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Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit vom 12. Mai 2021

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir informieren Sie gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

12. Mai 2021

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Guy Parmelin Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Beurteilung der Bedrohungslage 1

Ausgangslage

Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 20151 (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland.

Eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive findet sich im jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz»2. Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, bleibt Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik3 der Schweiz. Der neue Bericht soll 2021 vorgelegt werden.

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Übersicht

Die Sicherheit der Schweiz wird von mehreren Trends massgeblich beeinflusst. Zu nennen sind insbesondere die wachsende Konkurrenz der Grossmächte und aufstrebender Regionalmächte, die Globalisierung mit teils gegenläufigen Regionalisierungs- und Nationalisierungstendenzen, sodann der technologische Fortschritt und schliesslich die gesellschaftliche Polarisierung.

Gerade die wachsende Konkurrenz der Grossmächte und aufstrebender Regionalmächte führt massgeblich zu einem häufigeren Einsatz von Machtmitteln. Diese Staaten investieren in den Erhalt oder Ausbau ihrer Einflusssphären und in die systematische Schwächung ihrer Gegner. Dies erhöht Instabilität, Spannungen und auch das Risiko von bewaffneten Konflikten dort, wo kein Akteur eine dominante Position erringen kann. Während die meisten der dafür eingesetzten militärischen, nachrichtendienstlichen, politischen und wirtschaftlichen Mittel erkennbar und in ihrer Wirkung berechenbar sind, führt der rasante technologische Wandel insbesondere im Bereich der Wehrtechnik und im Cyberraum zu neuen und schwierig kalkulierbaren Risiken.

Stabilisierende Faktoren wie die konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle sind mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Aus regionalen Konflikten werden komplexe Stellvertreterkonflikte, die das Risiko militärischer Konfrontation unter den beteiligten Gross- und Regionalmächten bergen. Eingefrorene Konflikte können wieder aufflammen, wie Bergkarabach 2020 gezeigt hat. Cyberangriffe sind in der Konfliktführung an der Tagesordnung ­ deren beabsichtigten wie unbeabsichtigten Folgen

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müssen sich aber nicht auf den Cyberraum beschränken. Cyberangriffe bringen mittlerweile ein erhöhtes Eskalationspotenzial mit sich, weil sie gemäss der Militärdoktrin einiger Staaten mit kinetischen Mitteln beantwortet werden können. Als Spionagewerkzeug werden Cybermittel infolge der Digitalisierung immer wichtiger. Für die Schweiz sind auch Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation durch Dritte bedeutender geworden.

Weltweit tätige Grossunternehmen haben signifikant an sicherheitspolitischer Bedeutung gewonnen. Im Technologiesektor üben einige unter ihnen bereits heute faktisch eine Regulierungsfunktion aus, die mit staatlichem und internationalem Einfluss konkurriert. Die wirtschaftlichen Interessen dieser Firmen stehen teils im Widerspruch zu den sicherheitspolitischen Interessen von Staaten, die von Technologieherstellern stark abhängig sind. In Krisen und ausserordentlichen Lagen kann dies die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit von Staaten wesentlich einschränken.

Die namentlich vom dschihadistischen Terrorismus ausgehende Bedrohung bleibt auch in der Schweiz erhöht. Das Gewaltpotenzial des Rechts- und Linksextremismus in der Schweiz besteht weiter; beide Szenen sind international vernetzt.

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Die Bedrohungen im Einzelnen

3.1

Terrorismus

Die Terrorbedrohung in der Schweiz bleibt erhöht. Sie ist hauptsächlich bestimmt durch dschihadistische Akteure, in erster Linie durch autonom agierende Einzeltäter und -täterinnen. Darunter fallen zunehmend auch Personen mit psychischen Problemen, wie die Anschläge von Morges am 12. September 2020 und Lugano am 24. November 2020 gezeigt haben. Diese und ähnliche Gewaltakte in Frankreich, Deutschland und Österreich zeigen, dass Anschläge mit geringem logistischem Aufwand auf sogenannt weiche Ziele, ausgeführt von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen, die wahrscheinlichste Terrorbedrohung darstellen. Die einschränkenden Pandemiemassnahmen, die zu wirtschaftlichem Druck und zu sozialer Isolation führen können, stellen einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Einzelne Pandemiemassnahmen fördern das Leben im virtuellen Raum und damit den Konsum zum Beispiel radikalisierender und dschihadistischer Inhalte und die Vernetzung zwischen radikalisierten Personen.

