BBl 2021 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

16.312 Standesinitiative Ergänzung von Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung betreffend Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten Erläuternder Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 27. Januar 2021

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG)1 zur Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2017

M

17.3323

«Krankenkassenprämien. Eltern bleiben Schuldner der nichtbezahlten Prämien der Kinder» (N 5.6.19 Heim, Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit SR 29.10.19, S 4.12.19)

2018

M

18.4176

«KVG. Unterhaltspflichtige Eltern schulden nichtbezahlte Kinderprämien» (N 22.3.19 Brand, Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit SR 29.10.19, S 4.12.19)

27. Januar 2021

Im Namen der Kommission Der Präsident: Paul Rechsteiner

1

SR 832.10

2021-0778

BBl 2021 745

BBl 2021 745

Übersicht Wenn Versicherte ihre Prämien und Kostenbeteiligungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) nicht bezahlen und nach dem Betreibungsverfahren ein Verlustschein ausgestellt wird, vergütet der Kanton dem Versicherer 85 Prozent der ausstehenden Forderungen. In den Jahren 2012 bis 2019 haben die Kantone den Versicherern nahezu zweieinhalb Milliarden Franken für ausstehende Forderungen bezahlt.

Die seit dem 1. Januar 2012 geltende Regelung zum Verfahren bei Nichtbezahlen von Prämien soll aufgrund der seither gemachten Erfahrungen in verschiedenen Punkten verbessert werden. Dabei soll den Anliegen der Kantone, der Versicherten, der Versicherer und der Leistungserbringer ausgewogen Rechnung getragen werden: ­

Minderjährige sollen selber keine Prämien und Kostenbeteiligungen mehr schulden, sondern die Eltern sollen dafür haften. So kann verhindert werden, dass junge Menschen für Prämienschulden aufkommen müssen, sobald sie erwachsen werden.

­

Die Versicherer sollen die säumigen Versicherten höchstens zweimal pro Jahr betreiben dürfen. So kann teurer administrativer Aufwand verhindert werden.

­

Den Kantonen soll es weiterhin möglich sein, Listen säumiger Prämienzahler zu führen, denen nur Notfallbehandlungen von den Versicherern vergütet werden. Da der Begriff der Notfallbehandlung zu Auslegungsschwierigkeiten geführt hat, soll er jedoch definiert werden. Zudem sollen Minderjährige, die keine Prämien mehr schulden sollen, nicht auf den Listen erfasst werden. Eine Minderheit der Kommission beantragt, dass die Kantone keine Listen säumiger Prämienzahler mehr führen können.

­

Versicherte, für die wegen nicht bezahlter Prämien und Kostenbeteiligungen ein Verlustschein ausgestellt wurde, sollen in einer Versicherungsform mit eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer (zum Beispiel einem Hausarztmodell) versichert werden. Bei diesen Versicherungen kann die Prämie bis zu 20 Prozent tiefer ausfallen als bei einer Versicherung mit freier Arzt- und Spitalwahl. Solche Versicherte können den Versicherer und die Versicherungsform nur dann wechseln, wenn entweder sie ihre Schulden bezahlt haben oder der Kanton den Verlustschein vom Versicherer übernommen hat (siehe unten).

­

Was die Bewirtschaftung der Verlustscheine betrifft, soll es neu zwei Möglichkeiten geben: 1) Wie bisher vergütet der Kanton dem Versicherer 85 Prozent der ausstehenden Forderungen, der Versicherer behält den Verlustschein und erstattet 50 Prozent von allfälligen späteren Zahlungen an den Kanton zurück. 2) Der Kanton vergütet dem Versicherer 90 Prozent der ausstehenden Forderung, übernimmt den Verlustschein und wird selber zum Gläubiger.

Da die Kantone einen besseren Überblick über die finanzielle Situation der säumigen Versicherten haben, können sie besser abschätzen, wie diese ihre Schulden sanieren können.

2 / 30

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

2

1

4 4

Entstehungsgeschichte 1.1 Geltendes Recht 1.2 Die Standesinitiative des Kantons Thurgau und die Arbeiten der SGK-S

5

2

Ausgangslage 2.1 Entwicklung der Zahlungsausstände 2.2 Listen der säumigen Prämienzahlenden 2.2.1 Wirkung unterschiedlich beurteilt 2.2.2 Zum Begriff «Notfallbehandlungen» 2.3 Zahl der Betreibungen 2.4 Abtretungsvereinbarungen zwischen Kantonen und Versicherern 2.5 Erledigung parlamentarischer Vorstösse 2.6 Vernehmlassungsverfahren

6 6 8 8 12 13 14 14 15

3

Grundzüge der Vorlage 3.1 Minderheitsantrag

16 18

4

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

18

5

Auswirkungen 5.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen 5.2 Andere Auswirkungen 5.3 Vollzugstauglichkeit

28 28 28 28

6

Verhältnis zum europäischen Recht

29

7

Rechtliche Grundlagen 7.1 Verfassungs- und Gesetzmässigkeit 7.2 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 7.3 Erlassform

29 29 30 30

Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) (Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht) (Entwurf)

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Geltendes Recht

Das Parlament hat die Regelung betreffend nichtbezahlte Prämien und Kostenbeteiligungen (Art. 64a KVG) letztmals am 19. März 2010 geändert. Diese Änderung des KVG beruhte weitgehend auf einer Einigung zwischen dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI), der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) und Santésuisse (Dachverband der Versicherer). Ihre Hauptpunkte sind: ­

Das Verfahren bei Nichtbezahlen von Prämien und Kostenbeteiligungen wird geregelt;

­

der Kanton übernimmt 85 Prozent der Forderungen, die zu einem Verlustschein geführt haben (Abs. 4);

­

als Gegenleistung verzichtet der Versicherer grundsätzlich auf eine Leistungssistierung;

­

er behält den Verlustschein und erstattet 50 Prozent von allfälligen späteren Zahlungen an den Kanton zurück (Abs. 5);

­

die versicherte Person kann den Versicherer nicht wechseln, solange sie säumig ist (Abs. 6).

Bei den Beratungen beschloss das Parlament zudem, die Kantone zu ermächtigen, Versicherte, die ihrer Prämienpflicht trotz Betreibung nicht nachkommen, auf einer Liste zu erfassen. Die Liste ist nur den Leistungserbringern, der Gemeinde und dem Kanton zugänglich. Die Versicherer schieben für diese Versicherten die Übernahme der Kosten für Leistungen auf, mit Ausnahme der Notfallbehandlungen (Art. 64a Abs. 7 KVG).

Gleichzeitig verpflichtete das Parlament die Kantone, die Prämienverbilligung direkt den Versicherern zu bezahlen (Art. 65 Abs. 1 KVG). Dabei wurde auch das Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG)2 so geändert, dass auch der jährliche Pauschalbetrag für die obligatorische Krankenpflegeversicherung nach ELG direkt dem Versicherer auszuzahlen ist.

Der Bundesrat regelte den Vollzug (Art. 105a bis 106e Verordnung über die Krankenversicherung, KVV3) und setzte die Gesetzesänderung auf den 1. Januar 2012 in Kraft.

2 3

SR 831.30 SR 832.102

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1.2

Die Standesinitiative des Kantons Thurgau und die Arbeiten der SGK-S

Am 30. Mai 2016 reichte der Kanton Thurgau die Standesinitiative ein, mit der er den Bund aufforderte, Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung zu ergänzen. Absatz 4 sollte demnach neu wie folgt lauten: «Der Kanton übernimmt 85 Prozent der Forderungen, die Gegenstand der Bekanntgabe nach Absatz 3 waren.

Übernimmt der Kanton 90 Prozent dieser Forderungen, überträgt ihm der Versicherer den Verlustschein oder gleichwertigen Rechtstitel zur Bewirtschaftung. Mit der Übertragung findet ein Gläubigerwechsel statt. Der Kanton zeigt der versicherten Person den Gläubigerwechsel an. Absatz 5 findet in diesen Fällen keine Anwendung.» In der Begründung der Standesinitiative machte der Kanton Thurgau geltend, das Interesse der Versicherer an einem effizienten und wirksamen Inkasso der Krankenkassenprämien sei mit der Einführung von Artikel 64a KVG (siehe Ziff. 1.1) signifikant geschwächt worden. Es sei für die im Kanton Thurgau zuständigen öffentlichen Stellen äusserst störend, dass sie in der Zahlungspflicht stünden, ohne Einfluss auf das Eintreiben der entsprechenden Forderungen nehmen zu können.

Am 13. Februar 2017 hörte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) eine Vertretung des Kantons Thurgau an. Am 28. März 2017 beschloss sie mit 6 zu 0 Stimmen bei 5 Enthaltungen, der Standesinitiative Folge zu geben. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) stimmte diesem Beschluss am 25. Januar 2018 mit 16 zu 6 Stimmen bei 1 Enthaltung zu. Am 2. März 2018 wurde die Initiative dem Ständerat und damit der SGK-S zur Ausarbeitung eines Erlassentwurfs zugewiesen (Art. 117 Abs. 1 ParlG4).

Die Kommission zog dazu ­ gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 Parlamentsgesetz ­ Sachverständige des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) bei.

Im Laufe des Frühjahres 2018 führten Medienberichte über das Versterben eines HIVpositiven Patienten, der auf der Liste der säumigen Prämienzahler des Kantons Graubünden aufgeführt gewesen sei, und ein Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen über die Auslegung des Begriffs «Notfallbehandlungen»5 zu zahlreichen parlamentarischen Interventionen6. Insbesondere reichte die SGK-N am 6. Juli 2018 die Motion «Definition des Notfalls» (18.3708) ein. Sie wollte den Bundesrat beauftragen, eine Änderung
des KVG vorzulegen, um Artikel 64a Absatz 7 mit der Vorgabe zu ergänzen, dass der Kanton die Notfallbehandlungen umschreiben muss. Der Nationalrat nahm die Motion am 19. September 2018 ohne Gegenantrag an.

4 5 6

Parlamentsgesetz (SR 171.10) Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. April 2018, KSCHG 2017/5; siehe auch Ziff. 2.2.2.

18.3400 n Ip. de la Reussille. Im Jahr 2018 in der Schweiz wegen mangelnder Gesundheitsversorgung sterben; 18.3643 n Mo. Barrile. Artikel 64a Absatz 7 KVG. Abschaffung der schwarzen Listen; 18.5269 Fra. Ruiz Rebecca. Krankenversicherung und schwarze Listen. Wie lange will man noch Menschen sterben lassen?; 18.5278 Fra. Heim. Krankenversicherung und schwarze Listen. Ausser Spesen nichts gewesen, nur Aufwand und menschlich problematische Situationen; 18.5296 Fra. Feri Yvonne. Krankenkassenprämien. Zahlung über Lohnabzug; 18.5297 Fra. Barrile. Krankenversicherung. Schwarze Listen können Menschen töten. Widerspricht dies nicht dem Geist der Verfassung und des KVG?

