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zu 16.312 Standesinitiative Ergänzung von Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung betreffend Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 27. Januar 2021 Stellungnahme des Bundesrates vom 28. April 2021

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 27. Januar 20211 betreffend die Standesinitiative 16.312 «Ergänzung von Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung betreffend Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

28. April 2021

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Guy Parmelin Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Der Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) wurde im Rahmen der am 30. Mai 2016 vom Kanton Thurgau eingereichten Standesinitiative 16.312 «Ergänzung von Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung betreffend Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten» verfasst.

Am 28. März 2017 beschloss die SGK-S, der Standesinitiative Folge zu geben, und die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) stimmte diesem Beschluss am 25. Januar 2018 zu. Am 2. März 2018 wurde die Initiative der SGK-S zur Ausarbeitung eines Erlassentwurfs zugewiesen.

Am 17. Januar 2019 hat die SGK-S Vertretungen der Kantone sowie der Dachverbände der Versicherer angehört und die Verwaltung mit der Erarbeitung eines Vorentwurfs beauftragt. Die Kommission hat an ihrer Sitzung vom 29. Oktober 2019 den entsprechenden Vorentwurf beraten und zwei materiell identische Motionen (17.3323 «Krankenkassenprämien. Eltern bleiben Schuldner der nichtbezahlten Prämien der Kinder» und 18.4176 «KVG. Unterhaltspflichtige Eltern schulden nichtbezahlte Kinderprämien») geprüft. Der Ständerat hat die beiden Motionen am 4. Dezember 2019 angenommen. Im Auftrag der Kommission hat die Verwaltung Ergänzungen zum Vorentwurf ausgearbeitet.

Am 25. Mai 2020 hat die SGK-S den überarbeiteten Vorentwurf gutgeheissen und beschlossen, dazu vom 15. Juni bis zum 6. Oktober 2020 eine Vernehmlassung durchzuführen2. Nach der Analyse der Vernehmlassungsergebnisse hat die SGK-S an ihrer Sitzung vom 27. Januar 2021 den Entwurf angepasst und den Erlassentwurf mit einem Minderheitsantrag verabschiedet.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Bestimmungen betreffend Minderjährige (Art. 61a, 64 Abs. 1bis und 64a Abs. 1bis KVG)

Der Bundesrat begrüsst die für die Minderjährigen vorgesehenen Änderungen. Künftig können diese nicht mehr für von den Eltern nicht bezahlte Prämien belangt werden und erscheinen auch nicht mehr auf den von den Kantonen geführten Listen säumiger Versicherter. Derzeit führen fünf Kantone (AG, LU, TG, TI und ZG) eine solche Liste.

Der Kanton Thurgau war der einzige Kanton, der auch Minderjährige in die Liste aufnahm. Seit dem 1. Januar 2021 ist er jedoch von dieser Praxis abgerückt.

Nationalrat Angelo Barrile hat zudem am 27. September 2019 die Motion 19.4290 «Medizinische Leistungen für alle Kinder!» eingereicht. Diese hat zum Ziel, dass für 2

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Die Vernehmlassungsvorlage ist abrufbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2020 > Parl.

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Kinder und minderjährige Personen der Zugang zu medizinischen Leistungen gewährleistet bleibt, auch wenn ihre Eltern der Zahlungspflicht der Krankenkassenprämien nicht nachkommen. Der Bundesrat hat die Annahme der Motion beantragt. In seiner Antwort auf die Frage Graf-Litscher 19.5420 hat er erklärt, dass die Aufnahme von Kindern auf die Listen im Widerspruch zum Übereinkommen vom 20. November 19893 über die Rechte des Kindes stünde. Anlässlich ihrer Sitzung vom 27. Januar 2021 hat die SGK-S dem Ständerat diese Motion zur Annahme beantragt, ein Antrag, dem der Ständerat an seiner Sitzung vom 8. März 2021 nachgekommen ist.