Als Ziel von dschihadistisch motiviertem Terrorismus stehen Staaten im Vordergrund, die sich militärisch an der Bekämpfung der Terrororganisation «Islamischer Staat» beteiligen. Auf deren Interessen, aber auch auf israelische beziehungsweise jüdische Ziele könnten in der Schweiz Anschläge verübt werden. Der «Islamische Staat» inspiriert zudem weltweit Kleingruppen und einzelne Personen, in seinem Namen zu agieren. Seine Kernorganisation hat sich als Untergrundbewegung insbesondere im Irak konsolidiert. Diese verfügt weiterhin über regionale Führungsstrukturen, internationale Netzwerke und umfangreiche Ressourcen, ist derzeit aber kaum mehr in der Lage, selber Anschläge in Europa vorzubereiten und zu verüben. Einige regionale Ableger des «Islamischen Staats» gewinnen dafür zunehmend an Einfluss, so in gewissen Regionen Afrikas.

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Eine Herausforderung bleibt der Umgang mit in Gefängnissen radikalisierten Personen sowie mit verurteilten Dschihadisten und Dschihadistinnen, die ihre Haft verbüsst haben. Zudem könnten Personen, die zu Zeiten des Kalifats des «Islamischen Staats» dschihadistisch motiviert ins syrisch-irakische Konfliktgebiet reisten, sowie ihre Angehörigen bei ihrer Rückkehr die Sicherheit der Schweiz bedrohen.

Für die Bedrohung durch ethno-nationalistisch motivierten Terrorismus bleiben in Europa und damit auch in der Schweiz vor allem die Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bedeutend. Diese versucht, in Europa ihre politischen Ziele gewaltfrei zu erreichen, unterstützt aber auch den bewaffneten Kampf in den Kurdengebieten. In Europa betreibt sie weiterhin Propaganda und ideologisiert kurdische Jugendliche, sammelt Geld, rekrutiert neue Mitglieder und führt Ausbildungslager durch. Die von der libanesischen Hisbollah ausgehende Bedrohung für die Schweiz wird der Bundesrat in einem gesonderten Bericht darlegen.

3.2

Verbotener Nachrichtendienst

Spionage bleibt ein ständig präsentes Phänomen; die Ziele und Methoden sind relativ konstant geblieben. Digitalisierung und Vernetzung führen jedoch zu einer starken Zunahme von Spionage im Cyberraum; die Konkurrenz der Gross- und Regionalmächte führt zu einer Intensivierung der Spionage im globalen Massstab. Darüber hinaus greifen Staaten auf Beeinflussungsaktivitäten, Desinformation und Sabotage zurück, um politische Gegner oder wirtschaftliche Konkurrenten zu beeinflussen, zu schwächen oder zu destabilisieren. Teils wird gegen missliebige Personen sogar tödliche Gewalt im eigenen Land oder auf dem Territorium anderer Staaten eingesetzt.

Ein solcher Anschlag könnte auch in der Schweiz verübt werden.

Die Schweiz ist weiterhin stark von verbotenem Nachrichtendienst staatlicher, aber auch nichtstaatlicher Akteure betroffen. Führend hierbei sind die zivilen Auslandsund die Militärnachrichtendienste der Grossmächte und einiger Regionalmächte.

Einige Nachrichtendienste können hierzulande auf etablierte Strukturen und ausgedehnte Netzwerke zurückgreifen oder setzen ihre Mittel anderswo auf der Welt gegen Schweizer Staatsangehörige und schweizerische Interessen ein.