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Vor diesem Hintergrund beschloss die SGK-S am 16. Oktober 2018, Vertretungen der GDK sowie der beiden Dachverbände der Versicherer, Santésuisse und Curafutura, anzuhören. Die Anhörungen fanden am 17. Januar 2019 statt. Im Anschluss daran beauftragte die SGK-S die Verwaltung mit der Erarbeitung eines Vorentwurfs, der das Vorgehen bei Nichtbezahlen der Prämien umfassend verbessern sollte. Die Kommission beriet an ihrer Sitzung vom 29. Oktober 2019 über den entsprechenden Vorentwurf und beauftragte die Verwaltung, Ergänzungen auszuarbeiten.

An der gleichen Sitzung prüfte die Kommission zwei materiell identische Motionen aus dem Nationalrat, die ebenfalls das Thema der nicht bezahlten Prämien betreffen (Motionen 17.3323 und 18.4176). Mit diesen Vorstössen sollte der Bundesrat beauftragt werden, die notwendigen Gesetzesänderungen vorzulegen, damit die Eltern auch dann Schuldner der nicht bezahlten Krankenkassenprämien ihrer unterhaltspflichtigen Kinder bleiben, wenn die Unterhaltspflicht weggefallen ist. Auf Antrag der Kommission nahm der Ständerat beide Motionen am 4. Dezember 2019 ohne Gegenstimme an. Um Doppelspurigkeiten in der Gesetzgebungsarbeit zu vermeiden, baute die Verwaltung entsprechende Bestimmungen im Einverständnis mit der Kommission in den Vorentwurf ein.

Die SGK-S beriet den überarbeiteten und ergänzten Vorentwurf an ihrer Sitzung vom 25. Mai 2020. Sie hiess den Vorentwurf einstimmig gut und beschloss, ihn zusammen mit dem erläuternden Bericht zur Vernehmlassung zu unterbreiten.7 Am 27. Januar 2021 nahm die SGK-S die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens zur Kenntnis und verabschiedete den Entwurf. Im Vergleich zur Vernehmlassungsvorlage änderte sie den Entwurf in zwei Punkten: Sie legt die Anzahl Betreibungen durch Versicherer auf maximal zwei statt vier Mal pro Jahr und versicherte Person fest. Gemäss der Mehrheit der Kommission sollen zudem die Listen säumiger Prämienzahler nicht aufgehoben werden, sondern die Kantone sollen im Rahmen des föderalistischen Vollzugs weiterhin solche Listen führen können, wenn sie dies wünschen. Eine Minderheit beantragt, die Möglichkeit der Listen säumiger Prämienzahler und des Leistungsaufschubes für Versicherte aufzuheben. Die Kommission verabschiedete den Entwurf einstimmig zuhanden ihres Rates; gleichzeitig erhält der Bundesrat die Gelegenheit zur Stellungnahme.

2

Ausgangslage

2.1

Entwicklung der Zahlungsausstände

Mit der letzten Revision von Artikel 64a KVG (siehe Ziff. 1.1) wurde das Problem gelöst, dass Leistungserbringer auf unbezahlten Rechnungen sitzenblieben, weil die Versicherer die Kostenübernahme für Leistungen bei säumigen Versicherten grundsätzlich aufschoben. Die seit dem 1. Januar 2012 geltende Regelung hat indessen dazu geführt, dass die finanzielle Belastung der Kantone kontinuierlich gestiegen ist.

7

Damit die Arbeiten weitergeführt werden können, beschloss der Ständerat am 3. Juni 2020 mit 29 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung, die Behandlungsfrist der Standesinitiative zu verlängern.

6 / 30

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Im Jahr 2019 hatten rund 174 000 Versicherte Zahlungsausstände, für welche der Versicherer einen Verlustschein erhalten und der Kanton 85 Prozent der Forderung übernommen hatte. Die Kantone bezahlten den Versicherern dafür rund 392 Millionen Franken.8 In den Jahren 2012 bis 2019 haben die Kantone den Versicherern insgesamt rund 2,376 Milliarden Franken für ausstehende Forderungen bezahlt. 9 Gewisse Kantone übernehmen 85 Prozent der Forderungen zulasten des Prämienverbilligungskredits.10 Das KVG verpflichtet die Kantone, den Versicherten in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen die Prämien zu verbilligen (Art. 65 Abs. 1 KVG). Der Bund gewährt ihnen jährlich einen Beitrag zur Verbilligung der Prämien (Art. 66 KVG). Sie dürfen diesen Beitrag nicht für andere Zwecke verwenden. Die Kantone stellen aber auch eigene Mittel zur Verfügung, um die Prämien zu verbilligen. Sie entscheiden, ob sie aus diesen Mitteln auch ausstehende Forderungen finanzieren. Der Bund hat keine diesbezüglichen Angaben.

Die Rückerstattungen der Versicherer an die Kantone werden vom BAG nicht erhoben. Die GDK befragt die Kantone jährlich zu ihrem Aufwand für Verlustscheine über Prämien und Kostenbeteiligungen. Sie veröffentlicht diese Umfrage nicht. Im Jahr 2019 haben die Versicherer den Kantonen gemäss dieser Umfrage 19,1 Millionen Franken nach Artikel 64a Absatz 5 KVG zurückerstattet. Diese Rückerstattungen beziehen sich mehrheitlich auf Verlustscheine aus den Vorjahren. Deshalb vergleicht die GDK die Rückerstattungen der letzten drei Jahre mit den Ausgaben der drei Vorjahre. Die Rückerstattungen aus den Jahren 2017 bis 2019 entsprachen für die ganze Schweiz 4,6 Prozent der übernommenen Forderungen aus den Jahren 2016 bis 2018.

Tabelle 1 Zahlungen der Kantone für ausstehende Forderungen aus der OKP seit 2014, in Millionen Franken1 Kanton

2014

2015

2016

2017

2018

2019

ZH

37.8

38.5

40.1

45.9

48.3

50.5

BE

25.7

34.6

35.0

36.1

42.1

39.8

LU

0.3

5.8

6.7

6.6

7.7

8.3

UR

­

0.2

0.3

0.3

0.4

0.5

SZ

1.0

2.0

2.3

2.4

2.6

2.9

OW

0.2

0.2

0.3

0.3

0.4

0.4

NW

0.2

0.3

0.4

0.5

0.5

0.6

8 9 10

Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 4.10, 2019, BAG.

Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 4.11, 2019, BAG.

Siehe zum Beispiel die Stellungnahme des Regierungsrats des Kantons Solothurn vom 27. Februar 2018 zum überparteilichen Auftrag «Abschaffung der schwarzen Liste säumiger Prämienzahlender»: «Seit Inkrafttreten des revidierten Art. 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) per 1. Januar 2012 muss der Kanton nicht bezahlte Prämien oder Kostenbeteiligungen, für die ein Verlustschein besteht, zwingend zu 85 % übernehmen. Dadurch sind dem Kanton für das Jahr 2017 Mehrkosten zu Lasten des Prämienverbilligungskredites von 9.5 Mio. Franken entstanden».

7 / 30

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Kanton

2014

2015

2016

2017

2018

2019

GL

1.2

1.4

1.2

0.0

1.3

1.4

ZG

­

­

­

­

­

­

FR

9.4

12.2

12.7

13.0

14.6

15.8

SO

­

­

9.3

11.8

13.4

11.2

BS

7.9

13.2

12.7

12.2

14.6

12.9

BL

9.8

12.8

9.1

12.9

12.7

14.8

SH

1.1

2.1

2.1

2.6

2.6

3.1

AR

0.7

1.0

1.0

1.0

1.2

1.4

AI

0.02

0.03

0.0

0.03

0.04

0.1

SG

5.9

10.4

14.9

14.8

16.2

17.9

GR

1.4

2.8

2.9

2.9

3.3

3.4

AG

7.8

15.4

16.0

14.8

16.4

17.6

TG

1.8

2.0

2.0

3.2

3.2

2.4

TI

6.1

12.2

16.7

17.1

19.2

19.5

VD

45.5

44.7

46.6

44.2

51.3

50.8

VS

12.2

15.4

16.1

18.8

20.8

22.8

NE

12.4

13.7

15.0

15.7

18.4

20.1

GE

44.2

40.1

37.4

65.3

69.4

68.8

JU

3.9

3.6

4.3

4.1

5.0

4.8

236.6

284.7

305.4

346.5

385.3

391.6

CH2

1) Prämien und Kostenbeteiligungen sowie Verzugszinse und Betreibungskosten, gemäss Art. 64a KVG bzw. Art. 105k KVV, welche vom Kanton an die Versicherungen bezahlt wurden. Seit 2012 übernehmen die Kantone 85 Prozent des gesamten Kostenvolumens für ausstehende Forderungen.

2) Angaben in einigen Kantonen unvollständig und damit auch für CH (kursiv).

Quelle: Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 4.11, 2019, BAG

2.2

Listen der säumigen Prämienzahlenden

2.2.1

Wirkung unterschiedlich beurteilt

Die Kantone können Versicherte, die ihrer Prämienpflicht nicht nachkommen, auf einer Liste erfassen. Die Versicherer schieben für diese Versicherten die Übernahme der Kosten für Leistungen mit Ausnahme der Notfallbehandlungen auf (Art. 64a Abs.

7 KVG). Das BAG erhebt bei den Versicherern, wie viele Versicherte von einem solchen Leistungsaufschub betroffen sind. Es erhielt keine vollständigen Angaben, 8 / 30

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schätzt jedoch die Zahl der Betroffenen aufgrund der Daten jener Versicherer, die vollständige Angaben geliefert haben, für das Jahr 2019 auf 33 19511. Eine Vertretung von Santésuisse bezifferte gegenüber der SGK-S die Zahl der auf Listen erfassten Personen per 1. Januar 2018 auf 28 254 und per 1. Januar 2019 auf 35 73412.

Ziel dieser Listen ist es, den Druck auf Versicherte, die zwar zahlungsfähig, aber zahlungsunwillig sind, zu erhöhen. Es wird jedoch unterschiedlich beurteilt, ob dieses Ziel erreicht wird.

Im Rahmen der Arbeiten zum Vorentwurf prüfte das BAG im Auftrag der SGK-S, ob ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Ausstände und der Führung einer Liste säumiger Prämienzahler besteht. Insbesondere prüfte es, ob die Kantone, die eine Liste (ein)führen, weniger für Ausstände bezahlen. Dazu verglich es die Zahlungen für Ausstände der Kantone mit Listen mit denjenigen der Kantone ohne Listen. Dabei musste es berücksichtigen, dass die Kantone ihre Listen zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt haben. Es verglich deshalb die durchschnittliche prozentuale Zunahme der Ausstände über verschiedene Jahre (2009­2017; 2012­2017; 2014­2017, 2015­2017). Das BAG kam zum Schluss, dass die Zunahme für diese Zeitspannen über alle Kantone mit Listen höher als über alle Kantone ohne Liste gewesen sei. Ein Zusammenhang zwischen den Listen und den Ausständen könne somit nicht belegt werden.

