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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen betreffend die Krankenversicherung.

(Vom 6. März 1914.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Das Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 ermächtigt die Kantone, die Krankenversicherung obligatorisch zu erklären und öffentliche Kassen einzurichten, unter Berücksichtigung der bestehenden Krankenkassen.

Es stellt es den Kantonen frei, diese Befugnisse ihren Gemeinden zu überlassen.

Das Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartement ist in die Lage gekommen, hinsichtlich einzelner aufgeworfener Fragen seine Ansicht über die Auslegung und Anwendung der erwähnten Bestimmung des Bundesgesetzes auszusprechen. Wir verweisen auf seine Verfügungen vom 16. Oktober 1913, die den Kantonsregierungen durch Zirkular des Bundesamtes für Sozialversicherung vom 18. Oktober 1913 zur Kenntnis gebracht worden und die in der vom genannten Bundesamt herausgegebenen beiliegenden gedruckten Zusammenstellung grundsätzlicher Entscheide vom 31. Dezember 1913 enthalten sind.

In der Folge ist die Streitfrage über den Umfang des Obligatoriums aufgetaucht. Es wurde gefragt: Dürfen die Kantone nur anordnen, dass die von ihnen unter Versicherungspflicht gestellten Personen einer anerkannten Kasse angehören müssen, oder können sie auch vorschreiben, für welche Leistungen diese Personen versichert sein sollen? Zu dieser bedeutungsvollen Frage haben Vertreter sowohl von Kantonsregierungen wie auch von Kassen Stellung genommen. Insbesondere ist auch den Mitgliedern

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der vom Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartement im Hinblick auf die Durchführung der Krankenversicherung eingesetzten Kommission Gelegenheit gegeben worden, sich zu äussern.

Die Auffassungen waren sehr geteilte. Das Departement unterbreitete uns, nachdem es auch einen Mitbericht unseres Justizdepartements eingeholt hatte, die Frage zur Entscheidung. Seinem Antrage gemäss fassten wir am 26. Januar laufenden Jahres folgenden Beschluss : ,,Das Industriedepartement wird ermächtigt, durch sein ,,Bundesamt für Sozialversicherung bei der Prüfung der kan,,tonalen Einführungsgesetze und auf gestellte Anfragen hin ,,erklären zu lassen : ,,1. Der Bundesrat wird den von den Kantonen oder den Ge,,meinden in Anwendung des ersten Absatzes von Art. 2 ,,des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallver,,sicherung vom 13. Juni 1911 erlassenen Bestimmungen ,,grundsätzlich die Genehmigung nicht deshalb verweigern, ,,weil sie als Inhalt des Obligatoriums eine über das ge,,setzliche Minimum hinausgehende Versicherung vor,,schreiben.

,,2. Der Bundesrat wird jedoch in jedem einzelnen Falle prüfen, ,,ob der Inhalt des Obligatoriums geeignet ist, die durch ,,Verfassung und Gesetz vorgeschriebene Berücksichtigung ,,der bestehenden Kassen zu verletzen. Ist dies der Fall, ,,so wird der Bundesrat die Genehmigung aus diesem ,,Grunde verweigern.tt Der sub 2 gemachte Vorbehalt hat, an einem Beispiel angewendet, folgende Bedeutung: Der Kanton ist grundsätzlich frei, die Krankenpflegeversicherung (ärztliche Behandlung und Arznei) als obligatorisch zu erklären. Wenn aber die Mehrzahl der auf seinem Gebiet bestehenden anerkannten Kassen für die Gewährung dieser Versicherung bis jetzt nicht eingerichtet waren und wenn ihnen die Einführung derselben nicht zugemutet werden kann (z. B. wegen des ablehnenden Verhaltens der Ärzte u. dgl.), so sind sie in ihrem Rechte auf Berücksichtigung verletzt. Ferner : Der Kanton kann die Dauer der Leistungen der obligatorischen Versicherung bestimmen. Geht er aber dabei so weit, dass die privaten anerkannten Kassen nicht in der Lage sind, das Verlangte zu bieten, so sind sie in ihrem Bestehen nicht berücksichtigt.