Die Ziele ausländischer Spionage in der Schweiz bleiben unverändert. Im Fokus stehen Behörden, das Parlament, die Armee, Forschungsinstitute, Medien und verschiedenste Wirtschaftsbranchen. Genf bleibt vor allem aufgrund der Präsenz von internationalen Organisationen, diplomatischen Vertretungen und Nichtregierungsorganisationen ein Brennpunkt. Zudem gehen ausländische Nachrichtendienste auch in der Schweiz gegen Regimekritiker, Oppositionsmitglieder und Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten vor. Es besteht ferner die Möglichkeit, dass nachrichtendienstliche Akteure in der Schweiz Beeinflussungsaktivitäten gegen Schweizer Interessen durchführen.

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NBC-Proliferation4

Ausländische Akteure versuchen weiterhin, in der Schweiz Material zugunsten von Massenvernichtungswaffenprogrammen oder zur Herstellung von Trägersystemen zu beschaffen. Der Iran hat in der jüngeren Vergangenheit qualitativ wichtige Verbesserungen an seinen Feststoffraketensystemen und an seinen Marschflugkörpern erreicht.

Dabei kommt auch Material aus der Schweiz zur Verwendung.

Pakistan ist weiterhin stark an Knowhow und Gütern aus der Schweiz interessiert; dies betrifft insbesondere den Ausbau seines Nuklearprogramms. Es investiert beachtliche Mittel in seine Nuklearrüstung und dürfte bald mehr nukleare Gefechtsköpfe in seinem aktiven Arsenal halten als Grossbritannien.

Die Nuklearmächte arbeiten an einer umfassenden Modernisierung ihrer Arsenale.

Obwohl das System der strategischen Rüstungskontrolle Zerfallserscheinungen zeigt, bleiben die Abschreckungsverhältnisse zwischen den grossen Nuklearmächten stabil.

Russland verbessert seine Fähigkeit, Krieg gegen einen starken konventionellen Gegner zu führen. Die Nato baut ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten in Europa weiter aus.

3.4

Angriffe auf kritische Infrastrukturen

Grundsätzlich können kritische Infrastrukturen in den Fokus staatlicher und nichtstaatlicher Akteure rücken, wobei physische Angriffe wie auch Cybermittel zum Einsatz kommen können. Die Motive für solche Angriffe können gewaltextremistischer, terroristischer, nachrichtendienstlicher, aber auch machtpolitischer oder finanzieller Natur sein.

Die Digitalisierung wird seit Frühjahr 2020 aufgrund der Pandemiemassnahmen zusätzlich gefördert. Beschleunigte Digitalisierungsbestrebungen, zum Beispiel um Fernzugriffe und damit das Arbeiten im Homeoffice zu ermöglichen, bergen das Risiko, dass der Sicherheit nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird und grössere Datenmengen gestohlen werden können. Damit vergrössert sich die potenzielle Angriffsfläche bei kritischen Infrastrukturen: teilweise direkt, aber auch indirekt über die Lieferketten, also über die Verflechtung von Kunden und Dienstleistern.

Die zahlreichen Unternehmen in der Schweiz, die Zubehör und spezialisierte Dienstleistungen für den Betrieb kritischer Infrastrukturen im In- und Ausland anbieten, können für kriminelle, das heisst finanziell motivierte Akteure, aber auch für Akteure mit staatlichem Hintergrund interessante Ziele darstellen. Solche Angriffe über die Zulieferkette kommen weiterhin vor; mit einer Zunahme von staatlichen und kriminell motivierten Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen ist weiterhin zu rechnen.

