen verfälscht sein. Dies wird namentlich dann in verstärktem Masse zutreffen, wenn damit eine weitere Fehlerquelle, die Einteilung des Landes in Wahlkreise, verbunden wird, und wenn in diesen Wahlkreisen^ bald eine Wahlpflicht i'estgesetzt und ihre Erfüllung sichergestellt, bald von jeder Wahlpflicht abgesehen wird.

Diese Aussetzungen grundsätzlicher Natur, die am.Verhältniswahlverfahren gemacht werden können, berechtigen nun freilich nicht, ohne weiteres den Stab über das System als solches zu brechen. Wenn wir dafürhalten, dass die Versuche scheitern müssen, es auf dem Boden der Verfassung als notwendige Folge verfassungsmässiger Garantien oder Individualrechte zu begründen, so ist damit noch nicht gesagt, dass nicht Zweckmilssigkeits- und Billigkeitsgrilnde politischer Art für die Neuerung ins Feld gefuhrt werden können.

Es wird unsere Aufgabe sein, auch diese zu prüfen, die Lieht- und Schattenseiten der sich gegenüberstehenden Wahlarten, Majoritätswahl- und Verhältniswahlsystem, abzuwägen und uns dann insbesondere zu fragen, ob die Verhältniswahl in der praktischen Ausgestaltung, wie sie in dem uns vorliegenden Volksbegehren gefunden hat, w ü n s c h b a r erscheint und sich angesichts der bei uns sich darbietenden verfassungsrechtlichen und tatsächlichen!

Verhältnisse als eine N o t w e n d i g k e i t erweist.

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ni.

Wenn in eine objektive Prüfung der Vorteile und Nachteile der Verhältniswahl eingetreten werden will, so muss man sich xum vornherein darüber klar sein, dass man sich nicht darauf beschränken kann, den allgemeinen Grundsatz zu würdigen, sondern «dass es notwendig ist, im Zusammenhang damit die verschiedenen Ausgestaltungen ins Auge zu fassen, die das System in der Gesetzgebung gefunden hat. Es kann dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass die Vorwürfe, die dem Verhältniswahlverfahren gemacht werden, sich häufig direkt widersprechen, und dass umgekehrt ihm manche segensreiche Folgen zugeschrieben werden, von denen die eine die andere ausschliesst. Das ist ganz natürlich. Es gibt nicht ein Verhältniswahlverfahren, sondern eine ganze Reihe solcher, und je nachdem das eine oder andere Ziel, der eine oder andere Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt, die eine oder andere Folge des Systems zu vermeiden gesucht, oder aber vernachlässigt worden ist, wird das Urteil im Guten und Bösen verschieden ausfallen. Das macht ja gerade die Aufgabe, über den Inhalt des Volksbegehrens zu einem objektiven Urteile zu gelangen, so schwierig, dass wir es zur Stunde nuirait einem allgemeinen, abstrakten Grundsatz zu tun haben und über dessen gesetzgeberische Ausgestaltung noch nichts Sicheres wissen. Gewiss ist heute der Zeitpunkt noch nicht gekommen, um diese Ausgestaltung in allen Einzelheiten zu erörtern ; dagegen mag es angezeigt sein, sich in grossen Zügen Rechenschaft zu geben, in welchen Richtungen etwa eine Lösung gefunden werden könnte und welchen Schwierigkeiten sie begegnen wird. Dabei sei indessen zum voraus bemerkt, dass Schwierigkeiten, die der befriedigenden Lösung eines wichtigen Problems entgegenstehen, niemals ein Grund sein dürfen, nicht an diese heranzugehen.

Darüber kann, schon nach dem Wortlaute der Initiative, keine Meinungsverschiedenheit bestehen, dass die Lösung nur auf dem Boden der V e r h ä l t n i s w a h l s c h l e c h t h i n , nicht auf dem Boden der ,, M i n o r i t ä t e n v e r t r e t u n g ' 1 , gefunden werden kann.

Damit scheiden zum voraus alle jenen Systeme aus, nach welchen auf rein empirischem Wege den Minderheiten zu einem Platz an der Sonne verhelfen werden will. So das System der e i n g e s c h r ä n k t e n S t i m m g e b u n g , d. h. der künstlichen
Schwächung der Mehrheitspartei durch Beschränkung der Stimmabgabe auf einen Teil der Sitze. So das System der S t i m m e n h ä u f u n g , d. h.

-eine Art künstlicher Stärkung der Minderheitsparteien durch Vereinigung der zur Verfügung stehenden Stimmen auf einzelne

129 Namen. So die g r a d u i e r t e S t i m m g e b u n g , gemäss welcher der Wähler durch die von ihm vorgenommene Rangordnung der Vorgeschlagenen dem ersten eine volle Stimme, dem zweiten eine halbe, dem dritten eine Drittelsstimme zuwendet usw. Damit scheiden aber auch weiter aus jene zwitterhaften Systeme, in welchen man, wie beispielsweise in Frankreich in der ursprünglichen Regierungsvorlage vom 30. Juni 1910, nur eine Verhältnismassige Vertretung ,,der Minderheiten" im Auge hat. Es kann nur eine Verhältniswahl schlechthin, gleich anwendbar und gleich wirksam für Mehrheit und Minderheiten, geben.

Bei der Wahl des Systems muss wohl die e i n n a m i g e W a h l -ausgeschlossen werden, und zwar nicht bloss das System, bei dem der Wähler immer nur für einen Kandidaten stimmen kann, ohne ·dass eine Stimmenübertragung stattfindet (ein System, das eigentlich kein Proportionalwahlverfahren, sondern eine Art eingeschränkter Stimmgebung ist), sondern auch das auf der Einzelwahl aufgebaute System H a r e mit eventueller Stimmenübertragung. Danach ist der Wähler berechtigt, trotzdem er nur eine Stimme hat, mehrere Personen vorzuschlagen, denen dann, sobald der Erstvorgeschlagene gewählt ist, sukzessive die überschiessenden Stimmen zufallen. Das Verfahren gewährleistet in weitgehendem Masse die Freiheit des Wählers, ist aber schon wegen der ganz außerordentlich verwickelten und zeitraubenden Ermittlung des Wahlergebnisses völlig unverwendbar. Ebensowenig dürfte das System der einnamigen Stimmgebung mit Listenkonkurrenz, wie es der belgischen Gesetzgebung zu Grunde liegt, bei uns grosse Sympathien finden ; unsere Bevölkerung würde die gewaltige Beschränkung in der Stimmabgabe nicht verstehen und wäre den mit dem System verbundenen Anforderungen an Parteidisziplin wohl kaum gewachsen. Man wird also wohl zur m e h r n a m i g e n Stimmgebung mit Listenkonkurrenz greifen, die sich auch, soweit ersichtlich, in den Kantonen bewährt hat.

Nun aber die Frage, in welchem Umfang der Wähler geb u n d e n werden soll. Eine vollständige Bindung des Wählers, zufolge welcher jede Änderung gegenüber dem Wahlvorschlag die Stimmabgabe ungültig macht, wird meist als unerträglicher .Zwang empfunden. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob nicht doktrinäre Erwägungen zuweilen allzusehr in den Vordergrund gestellt und die
tatsächlichen Verhältnisse, wonach der Wahl·erfolg ganz natürlich in der Hauptsache den organisierten und disziplinierten Wählermassen zufallen muss, zu wenig berücksichtigt werden. Bei der streng gebundenen Liste ist die soBuDtiesblatt. 66. Jahrg. Bd. II.

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genannte Dekapitierung von Kandidaten einer gegnerischen Liste, ein Missbrauch, der naturgemäss den schwersten Bedenken rufen muss, unbedingt vermieden. Auch tritt bei diesem System der Gedanke der Stimmabgabe für eine durch die Parteiliste verkörperte Idee am unmittelbarsten zutage.

"o" Die Mittel, um den Wähler von den Fesseln der gebundenen Liste zu befreien, sind verschiedener Art. Man gestattet ihm, einzelne Namen auf dem Wahlvorschlag zu s t r e i c h e n , ohne sie indessen durch andere zu ersetzen, oder sonstige Veränderungen vorzunehmen. Oder man gestattet ihm das K u m u l i e r e n , d. h. die Stimmenhäufung auf einzelne Kandidaten der Liste, beschränkt oder unbeschränkt, unter entsprechender Streichung anderer Kandidaten dieser Liste. Oder man gestattet, auch hier wieder in verschiedenem Umfange, das P an äs chi er en, d.h. den Ersatz von Kandidaten der eigenen Liste durch solche einer andern Liste.

Oder endlich man gestattet diesen Ersatz von Kandidaten der eigenen Liste nicht nur durch solche einer andern Liste, sondern auch durch Personen, die auf gar keiner Liste stehen (sogenannte Wilde). Die Befugnis zum Panaschieren ist von den einen als ein Postulat der Pflichtigen Achtung vor der Freiheit des Wählerwillens, von den andern im Widerspruch mit dem Grundsatz der Verhältniswahl stehend erkärt werden; dadurch werde, so sagt man, ein Wahlverfahren, das dem Schutz der Ideen und Programme dienen sollte, zu einem Kampfmittel für Kirchturms- und Personeninteressen.

