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Schweizerisches Bundesblatt.

49. Jahrgang. III.

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Nr. 28.

14. Juli 1897.

Bundesratsbeschluss über

den Rekurs des Joseph Chaperon und Genossen gegen die Gemeindewahlen in St. Gingolph vom 13. Dezember 1896.

(Vom 2. Juli 1897.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e sr a t , nach Einsicht des Rekurses des Joseph C h a p e r o n und Genossen gegen die Gemeindewahlen in St. Gingolph vom 13. Dezember 1896, in E r w ä g u n g : In thatsächlicher Beziehung :

1. Ani 13. Dezember 1896 fanden in St. Gingolph die Gemeindewahlen statt.

Die Wahl der nachstehend genannten Bürger in den Gemeinderat wurde als zu stände gekommen erklärt: Chaperon, Félix, des Jean sei. . . mit 93 Stimmen Brousoz, Benjamin ,, 92 ^ Dérivaz, André ,, 91 ,, Duchoud, Joseph ,, 90 ,, Richon, Simon ,, 90 ,, Dérivaz, Pierre ,. 90 ,, Bei allen sechs Wahlen hatten sich 179 Stimmende beteiligt; im zweiten Wahlgang wurde Chaperon Joseph mit 85 von 154 Bundesblatt. 49. Jahrg. Bd. HL

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Stimmen als gewählt erklärt, hierauf Brousoz Benjamin mit 94 von 95 Stimmen als Präsident und Duchoud Joseph mit 81 von 83 Stimmen als Vizepräsident des Gemeinderates gewählt.

2. Mit Eingabe vom 18. Dezember 1896 reichten Joseph Chaperon und Genossen beim Staatsrat von Wallis gegen dieses Abstimmungsresultat Rekurs ein, worauf genannte Behörde durch Entscheid vom 15. Januar 1897 die Wahlen vom 13. Dezember 1896 validierte und den Rekurs als unbegründet abwies.

3. Gegen diesen Entscheid erheben unterm 8. Februar 1897 Joseph Chaperon und Genossen Beschwerde beim Bundesrat und verlangen dessen Aufhebung, wobei sie folgende Erwägungen geltend machen: Gemäß dem WaUiser Gesetze vom 24. Mai 1876 über dio Wahlen und Abstimmungen in den Urversammlungon haben die Gemeindebehörden jeweilen sechs Wochen vor den Gemeindewahlen eine Namensliste der stimmfähigen Bürger veröffentlichen und anschlagen zu lassen, wovon ein Doppel auf der Gemeindekanzlei zu hinterlegen ist. Wie vom Weibel bezeugt wird, ist die Liste der Stimmfähigen am 1. November 1896 öffentlich angeschlagen, aber noch am gleichen Tage um 4 Uhr nachmittags auf Veranlassung des Gemeindepräsidenten wieder entfernt worden und nicht mehr zum Vorschein gekommen, außer vielleicht für einen vorübergehenden Augenblick am H. Dezember. Als einige Bürger Einsicht in die Liste verlangten, wurde ihnen dies vom Gemeindepräsidenten verweigert. Die Wähler von St. Gingolph waren also nicht in der Lage, die Stimmliste zu kontrollieren und gegebenen Falls bei der Gemeindebehörde, eventuell dem Staatsrate gegen unrichtige Eintragungen Einsprache zu erheben. Sie sahen sich so eines wichtigen bürgerlichen Rechtes beraubt.

Dieses vorschriftswidrige Verfahren ausnützend, haben der Präsident Brousoz und seine Anhänger sich die Stimmgabo von Bürgern zu verschaffen gewußt, welche in St. Gingolph gar kein Stimmrecht besaßen ; so waren z. B. die Bürger Duchoud Pierre, des André sel., Duchoud Pierre, des Benjamin, Richon Henri, des Henri sei., auf der Stimmliste eingetragen und haben an der Wahl vom 13. Dezember 1896 teilgenommen; ebenso haben gestimmt die Bürger Duchoud Elie-Pierre, Christin Charles-Modeste-Oscar, Christin Alphonse, und Christin Julien ; alle diese Genannten aber haben Wohnsitz und Stimmrecht in Genf, mit Ausnahme von Henri Richon, der in Port-Vaiais wohnhaft und im dortigen Stimmregistcr eingetragen ist. Der Staatsrat des Kantons Wallis giebt selbst zu,