Zu einem ähnlichen Schluss war im Jahr 2015 bereits der Kanton Zürich gekommen, der auf die Einführung einer Liste von säumigen Prämienzahlenden verzichtete. Er stützte seinen definitiven Entscheid auf eine Studie13 des Basler Büros B, S, S. vom Oktober 2015 ab. Wie die Zürcher Gesundheitsdirektion mitteilte14, waren die Unterschiede in der Entwicklung des Zahlungsverhaltens zwischen Kantonen mit Liste und Kantonen ohne Liste statistisch nicht signifikant. Je nach Auswertung ­ zum Beispiel, welcher Krankenversicherer betrachtet wurde ­ wiesen Kantone ohne Liste teilweise sogar die bessere Entwicklung der Zahlungsmoral auf als Kantone mit Liste. Aufgrund ihrer Analyse zögen die Verfasser der Studie den Schluss, es sei unbestritten, dass das Führen einer Liste der säumigen Prämienzahlerinnen und -zahler mit Kosten verbunden sei. Ein Nutzen könne dagegen nicht belegt werden.

Am 1. Januar 2021 führten sechs Kantone eine solche Liste: AG, LU, SG, TG, TI und ZG. Sie hatten sie wie folgt eingeführt:

11 12 13

14

­

seit 2007: TG;

­

seit 2012: LU, TI und ZG;

­

seit 2014: AG;

­

seit 2015: SG.

Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 7.11, BAG, 2019.

Quelle: Sasis AG.

B, S, S. Volkswirtschaftliche Beratung AG, Untersuchung über die Entwicklung der nichtbezahlten Krankenkassenprämien im Kanton Zürich, Schlussbericht, Basel, 14. Oktober 2015.

Medienmitteilung der Zürcher Gesundheitsdirektion vom 7. Dezember 2015, «Liste säumiger Prämienzahler: Nutzen kann nicht belegt werden».

9 / 30

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Während mehreren Jahren führten auch die Kantone Graubünden (2014­2018), Solothurn (2012­2019) und Schaffhausen (2012­2020) eine solche Liste.

Überzeugt von der Wirksamkeit der Liste ist der Kanton Thurgau. Er verbindet die Liste mit einem Case Management der Gemeinden. Auf diese Weise werde sichergestellt, dass mit allen Personen, die auf die Liste gesetzt würden, umgehend Kontakt aufgenommen und ein intensiver, individueller Betreuungsprozess gestartet werde 15.

So könnten Ausstellungen von Verlustscheinen und damit langjährige Verschuldungen verhindert werden. Der Kanton Thurgau war der einzige Kanton, der grundsätzlich auch Minderjährige auf die Liste aufnahm.16 Im Sommer 2020 kam der Thurgauer Regierungsrat von dieser Regelung ab. Er teilte am 26. Juni 2020 mit, ab dem 1. Januar 2021 würden keine Kinder und Jugendlichen mehr auf der Liste säumiger Prämienzahler aufgeführt. Gleichzeitig hob er hervor, dass die Anzahl säumiger Prämienzahler dank der Kombination von Liste säumiger Prämienzahler und aktivem Case Management im Thurgau seit Jahren rückläufig sei.

Der damalige Tessiner Gesundheits- und Sozialdirektor Paolo Beltraminelli legte im Februar 2018 ebenfalls dar, dass sich die im Tessin umgesetzte Lösung ­ auch dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit mit den Gemeinden ­ als zweckmässig erwiesen habe, dies sowohl in präventiver Hinsicht als auch bezüglich der Verhängung von Sanktionen. Sie erlaube zu unterscheiden zwischen jenen Versicherten, die nicht bezahlen wollten, und jenen, die nicht bezahlen könnten, und letztere enger zu begleiten.17 Beltraminelli stützte seine Beurteilung unter anderem ab auf eine Studie 18 der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI) über das Profil der Versicherten, die ihre Prämien nicht bezahlt hatten.19 In anderen Kantonen wurde die Opportunität der Liste aufgrund von parlamentarischen Vorstössen diskutiert und dabei bejaht. So lehnte der Luzerner Kantonsrat im Oktober 2018 ein Postulat ab, das die Aufhebung der schwarzen Liste verlangte. 20 Der St. Galler Kantonsrat trat im November 2018 ebenfalls nicht auf eine Motion ein, welche die Abschaffung der schwarzen Liste forderte.21 15 16 17 18

19

20

21

Regierungsmitteilung vom 27. September 2019, «Verzicht auf Anpassung der Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz».

19.5420 Fra. Graf-Litscher. Kinder auf schwarzer Liste säumiger Prämienzahler leiden wegen Zahlungsproblemen der Eltern.

Assicurati sospesi dalle prestazioni LAMal: Analisi qualitativa, Conferenza stampa, Bellinzona, 8 febbraio 2018, Dipartimento della sanità e della socialità.

Maurizio Bigotta, Anna Bracci, Spartaco Greppi, Assicurati sospesi dalle prestazioni LAMal: profilo e fattori di rischio, Ricerca fatta su richiesta dell'Istituto delle assicurazioni sociali, Rapporto finale, gennaio 2018.

Anlässlich der Kenntnisnahme dieses Berichts im Tessiner Grossen Rat am 9. März 2020 wiederholte der zuständige Regierungsrat, dass die Liste erlaube, die zahlungsunwilligen Personen zu identifizieren und die Zusammenarbeit mit den Gemeinden zu fördern (Raffaele De Rosa, Protokoll der 31. Sitzung des Grossen Rates des Kantons Tessin).

Kantonsratsprotokoll vom 23. Oktober 2018 zum Postulat Zemp Baumgartner Yvonne und Mit. über die Aufhebung der schwarzen Liste für säumige Prämienzahlerinnen und -zahler / Gesundheits- und Sozialdepartement (P 573).

Kanton St. Gallen, Kantonsrat, aus der Novembersession 2018, zur Motion «Schwarze Liste abschaffen» (42.18.11). Zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieses Berichts durch die SGK-S war im St. Galler Kantonsrat die Motion « abschaffen» vom 15. September 2020 hängig, deren Gutheissung der St. Galler Regierungsrat am 13. Oktober 2020 beantragt hatte.

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Der Regierungsrat des Kantons Aargau kündigte im August 2018 eine Evaluation der Liste der säumigen Versicherten an; für eine abschliessende Kosten-Nutzen-Beurteilung sei es zu früh, da die Wirkung neuer Begleitmassnahmen abgewartet werden müsse.22 Der Zuger Gesundheitsdirektor sprach sich im Dezember 2018 namens des Regierungsrats vor dem Kantonsrat dafür aus, vorerst die Entwicklungen auf eidgenössischer Ebene abzuwarten; dann könnte man das Thema bei Bedarf wieder aufnehmen.23 Andere Kantone kamen wieder von der Liste ab. Der Kanton Graubünden hob seine Liste per 1. August 2018 auf. Der Regierungsrat begründete diesen Schritt mit folgenden Argumenten: Es sei festgestellt worden, dass die Liste der säumigen Prämienzahler ­ wie in anderen Kantonen auch ­ nicht die gewünschte Wirkung erzielt habe. Die Mehrheit der Krankenversicherer unterlasse eine Meldung der Fortsetzung der Betreibungen an die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, was dazu führe, dass die säumigen Prämienzahler keinen Eingang in die schwarze Liste fänden. Der erwünschte Druck, der Prämienpflicht fristgerecht nachzukommen, bleibe damit weitgehend aus, da die säumigen Prämienzahler entsprechend auch nicht sanktioniert werden könnten. Das nicht einheitliche Verhalten der Krankenkassen führe im Gegenteil zu einer Ungleichbehandlung der säumigen Prämienzahler.24 Der Solothurner Kantonsrat beschloss am 11. September 2019, die Liste per Ende 2019 aufzuheben. Er setzte damit im Einverständnis mit der Regierung einen Beschluss aus dem Jahr 2018 um. Der Regierungsrat war damals zum Schluss gekommen, die Liste gefährde die medizinische Grundversorgung von wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen. Die Erfahrungswerte gäben keine Hinweise dazu, dass die Liste die Zahlungsmoral tatsächlich verbessere. Ebenso könne nicht gezeigt werden, dass Aufwand und Ertrag sich zumindest ausgleichen würden.25 Der Kantonsrat Schaffhausen beschloss am 14. Dezember 2020, die Liste säumiger Prämienzahlender per Ende 2020 aufzuheben.26 Die Liste habe mehr administrativen Aufwand als Nutzen generiert und das Ziel, die vom Kanton zu übernehmenden Verlustscheine zu reduzieren, sei nicht erreicht worden, argumentierte die vorberatene Gesundheitskommission des Schaffhauser Kantonsrates.27 In ihrer Stellungnahme vom 24. Februar 2020 empfiehlt die Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), auf 22

23

24 25

26 27

Stellungnahme des Regierungsrats des Kantons Aargau vom 15. August 2018 zur Motion der SP-Fraktion (Sprecherin Gabriela Suter, Aarau) vom 15. Mai 2018 betreffend Abschaffung der schwarzen Liste von säumigen Krankenkassenprämienzahlenden (18.96; Ablehnung beziehungsweise Entgegennahme als Postulat).

Protokoll des Kantonsrats vom 13. Dezember 2018 zur Interpellation der SP-Fraktion betreffend Nutzen/Schaden der «Schwarzen Liste» für Personen, welche ihre Krankenkassenprämien/ -leistungen nicht bezahlen.

Regierungsmitteilung vom 21. Juni 2018, siehe auch: www.gr.ch/DE/Medien/ Mitteilungen/MMStaka/2018/Seiten/2018062101.aspx Stellungnahme des Regierungsrates vom 27. Februar 2018 zum Auftrag überparteilich: Abschaffung der schwarzen Liste säumiger Prämienzahlender [Nr. 2018/263; KR.Nr. A 0209/2017 (DDl)].

Amtsblatt für den Kanton Schaffhausen Nr. 51/2020, 18. Dezember 2020, S. 2259­2260.

Bericht und Antrag der Gesundheitskommission betreffend Revision des Dekrets über den Vollzug des Krankenversicherungsgesetzes vom 30. November 2020, ADS 20-152.

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das Führen von Listen säumiger Prämienzahlender zu verzichten. Ein Leistungsaufschub, insbesondere bei Minderjährigen, sei nicht vereinbar mit den Prinzipien der Fürsorge und Gerechtigkeit. Zudem stelle ein Leistungsaufschub nicht nur eine gesundheitliche Gefahr für die betroffene Person dar, sondern bei übertragbaren Krankheiten auch für die öffentliche Gesundheit. Kantonal unterschiedliche Auslegungen des Begriffes der Notfallbehandlung seien aus ethischer und rechtlicher Sicht stossend. Schliesslich seien zweckmässigere Instrumente zu prüfen, um zahlungsunwillige Personen zu sanktionieren und zahlungsunfähige Personen früh zu erkennen und zu unterstützen.28 Anlässlich der Coronavirus-Pandemie hat der Bundesrat während der «ausserordentlichen Lage» gemäss Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz)29 eine Lockerung der Bedingungen für die Kostenübernahme von Leistungen und zeitweilig für die Mahn- sowie Betreibungsverfahren beschlossen. Weiter bat das BAG die betreffenden Kantone, während der ausserordentlichen Lage auf die Anwendung der Liste säumiger Prämienzahlender zu verzichten und damit die betroffenen Personen vom Leistungsaufschub zu befreien. 30

2.2.2

Zum Begriff «Notfallbehandlungen»

Für Versicherte, die auf einer kantonalen Liste figurieren, übernehmen die Versicherer nur die Kosten von Notfallbehandlungen und schieben die Übernahme von Kosten anderer Leistungen auf. Über die Frage, wie der Begriff «Notfallbehandlungen» auszulegen sei, hatte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen im Fall einer Geburt zu entscheiden. Der Versicherer stellte sich auf den Standpunkt, der in Artikel 64a Absatz 7 KVG erwähnte Notfallbegriff sei zwingend restriktiv auszulegen; der Notfallbegriff sei bei planbaren oder schon weit vorab absehbaren Behandlungen (beispielsweise einer Entbindung) klar nicht erfüllt. Das Gericht kam hingegen zum Schluss, der medizinische Notfallbegriff sei zu eng gefasst. Vielmehr erscheine es sachgerecht, in Fällen, in denen Medizinalpersonen eine Beistandspflicht zukomme, von einer Notfallbehandlung im Sinne von Artikel 64a Absatz 7 KVG auszugehen.