Unbestritten ist ferner, dass die Panaschierfreiheit das Dekapitiereri und das Hineinregieren in die Rangordnung einer andern Partei ohne eigenen Stimmentzug, das sogenannte Gratispanaschieren, ermöglicht. Das K u m u l i e r e n ist auf der einen Seite als ein ganz selbstverständliches Mittel betrachtet worden, die dem Wähler zukommende Wahlkraft direkt, nicht erst auf dem Umwege der Stimmenübertragung, auf die Männer seines Vertrauens zu vereinigen, und es ist denn auch sehr bestimmt die unbeschränkte Zulässigkeit der Kumulation verlangt worden. Auf der andern Seite wird das Kumulieren als eine dem Wesen des Wahlrechtes widersprechende Künstelei und ein Verstoss gegen das gleiche Wahlrecht bezeichnet; auch räume es der Minderheit ein über ihre Bedeutung weit hinausgehendes G-ewicht bei. Sicher ist das, dass die Kumulation
das beste Verteidigungsmittel gegen Dekapitierungsversuche und eine Garantie dafür ist, dass eine Partei denjenigen Persönlichkeiten, auf deren Wahl sie am meisten Gewicht legt, zum Siege verhelfen kann. Die in der Behandlung der ,, W i l d e n " auftretenden Schwierigkeiten sind mehr solche des

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logischen Ausbaues des Verhältniswahlgedankens als solche von praktisch weittragender Bedeutung. Stellt man sich auf den Boden der Freiheit des Wählerwillens, so wird man trotz der dadurch eintretenden Verwickelung des Wahlgeschäftes der Zulässigkeit des Stimmens für Personen, die auf keiner der eingereichten Listen stehen, sich kaum entziehen können. Dabei ist jede ausser der Liste stehende Person, die Stimmen erhält, als selbständige Liste zu behandeln; die Annahme eines Stimmenkartells unter allen ,,Wilden" wäre Willkur.

Man ersieht aus diesen kurzen Andeutungen, welch vielgestaltige und wichtige Streitfragen auftauchen, sobald der grundsätzliche Boden der vollständigen Gebundenheit des Wählers verlassen wird. Dabei kann keineswegs immer auf Folgerichtigkeit des leitenden Gedankens abgestellt werden.

Das zeigt sich auch in der Behandlung der Streitfrage, ob ein Listenquorum einzuführen sei, d. h. ob nur diejenigen Listen zur Verteilung zugelassen werden sollen, die einen bestimmten Mindestprozentsatz aller abgegebenen Stimmen erreicht haben.

Vom leitenden Gesichtspunkte aus, dass die Verhältniswahl ja gerade dazu bestimmt ist, alle lebendigen Strömungen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben des Volkes in der Vertretung zum Ausdruck zu bringen, muss jedes Quorum als grundsatzwidrig abgelehnt werden. Ebenso lebhaft wird von anderer Seite dessen Einführung verlangt als das einzig wirksame Mittel, um einer übergrossen Stimmenzersplitterung entgegenzutreten. Unbestreitbar verfälscht das Quorum die wahre Verhältnismässigkeit, besonders dann, wenn es in Wahlkreisen von ganz ungleicher Grosse zur Anwendung gebracht werden muss; dass die Festsetzung des Mindestprozentsatzes willkürlich ist, liegt auf der Hand.

Die Verteilung der Mandate an die Parteien kann, soweit es sich nicht um die streng gebundene Liste handelt, entweder auf Grund der Zahl der abgegebenen Parteilisten, oder nach der Zahl der Stimmen, die den auf den Parteilisten aufgeführten Kandidaten insgesamt zugekommen sind: L i s t e n s t i m m e n k o n k u r r e n z , K a n d i d a t e n s t i m m e n k o n k u r r e n z . Für das erstere Verfahren wird angeführt, solange der Wähler eine Parteiliste abgebe, solange bekenne er sich zu dieser Partei, wolle also offenbar deren Einfluss stärken, und ob er dabei für oder gegen
einzelne Kandidaten dieser oder anderer Listen demonstriere, sei unerheblich. Vom gegenteiligen Standpunkte wird geltend gemacht, dass ein Wähler, der Kandidaten wähle, die eine Partei n i c h t wolle, unmöglich gleichzeitig die Absicht

132 haben könne, für diese Partei zu demonstrieren. Die Kandidateustimmenkonkurrenz wird vom Standpunkte der Wahlfreiheit des Wählers empfohlen, da damit der Zwang, einem Kandidaten nur im Zusammenhang mit seinen Listengenossen die Stimme zu geben, vermieden werde.

Die Bestimmung des richtigen W a h l q u o t i e n t e n dürfte heute kaum mehr Schwierigkeiten begegnen, wiewohl bezeichnenderweise bei den neuesten gesetzgeberischen Versuchen über die Verhältniswahl in Frankreich fast ausnahmslos mit einem unrichtigen Wahlquotienten gerechnet wurde. Dagegen begegnen wir erheblichen Schwierigkeiten bei der Frage der B e h a n d l u n g der S t i m m r e s t e . Nach dem einen System werden die nach erfolgter Ausmittlung des Wahlquotienten und Teilung der Stimmeuzahl mittelst desselben unverteilt verbleibenden Restmandate an die Listen mit den grössten unverbrauchten Resten zugeteilt, was unstreitig dem Gedanken voller Verhältnismässigkeit widerspricht.

Nach dem andern erfolgt die Zuweisung an die stärkste Liste oder an die stärksten Listen; auch hier ist ein Einbruch in den Gedanken der Verhältnismässigkeit festzustellen. Nach dem Hagenbach-Bischofschen System erfolgt die Zuweisung in der Weise, dass die Stimmenzahl jeder Liste durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen Mitglieder geteilt und der erste noch zu vergebende Sitz der Liste gegeben wird, welche den grössten Quotienten aufweist; das gleiche Verfahren wird wiederholt, solange noch weitere freigebliebene Sitze zu vergeben sind.

Bestritten ist auch die Frage der L i s t e n k o p p e l u u g .

Durch die Listenverbindung wird erreicht, dass bei der Verteilung der Mandate die sämtlichen für Kandidaten dieser Listen abgegebenen Stimmen zusammengezählt werden und auf Grund der Gresamtstimmenzahl Berechnung des Quotienten und Verhältnismassige Zuteilung an die Teillisten erfolgen. Der Zweck ist, einerseits kleineren Gruppen, die für sich allein wenig Wahlaussichten haben, durch Vereinigung zu einer Vertretung zu verhelfen, gegebenenfalls wenigstens die Stimmreste durch Zuwendung an eine befreundete Gruppe nutzbar zu machen. Als weiterer Zweck ist sodann insbesondere ins Auge gefasst worden die Mängel einer lokalen Zersplitterung, wie sie insbesondere durch die Einteilung des Landes in Wahlkreise verursacht werden, möglichst
unschädlich zu machen. Letzteres bedingt ein überaus kompliziertes Verfahren. Es wird im übrigen anzuerkennen sein, dass durch die Listenkoppelung mit grosser Wahrscheinlichkeit weniger Reststimmen verloren gehen. Auf der andern Seite wird

133 demjenigen Tür und Tor geöffnet, dessen Beseitigung als einer der grössten Vorteile der Verhältniswahlen gepriesen wird, wir meinen die ,,unnatürlichen Allianzen"'. So ist insbesondere in Frankreich bei den letzten gesetzgeberischen Versuchen betreffend die Verhältniswahl mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht worden, dass, wenn es notwendig sei, die Wahlen von allen zweideutigen, trüben und illoyalen Manövern zu befreien, es nicht angehe, ein Wahlsystem an die Stelle der Mehrheitswahl zu setzen, das allen Machenschaften und Künsteleien den Weg freimache, wie das bei der Listenverbindung zu gewärtigen sei.

Nach diesen flüchtigen Erörterungen einiger der wichtigsten Streitfragen, die bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung des Grundsatzes der Verhältniswahl zu erledigen sein werden, mag nun in Kürze auf eine Würdigung der hauptsächlichsten V o r t e i l e und N a c h t e i l e des Systems eingetreten werden.

Es wird dem Verhältniswahlverfahren die günstige Folge beigemessen, dass unter seiner Herrschaft eine wesentliche Verm e h r u n g des I n t e r e s s e s bei Bestellung der Volksvertretung und in Fragen des staatlichen Wohls im allgemeinen eingetreten sei. Es liegt nahe, anzunehmen, dass in denjenigen Wahlkreisen, in denen die eine oder andere Partie eine derart überragende Stärke besitzt, dass unter dem Mehrheitssystem an einen Sieg der Minderheiten nicht zu denken war, das Interesse an der Wahl und damit die Wahlbeteiligung sehr ungünstig beeinflusst werden musste. Nichts ist niederschlagender, entmutigender, als die Gewissheit des Unterliegens im Kampfe, und es ist verständlich, wenn unter solchen Verhältnissen dort, wo nicht durch gesetzliche Mittel ein Beteiligungszwang ausgeübt wird, der Kampf aufgegeben wird.

Es ist möglich, dass dadurch einem allgemeinen IndifFerentismus in politischen Dingen Vorschub geleistet wird. Aber man wird auf der andern Seite auch verstehen, dass dort, wo die Parteistärken sich nahe berührten, wo die Wogen des Parteikampfes hoch gingen, das Interesse am Wahlkampfe unter der Herrschaft der Verhältniswahl zurückgeht, da die Spannung, ob ,,alles oder nichtsa, nicht mehr vorhanden ist. Dazu kommt die Masse der Wahlberechtigten, die keiner Partei angehört und keiner sich anschliessen will. Sie wird auch unter der Herrschaft der Verhältniswahl weiter
bestehen; die Wahlenthaltung wird vielleicht noch zunehmen, eben weil sich diese Leute jeder Einregimentierung widersetzten und sich dessen doch bewusst sind, dass ausserhalb der Parteilisten ihre Beteiligung an der Wahl wirkungslos bleibt.

Man möchte wohl zum Entscheide dieser Frage auf die Erfahrungen

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abstellen, die insbesondere in denjenigen Kantonen gemacht worden sind, die die Verhältniswahl seit einer Reihe von Jahren praktisch üben. Allein die Berichte sind unsicher und teilweise widersprechend, und es ist jedenfalls nicht zulässig, eine Zunahme oder Abnahme der Wahlbeteiligung einzig dem Wechsel im Wahlverfahren zuzuschreiben ; die ganz bedeutenden Schwankungen im gleichen Kanton und unter dem gleichen Verfahren lassen erkennen, dass hier noch eine Reihe von Imponderabilien mitwirken.