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daß Duchoud Elie-Pierre, Christin Charles und Christin Alphonse ia den Stimmregistern von Genf eingetragen sind, und wendet bloß ein, daß dieselben an den letzten Wahlen in Genf nicht teilgenommen hätten. Deswegen bleibt aber trotzdem bestehen, daß die Genannten entgegen dem Art. 43, AI. 3, der Bundesverfassung am 13. Dezember in St. Gingolph gestimmt haben.

Diese Unregelmäßigkeiten sind nicht, wie der Staatsrat behauptet, als bloße tadelnswerte Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz zu betrachten, welche auf die Gültigkeit der Wahl keinen Einfluß ausüben konnten. Wären dieselben nicht vorgekommen, so würden gegen teils die Wahlen vom 13. Dezember, bei welchen der. Präsident Brousoz und dessen Anhänger mit nur einer oder zwei Stimmen Mehrheit triumphierten, einen ganz anderen Ausgang genommen haben. Die Rekurrenten stellen deshalb das Begehren, es möchten die Wahlen kassiert und es solle eine neue Abstimmung angeordnet werden.

4. In seinen Vernehmlassungen vom 13. März und 22. April abhin, wovon die letztere sich auf die Berichterstattung des Gemeinderates von St. Gingolph stützt, bringt der Staatsrat folgende Bemerkungen an: Was die Publikation der Wählerliste betrifft, so wurde letztere für die auf den 13. Dezember angesetzten Wahlen am 1. November angeschlagen. Die im Gesetze vom 24. Mai 1876 vorgesehene Frist von sechs Wochen ist somit innegehalten worden. Allerdings ist die Liste nicht permanent angeschlagen geblieben, sondern am gleichen Abend wieder entfernt worden; nach dem.Wortlaut von Art. 63 des oben citierten Gesetzes kann aber diese Zuwiderhandlung nicht die Ungültigkeit der Wahl zur Folge haben, sondern höchstens eine Geldbuße nach sich ziehen, welche denn auch vom Staatsrate verhängt worden ist, indem er dem Gemeinderate die Hälfte der Untersuchungskosten und Kanzleigebühren auferlegte.

In Bezug auf den zweiten Punkt geht aus der durch den Staatsrat eingeleiteten Untersuchung hervor, daß Duchoud EliePierre, Christin Charles, und Christin Alphonse, alles Bürger von St. Gingolph, gleichzeitig in den Stimmregistern dieser Gemeinde und in denjenigen des Kantons Genf, wo sie gegenwärtig wohnen, eingetragen sind. Die durch Vermittlung der Regierung von Genf gepflogenen Erkundigungen haben jedoch nicht mit Sicherheit ergeben, daß die genannten Bürger an den letzten Wahlen dieses Kantons teilgenommen hätten ; eine Verletzung von Art. 43, AI. 3, der Bundesverfassung ist demnach nicht nachgewiesen. Die Regie-

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rung von Wallis gründet sich hierbei auf die Thatsache, daß nach Art. 58 des Walliser Wahlgesetzes in Gemeindeangelegenheiten der stimmfähige Bürger die politischen Rechte in seiner Heimatgemeinde auch dann ausüben kann, wenn er nicht mehr in derselben wohnt.

Er hat zu dem Zwecke bloß 6 Monate zum voraus eine bezügliche Erklärung abzugeben. Die in Frage stehenden Bürger sind im Stimmregister von St. Gingolph eingetragen gehlieben, haben also dort ihr Stimmrecht beibehalten.

Richon Henri und Christin Julien sind im Stimmregister von St. Gingolph eingetragen und haben dort gestimmt, Duchoud Pierre, des André sel., und Duehoud Pierre, des Benjamin sei., haben an der Abstimmung vom 13. Dezember 1896 nicht teilgenommen.