Die Beistandspflicht verlange von Medizinalpersonen eine Hilfeleistung in «dringenden» Fällen. Dringend sei ein Fall auch dann, wenn zwar keine Lebensgefahr bestehe, die betroffene Person aber umgehend Hilfe brauche, weil ihre Gesundheit ansonsten ernsthaft beeinträchtigt werden könnte. Der stationäre Aufenthalt zur Entbindung sei im Zeitpunkt des Spitaleintritts notwendig und unaufschiebbar gewesen. Im Übrigen wies das Gericht darauf hin, es würde gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gleichbehandlungsgebot verstossen, wenn jeder Kanton ­ oder sogar jeder Leistungserbringer ­ den Begriff der Notfallbehandlung unterschiedlich auslegen würde.

28

29 30

Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften, « ­ Leistungssperren medizinischer Versorgung aufgrund nicht bezahlter Prämien und Kostenbeteiligung», 24. Februar 2020.

SR 818.101 Informationsschreiben «Anpassungen während der Zeit der ausserordentlichen Lage» des BAG vom 26. März 2020 an die Kantonsregierungen, die KVG-Versicherer und die Revisionsstellen.

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Vor dem Hintergrund eines Todesfalls im Kanton Graubünden (siehe auch Ziff. 1.2) hielt die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG) in einer Stellungnahme vom 13. August 2018 fest, die Therapie mit antiretroviralen Medikamenten und die entsprechenden medizinischen Begleitmassnahmen fielen bei allen Menschen mit HIV unter den Begriff der Notfallbehandlung im Sinne von Artikel 64a Absatz 7 KVG. Versicherer sollten die Kostenübernahme für diese Leistungen nicht aufschieben.31

2.3

Zahl der Betreibungen

Die Zahl der von den Krankenversicherern eingeleiteten Betreibungen ist wesentlich höher als die Zahl der resultierenden Verlustscheine. Im Jahr 2019 haben die Versicherer rund 412 000 Versicherte betrieben, wobei die Forderung durchschnittlich gut 2100 Franken je Betreibung betrug.32 In dieser Statistik wird angegeben, dass zwischen der Einleitung eines Betreibungsverfahrens und der Ausstellung eines Verlustscheins durchschnittlich fast zwei Jahre verstreichen. Rund zwei Drittel der Prämienausstände werden in diesem Zeitraum beglichen. In den restlichen Fällen übernehmen die Kantone 85 Prozent der Forderungen, für die ein Verlustschein ausgestellt wurde.

Die Daten sind teilweise unvollständig, weil nicht alle Versicherer vollständige Angaben geliefert haben.

Die Stadtammann- und Betreibungsämter der Stadt Zürich befassen sich seit mehreren Jahren eingehend mit Prämienschulden, da in der Stadt Zürich ungefähr jede vierte Betreibung Forderungen der Krankenkassen betrifft. Sie schätzen, dass die Krankenversicherer landesweit zwischen 700 000 und 1 Million Betreibungen pro Jahr einleiten. Dabei setzten die Versicherer häufig nur eine, zwei oder drei Monatsprämien in Betreibung, was oftmals die Kosten unnötig in die Höhe treibe. Denn neben den ausstehenden Prämien machten die Krankenversicherer jeweils einen Verzugsschaden für die entstandenen Umtriebe geltend. Zudem entstünden pro Betreibung rasch einmal Kosten von 150 bis 200 Franken, welche die Betreibungsämter den Krankenversicherern in Rechnung stellen müssten. Die Stadtammann- und Betreibungsämter der Stadt Zürich schlugen deshalb an einer Medienkonferenz vom Mai 201933 vor, dass Krankenversicherer gegen säumige Prämienzahler nur noch ein- oder höchstens zweimal pro Jahr eine Betreibung einleiten können. Zudem passten sie im Zuge eines Pilotprojekts den Prozess der Lohnpfändung an. In Zusammenarbeit mit den betriebenen Personen begleichen sie die laufenden Krankenkassenprämien aus dem Teil des Lohnes, welcher das Existenzminimum übersteigt und vom Arbeitgeber an das Betreibungsamt überwiesen wird. Dies soll verhindern, dass sich betroffene Personen

31

32 33

Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG), «Die HIV-Therapie: eine Notfallbehandlung im Sinne von Artikel 64a Absatz 7 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung», 13. August 2018.

Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, BAG, 2019, Tabelle 7.11.

Konferenz der Stadtammänner von Zürich, Medienorientierung über das Geschäftsjahr 2018, Mai 2019, Kapitel «Neue Wege zur Senkung der Zahl der KrankenkassenBetreibungen».

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zusätzlich verschulden. Eine Analyse des Jahres 2019 zeigt, dass mit diesem angepassten Verfahren die Höhe der Forderungen, die Anzahl Betreibungen und Betriebene markant gesenkt werden konnte.34

2.4

Abtretungsvereinbarungen zwischen Kantonen und Versicherern

Die vom Kanton Thurgau mit seiner Standesinitiative angestrebte Möglichkeit einer Abtretung der Verlustscheine von den Versicherern an den Kanton wurde in der Praxis bereits getestet. Santésuisse hat mit den Kantonen Neuenburg und Basel-Landschaft einen Vertrag abgeschlossen, wonach die Versicherer, die diesem Vertrag beitreten, ihre Verlustscheine zu 92 Prozent der auf dem Verlustschein ausgewiesenen Forderung an den Kanton abtreten.

Anfangs 2016 schrieb Santésuisse in ihrer Zeitschrift, dass diese Abtretung verschiedene Vorteile habe: der Kanton habe Zugriff auf die Steuerdaten einer Person und könne Forderungen damit effizient eintreiben. Beim Versicherer seien die Zahlungsausstände der versicherten Person getilgt, so dass die versicherte Person ihren Versicherer wieder wechseln könne35.

Der Kanton Basel-Landschaft kündigte den Vertrag mit Santésuisse auf den 31. Dezember 2017. Er übernahm somit ab 2018 keine Verlustscheine mehr von den Krankenversicherern, um sie selber zu bewirtschaften. Er veröffentlichte keine Zahlen dazu, teilte aber mit, dass er mit dem kantonseigenen Inkasso keinen ausreichenden Ertrag generiert habe.

Der Vertrag mit dem Kanton Neuenburg ist weiterhin in Kraft. 27 Versicherer sind ihm beigetreten, die fast einen Drittel der Versicherten des Kantons versichern. Bisher wurden keine Zahlen zu den Rückerstattungen bekanntgegeben oder veröffentlicht.

Die Verantwortlichen gehen davon aus, dass es für eine Bilanz zu früh ist. Sie sehen den unmittelbaren Vorteil der Abtretung dieser Forderungen aber darin, dass die Versicherten den Versicherer wieder wechseln können. Mit einem Versicherer, der nicht Mitglied von Santésuisse ist, haben sie einen ähnlichen Vertrag aber mit anderen Bedingungen abgeschlossen: der Abtretungsansatz wird nach Alter des Verlustscheins abgestuft.

2.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Der Entwurf erfüllt den Auftrag, den der National- und der Ständerat mit den beiden materiell identischen Motionen Mo. Nationalrat (Heim). Krankenkassenprämien. Eltern bleiben Schuldner der nichtbezahlten Prämien der Kinder (17.3323) und Mo. Na-

34 35

Medienmitteilung der Konferenz der Stadtammänner von Zürich vom 8. September 2020 «Weniger Krankenkassen-Betreibugen dank Schuldenprävention».

Infosantésuisse 1/2016, S. 12.

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tionalrat (Brand). KVG. Unterhaltspflichtige Eltern schulden nichtbezahlte Kinderprämien (18.4176) erteilt haben36. Die beiden Motionen können deshalb abgeschrieben werden.37

2.6

Vernehmlassungsverfahren

Mit Schreiben vom 15. Juni 2020 unterbreitete die SGK-S ihren Vorentwurf mit dem erläuternden Bericht den Kantonen, politischen Parteien, gesamtschweizerischen Dachverbänden der Gemeinden, Städte und Berggebiete sowie der Wirtschaft, der Konsumenten, der Leistungserbringer, der Versicherer und weiteren interessierten Kreisen zur Vernehmlassung. Sie lud die 138 Adressaten ein, bis am 6. Oktober 2020 Stellung zu nehmen. Insgesamt gingen 70 Stellungnahmen ein, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden.38

36 37

38

39

­

Minderjährige: Alle Teilnehmenden der Vernehmlassung begrüssen, dass junge Erwachsene nicht mehr für die Ausstände aus der Zeit ihrer Kindheit belangt werden können. Sie schlagen dabei verschiedene Änderungen vor.

­

Betreibungen: Mit wenigen Ausnahmen (insbesondere Santésuisse und Schweizerischer Gewerbeverband) begrüssen alle Teilnehmenden eine Begrenzung der Anzahl Betreibungen. Fünf Kantone sowie die FDP-Liberalen und die SVP unterstützen dabei den Vorschlag, den Versicherern höchstens vier Betreibungen pro Jahr zu erlauben. Die GDK und 18 Kantone sowie die Grünen und die SP möchten weitergehen und höchstens eine bis zwei Betreibungen pro Jahr zulassen.

­

Leistungsaufschub für säumige Prämienzahler: Eine klare Mehrheit der Teilnehmenden (insbesondere die GDK, 19 Kantone39, die SP und die Grünen, die Versichererverbände Curafutura und Santésuisse sowie der Schweizerische Gewerkschaftsbund und der Schweizerische Gewerbeverband) unterstützt den Vorschlag der Kommissionsmehrheit, die Möglichkeit abzuschaffen, wonach die Kantone Listen säumiger Prämienzahlender führen können, denen nur Notfallbehandlungen von den Versicherern vergütet werden. Diese Regelung habe zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten geführt, was schwerer wiege als allfällige positive Erfahrungen einzelner Kantone mit einer solchen Liste. Vorwiegend aus föderalistischen Überlegungen sprechen Siehe auch Ziff. 1.2.

An ihrer Sitzung vom 27. Januar 2021 beschloss die Kommission zudem, ihrem Rat zu beantragen, die Motion Mo. Nationalrat (Barrile). Medizinische Leistungen für alle Kinder! (19.4290) anzunehmen und danach im Rahmen des vorliegenden Entwurfs abzuschreiben. Mit dem Entwurf werde festgelegt, dass Minderjährige keine Prämien und Kostenbeteiligungen mehr schulden sollen können.