Jedenfalls kann der Schluss nicht gezogen werden, dass durch die Verhältniswahl die Staatsfreudigkeit, das politische Interesse im a l l g e m e i n e n , also abgesehen von der Bestellung der Volksvertretung, vermehrt und geweckt worden wäre. Dem wurden die Abstimmungszahlen in Sachfragen in den Kantonen mit Verhältniswahl ein bestimmtes Dementi entgegenstellen.

Ebenso schwierig ist zu beurteilen der psychologische Einfluss der Verhältniswahl auf die G e s t a l t u n g der W a h l k ä m p f e .

Man darf annehmen, dass der Gedanke, das Ergebnis der Wahl werde eine genaue Vertretung der Parteien nach ihrer tatsächlichen Stärke sein, einen besänftigenden Einfluss ausüben wird. Daran wird ja nun freilich nichts geändert, dass jede Partei ein Interesse daran hat, ihren letzten Anhänger zur Urne zu bringen ; die Notwendigkeit einer einschneidenden Wahlagitation wird also nach wie vor bestehen. Dagegen tritt der Kampf um die Personen entschieden in den Hintergrund ; in der Hauptsache gilt er der Partei und den von ihr vertretenen Ideen und Begehren; damit entfällt auch der Anreiz zu den mit Wahlen so oft verbundenen persönlichen Befehdungen und Besudelungen. Auch hier lauten ja freilich die Stimmen aus den einzelnen Kantonen, wie uns die Diskussion in den eidgenössischen Räten über das Volksbegehren von 1910 überzeugt hat, widersprechend genug.

Es ist als eine Wohltat, wohl gar als eine eigentliche Befreiung, empfunden worden, dass durch die Verhältniswahl die sogenannten u n n a t ü r l i c h e n A l l i a n z e n , d. h. die Vereinigung von Parteien mit von Grund aus widersprechenden Anschauungen und Bestrebungen zum Zwecke der Erlangung der Mehrheit oder O D O der gemeinsamen Bekämpfung der Mehrheitspartei, vermieden werden können. Jede Partei oder Gruppe kämpft für eigene Rechnung und erhält die Vertretung,
die ihrer Stärke entspricht.

Schon stehen wir freilich einer neuen Form der, natürlichen oder unnatürlichen, Allianzen gegenüber. Es ist das die Listenverbindung zum Zwecke der gemeinsamen Geltendmachung der sogenannten Stimmresten bei Verteilung der Restmandate, wie sie beispiels-

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·weise in der von der französischen Deputiertenkammer beschlossenen Wahlvorlage vorgesehen ist. Hiervon aber ganz abgesehen, mag doch darauf verwiesen werden, dass die ,,unnatürlichen Allianzen01 deshalb aus unserm Parteileben nicht verschwinden werden. Sie werden, wenn sich infolge der Gestaltung der politischen Verhältnisse der Nährboden hierfür findet, ganz einfach vom Volk in die Volksvertretung verlegt, und sie werden einen um so kräftigeren Nährboden finden, je mehr die grossen Parteien zerbröckeln.

Dem Verhältniswahlverfahren wird der Vorteil zuerkannt, dass es eine ruhigere Entwicklung und v e r m e h r t e S t e t i g k e i t der p o l i t i s c h e n Verhältnisse eines Landes ermögliche. Die Gefahr, dass die Vertretung des Volkes von einem "Wahlakte zum andern völlig auf den Kopf gestellt werde, ist naturgemäss nicht so gross, wie beim Mehrheitswahlsystem. Für unsere schweizerischen Verhältnisse ist dieser Punkt indessen ohne wesentliche Bedeutung. Die politischen Verhältnisse sind nicht so zugespitzt, dass von einer Wahl zur andern eine so völlige Umkehr der politischen Richtung zu gewärtigen wäre, wie sie anderorts unter der Herrschaft des Mehrheitssystems mit der bei solchen Umwälzungen unvermeidlichen Folge einer tiefgehenden Erschütterung des staatlichen Lebens vorgekommen sind. Auch hat die Bildung zahlreicher, Verhältnismassig kleiner Wahlkreise ohne weiteres zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit von Kompensationen der Wahlergebnisse in den einzelnen Kreisen vorhanden ist, und dass dadurch allzu starke Schwankungen in den Vertretungsverhältnissen vermieden werden.

Dass übrigens im Referendumsstaate derartigen Schwankungen in der Zusammensetzung der Vollksvertretung lange nicht die Bedeutung zukommt, wie in der Repräsentativdemokratie, wird noch in anderm Zusammenhange zu erörtern sein.

Die Frage, oh durch die Verhältniswahl die E i g e n s c h a f t d e r V o l k s v e r t r e t u n g v e r b e s s e r t werde, wird wohl nie ·eine sichere Antwort erhalten. Von der einen Seite wird darauf hingewiesen, dass jede Partei ein namhaftes Interesse, aber auch die Macht habe, ihre tüchtigsten Glieder auf die Liste zu setzen und ihnen zur Wahl zu verhelfen ; das ermöglicht ihr insbesondere, 'wertvolle, aber weniger volkstümliche Elemente der Volksvertretung zuzuführen. Letzteres wird
insbesondere bei denjenigen Wahlsystemen mit gebundenen Listen, weniger bei denjenigen .zutreffend sein, wo zufolge Zulassung des Streichens, des Kumulierens, oder Panaschierens die Gefahr der Zurückstellung solcher

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Elemente in den Vordergrund tritt. Dabei ist der Möglichkeit des Hineinregierens einer andern Partei in die Parteiliste und des sogenannten Köpfens noch gar nicht gedacht. Von der anderà Seite wird geltend gemacht, dass die völlige Freiheit einer Partei, die Wahl der ausgesprochensten Vertreter ihrer Grundsätze durchzudrücken, kein Vorteil für die Volksvertretung und ihre Arbeit sei. Je nach dem Standpunkte des einzelnen wird er überhaupt darin, dass die mehr neutralen, vermittelnden Elemente eigentlichen Parteivertretern Platz machen müssen, einen Nachteil, oder aber eine nützliche und folgenrichtige Entwicklung erblicken.

Unbestritten ist der Vorteil, den das Verhältriiswahlverl'ahren dadurch verschafft, dass die S t i c h w a h l e n b e s e i t i g t werden.

Gerade bei diesen war jeweilen der Stimmenmarkt am weitesten offen. Auch die Beseitigung der N a c h w a h l e n hat ihre Vorteile ; die Einheitlichkeit in der Zusammensetzung im politischen Ausdruck ist damit für eine ganze Gesetzgebungsperiode gewährleistet. Dabei ist freilich nicht zu verkennen, dass das Nachrücken des Ersatzmannes auch seine Nachteile hat, wenn man die Möglichkeit im Verlaufe der Gesetzgebungsperiode eintretender wesentlicher Änderungen, sei es in den allgemeinen politischen Verhältnissen, sei es in denjenigen des einzelnen in Betracht fallenden Wahlkreises, sei es endlich in den persönlichen Verhältnissen des nachrückenden Ersatzmannes, im Auge behält. Bei der Kürze unserer Gesetzgebungsperioden ist indessen diesem Gesichtspunkt kaum eine grosse Bedeutung beizumessen.

Unter die Mängel der Verhältniswahl wird von deren Gegnern in erster Linie die K o m p l i z i e r t h e i t des V e r f a h r e n s gestellt, die es für den gemeinen Bürger unverständlich mache. Bei der Würdigung dieses Momentes ist wohl zu unterscheiden. Es kann heute nicht mehr bestritten werden, dass es mehrere Verhältniswahlverfahren gibt, die technisch einwandfrei funktionieren, und bei denen auch das, was der Wähler zu besorgen hat, einfach und verständlich ist, während es dann freilich auch Verfahren gibt, die sowohl in bezug auf ihren Aufbau als.

in Hinsicht auf die Sonderbestimmungen, die dem Wähler geläufig sein müssen, ernsten Bedenken rufen. Aber auch bei den Verfahren der ersten Art bleibt dem Wähler vielfach die Methode der Ermittlung
des Wahlresultates dunkel ; weil er das Warum der einzelnen Zuteilungen nicht versteht, wird er misstrauisch,.

und dieses Unbehagen und Misstrauen wird noch verstärkt, wenn er auch das Warum seines eigenen Verhaltens bei der Abstimmung nicht zu verstehen und dessen Folgen nicht zu überblicken ver-

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mag. Je grösser die Freiheit des Wählers im Verfahren ist, jeweiter man also von der gebundenen Liste abrückt, desto schwieriger und verantwortungsvoller wird seine Stellung, desto erwünschter ist es für ihn, den Mechanismus des Verfahrens auch in seinen, feinern Beziehungen zu verstehen, und desto grösser ist das Unbehagen, wenn ihm das Verständnis für diese Dinge verschlossen bleibt. Der Vorwurf der Kompliziertheit ist also nach der einen Richtung ein blosses Schlagwort, nach der andern dagegen kann ihm eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden.

Man wirft dem Verhältniswahlverfahren vor, dass es die B e d e u t u n g u n d M a c h t d e r Parteien i n s Ungemessene s t e i g e r e und den einzelnen Wähler zum Sklaven einer Partei mache. Über die Notwendigkeit der Parteien im Staate kann wohl kein Zweifel sein, dagegen kann man sehr wohl das Gewicht, das ihnen im Gang der politischen Maschine zukommen, soll, verschieden bemessen und von diesem Gesichtspunkt aus.

den Grad der Gebundenheit des Wählers gegenüber der Parteiorganisation verschieden einschätzen. Dem Vorwurf, bei der Verhältniswahl werden die politischen Parteien zu offiziellen Faktoren des Staatslebens gemacht, können wir freilich nur eine theoretische Bedeutung beimessen. Dagegen haben wir einerseits gegen das.