In rechtlicher Beziehung: I. Gemäß Art. 189. AI. 4, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, ist der Bundesrat kompetent, über Beschwerden betreffend die, politische Stimmberechtigung der Bürger und betreuend kantonale Wahlen O O D und Abstimmungen MI entscheiden, und zwar auf Grundlage sämlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechts und des Bundesrechts. In Bezug auf den ersten Funkt, in -welchem der Entscheid des Staatsrates von Wallis von den Rekurrenten angefochten wird, ist unbestritten, da K die im Walliser Gesetz über die Wahlen und Abstimmungen in den Urversammlungen, vom 24. Mai 1876 vorgeschriebene Publikation der Namensliste der stimmfähigen Bürger nicht in richtiger Weise stattgefunden hat. Art. 30, AI. 2, dieses Gesetzes schreibt -vor : "Sechs Wochen vor den Wahlverhandlungen haben sie (se. die Gemeindebehörden) das Namenverzeichnis der zur Zeit der Wahlvornahm stimmfähigen Bürger veröffentlichen und anschlagen zu lassen und ein Doppel davon hei dein Gemeindesekretariat zu hinterlegen. In dem angefochtenen Entscheide setzt nun aber der Staatsrat, aus einander, daß die Außerachtlassung dieser Formalität nicht dir Ungültigkeit der Wahl zur Folge haben könne. Der Bundesrat hat seinerseits nicht zu untersuchen, oh diese von der kompetenten Behörde gegebene Interpretation des kantonalen Gesetzes richtig sei oder nicht (vergl. v. Salis, Bundesrecht II, Nr. 777). Anderseits wird von den Rekurrenten nieht behauptet, daß dieselbe mit der über diesen Punkt bestehenden Rechtsprechung im Widerspruch stehe oder eine willkürliche sei.

879 Die begangene Unregelmäßigkeit konnte also Ungültigkeit der "Wahl nur dann zur Folge haben, wenn Grund zur Annahme vorhanden war, daß das Stimmregister nicht in Ordnung gewesen sei, daß es -Bürgern, die kein Stimmrocht besaßen, die Teilnahme an der Abstimmung erlaubt, oder solche Bürger, welche stimmberechtigt waren, davon ausgeschlossen habe.

II. In diesem Punkte haben die Rekurrenten folgende Gesetzesverletzungen namhaft gemacht : Die Bürger D u c h o u d Pierre, des André sel., D u c h o u d Pierre, des Benjamin, R i e h o n Henri, des Henri sei., C h r i s t i n Julien, D u c h o u d Elie-Pierre, C h r i s t i n Charles-Modeste-Oscar und C h r i s t i n Alphonse hätten an der Abstimmung teilgenommen, ohne hierzu berechtigt zu sein.

Die durch die Walliser Regierung abgegebenen Erklärungen lassen annehmen, daß die zwei Erstgenannten am 13. Dezember in St. Gingolph nicht gestimmt haben. Die drei letztem dagegen haben an der Wahl teilgenommen, obschon sie in Genf wohnhaft und in den Stimmregistern dieses Kantons eingetragen sind. Der Staatsrat behauptet n u n , da dieselben an den letzten Wahlen in Genf nicht teilgenommen hätten, seien sie gemäß Art. 58 des Walliser Wahlgesetzes in St. Gingolph stimmberechtigt gewesen.

Der besagte Art. 58 lautet wie folgt: ,,Niemand kann in zwei Gemeinden das Wahlrecht ausüben. Jede Zuwiderhandlung gegen diese Verfügung wird mit einer Buße von fünfzig Franken bestraft.