Mehrere Schweizer Bundesstellen und Privatfirmen wurden in den vergangenen Jahren Opfer ausländischer staatlicher Cyberangriffe. Diese dienten dem politischen oder wirtschaftlichen Nachrichtendienst. Im Rahmen strategischer Konflikte können auch 4

Weiterverbreitung nuklearer, biologischer oder chemischer Waffen, einschliesslich ihrer Trägersysteme, sowie aller zur Herstellung dieser Waffen notwendigen zivil und militärisch verwendbaren Güter und Technologien.

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künftig Ziele in der Schweiz oder Schweizer Interessen getroffen und in Mitleidenschaft gezogen werden.

Überdies diversifizieren Cyberkriminelle ihre Vorgehensweise laufend. So bieten kriminelle Gruppierungen vermehrt die Zugänge, die sie sich zu fremden Systemen verschafft haben, gestohlene Informationen und technische Expertise Dritten an. Solche Angebote sind möglicherweise auch für staatliche Akteure interessant.

3.5

Gewalttätiger Extremismus

Das Gewaltpotenzial des Rechts- und Linksextremismus in der Schweiz besteht weiter; beide Szenen sind international vernetzt. Beide Szenen suchen für ihre Ideologien ein Publikum, aber die Pandemie beziehungsweise die Gegenmassnahmen zeigen Auswirkungen auf ihre Aktivitäten. Es ist eine Abnahme von Aktionen in der Öffentlichkeit und eine Zunahme virtueller Aktivitäten feststellbar.

Grossmehrheitlich agieren Rechtsextreme in der Schweiz weiterhin klandestin und halten sich mit Gewaltanwendung zurück. Sie verfügen über grössere Mengen funktionstüchtiger Waffen und trainieren Kampfsportarten. Derzeit restrukturiert sich die rechtsextreme Szene. Insbesondere in der Deutschschweiz hat das Auftauchen einer motivierten jungen Generation zu einer Zusammenarbeit verschiedener Gruppierungen geführt. Die jungen Exponenten und Exponentinnen zeigen sich bereit, sich öffentlich zu exponieren, tun dies aber kalkuliert und auf der Erfahrung der älteren aufbauend. Reaktionen aus der antifaschistischen Bewegung auf Provokationen Rechtextremer zeigen, dass dieser Konflikt den Cyberraum, auf den er derzeit grösstenteils beschränkt ist, verlassen könnte. Dies könnte ­ geplant oder spontan ­ zu physischen Angriffen auf Exponenten und Exponentinnen der jeweils anderen Szene führen.

Weiterhin besteht das Risiko von rechtsextrem motivierten Anschlägen von Personen, die sich zwar als zur rechtsextremen Szene zugehörig darstellen, aber keinen Kontakt zu gewalttätigen Gruppierungen haben. Mehrere Anschläge im Ausland haben seit 2019 gezeigt, dass extremistische Einzeltäter und -täterinnen mit ihrer massiven Gewaltanwendung letztlich auch die Grenze zum Terrorismus überschreiten. Bisher existieren nur vereinzelt Hinweise auf eine solche Entwicklung in der Schweiz.

Die wichtigsten Themengebiete der gewalttätigen linksextremen Szene lassen sich unter den Stichworten «Antikapitalismus», «Migration und Asyl», «Antifaschismus» und «Antirepression» zusammenfassen. Die gewalttätige linksextreme Szene lässt sich aber auch stark von aktuellem Geschehen beeinflussen. Zum Beispiel hat sie die Covid-19-Pandemie als Argument instrumentalisiert. So hat die Szene etwa das Thema «Coronaskeptiker» in ihr Repertoire aufgenommen, weil sie einen Teil dieser Personen der rechtsextremen Szene zuordnet. Linksextreme organisieren deshalb immer
wieder Gegenveranstaltungen.

Die gewalttätige linksextreme Szene der Schweiz setzt sich zudem weiterhin für die nach Autonomie strebenden Kurden und Kurdinnen ein. Sie unterstützt deren Anliegen in der Schweiz, aber auch vor Ort in der kurdischen Autonomiezone Rojava im Norden Syriens. Dazu führt die Szene in der Schweiz auch gewaltsame Aktionen durch und sammelt Geld für die Ausrüstung der Kämpfer und Kämpferinnen vor Ort.