Vernehmlassungsbericht, 16.312 Standesinitiative, Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung zur Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten, Bundesamt für Gesundheit, Dezember 2020, publiziert unter www.parlament.ch > Curia Vista Suche > 16.312 > Vernehmlassung.

Von den sieben Kantonen, die zum Zeitpunkt der Vernehmlassung eine Liste säumiger Prämienzahler führten, sprachen sich drei Kantone (SG, SH, TI) für die Abschaffung der Listen und vier Kantone (AG, LU, TG, ZG) dagegen aus.

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sich hingegen insbesondere sieben Kantone sowie die CVP, die FDPLiberalen und die SVP für Beibehaltung der Möglichkeit von Listen aus. Dass in diesem Fall der Begriff der Notfallbehandlungen im Gesetz definiert werden soll, lehnt eine Mehrheit jener, die sich dazu geäussert haben, ab. Die vorgeschlagene Definition bringe nicht mehr Rechtssicherheit als heute.

­

Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers: Die Mehrheit der Teilnehmenden (insbesondere die GDK und 16 Kantone sowie die FDP-Liberalen und die SVP) begrüsst den Vorschlag, wonach künftig säumige Prämienzahlende in einem Versicherungsmodell mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers zu versichern sind. Die GDK begrüsst, dass der Bundesrat Ausnahmen vorsehen kann, da ein Versicherungsmodell mit eingeschränkter Wahl gerade für chronisch Kranke oder Menschen mit einer Behinderung ungeeignet sein könne. Ablehnend äusserten sich insbesondere die Versichererverbände Curafutura und Santésuisse, da diese Neuerung zu einem nicht vertretbaren Mehraufwand bei den Versicherern führen würde. Die SP, die Grünen, der Dachverband der Ärztinnen und Ärzte (FMH) und weitere Teilnehmende lehnen die Neuerung ab, da sie Nachteile für die betroffenen Versicherten befürchten.

­

Verlustscheine: Sowohl die Mehrheit der Kantone (GDK und 20 Kantone) wie auch die Versichererverbände beantragen, die zur Vernehmlassung vorgeschlagene Regelung zur Übernahme der Verlustscheine durch die Kantone zu ändern. Die Kantone möchten im Einzelfall (also je Betreibung) entscheiden können, welche Forderungen sie übernehmen, und den Versicherern in keinem Fall mehr als 85 Prozent der Forderung vergüten. Sollte daran festgehalten werden, dass die Kantone mehr als 85 Prozent übernehmen müssen, damit die Versicherer den Verlustschein abtreten, würden sich die Kantone gemäss Vernehmlassungsantwort der GDK eine Vergütung im Umfang von 88 Prozent vorstellen. Die Versicherer hingegen wünschen eine gesamtschweizerisch gültige Regelung, wonach die Kantone alle Forderungen übernehmen und den Versicherern dafür 92 Prozent vergüten. Curafutura möchte zudem neu die Mahngebühren in die Abgeltung eingeschlossen haben.

3

Grundzüge der Vorlage

Mit ihrem Erlassentwurf will die Kommission das Verfahren bei Nichtbezahlung von Prämien und Kostenbeteiligungen umfassend verbessern. Sie strebt dabei eine Lösung an, die den Anliegen der Kantone, der Versicherten, der Versicherer und der Leistungserbringer ausgewogen Rechnung trägt. Sie schlägt im Wesentlichen folgende Änderungen vor: ­

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Minderjährige schulden keine Prämien und Kostenbeteiligungen mehr: Bis zum Ende des Monats, in dem ein Kind volljährig wird, sollen die Prämien und Kostenbeteiligungen ausschliesslich von den Eltern geschuldet werden.

Die Eltern schulden die Prämien solidarisch, ausser wenn ein Elternteil nachweist, dass es seinen Unterhaltsbeitrag bezahlt hat und dieser auch die Prämien umfasst (Art. 61a E-KVG). Somit kann der Versicherer das Kind nicht

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für Prämien, die während seiner Minderjährigkeit anfallen, belangen (Art. 64 Abs. 1bis E-KVG). Entsprechend sollen junge Erwachsene den Versicherer wechseln können, auch wenn Prämienforderungen aus der Zeit ihrer Minderjährigkeit ausstehen (Art. 64 Abs. 7ter E-KVG).

40

­

Betreibungen: Die Krankenversicherer sollen die säumigen Versicherten höchstens zweimal pro Jahr betreiben dürfen (64a Abs. 2 E-KVG). Damit können sie beispielsweise einmal pro Halbjahr betreiben. So lassen sich übermässiger administrativer Aufwand und die damit verbundenen Kosten vermeiden. Gemäss ihren Angaben betreiben die Versicherer heute meistens vier Mal pro Jahr.

­

Listen säumiger Prämienzahler beibehalten, aber Notfallbehandlungen umschreiben: Die Kantone sollen weiterhin Listen säumiger Prämienzahlender führen können (Art. 64a Abs. 7 KVG). Dies erlaubt einen an die kantonalen Gegebenheiten angepassten Vollzug. Mit den Listen soll der Druck auf jene Versicherte erhöht werden, die zahlungsfähig aber zahlungsunwillig sind. Die Versicherer schieben für die säumigen Versicherten die Übernahme der Kosten für Leistungen mit Ausnahme der Notfallbehandlungen auf. Da der Begriff der Notfallbehandlung zu Auslegungsschwierigkeiten geführt hat, soll er definiert werden. Demnach liegt eine Notfallbehandlung vor, wenn die versicherte Person ohne sofortige Behandlung gesundheitliche Schäden oder den Tod befürchten muss oder die Gesundheit anderer Personen gefährden kann.

­

Wer trotz Betreibung nicht zahlt, soll in einer besonderen Versicherungsform versichert werden: Sobald der Versicherer dem Kanton bekannt gegeben hat, dass ihm für eine versicherte Person ein Verlustschein ausgestellt wurde, muss er diese in eine besondere Versicherungsform mit eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer (Art. 41 Abs. 4 KVG) einteilen. Bei diesen Versicherungen kann die Prämie bis zu 20 Prozent tiefer ausfallen als bei einer Versicherung mit freier Arzt- und Spitalwahl. Die bekanntesten dieser Versicherungen sind die Hausarzt- und die HMO40-Versicherung. Da die gesetzlichen Pflichtleistungen in jedem Fall versichert sind, lassen sich so die Kosten für säumige Prämienzahler senken, ohne dass deren Gesundheitsversorgung gefährdet würde (Art. 64a Abs. 7bis E-KVG).

­

Verlustscheine: Kantone, welche die Verlustscheine selber bewirtschaften wollen, sollen diese Möglichkeit von Gesetzes wegen erhalten. Sie müssen also nicht mehr mit einzelnen Versicherern oder Verbänden von Versicherern entsprechende Verhandlungen führen. Übernimmt der Kanton 90 Prozent der bekanntgegebenen Forderungen, tritt ihm der Versicherer diese ab. Hat der Kanton dem Versicherer unter dem geltenden Recht bereits 85 Prozent bezahlt bei Vorliegen eines Verlustscheins, kann er sich diesen abtreten lassen, wenn er weitere 3 Prozent der Forderungen übernimmt (Art. 64a Abs. 4 und 5 sowie Übergangsbestimmung E-KVG). Wenn der Kanton den Verlustschein zu 90 oder zu 88 Prozent übernimmt, kann die versicherte Person den Versicherer und die Versicherungsform wieder wechseln.

HMO = Health Maintenance Organization: Organisation von Ärztinnen und Ärzten, die sich in einer Gruppenpraxis organisieren.

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3.1

Minderheitsantrag

Eine Minderheit (Dittli, Carobbio Guscetti, Graf Maya, Rechsteiner Paul, Stöckli) will den Kantonen nicht mehr ermöglichen, Listen säumiger Prämienzahler zu führen. Sie beantragt Artikel 64a Absatz 7 KVG aufzuheben. Es könne nicht nachgewiesen werden, dass dank dieser Listen die Zahlungsmoral von zahlungsfähigen, aber zahlungsunwilligen Versicherten hätte verbessert werden können. Hingegen habe sich das Risiko als real erwiesen, dass die medizinische Grundversorgung von wirtschaftlich und sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen ­ und sogar von Kindern ­ gefährdet werden könnte.

4

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Vorbemerkung Im KVG gelten Versicherte, die am 31. Dezember des betreffenden Jahres unter 19 Jahre alt sind, als Kinder (Art. 16 Abs. 5 KVG). Dieser Begriff ist insofern sinnvoll, als die Versicherten den Versicherer und die besondere Versicherungsform in der Regel auf das Ende des Kalenderjahres wechseln können. Für die neue Regelung wird jedoch nicht auf diesen Begriff abgestellt, da er auch Versicherte umfasst, die volljährig sind. Die neue Regelung wird beschränkt auf minderjährige Personen.

Art. 5 Abs. 2 Nach geltendem Recht muss eine versicherungspflichtige Person, die sich unentschuldbar verspätet versichert, einen Beitragszuschlag bezahlen (Art. 5 Abs. 2 KVG).

Für Kinder sollen die Eltern oder der Elternteil, der die Verspätung verschuldet hat, für diesen Zuschlag einstehen müssen. Die Formulierung weicht von derjenigen von Artikel 61a und Artikel 64 ab, weil es hier auf das Verschulden für den verspäteten Beitritt und nicht auf die Unterhaltspflicht ankommt.

Ist dagegen eine andere Person als die Eltern für den Abschluss einer Versicherung für eine minderjährige Person verantwortlich (beispielsweise ein Vormund nach Art. 327a Schweizerisches Zivilgesetzbuch, ZGB41) und unterlässt sie dies schuldhaft, sieht der Entwurf keine Haftung für den Prämienzuschlag vor.

Art. 61a Nach geltendem Recht muss sich jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz innerhalb von drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern oder von ihrer gesetzlichen Vertreterin oder ihrem gesetzlichen Vertreter versichern lassen (Art. 3 Abs. 1 KVG). Bei minderjährigen Personen wird der Vertrag damit von der gesetzlichen Vertreterin oder dem gesetzlichen Vertreter im Namen der minderjährigen Person abgeschlossen. Vertragspartei ist somit die minderjährige Person. Von diesem Prinzip soll ­ in Abweichung vom Vorentwurf 41

SR 210

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(vgl. Art. 3 Abs. 1 und 1bis VE-KVG) ­ mit dem vorliegenden Entwurf nicht abgewichen werden.

Die Stellung der minderjährigen Person als Vertragspartei hat nach geltendem Recht ausserdem zur Folge, dass diese automatisch zur Schuldnerin der Prämien und der Kostenbeteiligungen wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die miteinander verheirateten Eltern gestützt auf ihre gesetzliche Unterhaltspflicht für die Prämien als zusätzliche Schuldner solidarisch haftbar. 42 Der vorliegende Entwurf sieht nun in Abweichung von dieser Rechtslage ausdrücklich vor, dass die Prämien für das Kind bis zum Ende des Monats, in dem es volljährig wird, ausschliesslich von seinen Eltern zu bezahlen sind; die Eltern haften dabei weiterhin solidarisch. Das bedeutet, dass der Versicherer seine gesamte Forderung gegenüber den Eltern geltend machen muss. Bezahlt ein Elternteil die Prämien, kann dieser unter Umständen und abhängig von der internen Regelung auf den anderen Elternteil für die bezahlten Prämien ganz oder teilweise Regress nehmen.