Überwuchern des Parteilebens, anderseits gegen die Einschränkung der Freiheit des einzelnen Wählers ernste Bedenken. Auch hier hängt vieles von der nähern Gestaltung des Verfahrens ab, und man kann bei den einzelnen gesetzgeberischen Versuchen deutlich erkennen, wie bald der eine, bald der andere Gesichtspunkt zu gewissen Schutzmassnahmen geführt hat. Der Grundsatz der gebundenen Liste hat zur Folge, dass ausserhalb dem Parteiverband keiner mehr wählen noch gewählt werden kann. Der Zwang, der hierin liegt, und der je nach den politischen Verhältnissen eines Landes geradezu als unerträglich empfunden werden kann, hat, wie wir gesehen haben, zur Einschränkung geführt, bald durch das Mittel der freieren Bewegung innerhalb der Parteilisten,, bald durch die Zulassung wilder Kandidaten. Darüber ist freilich wohl alles einig, dass, wie immer das System im einzelnen ausgebildet ist, die Macht der Verhältnisse zu einer ausserordentlich straffen und strengen Parteidisziplin führt. Man mag in einer solchen keinen Übelstand
erblicken, man mag darauf hinweisen, dass auch bei der Mehrheitswahl eine solche Disziplin bis zu einem gewissen Grade Bedingung des Wahlerfolges ist, so wird man doch zugeben müssen, dass die Verhältniswahl in ungleich höherem Masse zu dieser einseitigen Betonung des Parteistand-

138 punktes führt. Das ist aber namentlich nach der einen Richtung anfechtbar, dass damit, wenigstens soweit die Schweiz in Betracht fällt, den tatsächlich bestehenden Verhältnissen Zwang angetan wird.

Es ist nicht richtig, wenn behauptet wird, in der Schweiz bestehe tatsächlich eine so umfassende Aussonderung nach Parteien und ·Gruppen schon, und man baue nur diese Zustände aus. Ein ganz .grosser Bruchteil der schweizerischen Stimmberechtigten ist politisch farblos, stimmt und wählt von Fall zu Fall nach eigenen Meinungen, Grundsätzen, Gefühlen, Instinkten, oder wie man es nennen mag.

Aber nicht bloss das ; er hat auch eine sehr kräftige Abneigung gegen jeden Parteizwang, jede Einregimentierung, gegen jede Herrschaft von Parteikomitees. Das haben die verschiedenen Parteien, allerdings in sehr verschiedenem Masse, schon wiederholt erfahren, und wir erachten es nicht als gute Politik, wenn diesem Unabhängigkeitssinn des stimmfähigen Bürgers, auch wenn er gegebenenfalls für die Behörden und die Parteien recht unbequem werden kann, von Gesetzes wegen entgegengearbeitet wird.

Das am schwersten wiegende Bedenken gegen die Verhältniswahl ist wohl das, dass sie eine Z erb r ö e k e l.un g und Z e r s p l i t t e r u n g d e r P a r t e i e n herbeiführe, zum mindesten begünstige. Man wird sich wohl bewusst sein, dass dieses Argument demjenigen von der übermächtigen Betonung des Parteistandpunktes widerspricht, aber doch nur in beschränktem Masse.

Einmal ist darauf zu verweisen, dass auch hier wieder die Einzelausgestaltung des Verfahrens die mutmasslichen Folgen sehr zu.

beeinflussen vermag. So sei nur der Eindämmung der Bildung neuer Parteien durch Einführung eines Quorum gedacht. Hiervon aber ganz abgesehen, lassen sich sehr wohl einerseits übermächtige Parteiherrschaft, anderseits Parteizerbröckelung als Folgen der Verhältniswahl voraussehen ; auf der einen Seite wird die parteilose Masse den Parteien zugetrieben, auf der andern Seite vollzieht sich die Abbröckelung der vielen Gruppierungen um wirtschaftliche Interessen von den grossen Parteien mit ihren ideellen Richtlinien. Das eine und das andere schliessen sich also nicht aus.

Man wendet nun freilich ein, es sei ein Irrtum, anzuehmen, das Verhältniswahlverfahren schaffe die Parteien und Parteigruppen und führe damit eine Zersplitterung
herbei. Es sei das eine Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Parteien und Gruppen haben sich ohne Zutun eines Wahlverfahrens gespalten und neu gebildet; die stärkere Gruppierung der Parteien nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei eine Erscheinung des neu-

139 zeitlichen öffentlichen Lehens, insbesondere eine Folge der industriellen Entwicklung, mit der Klassenscheidung zwischen Unternehmer und Arbeiter, mit dem Interessengegensatz zwischen Grossund Kleinbetrieb, mit der Herausschälung einer Mittelstandspolitik, mit den Organisationen nach beruflichen Interessengesichtspunkten.

Die politischen Parteien, zumal einzelne von ihnen, haben diesen Neubildungen nicht, oder jedenfalls nicht rechtzeitig, die erforderliche Beachtung geschenkt, und als diese mit dem Gewicht der in ihnen verkörperten Interessen zu wirken begannen, seien die Parteiwandungen gesprengt und die neuen Gebilde zu selbständiger Tätigkeit getrieben worden ; das alles ohne jedes Zutun eines bestimmten Wahlverfahrens.

In dieser Argumentation liegt zweifellos manches Zutreffende, .allein sie ist nicht schlüssig.

Gewiss ist die organische Entwicklung, das Werden und Vergehen der Parteien in der Hauptsache von andern Faktoren abhängig als von einem Wahlverfahren. Allein auf der andern Seite wird man nicht leugnen können, dass, je nach der Gestaltung des Wahlverfahrens, die Spaltung der Parteien, die Neubildung solcher, die Gruppierung der Interessen leichter oder schwerer vor sich geht. Die Verhältniswahl fördert diese Bewegung, da jedem neuen, selbständigen Gebilde grundsätzlich auch ein Wahlerfolg gewährleistet ist ; es ist also wohl nicht zu bestreiten, dass der direkte Erfolg des Verfahrens das Trennende und nicht das Verbindende ist. Es wird somit darauf ankommen, ·ob man die Neubildungen und Neugruppierungen zu f ö r d e r n «ich verpflichtet erachtet, oder ob man die Zersetzung der Parteien als einen Nachteil empfindet und ihr daher entgegenzuarbeiten bestrebt ist. Ohne die Vorteile, die in dem Nebeneinanderbestehen nur g r o s s e r Parteien liegen, irgendwie überschätzen .zu wollen, wird man doch gestehen müssen, dass sie am ehesten für eine nach grössern Gesichtspunkten gerichtete Politik Gewähr leisten. Dazu kommt, dass es kaum im Interesse des Landes liegen dürfte, den nach ideellen Gesichtspunkten gruppierten Parteigebilden behufs Geltendmachung materieller Interessen den Boden abzugraben. Ein Blick auf das innere Leben unserer Parteien beweist, dass es ihnen zum Teile gelungen ist, die sich aufdrängenden Gesichtspunkte und Bestrebungen wirtschaftlicher Natur in sich aufzunehmen
und im Innern der Partei zum Ausgleich .zu bringen. Hierin liegt eine für die ganze Entwicklung der Landespolitik überaus bedeutungsvolle und erfreuliche Erscheinung.

"Wir halten dafür, dass wir diesen internen Ausgleich ideeller

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und materieller Interessen im Schosse der Parteien fördern sollten 5denn er erleichtert uns den notwendigen grössern Ausgleich widerstrebender Interessen auf dem Boden des gesamten Landes.

Deshalb ist nient zu befürchten, dass dann Strömungen im Volke, die von Bedeutung und vertretungswürdig sind, nicht zur Entfaltung gelangen ; müssen doch die Parteien in ihrem eigenen Interesse, gerade um Spaltungen zu verhindern, eine billige Berücksichtigung walten lassen.

Sodann ist nicht zu übersehen, dass es sich bei den Bedenken, die mit Rücksicht auf die Zerbröckelung der Parteien gegen die Verhältniswahl erhoben werden, nicht sowohl um die als Folge der natürlichen Umbildung der Parteien entstehenden Neugruppierungen als vielmehr darum handelt, dem Ü b e r m a s a von Neubildungen entgegenzutreten. Nicht immer nur bilden sich Gruppen, wenn ideelle Gesichtspunkte oder wichtige materielle Interessen im engen Panzer der Partei zu ersticken drohen und nach Befreiung ringen. Häufig sind es kleine und kleinste Gesichtspunkte, persönliche Rivalitäten, verletzte Privatinteressen^ Ungeschicklichkeiten in der Führung der Parteigeschäfte u. dgl., die zu Spaltungen führen. Ein gesunder Parteikörper vermag solche Krisen unter normalen Verhältnissen, d. h. wenn nicht besondere Verumständungen entgegenwirken, zu überwinden; entweder werden solche Trennungsversuche in Minne erledigt, oder die betreffenden Elemente werden, gefahrlos für die Partei und ihre Interessen, ausgestossen. Die Verhältniswahl ist nun aber gerade für solche Trennungsgelüste der fruchtbarste Nährboden, und zunächst in diesem Sinne darf von einer ihr innewohnenden gefährlichen Tendenz der Zersetzung gesprochen werden.

Sehen wir aber auch ab von solchen auf kleinliche Motive' zurückzuführenden Spaltungen, so erblicken wir einen weitern Mangel darin, dass die Verhältniswahl Parteigruppierungen begünstigt, die von einem einzelnen Gesichtspunkte aus vorgenommen werden, der, gemessen an der Gesamtheit der in der Volksvertretung zur Erörterung gelangenden Fragen und Interessen, nur verschwindend kleine Bedeutung hat. Es hat zu allen Zeiten Einzelfragen gegeben, die vorübergehend eine übergrosse Bedeutung erlangten, um nach kurzer Zeit fast zur Bedeutungslosigkeit herabzusinken, oder dann irgendeiner Lösung entgegengeführt zu werden. Der Partei und ihrem
ungeschmälerten Fortbeständewaren sie nicht gefahrlich. Unter der Herrschaft der Verhältniswahl werden sie zu einer Quelle der Zersetzung; denn was einmal getrennt, findet sich nur schwer wieder zusammen.