Der Entwurf der SGK-S löst das Problem, da die Minderjährigen nicht mehr Schuldnerinnen und Schuldner der Prämien und der Kostenbeteiligungen sein werden und somit auch nicht mehr auf den Listen erfasst werden.

Der Bundesrat beantragt aber, die Nichtigkeit der Betreibung von Kindern und jungen Erwachsenen für die während der Minderjährigkeit fällig gewordenen Krankenkassenprämien ausdrücklich in das Bundesgesetz vom 18. März 19944 über die Krankenversicherung (KVG) aufzunehmen. Der Bundesrat beantragt eine Ergänzung der Artikel 61a Absatz 1 und 64 Absatz 1bis KVG.

2.2

Anzahl der erlaubten Betreibungen pro Jahr (Art. 64a Abs. 2 KVG)

Gemäss Vorentwurf sollte ein Versicherer eine versicherte Person in einem Kalenderjahr höchstens vier Mal betreiben können. In der Vernehmlassung erachteten die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) sowie 18 Kantone vier Betreibungen pro Jahr als unverhältnismässig, da jede Betreibung administrativen Aufwand und erhebliche Kosten verursacht. Die SGK-S hat dies an ihrer Sitzung vom 27. Januar 2021 berücksichtigt und einstimmig beschlossen, die Zahl der Betreibungen auf zwei zu beschränken, um die Betreibungskosten der Versicherten zu senken. Bei der Übernahme von Verlustscheinen sind diese zusätzlichen Kosten zu einem grossen Teil von den Kantonen zu tragen. Der Bundesrat teilt daher die Haltung der SGK-S und erachtet eine Beschränkung auf zwei Betreibungen pro Jahr als gerechtfertigt. Der einstimmige Beschluss der SGK-S zeigt, dass es zu diesem Vorschlag einen breiten Konsens gibt.

Die Eidgenössische Kommission für Schuldbetreibung und Konkurs ist jedoch der Meinung, dass mit einer Begrenzung den Betreibungen auf zwei pro Jahr die Höhe der Verlustscheine ansteigen würde, die dann von den Kantonen übernommen werden müssten. Die Kommission schlägt daher vor, die Anzahl der Betreibungsverfahren nicht zu beschränken. Der Bundesrat hat die Argumente der oben erwähnten Kommission zur Kenntnis genommen, ist aber der Ansicht, dass die Position der SGK-S im Interesse der Versicherten unterstützt werden sollte.

Der Bundesrat hält jedoch eine Ergänzung des Entwurfs für angebracht, mit der festgehalten wird, dass Betreibungen für Forderungen, die bereits zu einem Verlustschein geführt haben, nicht zur Gesamtzahl hinzugerechnet werden dürfen. Zweck dieser 3 4

SR 0.107 SR 832.10

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Klarstellung ist es, Fehlanreize zu vermeiden und zu verhindern, dass eine versicherte Person, die bereits für Prämien aus den Vorjahren belangt wurde, nicht mehr für die im laufenden Jahr entstandenen Prämien belangt werden kann.

2.3

Abtretung von Verlustscheinen an die Kantone (Art. 64a Abs. 5 KVG)

Der Bundesrat begrüsst die Möglichkeit für die Kantone, sich die Verlustscheine gegen Übernahme von 90 Prozent der jeweiligen Forderungen übertragen lassen zu können. Da die Kantone über die Steuerdaten der Versicherten verfügen, können sie besser als die Versicherer beurteilen, bei welchen Versicherten und zu welchem Zeitpunkt eine erneute Betreibung angezeigt ist.

2.4

Listen säumiger Versicherter (Art. 64a Abs. 7 KVG)

Der Bundesrat unterstützt den Antrag der Kommissionsminderheit, die Möglichkeit von Listen säumiger Versicherter aufzuheben. In der Vernehmlassungsvorlage hat sich eine Mehrheit der Kommission für eine solche Aufhebung ausgesprochen, und lediglich eine Minderheit wollte die Listen beibehalten und den Begriff Notfallbehandlung im KVG definieren. An der Sitzung der SGK-S vom 27. Januar 2021 hat die Mehrheit jedoch gewechselt.