Die solidarische Haftung der Eltern besteht grundsätzlich unabhängig davon, ob sie einen gemeinsamen Haushalt führen oder verheiratet sind. Vermag ein Elternteil jedoch nachzuweisen, dass er gemäss einem Unterhaltsvertrag oder einem Gerichtsentscheid verpflichtet ist, Unterhaltsbeiträge zu bezahlen, welche die Prämien umfassen, und er diese Unterhaltsbeiträge auch tatsächlich bezahlt hat, kann er vom Versicherer nicht mehr belangt werden. Der entsprechende Nachweis ist durch Vorlage der genannten Urkunden gegenüber dem Versicherer zu erbringen.

Eine Haftung des minderjährigen Kindes für die Prämien wird dagegen vom Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 61a Abs. 1 Satz 2 E-KVG). Dies gilt ohne Ausnahme. Von dieser Regelung betroffen sind sämtliche Prämien bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Da die Prämien in der Regel monatlich erhoben werden (Art. 90 KVV), wird auf das Ende des Monats abgestellt, in dem das Kind volljährig wird. Für diese in diesem Zeitraum entstandenen Prämien kann das Kind auch nach Erreichen der Volljährigkeit nicht belangt werden.

Für die Prämienansprüche, die nach dem Erreichen der Volljährigkeit (Art. 14 ZGB) entstehen, haftet dagegen wie nach geltendem Recht das Kind als Partei des Vertrages.

Dieses ist selber für seine Versicherung verantwortlich
und hat ab diesem Zeitpunkt die Prämien und Kostenbeteiligungen zu bezahlen. Soweit es sich noch in Ausbildung befindet und die Eltern deshalb weiterhin unterhaltspflichtig sind (Art. 277 Abs. 2 ZGB), haben im Innenverhältnis die Eltern unter Umständen auch für die Prämien und Kostenbeteiligungen aufzukommen. Das im Aussenverhältnis haftbare Kind muss in einem solchen Fall die betreffenden Ansprüche selber bei seinen Eltern geltend machen.

Volljährige Personen die wegen geistiger Behinderung oder psychischer Störung urteilsunfähig sind, werden weiterhin von ihrer gesetzlichen Vertreterin oder ihrem gesetzlichen Vertreter versichert. Auch hier bleibt es beim bisherigen Recht, d.h. die versicherte Person haftet weiterhin persönlich für die Prämienforderungen.

42

Urteil des Bundesgerichts 9C_660/2007 vom 25. April 2008, Erw. 3.2; bestätigt im Urteil 9C_835/2018 vom 24. Januar 2019, Erw. 4.

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Art. 64 Abs. 1bis Für Kinder wird grundsätzlich keine Franchise erhoben. Der Höchstbetrag des Selbstbehaltes ist halb so hoch wie bei Erwachsenen. Das heisst, er beträgt 350 statt 700 Franken (Art. 64 Abs. 4 KVG und Art. 103 Abs. 2 KVV). Auch Kinder können jedoch eine höhere Franchise wählen. Sie beträgt höchstens 600 Franken im Jahr (Art. 93 Abs. 1 KVV). Kinder bezahlen keinen Beitrag an die Kosten des Spitalaufenthalts (Art. 104 Abs. 2 Bst. a KVV).

Nach geltendem Recht folgt die Haftung für die Kostenbeteiligungen derjenigen der Prämien. An diesem Grundsatz soll auch im vorliegenden Entwurf festgehalten werden: Wie für die Prämien (Art. 61a E-KVG) haften die Eltern grundsätzlich solidarisch für die Kostenbeteiligungen. Ist nur ein Elternteil für die Prämien haftbar, gilt dies entsprechend auch für die Kostenbeteiligungen. Damit für Prämien und Kostenbeteiligungen ein Schuldner einheitlich bestimmt ist, wird auch auf das Ende des Monats, in dem das Kind volljährig wird, abgestellt. Massgebend für die Erhebung der Franchise und des Selbstbehaltes ist das Behandlungsdatum (Art. 103 Abs. 3 KVV).

Art. 64a Abs. 1bis Die Anpassungen, die mit der Revision von Artikel 5 Absatz 2, Artikel 61a und Artikel 64 Absatz 1bis vorgenommen werden, müssen auch bei der in dieser Bestimmung geregelten Vollstreckung der offenen Prämienforderungen und Kostenbeteiligungen entsprechend umgesetzt werden, da die Folgen der Nichtbezahlung die Eltern als Schuldner und nicht das Kind treffen sollen.

Abs. 2 Das KVG sieht vor, dass der Versicherer die versicherte Person, die fällige Prämien oder Kostenbeteiligungen nicht bezahlt, auffordern muss, zu bezahlen. Dies nach mindestens einer schriftlichen Mahnung. Dabei muss der Versicherer der versicherten Person eine Nachfrist von 30 Tagen einräumen und sie auf die Folgen des Zahlungsverzuges hinweisen. Bezahlt die versicherte Person trotz Zahlungsaufforderung die Prämien, Kostenbeteiligungen und Verzugszinse nicht innert der gesetzten Frist, so muss der Versicherer die Betreibung anheben (Art. 64a Abs. 1 und 2 KVG).

Jede Betreibung verursacht einen zusätzlichen Aufwand beim Betreibungsamt; die entsprechenden Kosten sind grundsätzlich vom betriebenen Schuldner zu tragen. Der Gläubiger hat diese allerdings vorzuschiessen mit der Folge, dass er sie im Fall der Nichteinbringlichkeit
selber zu tragen hat. Gestützt auf Artikel 64a Absatz 3 KVG hat der Kanton allerdings 85 Prozent dieser Betreibungskosten zu übernehmen, wenn ein Verlustschein ausgestellt wird. Es besteht damit ein gewisses Interesse daran, die Zahl der Betreibungen zu beschränken, um sowohl die betroffenen Schuldnerinnen und Schuldner als auch die Kantone nicht übermässig und unnötig zu belasten.

Der Vorentwurf hatte deshalb noch vorgesehen, dass eine Person in einem Kalenderjahr höchstens vier Mal betrieben werden darf (Art. 64a Abs. 2 VE-KVG). Nachdem in der Vernehmlassung verschiedene Rückmeldungen zu diesem Punkt eingegangen waren, hat die Kommission diese Frage erneut geprüft und ist zum Ergebnis gelangt, 20 / 30

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dass es sich rechtfertigt, die maximale Zahl von Betreibungen gegen eine Schuldnerin oder einen Schuldner noch weiter herabzusetzen und so die Gesamtkosten weiter zu senken. Die Kommission erachtet dieses von zahlreichen Kantonen sowie von weiteren Stellungnahmen in der Vernehmlassung vorgebrachte Anliegen 43 als gewichtiger als die Bedenken, die teilweise gegen eine weitere Herabsetzung der maximalen Zahl von Betreibungen vorgebracht wurden: Weder die dadurch entstehende Verzögerung bei der Geltendmachung der Ausstände noch die Gefahr, dass das Zusammenfassen der Forderungen den in Betreibung gesetzten Betrag soweit erhöhen würde, dass er von Schuldnerinnen und Schuldner in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen kaum mehr auf einmal bezahlt werden könnte, erscheint in den Augen der Kommission als überzeugend.

In der Vernehmlassung wurde ausserdem darauf hingewiesen, dass die Umsetzung dieser Beschränkung in der Praxis zu Schwierigkeiten führen könnte. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Versicherer aufgrund der neuen Regelung eine versicherte Person grundsätzlich nicht mehr als zwei Mal jährlich betreiben werden. Schwierigkeiten könnten allenfalls dann entstehen, wenn eine versicherte Person den Versicherer wechselt. Der neue Versicherer weiss dann nicht, ob im laufenden Kalenderjahr bereits Betreibungen stattgefunden haben. Kommt es zu einer Betreibung durch den neuen Versicherer, muss die versicherte Person deshalb gegenüber dem neuen Versicherer darlegen, dass sie bereits von ihrem bisherigen Versicherer betrieben wurde.

Wird die Betreibung dennoch eingeleitet, ist das Betreibungsamt nicht verpflichtet zu überprüfen, wie oft eine versicherte Person von ihrem Versicherer bereits betrieben worden ist. Die versicherte Person muss in einem solchen Fall gegen die Betreibung Rechtsvorschlag erheben und geltend machen, dass sie im laufenden Kalenderjahr bereits zwei Mal betrieben wurde. Wird der Rechtsvorschlag vom Versicherer dennoch beseitigt, muss die versicherte Person dagegen eine Beschwerde einreichen.

Gemäss der Formulierung des Gesetzes kann eine versicherte Person jeweils zwei Mal pro Kalenderjahr für eigene Ausstände sowie zusätzlich zwei Mal für Ausstände ihres Kindes betrieben werden. Da die erwachsene Person und jedes Kind bei je verschiedenen Versicherern versichert sein
können (z.B. bei Halbgeschwistern), muss die Beschränkung je Kind gelten. Somit kann zum Beispiel eine Versicherte mit drei Kindern höchstens acht Mal jährlich betrieben werden.

Bereits nach geltendem Recht kann der Kanton verlangen, dass der Versicherer ihm die Schuldnerinnen und Schuldner, die er betreibt, bekannt gibt. Dies erlaubt dem Kanton, ausstehende Forderungen von bestimmten Versicherten (z.B. von Bezügern von Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe) zu übernehmen. Die Kantone verlangen unterschiedliche Bekanntgaben: Etwa die Hälfte der Kantone verlangt, dass der Versicherer ihnen bekannt gibt, wenn er ein Betreibungsbegehren stellt. Einige Kantone verlangen, dass der Versicherer ihnen bekannt gibt, wenn er ein Fortsetzungsbegehren stellen kann, andere wenn er es gestellt hat.

Der Versicherer kann nach geltendem und neuem Recht die Eltern für die Prämien der minderjährigen Kinder betreiben. Deshalb soll im Gesetz präzisierend festgehalten werden, dass der Versicherer dem Kanton nicht nur die Schuldnerinnen und

43

Vernehmlassungsbericht, Ziff. 4.3.2.

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Schuldner, die er betreibt, sondern zusätzlich auch die anderen Personen, die von einer Betreibung betroffen sind, bekanntgeben muss.

Abs. 3bis Der Grundsatz, wonach der Kanton 85 Prozent der Forderungen übernimmt, wenn ein Verlustschein oder ein gleichwertiger Rechtstitel vorgelegt werden kann, ist unter dem mit dem vorliegenden Entwurf vorgeschlagenen neuen Regime nicht mehr in jedem Fall umsetzbar: Können die ausschliesslich haftbaren Eltern nicht belangt werden (etwa weil diese gestorben oder nicht auffindbar sind), besteht aufgrund der klaren Regelung von Artikel 61a Absatz 1 und Artikel 64 Absatz 1bis E-KVG dennoch keine Möglichkeit, direkt gegen das Kind vorzugehen. Der Versicherer wird in diesem Fällen keinen Verlustschein vorlegen können. Dennoch muss auch in einem solchen Fall die Möglichkeit bestehen, vom Kanton eine Übernahme der Ausstände verlangen zu können.