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Die Zerbröckelung der Parteien wird nun freilich, je nach ·dem politischen Standpunkte, in ihren Folgen verschieden beurteilt werden. Dass sie die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit im Parlament erschwert, wird kaum in Abrede gestellt werden können; wie schwer das aber ins Gewicht fällt, ist eine Frage, die sehr bestritten ist. Es ist zum vornherein zuzugeben, dass das Vorhandensein einer geschlossenen, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sicherstellenden Mehrheit in der reinen Demokratie nicht die gleiche Rolle spielen kann wie in der Repräsentativdemokratie, oder einem nach parlamentarischen Grundsätzen regierten Staate. Niemand wird bei uns bezweifeln, dass die Souveränität im Volke und nicht in den Räten liegt. Aber deswegen wird die Wünschbarkeit einer nach einheitlichen, grossen Gesichtspunkten orientierten Mehrheit im V o l k e und damit in d e r V o l k s v e r t r e t u n g nicht aus der Welt geschafft. Sie ist doppelt wünschbar und notwendig in einem Föderativstaate, wo «s des Trennenden übergenug gibt, wo es eines Gegengewichtes gegen die mächtigen und zuweilen verhängnisvollen auseinanderstrebenden Kräfte bedarf. Sie ist am notwendigsten in einem Föderativstaate, der, vermöge der Verschiedenheiten seiner Glieder nach Rasse, Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten für diese zentrifugalen Kräfte einen ganz besonders günstigen Boden darbietet. Diese Mehrheit ist erforderlich als Rückhalt für die Regierung, die eines solchen um so eher bedarf, als ihre Stellung im Innern und. nach aussen der Natur der Sache nach nicht so stark ist als diejenige eines Einheitsstaates. Und wenn Wahleinrichtungen wirklich geeignet sein sollten, diese Mehrheit zu zerstören und an deren Stelle zusammengewürfelte Interessengruppen zu setzen, so wird man es verstehen, wenn einem solchen Wahlverfahren nicht nur aus Parteiinteresse, sondern auch aus dem.

Gesichtspunkte der Wahrung berechtigter Landesinteressen, entgegengetreten wird. Damit ist noch keineswegs einer einseitigen Parteiherrschaft das Wort geredet ; sie hat in der Schweiz, so wie sich die politischen Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten ·entwickelt haben, ohnehin keinen Raum, und wir sehen denn auch wie in der neuesten Phase der schweizerischen Geschichte gerade die grössten und wichtigsten gesetzgeberischen Aufgaben im einträchtigen
Zusammenarbeiten der Parteien gelöst worden sind.

Es wäre nun gewiss wünschenswert, wenn bei Lösung der Streitfrage, ob die Verhältniswahl wirklich den ihr zugeschriebenen zersetzenden Einfluss habe, auf die Erfahrung abgestellt werden könnte. Allein das ist der Natur der Sache nach ausgeschlossen ;

142 denn dabei handelt es sich um einen Prozess, der nicht in Jahren,, oder wenigen Jahrzehnten sich abwickelt, dessen Ergebnisse vielmehr erst nach einer langen Zeitperiode sichtbar und fühlbar werden. Auf Erfahrungen in andern Staaten abzustellen, ist nicht tunlich, da die verfassungsmässigen und parteipolitischen Verhältnisse in diesen von den unsrigen von Grund auf verschieden sind, und Fehlschlüsse daher naheliegen. Die Erfahrungen, die unter der Herrschaft kantonaler Verhältniswahlverfahren in bezug auf ihren zersetzenden Einfluss gemacht worden sind, werden, je nach dem grundsätzlichen Standpunkt, auf den sich die Beurteiler stellen, sehr verschieden bewertet. Immerhin wird man feststellen dürfen, dass sich in einzelnen Kantonen schon recht deutliche Ansätze dieser zersetzenden Einwirkung gezeigt haben.

Wir haben schon oben zugegeben, dass dem Gedanken einer g l ei e h m ä s s i g e n Berücksichtigung der im Volke vorhandenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen, ideellen und materiellen Strömungen vom Standpunkte der Gerechtigkeit und Billigkeit aus eine bedeutende Werbekraft zukommt. Hier liegt gewiss die Stärke des Verhältniswahlgedankens. Allein die nähere Untersuchung zeigt, dass diese W a h l g e r e c h t i g k e i t doch an ganz bestimmte Voraussetzungen in der Ausgestaltung des Verfahrens gebunden ist. Wir haben es eben nicht mit einer blossen Rechenaufgabe, sondern mit einem sehr vielgestaltigen politischen Problem zu tun. Voll wird die Verhältnismässigkeit nur da erreicht werden, wo das ganze Land ein Wahlkreis ist. Jede Teilung in Wahlkreise ist im Ergebnis ein Einbruch in den Grundgedanken, und dieser wird um so erheblicher und empfindlicher, je weniger Einheitlichkeit in der Bildung der Wahlkreise besteht; darüber wird bei der Kritik der Einzelheiten des uns beschäftigenden Volksbegehrens noch näher zu sprechen sein. Diese Beschränkungen der Wahlgerechtigkeit haben dazu geführt, in der Festsetzung des Verfahrens nach möglichst wirksamen Abhülfmitteln zu suchen.

Alle die zahllosen Systeme, die im Laufe der letzten Jahrzehnteausgearbeitet wurden, dienen dem einen Zwecke, und es sind insbesondere die fein ausgedachten Systeme der proportionalen Einzelwahl und sodann die Verwendung der Listenkoppelung innerhalb der einzelnen Wahlkreise, oder auch innerhalb des gesamten
Landes, welche dieser mehreren Wahlgerechtigkeit auf dem Boden der realen Verhältnisse zustreben. Jedes dieser Systeme aber hat, abgesehen von der dadurch verursachten Kompliziertheit, seine Nachteile, teils grundsätzlicher, teils technischer Art.

143:

Nun hat man freilich die Unvollkommenheiten der Verhältniswahl in Hinsicht auf die Wahlgerechtigkeit damit zu entschuldigen gesucht, dass sie immer noch weit hinter denjenigen des Mehrheitssystems zurückstehen. Und man kann ja wohl hier und da den Satz hören, das schlechteste Verhältniswahlverfahren sei immer noch besser als das beste Mehrheitswahlverfahren. Wer so spricht, verlässt den Boden der objektiven Würdigung der bestehenden Vorschriften und der tatsächlichen Verhältnisse. Die Mängel des Mehrheitssystems sollen nicht geleugnet werden; allein entscheidend ist doch wohl, ob sie sich in einem gegebenen Lande und in einem gegebenen Zeitpunkt tatsächlich geltend m a c h e n , d. h. ob und in welchem Umfange die bestehenden Fehlerquellen ausgeschöpft worden sind und zu tatsächlichen Missbräuchen geführt haben. Auch das System der Verhältniswahl ist vor Missbräuchen nicht gefeit. Das Hineinregieren einer Partei in die Liste einer andern, das sogenannte Köpfen von Kandidaten einer gegnerischen Liste, sind als eine so wichtige Quelle von Misshräuchen beurteilt worden, dass die verschiedensten Mittel zum Zwecke der Verhinderung solcher Manöver gesucht wurden.

Man hat das Panaschieren völlig ausgeschlossen, was aber natürlich auf der andern Seite den schwerwiegenden Nachteil der völligen Unfreiheit des Wählers zur Folge hat. Auch die unbeschränkte Kumulation wird als Gegenmittel angewendet, wobei aber wieder mit der Abneigung einer so weitgehenden Personenbevorzugung, vor allem aber mit der Gefahr zu rechnen ist, dass durch übermässiges Kumulieren die eigene Partei mittelst Dekapitierung geschädigwird. Die Berücksichtigung einer bestimmten Rangordnung endt lieh, die ebenfalls als Gegenmittel gegen die Dekapitierung vorgeschlagen wird, ist schon wegen der ganz außerordentlichen Schwerfälligkeit der Zuteilung der Mandate nicht tunlich.

So lehrt eine Prüfung der einzelnen Systeme und ihrer tatsächlichen Handhabung, dass auch bei der Verhältniswahl mit Unvollkommenheiten, mit Missbräuchen und unbefriedigenden Ergebnissen gerechnet werden muss, und die Frage, ob die mit dem System verbundenen Vorteile, verglichen mit den ihm anhaftenden Mängeln, wirklieh so gross seien, dass das Bestehende über Bord geworfen werden müsse, ist daher vollberechtigt. Sie kann nicht abstrakt und ebensowenig durch Verweisung
auf das, was in andern Staaten versucht und erreicht worden ist, beantwortet werden. Sie muss vielmehr auf Grund unserer eigenen Einrichtungen, Verhältnisse und Erfahrungen zu lösen versucht werden.

144

IV.

Gehen wir von den tatsächlichen politischen Verhältnissen im Bunde aus, so glauben wir uns berechtigt, festzustellen, dass sie im grossen und ganzen gesund sind. Von irgendeinem Stillstand in der Entwicklung unserer staatlichen Einrichtungen kann billigerweise nicht gesprochen werden; im Gegenteil ist gerade das letzte Jahrzehnt der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates geradezu reich an bedeutungsvollen gesetzgeberischen Leistungen. Dass sie im einsichtigen und patriotischen Zusammenarbeiten der Parteien gelöst worden sind, erhöht unsere Genugtuung, kann aber doch unmöglich auf der andern Seite als Beweis dafür in Anspruch genommen werden, dass unsere parlamentarischen Einrichtungen ungesund und einer eingreifenden Umgestaltung bedürftig seien. Wenn also der Schluss von den Lei.stungen einer Volksvertretung auf die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften, nach denen sie bestellt wird, zulässig ist, so kann er für die letztern nicht ungünstig sein. Man wird ·aber überhaupt feststellen können, dass der starre Parteigeist, gemessen an den politischen Verhältnissen früherer Jahrzehnte, ganz wesentlich an Boden verloren und einer bei aller entschiedenen Wahrung der grundsätzlichen Standpunkte versöhnlichen Haltung und wechselseitigen Achtung Platz gemacht hat. Es muss daher dagegen Stellung genommen werden, dass man diese unsere politischen Verhältnisse auf gleiche Linie setzt mit Staatswesen, wo sich die Parteien aufs schroffste und feindseligste gegenüberstehen, wo von irgendeiner Zusammenarbeit keine Rede ist und ohne den Schutz eines mildernden Wahlverfahrens eine rücksichtslose Majorität die gegenüberstehende Minderheit zerrieben haben würde.