Da es den Kantonen freisteht, ihre ihnen durch Art. 2 des Bundesgesetzes eingeräumten Befugnisse den Gemeinden zu über-

495 lassen, so ist, wenn sie von diesem Rechte Gebrauch machen, unser Beschluss auch auf die Erlasse der einzelnen Gemeinden anwendbar. Immerhin ist zu bemerken, dass die voneinander wesentlich abweichenden Erlasse verschiedener Gemeinden gerade wegen ihrer Unterschiede noch mehr als ein kantonaler Erlass geeignet sind, die anerkannten Kassen zu verletzen, da namentlich die über ein grösseres Tätigkeitsgebiet sich erstreckenden Kassen nicht leicht in der Lage sein werden, ihre Statuten zahlreichen voneinander abweichenden Gemeindeobligatorien anzupassen. Dazu kommt aber noch folgendes: Die von den Kantonen oder von den Gemeinden in Anwendung von Art. 2 des Bundesgesetzes erlassenen Bestimmungen bedürfen unserer Genehmigung. Dieser Genehmigungsvorbehalt legt uns nicht nur die Pflicht auf, zu prüfen, ob die durch Art. 2 eingeräumten Befugnisse nicht überschritten sind, sondern er erinnert daran, dass das Recht zur Einführung der obligatorischen Versicherung und zur Errichtung öffentlicher Kassen durch die Bundesverfassung dem Bunde eingeräumt worden ist, und dass demnach der Bund, wenn er auch seine Befugnisse den Kantonen für sich und zuhanden der Gemeinden übertragen hat, doch der Ausgestaltung der obligatorischen Versicherung im Sinne der Verfassungsbestimmung seine Aufmerksamkeit zu schenken hat. Im Sinne der Verfassung aber lag ein eidgenössisches, also ein einheitliches Obligatorium. War dasselbe auch zurzeit nicht 7u erreichen, so dürfen wir nicht ausser Auge lassen, dass die kantonalen Erlasse das eidgenössische Obligatorium, wenn auch nicht vorbereiten, so doch für die Zukunft nicht erschweren sollen. In erhöhtem Masse gilt dies für die Erlasse der Gemeinden. Wo der Kanton vorläufig nicht selbst den Versicherungszwang ausspricht, sondern die Gemeinden als Pioniere vorausschickt, ist gleich von Anbeginn an darüber zu wachen, dass aus dem getrennten Vorgehen der einzelnen Gemeinden nicht eine derartige Vielspurigkeit und Zersplitterung entsteht, dass sie in der Folge die Schaffung eines kantonalen und damit des eidgenössischen Obligatoriums hindert, statt sie in die Wege zu leiten.

Aus den dem Bundesamt für Sozialversicherung bis jetzt zugekommenen Entwürfen kantonaler Gesetze ist ersichtlich, dass für die Einführung der obligatorischen Versicherung, wo sie überhaupt vorgesehen wird, zum Teil
sehr voneinander abweichende Wege beschriften werden. Es erklärt sich dies aus der Verschiedenheit in der bisherigen Entwicklung der Krankenversicherung in den einzelnen Kantonen und aus politischen, insbesondere

496 aus referendumspolitischen Erwägungen. Es soll denn auch, nachdem der Bund für einmal die Materie den Kantonen überlassen hat, einem gesunden Partikularismus nicht durch Aufzwingung eines die Bedürfnisse der einzelnen Kantone wohl nicht befriedigenden einheitlichen Schemas entgegengearbeitet werden. Dagegen erscheint es uns im Hinblick auf eine rationelle Durchführung des Gesetzes unerlässlich, dass die Kantone, wenn sie das Obligatorium nicht selbst durchführen, den Gemeinden nicht völlig freie Hand lassen, sondern dass sie ihnen wenigstens die hauptsächlichsten Grundsätze als Richtlinien vorschreiben. Geschieht dies nicht, so besteht die Gefahr, dass die autonomen Gemeinden, denen wohl vielfach die Erfahrung auf diesem Gebiete abgeht, Bestimmungen erlassen, die einen Teil der Bevölkerung unnötigerweise belasten, ohne doch dem Zwecke des Gesetzes zu dienen, die in ihrer Durchführung die Einrichtung des Versicheruugszwanges unbeliebt machen und damit ceiner zukünftigen Ausdehnung auf das kantonale 0 und das eidgenössische Gebiet neue Gegner zu den bisherigen schaffen, und die schliesslich durch ihre Vielgestaltigkeit, ihre Verschiedenheiten und Gegensätze diese Ausdehnung auch praktisch erschweren.