Abs. 4 Heute müssen die Kantone die Verlustscheinforderungen zu 85 Prozent übernehmen.

Der Versicherer behält jedoch den Verlustschein. Das heisst, die Forderungsübernahme durch den Kanton befreit die versicherte Person nicht von ihrer Zahlungspflicht gegenüber dem Versicherer. Sie schuldet ihm weiterhin die ganze Forderung.

Wenn sie ihre Schuld ganz oder teilweise begleicht, erstattet der Versicherer dem Kanton 50 Prozent.

Neu werden die bisherigen Absätze 4 und 5 in einem Absatz vereint. Deren Inhalt bleibt fast unverändert. Heute ist vorgesehen, dass die versicherte Person ihre Schuld begleicht. Da diese auch von Angehörigen oder anderen Personen beglichen werden kann, wird neu offengelassen, wer die Schuld begleicht. Dieser Absatz regelt somit neu die Übernahme der Forderungen zu 85 Prozent.

Abs. 5 Dieser Absatz regelt neu die Übernahme der Forderungen zu 90 Prozent.

Die Standesinitiative Thurgau verlangt, dass die Kantone sich die Forderungen gegen Übernahme von 90 Prozent des Betrages übertragen lassen können. Im Kanton Thurgau müssen die Gemeinden die Verlustscheinforderungen bezahlen. Wenn sie die Verlustscheine übernehmen, können sie die versicherte Person besser betreuen. Insbesondere können sie Zahlungsvereinbarungen mit ihr abschliessen und Ausstände übernehmen. Sie bezeichnen diese Betreuung als Fallführung (case management). Da die Kantone über die Steuerdaten der Versicherten verfügen, können sie besser als
die Versicherer beurteilen, bei welchen Versicherten und wann nach dem Ausstellen eines Verlustscheins sich eine erneute Betreibung lohnen könnte.

Andere Kantone gehen hingegen davon aus, dass der zusätzliche Aufwand den möglichen Ertrag übersteigen würde. Sie haben weiterhin die Möglichkeit, 85 Prozent zu übernehmen und die Verlustscheine den Versicherern zu überlassen.

Kantone, die bereit sind, die Forderungen, die der Versicherer ihnen bekannt gegeben hat, zu 90 Prozent zu übernehmen, sollen den Prozentsatz nicht mit Versicherern aushandeln müssen. Deshalb wird das Anliegen dieser Standesinitiative übernommen.

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Dabei wird der Wortlaut im Verhältnis zur Initiative vereinfacht: Für die Übertragung einer Forderung mit Gläubigerwechsel wird der juristische Begriff der «Abtretung» der Forderung verwendet.

Der Kanton informiert die versicherte Person, dass er die Forderung übernimmt. Sobald sie informiert ist, kann sie ihre Forderung nur noch beim Kanton begleichen.

Wenn der Kanton die Forderung zu 90 Prozent übernimmt, kann die versicherte Person den Versicherer und die Versicherungsform in Abweichung von den Absätzen 6 und 7bis wieder wechseln. Denn durch die Übernahme der Forderung durch den Kanton hat der Versicherer keine offene Forderung mehr gegenüber der versicherten Person. Diese schuldet dem Kanton die ganze Forderung.

Da der Kanton die Verlustscheinforderungen ohnehin zu 85 Prozent vergüten muss, kann es ein Anreiz für ihn sein, 5 Prozent mehr zu bezahlen, damit er die ganze Forderung eintreiben und die versicherte Person zu einem Versicherer mit tieferen Prämien wechseln kann. Dabei muss er alle Forderungen, die der Versicherer ihm bekanntgegeben hat, übernehmen.

Abs. 6 Dieser Absatz sieht vor, dass die säumige versicherte Person den Versicherer grundsätzlich nicht wechseln kann, solange die ausstehenden Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinse und Betreibungskosten nicht bezahlt sind (Abs. 6). Wenn eine versicherte Person überdurchschnittlich hohe Prämien hat, belastet dieses Wechselverbot sie und, wenn ein Verlustschein ausgestellt wird, den Kanton.

Die Aufhebung des Wechselverbots würde den säumigen Versicherten erlauben, den Versicherer ­ wie die übrigen Versicherten ­ halbjährlich oder jährlich zu wechseln (Art. 7 Abs. 1 und 2 KVG). Wenn aber mehrere Versicherer Ausstände einer versicherten Person bewirtschaften müssen, ist das aufwändiger, als wenn ein Versicherer alle Ausstände bewirtschaftet. Zudem bildet das Wechselverbot für die Versicherten, die ihren Versicherer wechseln wollen, einen Anreiz, ihre Ausstände rechtzeitig zu bezahlen. Deshalb wird das Wechselverbot beibehalten. Es gilt aber neu nur solange, bis dass die Forderungen bezahlt sind. Sie brauchen nicht durch die versicherte Person bezahlt zu sein.

Aus denselben Gründen sollen auch Kinder den Versicherer nicht wechseln können, wenn Ausstände für sie bestehen. Eltern und Kinder können bei unterschiedlichen Versicherern
versichert sein. Wenn Eltern bei Ausständen für ihre Kinder den Versicherer nicht wechseln könnten, müsste der Versicherer bei vielen säumigen Versicherten abklären, ob sie Kinder mit Ausständen haben. Deshalb gelten Versicherte, die nur Ausstände für ihre Kinder haben, nicht als säumig. Dies gilt auch, wenn sie beim gleichen Versicherer versichert sind wie ihr Kind. Denn diese Eltern sollen gegenüber Eltern, die sich und ihre Kinder bei unterschiedlichen Versicherern versichern, nicht benachteiligt sein.

Abs. 7 Dieser Absatz ermöglicht den Kantonen derzeit, Versicherte, die ihrer Prämienpflicht trotz Betreibung nicht nachkommen, auf einer Liste zu erfassen. Der Versicherer

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schiebt die Kostenübernahme für diese Versicherten mit Ausnahme der Notfallbehandlungen auf.

Die Kantone umschreiben den Begriff der Notfallbehandlung heute unterschiedlich: Für den Kanton Luzern liegt ein Notfall im Sinn von Artikel 64a Absatz 7 KVG vor, wenn ohne sofortige Behandlung erhebliche gesundheitliche Schäden oder der Tod der versicherten Person zu befürchten sind (§ 7 Verordnung vom 22. Mai 2012 zum Einführungsgesetz zum Bundesgesetz über die Krankenversicherung).

Im Kanton Schaffhausen entschied der Leistungserbringer, was als Notfallbehandlung im Sinne von Art. 64a Abs. 7 KVG gilt (alter § 24b Verordnung vom 9. Juli 1996 über den Vollzug des Krankenversicherungsgesetzes). Der Kanton Schaffhausen hat seine Liste per 31. Dezember 2020 abgeschafft.

Für den Kanton St. Gallen hat dessen Versicherungsgericht mit Urteil vom 26. April 2018 entschieden, dass in Fällen, in denen Medizinalpersonen eine Beistandspflicht zukommt, von einer Notfallbehandlung im Sinne von Art. 64a Abs. 7 KVG auszugehen ist. Der stationäre Aufenthalt zur Entbindung sei im Zeitpunkt des Spitaleintritts notwendig und unaufschiebbar gewesen. Es habe sich somit um eine Notfallbehandlung gehandelt (KSCHG 2017/5).

Am 6. Juli 2018 hat die SGK-N, wie erwähnt, die Motion «Definition des Notfalls» (18.3708) eingereicht. Diese will die Kantone, die Listen säumiger Prämienzahlender führen, verpflichten, den Begriff der Notfallbehandlung zu umschreiben. Am 19. September 2018 nahm der Nationalrat die Motion an und folgte damit den Anträgen von Kommission und Bundesrat. Für die Versicherer und die Leistungserbringer, die in mehreren Kantonen mit Listen tätig sind, ist es einfacher, wenn der Begriff der Notfallbehandlung für die ganze Schweiz einheitlich umschrieben ist. Deshalb sprach sich die SGK-S am 17. Januar 2019 dafür aus, die Notfallbehandlung auf Ebene Bund zu umschreiben.44 Die Umschreibung soll im Gesetz festgelegt werden. Sie geht von der Umschreibung des Kantons Luzern aus. Dabei wird jedoch nicht vorausgesetzt, dass die gesundheitlichen Schäden erheblich sind. Zudem liegt eine Notfallbehandlung vor, wenn die versicherte Person ohne sofortige Behandlung die Gesundheit anderer Personen gefährden kann. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn zu befürchten ist, dass die versicherte Person eine übertragbare Krankheit
verbreitet.

Minderjährige dürfen im Übrigen nicht mehr auf der Liste erfasst werden, da sie laut Entwurf keine Prämien mehr schulden.

Abs. 7: Antrag der Minderheit Die Kommissionsminderheit beantragt, dass die Kantone nicht mehr befugt sind, Versicherte, die sich in Zahlungsrückstand befinden, auf Listen zu erfassen. Der mit den Listen verbundene Leistungsaufschub gefährdet in ihren Augen die medizinische Grundversorgung von wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen und führt zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten.

44

Am 3. Juni 2020 lehnte der Ständerat die Motion der SGK-N zur kantonalen Definition des Notfallbegriffes (18.3708) ohne Gegenantrag ab.

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Zudem führen die Listen dazu, dass Leistungserbringer vor die Wahl gestellt werden, Versicherte, die sie nicht als Notfall behandeln können, abzuweisen oder vorerst unentgeltlich zu behandeln. Wenn die Ausstände nicht bezahlt werden, bleiben die Leistungserbringer auf ungedeckten Forderungen.

Aus diesen Gründen sollen die Kantone nicht mehr befugt sein, solche Listen zu führen. Daher soll die bisherige Regelung aufgehoben werden.

Abs. 7bis Der Versicherer wird neu verpflichtet, die Versicherten, die er der zuständigen kantonalen Behörde nach Absatz 3 bekannt gegeben hat, in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers zu versichern. Für diese Versicherungen vermindern die Versicherer in der Regel die Prämie (Art. 62 Abs. 1 KVG).

Die Versicherer legen die Ausgestaltung dieser Versicherungen in ihren Versicherungsbedingungen fest. Das BAG unterscheidet in seinem Prämienrechner zwischen Hausarzt-, HMO-Modellen und weiteren Modellen (insbesondere mit vorgängiger telefonischer Beratung). Der Begriff «Modell» ist jedoch nicht definiert und es bestehen keine verbindlichen Kriterien für die Einteilung in die erwähnten Modellkategorien.

Die Versicherer entscheiden, in welcher Kategorie ihre Versicherung im Prämienrechner aufgeführt werden soll und wie sie diese bezeichnen.

Der Bundesrat kann Ausnahmen von der Pflicht, die Versicherten mit Verlustscheinen in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers zu versichern, vorsehen und nähere Bestimmungen erlassen. Er kann insbesondere Versicherer, die allgemein oder am Wohn- oder Arbeitsort der versicherten Person keine solchen Versicherungen anbieten, ausnehmen.45 Ebenso kann er die Versicherten, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in Island oder Norwegen wohnen, ausnehmen. Ihnen stehen die besonderen Versicherungsformen heute nicht offen (Art. 101a KVV).