Allein auch vom Gesichtspunkte aus, dass keine grosse Strömung der öffentlichen Meinung von unserer Volksvertretung ausgeschlossen sein sollte, können unsere tatsächlichen Vertretungsverhältnisse kaum ernsthaft beanstandet werden. Es sei rückhaltlos zugestanden, dass es nicht immer so gewesen ist, und es sei inbesondere zugegeben, dass in der mit dem Mehrheitssystem verbundenen Wahlkreiseinteilung weder stets eine glückliche Hand noch ein von Parteierwägungen und Spekulationen freies Billigkeitsbestreben gewaltet hätten. Allein es Messe doch, seine Augen gewaltsam vor den tatsächlichen Verhältnissen verschliessen, wollte man nicht
zugeben, dass in dieser Richtung eine ganz wesentliche Wandlung Platz gegriffen hat, und dass man mehr und mehr bestrebt war, sei es auf dem Wege der Änderung der Wahlkreise, sei es durch Entgegenkommen innerhalb derselben, den Minderheiten zu einer angemessenen Vertretung zu ver-

145 "helfen. Es ist sehr wohl möglich, dass sie heute noch keine g a n z T e r h ä 11 n i s m ä s s i g e ist ; es ist insbesondere wahrscheinlich, dass nach den in möglichst reiner Form verwirklichten Grundsätzen der Verhältniswahl insbesondere die sozialdemokratische Partei eine gewisse Verstärkung erfahren wird. Aber deshalb können doch die Verhältnisse in der Volksvertretung nicht als ungesunde, die Arbeitsfreudigkeit und die nützliche Arbeit hemmende oder vernichtende bezeichnet werden. Die tatsächliche Bedeutung und ·der Einfluss einer Gruppe in der Volksvertretung hängt doch nicht rein von ihrer zahlenmässigen Stärke ab. Und ebensowenig wird die Macht der durch sie vertretenen Ideen darunter leiden, wenn ihre Vertreter nicht im mathematisch richtigen Verhältnis .zu der Zahl ihrer Anhänger zugegen sind.

Wir haben versucht, uns darüber ein Bild zu machen, wie bei der letzten Neubestellung des Nationalrates im Jahre 1911 ·die Vertretung der Parteien sich gestaltet haben würde, wenn damals schon nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt worden wäre. Wir haben zu diesem Zweck das statistische Bureau beauftragt, auf Grund der tatsächlichen Wahlergebnisse von 1911 festzustellen, welches wahrscheinliche Ergebnis die Wahlen unter der Annahme des Grundsatzes ,,Ein Kanton ein Wahlkreis1* und unter Anwendung des Hagenbach-Bischofschen Proportionalsystems gehabt haben würden. Wir sind uns dessen durchaus bewusst, dass eine solche Vergleichung niemals ganz zuverlässige, ·sondern nur ganz annähernd richtige Ergebnisse liefern kann aus dem einfachen Grunde, weil die mit der Verhältniswahl als solcher verbundenen Folgen, wie Wahlbeteiligung, Gruppenbildung, Aufstellung eigener Kandidaturen usw. nicht zum Ausdruck gebracht, weil überhaupt gar nicht vorausgesehen werden können. Immerhin gibt die Feststellung doch ein annäherndes Bild darüber, welche Verschiedenheiten in einem gegebenen Zeitpunkt ein nach Mehrheitssystem und ein nach als rationell betrachteten Verhältniswahlgrundsätzen gewählter Nationalrat in bezug auf die Parteizusammensetzung ausweisen. Das Ergebnis der Berechnung ist folgendes. Der 1911 tatsächlich gewählte Nationalrat weist auf: 115 Vertreter der radikaldemokratischen Partei, 14 Vertreter der liberaldemokratischen Partei, 38 Vertreter der katholischdemokratischen Partei, 15 Vertreter
der sozialdemokratischen Partei, 5 Vertreter der sozialpolitischen Gruppe, 2 Vertreter ohne Parteizugehörigkeit, zusammen 189 Vertreter.

Bucdesblatt. 66. Jahrg. Bd. II.

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Unter Anwendung der Grundsätze der Verhältniswahl in oben bezeichnetem Sinne wären gewählt worden : 108 Vertreter der radikal demokratischen Partei, 15 Vertreter der liberaldemokratischen Partei, 36 Vertreter der katholischdemokratischen Partei,.

23 Vertreter der sozialdemokratischen Partei, 5 Vertreter der sozialpolitischen Gruppe, 2 Vertreter ohne Parteizugehörigkeit, zusammen 189 Vertreter.

Die Verschiebungen würden somit darin bestehen, dass die' radikaldemokratische Partei 7, die katholischdemokratische 2 Sitze verlieren, die liberaldemokratische Partei l und die sozialdemokratische 8 Sitze gewinnen würden. Werden die Änderungen berücksichtigt, die in der Zusammensetzung der Parteien seit Herbst 1911 bis heute infolge der Nachwahlen tatsächlich eingetreten sind, so würden sich die Verschiebungen auf 3 Sitzverluste der radikaldemokratischen, 2 der katholischdemokratischen Partei und l der Parteilosen, und sodann auf l Sitzgewinn der liberaldemokratischen und 5 Sitzgewinne der sozialdemokratischen Partei verringern. Wir sind weit entfernt, auf Grund dieser Berechnung den Propheten mit Bezug auf eine allfällige künftige Gestaltung der Vertretungsverhältnisse unter der Herrschaft der Verhältniswahl spielen zu wollen. Allein man wird -- und darauf kommt es in diesem Zusammenhange einzig an -- zugeben müssen, dass daraus jedenfalls nicht abgeleitet werden kann, dass die tatsächliche Vertretung im Vergleich mit den Parteistärken in einem ernsthaften Miss verhältnisse stehe, denn solche Schwankungen werden sich unter der Herrschaft jedes Wahlverfahrens geltend machen.

Es wird nun freilich dem entgegengehalten werden, der Umstand, dass, das Land als Ganzes genommen, die tatsächliche Vertretung von der nach Grundsätzen der Verhältniswahl voraussichtlich erreichbaren Vertretung nicht allzu stark abweiche, bedeute noch keine Wahlgerechtigkeit. Die verhältnismässige Vertretung müsse in jedem einzelnen Wahlkreis gewährleistet sein ; es sei nicht zulässig, die übergrosse Berücksichtigung der einen Partei und damit die Verkürzung der andern in einem gegebenen Wahlkreis mit dem umgekehrten Verhältnis in einem andern Wahlkreis zu kompensieren. Allein man verkennt hei dieser Beweisführung, dass ja gerade .der Grundsatz der Verhältniswahl auf die zahlenmässig richtige Vertretung der im g a n z e n L a n d e vorhandenen Strömungen hinzielt, und dass die Beschränkung auf die Wiedergabe dessen, was in den einzelnen Wahlkreisen an

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Strömungen vorhanden ist, geradezu als Einbruch in den Grundgedanken empfunden und damit entschuldigt wird, das seien eben die Eierschalen, die der Verhältniswahl aus ihrem Kampfe mit dem Mehrheitssystem noch anhaften. Auch vom Standpunkte des Mehrheitssystems aus kann übrigens auf nichts anderes abgestellt werden als auf das Gesamtbild der Volksvertretung und die Zusammensetzung der Parteien, wie sie sich aus diesem ergibt.

Wir kennen keine Vertretung der Wahlkreise, sondern nur eine nationale Vertretung. Der in einem Wahlkreis Gewählte ist Vertreter des gesamten Volkes; wenn er in einem bestimmten Kreis gewählt werden muss, so geschieht dies nur deshalb, weil eine einheitliche Wahl im ganzen Lande nicht möglich ist; allein er vertritt gleichmässig alle Teile des Landes.

Das Gesamtbild des Landes und das Gesamtbild der Volksvertretung sind also keineswegs so grundverschieden, wie es die Verfechter der Verhältniswahl behaupten. Und deswegen kann auch nicht von einer Kluft zwischen Volk und Volksvertretung gesprochen werden. In der reinen Demokratie ist ein sehr zuverlässiger Gradmesser für die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser beiden Faktoren des öffentlichen Lebens vorhanden : die ausdrückliche oder stillschweigende (durch die Nichtergreifung des Referendums ausgedrückte) Zustimmung des Volkes zu den Erlassen der Volksvertretung. Die Referendumstafel und die Vergleichung der Gesetze und dem Referendum unterstellten Bundesbeschlüsse mit denjenigen, gegenüber welchen das Referendum wirklich verlangt wurde, lässt alles eher als eine zwischen Volk und Volksvertretung bestehende Kluft erkennen.

Darum wird man auch nicht von einer Unfruchtbarkeit der gesetzgeberischen Arbeit oder einem Stillstand in der Entwicklung des Landes sprechen können.

Es wäre einseitig, diese erfreuliche Erscheinung dem Wahlverfahren zuzuschreiben, unter dem diese Volksvertretung bestellt worden ist. In der Demokratie spielt das Verfahren, nach welchem die Vertreter des Parlaments gewählt werden, überhaupt nur eine verhältnismässig untergeordnete Rolle. Gerade deshalb ist die Verhältniswahl, auch wenn ihr alle die Vorzüge eignen würden, die ihr nach ihren Verfechtern zugesprochen werden, in der reinen Demokratie keine Notwendigkeit.

Auf der einen Seite wird die Verhältniswahl geradezu als eine logische Folge
des demokratischen Gedankens, auf der andern Seite als unvereinbar mit der reinen Demokratie angesehen.