Den Kantonen, die ihre Rechte aus Art. 2 des Bundesgesetzes den Gemeinden überlassen, schlagen wir vor, wenigstens folgende Punkte einheitlich für die Gemeinden verbindlich zu ordnen : 1. Die B e v ö l k e r u n g s k l a s s e n , für welche die Gemeinden die Versicherung obligatorisch erklären können, sollten vom Kanton bezeichnet werden. Dabei wird allerdings ein Rahmen zu schaffen sein, der es den Gemeinden erlaubt, ihre Verhältnisse zu berücksichtigen. Es soll aber vermieden werden, dass eine Gemeinde die gesamte Bevölkerung, arm und reich, jung und alt, unter Versicherungszwang stellt, während die Nachbargemeinde nur die in einem bestimmten Alter stehenden, unselbständig Erwerbenden mit einem beschränkten Einkommen versichert wissen will.

2. Die Erklärung des Obligatoriums allein genügt für dessen Durchführung nicht. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Versicherungspflichtigen auch wirklich Aufnahme in eine Kasse finden, sei es, dass mit anerkannten privaten Kassen bezügliche V e r t r ä g e abgeschlossen, sei es, dass ö f f e n t l i c h e K a s s e n errichtet werden. Es empfiehlt sich
die einheitliche Regelung auch dieser Frage und zwar in dem Sinne, dass die Gemeinden, die das Obligatorium einführen, gleichmässig alle verpflichtet oder doch ermächtigt werden, öffentliche Kassen zu errichten oder Verträge mit privaten anerkannten Kassen abzuschliessen.

497 3. Der Vertrag mit der privaten Kasse und die Errichtung einer öffentlichen Kasse gewährleistet eine richtige Durchführung des Obligatoriums unter anderem nur dann, wenn die Versicherungspflichtigen Personen nicht den üblichen Aufnahmebedingungen hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes unterliegen. Wohl soll die Vertragskasse wie die öffentliche Kasse nicht gehalten sein, Invalide aufzunehmen, welche die Kasse sofort und voraussichtlich für die ganze Dauer der Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen werden; aber es soll an den Gesundheitszustand nicht der gleiche Massstab angelegt werden, wie ihn die Kassen bei der freiwilligen Versicherung begreiflicherweise anwenden. Die einheitliche Regelung dieser Frage für alle das Obligatorium einführenden Gemeinden ist geboten.

4. Das gleiche gilt hinsichtlich des Ausschlusses der obligatorisch Versicherten. Die privaten Kassen müssen sich den regelmässigen Eingang der Prämien durch die Androhung des Ausschlusses der Säumigen sichern können. Sie müssen ferner berechtigt sein, Mitglieder auszuschliessen, die in anderen Beziehungen ihre statutarischen Pflichten verletzen. · Gegenüber freiwillig Versicherten, die ihr Interesse an der Versicherung durch ihren Beitritt zur Kasse an den Tag gelegt haben, ist die Androhung des Ausschlusses ein wirksames Mittel. Anders bei vielen obligatorisch Versicherten, die erst durch den Versicherungszwang Mitglieder von Kassen geworden sind. Dieselben werden die Mitgliedschaft oft als eine Last empfinden, oder ihr doch gleichgültig gegenüberstehen. Der Ausschluss aus der Kasse ist ihnen deshalb nur erwünscht, oder er schreckt sie doch nicht.

Wenn also nicht bewirkt werden will, dass eine Anzahl Versicherungspflichtiger sich durch Renitenz oder Gleichgültigkeit vom Versicherungszwang befreien, so muss ihnen gegenüber eine andere Massnahme als der Ausschluss aus der Kasse, angedroht werden. Jedenfalls sollte von den Kassen verlangt werden, dass sie die obligatorisch Versicherten wegen Säumigkeit in der Prämienzahlung nicht ausschliessen, was allerdings voraussetzt, dass Kantou oder Gemeinde der Kasse gegenüber für die Prämien einsteht, wobei der Regress gegen die Pflichtigen gewahrt werden kann.

Wünschenswert ist unter allen Umständen, dass der Kanton den Gemeinden eine gleichmässige Ordnung dieser Frage vorschreibt.
5. Die D u r c h f ü h r u n g des V e r s i c h e r u n g s z w a n g e s ist in den bis jetzt vorliegenden Entwürfen in verschiedener Weise vorgesehen. Während ein Kanton die zwangsweise Einschreibung Bundesblatt. 66. Jahrg. Bd. I.