Zudem kann er festlegen, ob ein Versicherer, der verschiedene solche Versicherungen anbietet, seine Versicherten mit Verlustscheinen in verschiedenen Versicherungen versichern kann. Weiter kann er festlegen, ob der Versicherer seine Versicherten zwischen diesen Versicherungen wählen und wechseln lassen kann. Ferner kann er den Wechsel der Versicherung regeln.

Weiter kann der Bundesrat den Versicherer verpflichten, die Versicherten über die
Umteilung in das Modell und dessen Vorgaben zu informieren. Heute kann der Versicherer eine versicherte Person, welche die Versicherungsbedingungen ihres Modells verletzt, in die ordentliche Versicherung umteilen. Dies wird er für die Versicherten mit Verlustscheinen nicht tun können. Er kann ihnen jedoch Leistungen ganz oder teilweise verweigern, wobei er dies in seinen Versicherungsbedingungen vorsehen muss.

45

Im Jahr 2021 bieten nur drei Versicherer keine solchen Versicherung an. Diese haben im Jahr 2019 zusammen 12 500 Versicherte oder 0,15 % der Versicherten versichert.

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Heute sind bereits rund 70 Prozent aller Versicherten in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers versichert. Wie hoch der Anteil der Versicherten mit Verlustscheinen in diesen Versicherungen ist, ist dem BAG nicht bekannt.

Wenn die versicherte Person ihren Wohnsitz an einen Wohnort verlegt, an dem ihr Versicherer nicht tätig ist oder, wenn dieser die soziale Krankenversicherung nicht mehr anbietet (Art. 7 Abs. 3 und 4 KVG), kann sie zu einem anderen Versicherer wechseln. Der neue Versicherer muss sie in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers versichern, wenn er eine solche Versicherung an ihrem Wohnort anbietet. Das heisst, der bisherige Versicherer muss dem neuen mitteilen, dass es sich um eine versicherte Person mit Verlustscheinen handelt.

Sind alle Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinse und Betreibungskosten bezahlt, kann die versicherte Person auf den nächsten gesetzlichen Termin in die ordentliche Versicherung oder zu einem anderen Versicherer wechseln.

Abs. 7ter Säumige Versicherte können den Versicherer grundsätzlich nicht wechseln. Zudem sollen Versicherte mit Verlustscheinen neu grundsätzlich in Versicherungen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers versichert werden. Diese Einschränkungen sollen auch für Kinder gelten, deren Eltern ihre Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinse und Betreibungskosten nicht bezahlt haben. Ausgenommen davon sollen die Kinder sein, die das 18. Altersjahr vollendet haben. Sie sollen den Versicherer und die Versicherungsform wechseln können, auch wenn Forderungen aus der Zeit ihrer Minderjährigkeit für sie ausstehen.

Artikel 4a KVG regelt, dass versicherungspflichtige Familienangehörige mit Wohnort in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in Island oder Norwegen beim selben Versicherer zu versichern sind, wie diejenige Person, die in der Schweiz erwerbstätig ist beziehungsweise die Bezügerin oder Bezüger einer schweizerischen Rente oder einer Leistung der schweizerischen Arbeitslosenversicherung ist. Diese Bestimmung wurde unter anderem erlassen, um das Prämieninkasso und die Kostenübernahme für Leistungen bei dieser Personengruppe (EU-Versicherte) zu vereinfachen.46 Da diese Argumente auch Gültigkeit haben, wenn ausstehende Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinse und
Betreibungskosten bestehen, sollen EU-Versicherte, die das 18. Altersjahr erreichen, den Versicherer auf das Ende des Kalenderjahres nicht wechseln können.

Abs. 7quater Die Kantone und Versicherer sind verpflichtet, ihre Daten für die Prämienverbilligung nach einem einheitlichen Standard auszutauschen (Art. 65 Abs. 2 KVG). Gestützt auf diese Bestimmung hat der Bundesrat die Durchführung der Prämienverbilligung näher geregelt (Art. 106b bis 106e KVV). Das Eidgenössische Departement des Innern

46

Botschaft vom 31. Mai 2000 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung; BBl 2000 4083, hier 4086.

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hat gestützt darauf technische und organisatorische Vorgaben in seiner Verordnung über den Datenaustauch für die Prämienverbilligung (VDPV-EDI)47 festgelegt.

Auf Anregung der GDK wird im Entwurf vorgesehen, die Kantone und Versicherer zu verpflichten, auch ihre Daten zu den nicht bezahlten Prämien und Kostenbeteiligungen nach einem einheitlichen elektronischen Standard auszutauschen. Wie für die Prämienverbilligung soll der Bundesrat die Einzelheiten regeln, nachdem er die Kantone und die Versicherer angehört hat. Er hat das Nichtbezahlen von Prämien und Kostenbeteiligungen in Artikel 105a bis 105m KVV geregelt.

Abs. 8 Da die Datenbekanntgabe der Versicherer an die Kantone neu im Absatz 7 quater geregelt wird, wird sie in diesem Absatz nicht mehr erwähnt.

Übergangsbestimmungen Abs. 1 Heute bewahrt der Versicherer die Verlustscheine bis zur vollständigen Bezahlung der ausstehenden Forderung auf (Art. 64a Abs. 5 KVG). Der Kanton soll auch bestehende Verlustscheine übernehmen können, ohne den Preis mit dem Versicherer aushandeln zu müssen. Er soll sie zu einem etwas tieferen Preis übernehmen können.

Forderungen, von denen er vor dem Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung 85 Prozent übernommen hat, soll er zu 3 Prozent, somit zu insgesamt 88 Prozent, übernehmen können. Auch hier soll der Kanton die versicherte Person über die Abtretung informieren. Wenn der Kanton die Forderung zu 88 Prozent übernimmt, hat der Versicherer keine Forderung mehr gegenüber der versicherten Person. Deshalb kann diese den Versicherer wieder wechseln.

Abs. 2 Die neue Regelung zu Prämien und Kostenbeteiligung soll auf die Versicherten anwendbar sein, die beim Inkrafttreten der neuen Regelung minderjährig sind. Sie soll für deren Ausstände gelten, auch wenn diese vor dem Inkrafttreten entstanden sind.

Das heisst, dass die Versicherer ab Inkrafttreten keine minderjährigen Versicherten mehr belangen können.

Laufende Betreibungen gegenüber volljährig gewordenen Kindern für Schulden aus der Zeit der Minderjährigkeit sind von der Revision nicht betroffen.

47

SR 831.102.2

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Auswirkungen

5.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Auf den Bund wirkt sich der vorliegende Entwurf weder finanziell noch personell aus.

Auch auf die Kantone hat der Entwurf keine personellen Auswirkungen. Er kann aber finanziell entlastend auf sie wirken: ­

Wenn die Versicherer höchstens zwei Mal jährlich betreiben dürfen, fallen gesamthaft geringere Betreibungskosten an.

­

Die Versicherer gewähren für ihre Versicherungen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers Prämienrabatte. Deshalb muss der Kanton für Versicherte, die in solchen Versicherungen versichert sind, weniger Prämienforderungen übernehmen, als wenn sie in der ordentlichen Versicherung versichert sind. Allerdings ist offen, welcher Anteil der Versicherten mit Verlustscheinen heute in der ordentlichen Versicherung versichert ist.

­

Wenn ein Kanton sich die Verlustscheinforderungen abtreten lässt, kann er gezielt bei Versicherten Inkassomassnahmen einleiten. Insbesondere kennt er deren finanzielle Lage aufgrund der Steuerdaten.

Die Versicherer werden eingeschränkt, weil sie nur noch eine bestimmte Anzahl Betreibungen einleiten können. Ihr Verwaltungsaufwand kann grösser werden, wenn sie Versicherte gegen deren Willen in Versicherungen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers versichern müssen und diese gegen die Versicherungsbedingungen verstossen. Vielleicht sind aber die meisten dieser Versicherten ohnehin bereits in solchen Versicherungen versichert.

5.2

Andere Auswirkungen

Weitere Auswirkungen sind nicht ersichtlich.

5.3

Vollzugstauglichkeit

Die Kantone können die Verlustscheinforderungen zu 90 Prozent übernehmen, sie werden nicht dazu verpflichtet.

Der Versicherer versichert die Versicherten, die er der zuständigen kantonalen Behörde nach Artikel 64a Absatz 3 bekannt gegeben hat, in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers. Der Bundesrat kann vorsehen, dass die Versicherer ihre Versicherungen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers wie bisher unterschiedlich anbieten und ausgestalten können.

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6

Verhältnis zum europäischen Recht

Die Gesetzesänderung muss insbesondere mit dem Abkommen vom 21. Juni 1999 48 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) und dem Übereinkommen vom 4. Januar 196049 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) (EFTA-Übereinkommen) vereinbar sein. Anhang II zum FZA und Anhang K Anlage 2 zum EFTA-Übereinkommen führen aus, dass in der Schweiz im Verhältnis zu den EU- oder EFTA-Staaten das europäische Koordinationsrecht der EU betreffend die Systeme der sozialen Sicherheit zum Beispiel die Verordnung (EG) Nr. 883/200450 sowie die Verordnung (EG) Nr. 987/200951 anwendbar ist. Dieses Recht bezweckt im Hinblick auf die Garantie der Personenfreizügigkeit keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Mitgliedstaaten können über die konkrete Ausgestaltung, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten und die Organisation der Systeme der sozialen Sicherheit weitgehend frei bestimmen. Dabei müssen sie jedoch die Koordinationsgrundsätze wie zum Beispiel das Diskriminierungsverbot, die Anrechnung der Versicherungszeiten und die grenzüberschreitende Leistungserbringung beachten, die in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und in der entsprechenden Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 geregelt sind. Mit den vorgeschlagenen Regelungen, die das Verfahren bei Nichtbezahlung der Prämien und Kostenbeteiligungen verbessern, wird das europäische Koordinationsrecht für die Sozialversicherungen nicht verletzt. Es sieht dazu keine Bestimmungen vor. Somit ist der Entwurf mit dem europäischen Recht vereinbar.

7

Rechtliche Grundlagen

7.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Die Vorlage beruht auf Artikel 117 der Bundesverfassung (BV), der dem Bund eine umfassende Kompetenz in Bezug auf die Organisation der Krankenversicherung erteilt.

48 49 50

51

SR 0.142.112.681 SR 0.632.31 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1. Eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1. Eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

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7.2

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Bundesrat kann Ausführungsbestimmungen zum KVG erlassen (Art. 96 KVG).

Der Entwurf ermächtigt ihn, ­

Ausnahmen vorsehen und nähere Bestimmungen zu erlassen zur Pflicht des Versicherers, Versicherte, die er dem Kanton bekannt geben hat, in einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers zu versichern;

­

die Einzelheiten des Datenaustausches zu den unbezahlten Prämien und Kostenbeteiligungen zwischen Kantonen und Versicherern zu regeln, dies nachdem er sie angehört hat.

7.3

Erlassform

Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 BV). Diesem Erfordernis wird der Erlass des vorliegenden Gesetzes gerecht. Bundesgesetze unterliegen dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. a BV). Der Entwurf sieht das fakultative Referendum vor.

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