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Schweizerische Bundesversammlung,

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 15. März 1897 zur Fortsetzung der ordentlichen Wintersession zusammengetreten.

Neugewählte Mitglieder sind : Im Nationalrat : Herr P é t e u t, Louis, Regierungsstatthalter, von Roches, in Montier.

,, O d i e r , Eduard, Advokat, von und in Genf.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Präsident K e e l die Session mit folgender Ansprache : Meine Herren !

Ich heiße Sie zu der außerordentlichen Session des Nationalrates vom Monat März herzlich willkommen.

Standen wir bei Beginn der letzten Dezembersession vor den ·Gräbern von nicht weniger als sechs Mitgliedern der eidgenössischen Räte, deren Lebensbild, unser verehrter Herr Alterspräsident in so würdiger und tiefgefühlter Weise nochmals aufrollte, so danken wir heute der göttlichen Vorsehung, daß sie seither unsere Reihen nachsichtsvoll geschont, -- sie bittend, daß der Engel des Todes noch recht lange nicht wieder seine kalte Hand nach unsern Kreisen ausstrecke.

Und doch schmerzt uns heute ein Verlust, der Verlust eines frühern vieljährigen Kollegen im Rate, eine jener persönlich so liebenswürdigen Erscheinungen, die man liebt und nie vergißt.

Ich meine den Herrn Bundesrichter B e z z o l a, ein echtes Kind «des edlen Standes Graubünden. Geboren im Jahre 1840, erreichte
1008 jugendlicher Manneskraft, und dann so schnell gebrochen, das Opfer einer unheilvollen Nervenzerrüttung und einer jähen Lungenentzündung. Zwischen seiner Jugend und seinem Tode liegt ein an Verdiensten reiches Leben. Von seinen juristischen Studien zurückgekehrt, zeichnete er sich 1871 als Redakteur einer romanischen Zeitung aus. Bald war er der Führer der freisinnig-demokratischen Richtung von Graubünden. Er wurde Mitglied des Großen Rates und dessen Präsident, Mitglied des Kantonsgerichts und der Standeskommission. Im Jahre 1880 betrat er 'den Ständeratssaal, bald darauf denjenigen des Nationalrates, dessen Präsidentenstuhl er 1885 einnahm. In den bedauerlichen Unruhen des Kantons Tessin berief ihn das Vertrauen des Bundesrates zum außerordentlichen Staatsanwalt, in welcher Stellung er mit ebensoviel Umsicht und Takt als Energie wirkte.

Im Jahre 1893 verließ er uns als lieber und einflußreicher Kollege, um seine reichen juristischen Kenntnisse dem obersten schweizerischen Gerichtshöfe zu widmen und seines Verdienstes um sein engeres und weiteres Vaterland würdig, leider nur zu frühe, abzuschließen. Dem Verstorbenen zu Ehren, ersuche ich Sie, sich von Ihren Sitzen zu erheben.

Gestatten Sie mir noch, durch einige weitere Worte dem Ernste der Ereignisse Rechnung zu tragen. Über das Schicksal des eidgenössischen B a n k g e s e t z e s will ich mich nicht verbreiten.

Das Schweizervolk hat gesprochen. Den Räten bleibt die Pflicht, daraus zu lernen und die nun ungelöste Aufgabe mit Besonnenheit abermals an die Hand zu nehmen.

Noch heute stehen wir unter dem unheimlichen Eindrucke des S t r e i k e s des g e s a m t e n A r b e i t e r p e r s o n a l s der N o r d o s t b a h n . Derselbe war um so überraschender, als die oberste Bahnbehörde, der Verwaltungsrat, wenige Tage vorher die Beschwerden einer unparteiischen Specialkximmission zu beförderlicher Untersuchung und Berichterstattung überwiesen hatte.

Die Thatsache der Arbeitseinstellung, die plötzlich, von einer Stunde zur andern erfolgte gewaltsame Unterbrechung allen und jeden Eisenbahnverkehrs in einem großen schweizerischen Gebiete,, eine Störung, die ihre Wellen weit über die Grenzen des letztern wirft, war recht dazu angethan, dem Schweizervolke klar zu legen, daß die Eisenbahngesellschaften allerdings nicht bloße ,,Erwerbsgesellschaften"'
sind, sondern daß sie auch im Dienste ö f f e n t l i c h e r P f l i c h t , ö f f e n t l i c h e r A u f g a b e n , im Dienste der I n t e r e s s e n der A l l g e m e i n h e i t stehen, ein Grundsatz und eine Wahrheit, die noch leider allzuwenig in den Kreisen der