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498 der renitenten oder gleichgültigen Versicherungspflichtigen anordnet, stellt ein anderer Straf bestimmungen auf, und ein dritter überlässt die Lösung dem Ermessen der Gemeinden. Wir möchten, jedenfalls von diesem letzteren Verfahren im Interesse einer einheitlichen Durchführung abraten. Im übrigen scheint uns nur die zwangsweise Einschreibung wirksam zu sein, wobei darauf Bedacht zu nehmen ist, dass diese Einschreibung durch vertragliche Abmachung auch bei privaten Kassen möglich ist, wo eine öffentliche nicht besteht. Die Busse dürfte oft unerhältlich sein; überdies hat das Strafverfahren ohne zwangsweise Einschreibung den Nachteil, dass während seiner Dauer der Versicherungspflichtige nicht versichert ist.

6. Aus den im Eingang dieses Kreisschreibens erwähnten Gründen empfehlen wir, dass die Kantone auch hinsichtlich des I n halts des O b l i g a t o r i u m s ihr Recht den Gemeinden nicht zu beliebigem Gebrauche abtreten, sondern dass sie, unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse, die L e i s t u n g e n vorschreiben, die von den Gemeinden als Inhalt des Obligatoriums erklärt werden können.

7. Eine obligatorische Versicherung wird nicht anders durchgeführt werden können, als wenn der Kanton oder die Gemeinde die Beiträge derjenigen Versicherungspflichtigen übernehmen, die sie selbst nicht aufbringen können. Es ist also nötig, dass der Kanton, wenn und soweit er diese Beiträge nicht selbst auf sich nimmt, deren Tragung durch die Gemeinden ordnet. Die einheitliche Regelung wird auch eine gleichmässige Festsetzung der Bundesbeiträge an die Gemeinden nach Art. 38 des Bundesgesetzes erleichtern.

8. Wie wir schon oben angedeutet haben, wird der Kanton, der sein Recht auf Einführung der obligatorischen Versicherung den Gemeinden überlässt, dies gleichzeitig auch tun hinsichtlich der Errichtung öffentlicher Kassen; denn diese sind, wo private Kassen nicht bestehen oder zur Aufnahme der obligatorisch Versicherten nicht gewillt sind, zur Durchführung des Obligatoriums unerlässlich. Nun genügt es aber nicht, öffentliche Kassen ins Leben zu rufen; es muss auch dafür gesorgt werden, dass sie durch allfällige B e t r i e b s d e f i z i t e nicht zugrunde gerichtet werden. Darauf hat auch der Bund als Subvenient Anspruch, und das verlangt auch Art. 3, Abs. 4 des Bundesgesetzes. Es ist also,
wo diese Pflicht sich nicht ohne weiteres aus der Stellung der Gemeinden ergibt, ihnen die Deckung allfälliger Defizite der von .ihnen errichteten öffentlichen Kassen aufzuerlegen.

499 9. Das Bundesgesetz bestimmt, dass die Kassen ihre Mittel nur zu Zwecken der Versicherung verwenden dürfen. Dies gilt insbesondere auch für den Fall der Auflösung, da die Bundesbeiträge es ermöglicht haben werden, allfällig in diesem Zeitpunkte vorhandenes Vermögen zu sammeln. Hinsichtlich der privaten Kassen wird über die Befolgung der Bestimmung bei der Anerkennung der Statuten gewacht werden können. Für die öffentlichen Kassen empfiehlt sich eine Bestimmung im öffentlichrechtlichen Erlass des Kantons.

10. Will der Kanton die Entwicklung der obligatorischen Krankenversicherung überwachen, so wird er bei Übertragung der Befugnisse an die Gemeinden seiner Regierung ein bezügliches, allgemeines Aufsichts- und I n t e r v e n t i o n s r e c h t vorbehalten.

Wir laden die Kantonsregierungen ein, diesen Anregungen bei der Aufstellung allfälliger Entwürfe der auf Grund von Art. 2 des Bundesgesetzes zu erlassenden Bestimmungen Rechnung tragen zu wollen.

Wir benützen diesen Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 6. März 1914.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d esp r ä s i d e n t : Hoffmann.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmana.

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Kreisschreiben des Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen betreffend die Krankenversicherung. (Vom 6. März 1914.)

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11.03.1914

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