Derjenige, welcher in der Gemeinde, wo er das Bürgerrecht besitzt, nicht aber wohnhaft ist, zu stimmen begehrt, muß den Rat seines Wohnsitzes und denjenigen der Gemeinde, wo er seine politischen Rechte ausüben will, sechs Monate vor der Wahlzeit davon in Kenntnis setzen.ct Diese Interpretation von Art. 43, AI. 3, der Bundesverfassung ist eine irrtümliche. Es geht nicht an, daß ein Bürger in zwei Kantonen zugleich Stimmrecht besitze, mag er dasselbe auch faktisch nur in einem Kanton ausüben. Art. 58, AI. 3, des Walliser Gesetzes vom 24. Mai 1876 kann von diesem Fundarnentalgrundsatz des eidgenössischen Rechtes keine Ausnahme machen. Nach ihrer Eintragung in die Stimmregister von Genf waren die in Frage stehenden Bürger in der Gemeinde St. Gingolph nicht mehr stimmberechtigt; die bei den letzten Wahlen von ihnen abgegebenen Stimmen müssen somit annulliert worden, (von Salis II, 792, Bundesbl. 1879, II, «05. von Salis H, 795, Bundesbl. 1877, IV, 145.)

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Was dea Bürger Henri Richon betrifft, so geht aus den Akten hervor, daß er in Bouveret wohnhaft und seit mehreren Jahren im Stimmregister von Port-Valais eingetragen ist. Damit aber hat er in St. Gingolph das Stimmrecht eingebüßt. Die von ihm am 3. Mai 1896 in St. Giagolph abgegebene Erklärung, seine politischen Rechte in Zukunft, wie bisher, in dieser Gemeinde ausüben zu wollen, kann diese Rechtslage nicht ändern, dies um so weniger, als Richon den Gemeindebehörden von Port-Valais die gesetzlich vorgeschriebene Mitteilung von seinem Vorhaben nie gemacht hat. Er konnte somit, da er das Stimmrecht in PortValais beibehielt, ein solches in St. Gingolph nicht erwerben, ohne gegen die Walliser Verfassung zu verstoßen, welche in Art. 75 vorschreibt, daß niemand in zwei Gemeinden stimmen kann.

Aus den Akten ist nicht festzustellen, wo der Bürger Christin Julien wohnhaft ist und wo er seine politischen Rechte ausübt; dagegen geht aus dem Berichte des Gemeinderates von St. Gingolph hervor, daß er nicht in dieser Gemeinde wohnt und sich in der nämlichen Situation befindet wie Richon Henri. Seine Stimmgabe ist demnach ebenfalls als ungültig zu erklären.

Aus Obigem erhellt, daß die Zahl der bei der Wahl der sechs ersten Mitglieder des Gemeinderates abgegebenen gültigen Stimmen von 179 auf 174 herabgesetzt werden muß, die absolute Mehrheit also 88 beträgt. Die ungültig erklärten Stimmen müssen von der Zahl der auf die Wahlkandidaten gefallenen Stimmen abgezogen werden; danach ergiebt sich, daß von den im ersten Wahlgang gewählten Gemeinderäten nur der erste, Chaperon Félix, des Jean sei., das absolute Mehr erreicht hat. Der im zweiten Wahlgang mit 85 von 154 Stimmen gewählte Joseph Chaperon hat, auch bei Abzug der sechs ungültigen Stimmzettel, ebenfalls dio absolute Mehrheit auf sich vereinigt. Die Wahl der fünf anderen Gemeinderatsmitglieder und damit auch diejenige des Benjamin Brousoz zum Präsidenten und diejenige des Duchoud, Joseph, zum Vizepräsidenten ist als ungültig zu erklären, beschließt: Der Rekurs wird begründet erklärt in dem Sinne, daß dio am 13. Dezember 1896 stattgehabte Wahl der Bürger Brousox Benjamin, Dérivaz André, Duchoud Joseph, des Louis sei., Richon Simon, des Jean sel., Dérivaz Pierre als Mitglieder des Gomeiudorates von St. Gingolph kassiert wird.

881 Der Staatsrat des Kantons Wallis wird eingeladen, die hiernach notwendigen Maßnahmen zu treffen.

Bern, den 2. Juli 1897.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, De r B u n d e s p r ä s i d e n t : !

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs des Joseph Chaperon und Genossen gegen die Gemeindewahlen in St. Gingolph vom 13. Dezember 1896. (Vom 2. Juli 1897.)

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1897

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14.07.1897

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875-881

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