Die Wahrheit dürfte auch hier in der Mitte liegen. Durch die

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Einrichtung des Referendums hat das Parlament, in Ansehung seiner wichtigsten Aufgaben, die Eigenschaft einer vorberatenden Behörde angenommen. Das gilt sowohl von der Einrichtung des fakultativen Referendums als vom obligatorischen Referendum ; es ist begrifflich kein Unterschied, ob das Volk seinen Willen ausdrücklich oder stillschweigend kundgibt; in beiden Fällen ruht doch die eigentliche Gesetzgebungsgewalt im Volke. Damit ist indessen das Interesse an einer richtigen, die verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strömungen berücksichtigenden Zusammensetzung der Volksvertretung nicht völlig geschwunden. Denn dass die Minderheiten nicht lediglich auf diese rein negative Tätigkeit des Verwerfens gesetzgeberischer Erlasse angewiesen sein sollen, dass ihnen vielmehr die positive Mitwirkung im Zeitpunkt der Ausarbeitung der Gesetze ermöglicht werden soll, ist ein Verlangen, dessen Billigkeit heute niemand mehr verkennt. Um so weniger, als, wie die Erfahrung bewiesen hat, diese Mitwirkung nicht nur im Interesse des Zustandekommens der Gesetze, sondern überhaupt im wohlverstandenen Interesse des Landes liegt. Auch dagegen wird keine Einwendung erhoben werden, dass sich der Wert der Volksvertretung nicht in der Anteilnahme an der gesetzgeberischen Vorarbeit erschöpft. Man denke nur an das Budgetrecht des Parlaments und die damit zusammenhängenden Beschlüsse, an das Oberaufsichtsrecht über die gesamte Staatsverwaltung, an die Beschwerdegerichtsbarkeit io Administrativsachen usw. Allein auf der andern Seite wird man nicht in Abrede stellen können, dass die Summe dieser Befugnisse niemals die Bedeutung desjenigen haben kann, was in der sogenannten Repräsentativdemokratie oder in parlamentarisch regierten Monarchien der Volksvertretung zugewiesen ist. Vor allem aber vermögen wir nicht einzusehen, warum für die Mitwirkung bei der Verwaltung und ihre Kontrolle eine g e n a u e v e r h ä l t n i s m ä s s i g e Vertretung der Minderheiten erforderlich sein soll. Der Unterschied der Parteiströmungen und -bestrebungen tritt in der Hauptsache auf dem Felde der Gesetzgebung in die Erscheinung; auf dem Boden der Verwaltung spielt er nur eine zweite Rolle. Handelt es sich aber um Gesetzgebungsfragen, so ist durch Referendum und Initiative dafür gesorgt, dass auch unter der Herrschaft der Mehrheitswahl
der ·wirkliche Volkswille sich mit Erfolg geltend machen und durchsetzen kann. Durch die Einführung der Volksinitiative für die Bundesgesetzgebung in der Form der allgemeinen Anregung und in der Form eines ausgearbeiteten Entwurfes würde dies noch

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wesentlich erleichtert, dementsprechend aber die Bedeutung des Parlaments und damit der Art, wie die Minderheiten darin vertreten sind, neuerdings vermindert werden.

Schätzen wir den Zuständigkeitskreis und die Bedeutung der Volksvertretung in unserer Demokratie also richtig ein, so werden wir zum Ergebnis gelangen, dass es für die Minderheiten keine Lebensfrage, nicht einmal eine sehr wichtige Frage ist, ob sie nach strengen Verhältnisgrundsätzen vertreten seien, vorausgesetzt nur, dass eine angemessene, billige Vertretung Platz greife. Eine solche aber ist nicht nur auch bei der Mehrheitswahl möglich, sondern sie ist tatsächlich vorhanden. Und auf die tatsächlichen Verhältnisse ist allen Endes abzustellen, nicht auf staatsrechtliche Möglichkeiten und doktrinäre Folgerungen aus ihnen. Jeder staatsrechtliche Grundsatz kann zu Boden geritten werden, auch derjenige der Mehrheitswahl ; allein der objektiven Beurteilung bleibt es dann vorbehalten, festzustellen, wie die Lage wirklich ist und danach zu bemessen, ob grundlegende Änderungen ein B e d ü r f n i s sind.

V.

Wir haben im vorstehenden das Bedürfnis zur grundsätzlichen Änderung unseres Wahlverfahrens verneint. Wir erheben im folgenden noch besondere Bedenken gegen die Art und Weise, ·wie der Verhältniswahl durch das gegenwärtige Volksbegehren im Bunde Eingang verschafft werden soll. Damit kommen wir auf die gewaltigen Schwierigkeiten zu sprechen, welche die Lösung der Frage der W a h l k r e i s e mit sich bringt.

Wenn man gerecht sein will, wird man zugestehen müssen, dass die Berücksichtigung lokaler Interessen neben nationalpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen an sich durchaus nicht unberechtigt ist. Soweit das allgemeine Wohl nicht darunter leidet, ist nicht einzusehen, warum eine vollständige Loslösung von den dem Volksvertreter am nächsten liegenden und darum auch vertrautesten Verhältnissen Platz greifen müsste, warum also nicht lokalpolitische Momente bei der Bestellung der Volksvertretung mitwirken dürften. Wenn wir übrigens auch hierin anders dächten, so wäre nichtsdestoweniger noch auf lange Zeit hinaus dafür gesorgt, dass diese' lokalen Beziehungen zwischen Wähler und Gewählten berücksichtigt werden m ü s s e n . Diesen vorwiegend lokalen Strömungen und Interessen wird unter der Herrschaft des Mehrheitssystems Rechnung getragen durch die Einteilung in Wahlkreise, wobei nur die eine Gefahr besteht, dass durch die Schaffung von zu kleinen Wahlkreisen einer

150 eigentlichen Kirchturmspolitik und einer ungesunden Abhängigkeit des Vertreters von seinen Wählern Vorschub geleistet wird, wie dies beispielsweise mit der im Jahre 1884 verlangten Einteilung des Landes in Einerkreise wohl unvermeidlich verbunden gewesen wäre. Dass eine gerechte, ungekünstelte, die nationalen und lokalen Interessen berücksichtigende Wahlkreiseinteilung eine äusserst schwierige Aufgabe ist, wird niemand bestreiten wollen, sowenig als jemand behaupten wird, dass man jetzt oder in irgendeinem frühern Zeitpunkt im Bunde das absolut beste getroffen habe.

Es ist daher vielfach von den Anhängern der Verhältniswahl als ihr hauptsächlichster Vorzug gepriesen worden, dass die mit der Wahlkreiseinteilung verbundenen Schwierigkeiten verschwinden oder zum mindesten ganz ausserordentlich verringert werden, da der Gestaltung der einzelnen Wahlkreise keine oder doch nur eine ganz untergeordnete Bedeutung zukomme. Diese Auffassung ist nur sehr beschränkt richtig.

Wie wir schon in anderm Zusammenhange ausgeführt haben, ist eine eigentliche Wahlgerechtigkeit nur dann zu erzielen, wenn das ganze Land einen einheitlichen Wahlkreis bildet. Sobald Wahlkreise gebildet werden, hinkt das System und naturgemäss um so stärker, je kleinere Kreise geschaffen werden und am allerstärksten dann, wenn in deren Feststellung keine Gleichmässigkeit herrscht.

Darüber, dass die Einteilung in Wahlkreise die Durchführung der vollen Verhältnismässigkeit verunmöglicht, bestellt ein Zweifel nicht. Je mangelhafter die Methode ist, nach welcher die Verteilung der Kestmandate zu erfolgen hat, desto grösser sind die Abweichungen von der vollen Verhältnismässigkeit. Es ist durchaus möglich, dass die Minderheit die Mehrheit der Sitze erhält, also zur Mehrheit wird, und darin liegt gegebenenfalls nicht nur ein Mangel, sondern geradezu eine Vernichtung des Grundgedankens der Verhältniswahl. Man ist auf der Suche nach einem System, welches durch zweckmässige Verwendung der umverteilten Stimmreste die theoretischen Abweichungen vom Verhältniswahlgrundsatz praktisch fast bedeutungslos macht, und die Gerechtigkeit gebietet, zuzugestehen, dass man, wie wir oben gesehen, solche Lösungen auf dem Boden der Zusammentragung der Reststimmen aus dem ganzen Lande gefunden hat. Allein sie sind in ihrer Anwendung so verwickelt, dass sich ihre Anwendung kaum empfehlen dürfte. Das durchschlagende Abhülfmittel ist der einheitliche Wahlkreis, und er wird denn auch von

151 Berufenen Vertretern des Verhältniswahlgedankens als die einzigrichtige Lösung bezeichnet; allein es bedarf wohl keiner Ausführung, dass wir für einen solchen Gedanken offenbar nicht reif sind, und dass unser Volk sich eine derartige Einrichtung ·nicht gefallen lassen würde.

Man wird also, will man dem Gedanken der Verhältniswahl :zu einem befriedigenden Ergebnis verhelfen, Wahlkreise mittlerer ·Grosse schaffen müssen. Einerkreise fallen ausser Diskussion. Bei Zweierkreisen mag dahingestellt bleiben, ob, wie von Verfechtern der Verhältniswahl dargetan wird, die Anwendung der Proportionalität nicht nur technisch durchführbar, sondern auch angezeigt ist; jedenfalls ist dann von einem praktisch richtigen Ergebnis der Verhältniswahl 'im Zweierkreis nicht die Rede, wenn mehr als zwei Parteien vorhanden sind. Je mehr grosse ·Parteien tatsächlich vorhanden sind, die miteinander ringen, desto grösser sollte der Wahlkreis sein. Und man darf daher für schweizerische Verhältnisse wohl den Satz aufstellen, dass die Wahlkreise allermindestens Fünferkreise sein sollten. Vor allem aber sollte möglichste Gleichmässigkeit bestehen, nicht eine absolute Gleichheit, aber gleiche Behandlung unter gleichen oder ähnlichen Verhältnissen, so dass der Grundsatz der Verhältnismässigkeit überall in ungefähr gleicher Reinheit zum Ausdruck ·kommen kann.