1009 Eisenbahnverwaltungen, wie in den Kreisen der Angestellten derselben zum klaren Bewußtsein durchgedrungen sind.

Wir danken es der Intervention des h. Bundesrates und dem Herrn Vorsteher des Eisenbahndepartementes, daß der Bann des Streikes gebrochen ist, und können nicht umhin, darauf hinzuweisen, wie a l l e Beteiligten, die Verwaltung und das Arbeitercorps und auch das Volk mit gleich ungeteiltem Vertrauen ihre Blicke und ihre Erwartungen auf die Organe des B u n d e s richteten , eine Thatsache, die im Kampfe über die Verstaatlichung der schweizerischen Bisenbahnen nicht wird vergessen werden können.

Noch ernster als diese Arbeitseinstellung berühren uns die Ereignisse im Orient. Vor den armenischen Greueln, wo unter rohester Gewalt Hunderttausende bluteten, verhüllt sich schamvoll der Genius der Menschheit und Tausende und Tausende gaben in unserm kleinen Lande ihrem edlen Schmerze und ihrer gerechten Entrüstung beim Bundesrat Ausdruck.

Um das Maß voll zu machen, stehen wir besorgten Herzens vor der Frage eines orientalischen -- die Vorsehung nur weiß es -- vielleicht vor einem europäischen Kriege mit all seinen verhängnisvollen Folgen. Eines nur ist dabei tröstlich für uns, daß ein neuer lebendiger Beweis gegeben werden durfte, daß auch ein kleines Volk, entschlossen und von patriotischer Begeisterung erfüllt, vor den Großen und Größten der Welt nicht zu bangen und nicht zu verzagen hat !

Möge die göttliche Vorsehung unser Vaterland vor den Gefahren kriegerischer Verwicklungen bewahren ; immer und allezeit aber im Falle der Not uns im Bewußtsein guten Rechts und stark und opfermutig finden.

Ich erkläre die außerordentliche Session des Nationalrates als eröffnet.

Im S t ä n d e r a t gedachte Herr Präsident ß l u m e r des verstorbenen Bundesrichters Bezzola mit folgenden Worten : Meine Herren Ständeräte !

Am Anfange dieses Jahres erreichte uns die Trauerkunde vom Hinscheide eines hochverdienten Eidgenossen, des Herrn Bundesrichter Andreas B e z z o l a aus Zernez.

1010 Geboren 1840, widmete er sich, dem Studium der Jurisprudenz; und nach Vollendung seiner Ausbildung trat er in das öffentliche Leben seines Heimatkantons, wo er nach einander sich auf allen Gebieten bethätigte : als Anwalt, Journalist, Mitglied des Großen Rates, Präsident dieser Behörde, Mitglied der Regierung, des Kantonsgerichts und der Standeskom mission.

In der Bundesversammlung vertrat Bezzola mehrere Jahre Grraubünden in unserm Rate und hierauf den 37. Wahlkreis im Nationalrate, den er 1885 präsidierte. Am 27. Juni 1893 ins .Bundesgericht gewählt, verlor ihn unser oberster Gerichtshof na.ch kurzer, ausgezeichneter Thätigkeit schon am 10. Januar dieses, Jahres, gleich tief betrauert von seinen jetzigen Kollegen in Lausanne, seinen frühern in beiden eidgenössischen Katen und dein gesamten Volke seiner engeren Heimat, wie der ganzen Schweiz.

Bezzola war eine durchaus fortschrittlich und freisinnig angelegte Natur, wofür seine ganze politische Laufbahn unentwegtes Zeugnis giebt. Indem er seine hohen Gaben und seine volle Manneskraft als Staatsmann und Richter demjenigen weihte, was er nach seiner Überzeugung für richtig erkannte, umstrahlte Bezzolas Wirken aber stets das Wesen eines durch und durch edlen, guten und idealen Menschen, dessen Umgang Jeden erquickte und erfreute. Seine Muttersprache des Engadins verdankt den Jugendjahren Bezzola zahlreiche reizende, romanische Poesien, und in welcher unserer vier Landessprachen er immer das Wort ergreifen mochte, es kam formvollendet vom Herzen und ging zum Herzen.

Meine Herren Ständeräte, wir fühlen alle mit, was seine Familie, Witwe, Söhne und Töchter an einem Manne und Vater, wie Andreas Bezzola war, verloren haben. Ich ersuche Sie, um das Andenken des Verstorbenen zu ehren, und um seinen Hinterlassenen heute nochmals Ihr tiefempfundenes Beileid zu bezeugen, sich von Ihren Sitzen zu erheben.

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17.03.1897

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