Zunächst ist zu betonen, dass die Listen zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten hinsichtlich des Zugangs zur medizinischen Versorgung führen. Sie können ferner die medizinische Grundversorgung von wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen gefährden. Die Verweigerung von medizinischen Leistungen kann schwerwiegende langfristige Folgen für die Gesundheit haben. Die Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften ist der Meinung, dass ein Leistungsaufschub, insbesondere bei Minderjährigen, nicht mit den Prinzipien der Fürsorge und der Gerechtigkeit vereinbar ist.

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte und die Fédération romande des consommateurs befürworten die Aufhebung der Listen säumiger Versicherter. Dasselbe gilt für die beiden Dachverbände der Versicherer, Curafutura und Santésuisse, die sich sehr kritisch gegenüber solchen Listen gezeigt haben. Auch die GDK und 19 Kantone unterstützen die Abschaffung. Die wichtigsten Akteure, die mit den Listen konfrontiert sind, sprechen sich gegen diese aus, was zeigt, dass dieses Listensystem zahlreiche Umsetzungsprobleme mit sich bringt. Da Versicherte, die auf den Listen figurieren, nur noch Notfallbehandlungen erhalten dürfen, muss der Begriff der Notfallbehandlung definiert werden. Eine solche Definition ist jedoch im medizinischen Alltag praxisuntauglich und bringt nicht mehr Rechtssicherheit. Sie wurde in der Vernehmlassung denn auch heftig kritisiert. Mit den Listen soll der Druck auf die Versicherten erhöht werden, die zwar zahlungsfähig, aber zahlungsunwillig sind. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass das Instrument der Listen geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen. Darüber hinaus ist das Führen einer Liste der säumigen Versicherten mit Kosten verbunden, während ein Nutzen nicht belegt werden kann.

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Ausserdem bringen die Listen die Leistungserbringer in eine schwierige Situation: Sie werden vor die Wahl gestellt, säumige Versicherte, die sie nicht als Notfall behandeln können, entweder abzuweisen oder vorerst unentgeltlich zu behandeln, mit dem Risiko, auf ungedeckten Forderungen sitzenzubleiben.

Vier Kantone, die Listen geführt hatten (GR, SO, SH und SG), haben beschlossen, diese abzuschaffen, da sie nicht die gewünschten Ergebnisse brachten. Im Kanton Graubünden führte das nicht einheitliche Verhalten der Krankenversicherer zu einer Ungleichbehandlung der säumigen Versicherten. Im Kanton Solothurn hatte die Liste gemäss eigenen Angaben keine abschreckende Wirkung; die Zahl der säumigen Versicherten ist seit seit der Einführung der Liste gestiegen. Schaffhausen hat während neun Jahren eine Liste geführt und diese per 31. Dezember 2020 aufgehoben, da sie mehr Aufwand als Nutzen generiert habe. Der Kanton St. Gallen kam zum Schluss, dass seine Liste das anvisierte Ziel nicht erfüllt hat. Der St. Galler Kantonsrat hat am 17. Februar 2021 eine Motion zu deren Abschaffung gutgeheissen. Schliesslich hat sich auch der Kanton Tessin, der eine solche Liste führt, in der Vernehmlassung für ihre Abschaffung ausgesprochen.

Da die Listen keinen ausreichenden Nutzen bringen, wäre ihre Abschaffung die beste Lösung. Darum unterstützt der Bundesrat nachdrücklich die Abschaffung dieser Listen.

2.5

Versicherung säumiger Versicherter in einem Modell mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers (Art. 64a Abs. 7bis KVG)

Der Bundesrat stimmt dem Grundsatz zu, säumige Versicherte in einem Modell mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers zu versichern. Da die gesetzlichen Pflichtleistungen nach dem KVG versichert sind, lassen sich so die Kosten für diese Versicherten senken, ohne dass deren Zugang zur medizinischen Grundversorgung gefährdet würde.