Prüft man von diesem Gesichtspunkt die von dem uns .beschäftigenden Volksbegehren vorgeschlagene Lösung, so erhellt, dass sie eine ganz unbefriedigende, .nach unserer Auffassung . u n a n n e h m b a r e ist.

Der Grundsatz: Bin Kanton Ein Wahlkreis hat zur Folge,
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Damit ist zum voraus in sieben Kreisen von 25 die Verhältniswahl ausgeschaltet, in weitern zwei Kreisen eine den wirklichen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechende Proportionalwahl in Frage gestellt. Man wird ferner unschwer erkennen, wie verschieden in den einzelnen Wahlkreisen die Aussichten der Berücksichtigung für die in grösserer Anzahl entweder schon vorhandenen oder künftig sich bildenden Parteien und Gruppierungen sich gestalten. Man wird ebensoleicht die ganz gewaltigen Verschiedenheiten der in den einzelnen Kreisen rnassgebenden Wahlquotienten^ die ganz verschiedene Bedeutung, die in den so ungleichen Kreisen den unverbrauchten Reststimmen zukommt, ermessen können. Man wird, wenn das als Hülfsmittel gegen die Zersplitterung der Parteien vorgeschlagene Quorum eingeführt werden sollte, die stossende Ungleichheit in der tatsächlichen Gestaltung der Existenzbedingungen für die einzelnen Parteien ins Auge zu fassen haben. Rechnet man nun noch hinzu, dass in einzelnen dieser Wahlkreise die W a h l p f l i c h t besteht und, im einzelnen wiederum sehr verschieden, sichergestellt ist, in der grossen Mehrheit dagegen nicht, dass also dadurch das Gewicht all der namhaft gemachten Verschiedenheiten und Fehlerquellen noch ganz bedeutend verstärkt wird, so wird man zu dem Ergebnis kommen, dass wir bei Einführung der neuen Wahlgrundsätze von einer zufriedenstellenden Wahlgerechtigkeit noch recht weit entfernt sein würden.

Wenn demgegenüber auf die Mängel der Mehrheitswahlart hingewiesen wird, so vergisst man einen entscheidenden Unterschied. Im bisherigen Verfahren haben wir ein und dasselbe Recht für alle Bürger gewährleistet ; der Initiativvorschlag dagegen schafft einen Ausnahmezustand für einen namhaften Bruchteil unseres Landes. Wenn die Verhältniswahl ein Postulat der Gerechtigkeit und Billigkeit ist, so darf sie nicht einem Teile des Volkes vorenthalten werden; das wichtigste Recht des Bürgers in der Demokratie muss für alle gleich sein. Es erscheint nicht logisch, auf der einen Seite vom Standpunkt der Rechtsgleichheit aus für alle Bürger die gleiche ,, W a h l k r a f t " zu verlangen und auf der andern Seite einem Teil der Bürger sogar das gleiche formelle W a h l r e c h t vorzuenthalten.

Wir wissen nun wohl, dass die Freunde der Verhältniswahl die von ihnen vorgeschlagene
Wahlkreiseinteilung als eine durch unsere bundesstaatlichen Verhältnisse und die ganze geschichtliche Entwicklung gegebene, ganz natürliche betrachten. Wir können diese Auffassung nicht als richtig anerkennen, halten vielmehr

153 dafür, dass das Festhalten an den Kantonsgrenzen von den Initianten einzig aus Zweckmässigkeitsgründen vorgeschlagen wird.

Will man nun aber einer neuen, grossen Idee zum Durchbruch verhelfen, so muss man auch den Mut haben, ihr entgegenstehende Hemmnisse aus dem Wege zu räumen und den Gedanken, den man als Ideal betrachtet, unverkürzt und unverdorben durchzuführen. Unsere bundesstaatlichen Einrichtungen beruhen auf dem Gleichgewichte der beiden Gesetzgebungsfaktoren, Nationalrat und Ständerat, als den Vertretern des gesamten Volkes und den Abgeordneten der Kantone. Die Bestimmung dagegen, wonach Wahlkreise nicht aus Teilen verschiedener Kantone gebildet werden dürfen, und wonach jeder Kanton und jeder Halbkanton ohne Rücksicht auf die Seelenzahl seiner Bevölkerung wenigstens ein Mitglied zu wählen hat, ist keine Grundbestimmung des ßundesstaates., Auch wenn für die Wahl in die Kammer der Volksvertretung die kantonalen Grenzen nicht berücksichtigt werden, ja auch dann, wenn aus dem ganzen Lande ein einheitlicher Wahlkreis gebildet würde, geschieht dem Wesen des Bundesstaates kein Eintrag, und es ist insbesondere auch unzutreffend, aus der in Art. l der Bundesverfassung zum Ausdruck gebrachten Bildung der Eidgenossenschaft aus den 22 souveränen Kantonen eine Bindung für die Bildung der Wahlkreise ableiten zu wollen ; gerade deswegen, weil der Nationalrat nicht die Gesamtheit der Vertreter dieser souveränen Kantone, sondern des gesamten Schweizervolkes ist, muss es gleichgültig sein, ob die Wahl innerhalb der Kantonsgrenzen sich vollzieht oder aber in Kreisen, die sich aus Gebietsteilen mehrerer Kantone zusammensetzen. Der Bestimmung vollends von Art. 72, Absatz 3 der Bundesverfassung, wonach jeder Kanton und bei geteilten Kantonen jeder der beiden Landesteile wenigstens ein Mitglied zu wählen hat, kommt nur transitorische Bedeutung zu. Sie musste seinerzeit aufgenommen werden als Ergänzung zu Absatz 2, wonach ein Mitglied auf 20,000 Seelen oder eine Bruchzahl über 10,000 Seelen gewählt wird, weil es damals einen Halbkanton gab, der nicht 10,000 Seelen .

aufwies. Sie hat heute jede praktische Bedeutung verloren und steht mit dem Wesen des Bundesstaates überhaupt in gar keinem Zusammenhange. N So können es also nur politische Bedenken und Zweckmässigkeitserwägungen sein, die einer mit dem
Grundsatz der Rechtsgleichheit in Einklang stehenden Einführung der Verhältniswahl mit entsprechender Wahlkreiseinteilung entgegenstehen. Wenn die Vorzüge des neuen Wahl Verfahrens so ausschlaggebend sind,

154 wie dessen Verfechter, offenbar in guten Treuen, annehmen, so müssen dann eben auch die mit der Änderung der Wahlkreisgrundlagen verbundenen Nachteile in den Kauf genommen werden.

Die Initianten wollen das heute so wenig als bei den Initiativbewegungen der Jahre 1900 und 1910; sie wollen eine weitere Abänderung verfassungsmässiger Vorschriften, als sie durch die Einführung der Verhältniswahl unmittelbar notwendig wird, vermeiden, um die Reibungsflächen der Neuerung nicht zu vermehren.

Sie rücken damit vom Boden der grundsätzlichen Entscheidung ab ; die ganze Frage wird zur Zweckmässigkeitsfrage. Wir aber können es nicht billigen, wenn aus solchen Erwägungen eine grundsätzlich widerspruchsvolle,' verkrüppelte Lösung der Wahlreform vorgeschlagen wird. Sollen die nach unserer Wertung der Verhältniswahl anhaftenden erheblichen Mängel und die mit ihr verbundenen Gefahren und Risiken in den Kauf genommen werden, so soll wenigstens eine g a n z e Lösung vorgeschlagen werden.

Wir kommen zum Schlüsse. Bei aller Anerkennung des guten Kerns, der in dem Gedanken der Verhältniswahl liegt, kann weder die grundsätzliche Richtigkeit des Systems noch dessen Zweckmässigkeit oder gar die N o t w e n d i g k e i t seiner Einführung in Hinsicht auf unsere besondern Verhältnisse im Bunde zugegeben werden. In Abwägung der mit den verschiedenen Ausgestaltungen des Proportionalitätsgrundsatzes verknüpften Vorteile und Mängel, in Würdigung insbesondere der tatsächlichen politischen Verhältnisse und unserer verfassungsrechtlichen Einrichtungen vermögen wir in der Einführung der Verhältniswahl keinen wirklichen Fortschritt zu erblicken, könnten vielmehr den mit ihr verbundenen Folgen für die Entwicklung unseres staatlichen Lebens nur mit ernsten Bedenken entgegensehen. Im besondern erscheint uns die Eingliederung des neuen Wahl Verfahrens in der Form, die ihr das Volksbegehren geben will, nicht als annehmbar.

Wir stellen daher den

Antrag, Sie wollen in Anwendung von Art. 8 ff. des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Revision der Bundesverfassung beschliessen, das Volksbegehren um Abänderung des Art. 73 der Bundesver-

155 fassung (Verhältniswahl des Nationalrates) sei abzulehnen und der Abstimmung des Volkes und der Stände, ohne einen Gegenentwurf der Bundesversammlung und mit dem Antrage auf Verwerfung, zu unterbreiten.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 16. März 1914.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Hoffmann.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

# S T #

Aus den Verhandlungen des Bundesrates.

(Vom 13. März 1914.)

Das allgemeine Bauprojekt der Strassenbahn Winterthur für die Linien Bahnhof-Stadtrain, Grabengasse-Deutweg und BahnhofWülflingen wird unter einigen Bedingungen genehmigt (Vom 17. März 1914.)

Herrn J. H. G r o e n e w e g wird das Exequatur erteilt als Vizekonsul der Niederlande in Bern.

In die Kommission für die ärztlichen Fachprüfungen in Basel wird als Ersatzmann ernannt : Herr Dr. Felix v o n We r d t, Privatdozent in Basel.

Dem Organisationskomitee des Kongresses für Ethnologie und Ethnographie, der im Juni 1914 in Neuenburg zusammentritt, wird ein Bundesbeitrag von 3000 Fr. zugesichert.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Volksbegehren um Einführung der Verhältniswahl für die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat. (Vom 16. März 1914.)

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Jahr

1914

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

12

Cahier Numero Geschäftsnummer

513

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

25.03.1914

Date Data Seite

119-155

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