Im Vernehmlassungsverfahren haben sich die GDK und 13 Kantone für diesen Vorschlag ausgesprochen. Es wurde begrüsst, dass der Bundesrat Ausnahmen vorsehen kann. Gemäss der GDK gilt es sicherzustellen, dass Chronischkranke oder Menschen mit einer Behinderung keine Nachteile erfahren.

Die SP, die Grünen und der Schweizerische Gewerkschaftsbund lehnen diesen Vorschlag hingegen ab, da er ihrer Meinung nach die Versicherer dazu verleiten könnte, spezifische Versicherungsmodelle ausschliesslich für säumige Versicherte einzurichten. Auch Curafutura und Santésuisse lehnen diesen Vorschlag aufgrund des damit verbundenen erheblichen administrativen Aufwands ab.

Der Bundesrat wird die in der Vernehmlassung vorgebrachten Argumente beim Erlass der Ausführungsbestimmungen berücksichtigen.

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2.6

Datenaustausch zwischen den Kantonen und den Versicherern (Art. 64a Abs. 7quater KVG)

Der Bundesrat begrüsst die Verpflichtung der Kantone und der Versicherer, ihre Daten zu den nicht bezahlten Prämien und Kostenbeteiligungen nach einem einheitlichen Standard auszutauschen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es gerechtfertigt ist, von den Versicherern zu verlangen, ihre IT-Systeme für den Austausch von Listendaten anzupassen, wenn lediglich fünf Kantone eine Liste führen.

2.7

Begrenzung der Gebühren für Mahnungen und Zahlungsaufforderungen (Art. 64a Abs. 8 KVG)

Um die Gebühren für Mahnungen und Zahlungsaufforderungen zu begrenzen, hält es der Bundesrat für sinnvoll, diesbezüglich Ausführungsbestimmungen erlassen zu können. Diese Gebühren müssen verhältnismässig sein und dürfen nur den tatsächlichen Kosten der Versicherer entsprechen.

2.8

Übergangsbestimmungen betreffend Minderjährige (Abs. 2)

Der Bundesrat erachtet die vorgeschlagene Übergangsbestimmung als angemessen.

Demnach können die Versicherer ab dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung keine minderjährigen Versicherten mehr belangen. Bereits angehobene Betreibungen sind einzustellen, da aufgrund des gesetzlichen Schuldnerwechsels die Schuldnereigenschaft der betriebenen Person für die betroffenen Forderungen nachträglich entfällt.

Zudem ist es nicht mehr zulässig, die Forderung gegen die ursprüngliche Schuldnerin oder den ursprünglichen Schuldner durchzusetzen. Die Betreibung ist damit nichtig und sämtliche Vollstreckungshandlungen sind sofort einzustellen.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat unterstützt den Entwurf und schlägt folgende Anpassungen vor: Art. 61a Abs. 1 dritter Satz 1

... Eine dafür eingeleitete Betreibung ist nichtig.

Art. 64 Abs. 1bis dritter Satz 1bis

... Eine dafür eingeleitete Betreibung ist nichtig.

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Art. 64a Abs. 2 dritter und vierter Satz ... Die Betreibungen für die Forderungen, die zu einem Verlustschein geführt haben, werden nicht zur Gesamtzahl hinzugerechnet. Der Kanton kann verlangen, dass der Versicherer ihm die von einer Betreibung betroffenen Personen bekannt gibt.

2

Art. 64a Abs. 7 Annahme des Antrags der Minderheit Art. 64a Abs. 8 zweiter Satz ... Er regelt zudem die Gebühren für Mahnungen und Zahlungsaufforderungen, die Einzelheiten des Mahn- und Betreibungsverfahrens sowie der Zahlungen der Kantone an die Versicherer.

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