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Auch hat die linksextreme Szene gewaltsame Aktionen gegen türkische Interessen und sogenannte Kriegskollaborateure in der Schweiz durchgeführt.

Gewalttätige Linksextreme reagieren stark, wenn von ihnen als rechtsextrem wahrgenommene Personen oder Gruppierungen in der Öffentlichkeit sichtbar werden, und begegnen diesen mit zunehmender Aggressivität.

Gewalttätige Linksextreme nehmen bei Angriffen auf Sicherheitskräfte Verletzungen an Leib und Leben in Kauf oder bezwecken dies in bestimmten Fällen sogar.

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Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland

Der weltweite Einsatz von Machtmitteln hält auch unter Pandemiebedingungen und den damit verbundenen wirtschaftlichen Verwerfungen an. Die Grossmächte vermeiden im sicherheitspolitischen Bereich direkte Konfrontationen. China konzentriert sich auf den Ausbau seiner Einflusssphäre, und Russland sucht seine Einflusssphäre zu stärken. Präsident Biden will die internationale Führungsverantwortung der USA anders als Präsident Trump im Verbund der westlich orientierten Staaten wahrnehmen. Regionalmächte wie der Iran und die Türkei setzen ihre Streitkräfte und verbündete Milizen ein, um ihre Einflusssphären zu sichern und auszubauen. Europa, namentlich die Europäische Union, hat zwar das Potenzial zum einflussreichen globalen Akteur, doch bleibt insbesondere wegen der Notwendigkeit zur Konsenssuche offen, ob dieses Potenzial auch ausgeschöpft werden kann.

Die USA unter Präsident Trump haben das Netzwerk von Verbündeten in Europa und Asien weniger stark gepflegt als in früheren Zeiten. Die neue Administration hat sich zu gegenseitig nutzbringenden wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen bekannt. Die innenpolitische Polarisierung und die sich beschleunigende Staatsverschuldung beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit der USA. Damit steigt die Erwartungshaltung der USA an die Alliierten in Europa, im Persischen Golf und in Asien, Konflikte in ihren eigenen Reihen zu lösen und damit die eigene Handlungsfähigkeit zu steigern. Die transatlantische Perspektive über die Amtszeit Präsident Bidens hinaus bleibt ungewiss.

Die USA werden sich auch unter Präsident Biden auf die strategische Herausforderung China konzentrieren. Im Rahmen der Nato leisten die USA aber weiterhin einen entscheidenden Beitrag zur militärischen Verteidigung Europas. Von den europäischen Verbündeten verlangen die USA, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen und die USA bei der Eindämmung Chinas insbesondere im wirtschaftlich-technologischen Bereich zu unterstützen. Nukleare und regionale Ambitionen des Iran und die nukleare Aufrüstung Nordkoreas bleiben Dauerprobleme mit globaler Wirkung. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Vereinigten Arabischen Emirate und weiterer arabischer Staaten mit Israel eröffnet in der Region neue Möglichkeiten der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Ein
wesentlicher Beweggrund für das diplomatische Tauwetter dürfte in der Hoffnung liegen, dem regionalen Einfluss des Iran und der Türkei gemeinsam erfolgreicher begegnen zu können.

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Im Vergleich zu den USA und Russland hat China die Coronakrise wirtschaftlich besser bewältigt. Die chinesischen Rüstungsanstrengungen gehen unvermindert weiter.

Chinas wirtschaftlicher und militärischer Aufstieg verstärkt die Rivalitäten mit der globalen Führungsmacht USA. Chinas wachsende militärische Macht ermöglicht ein immer selbstbewussteres Auftreten beim Durchsetzen seiner Territorialansprüche.

Das Südchinesische Meer gerät trotz fortbestehender Ansprüche der südostasiatischen Anrainerstaaten zusehends unter chinesischen Einfluss. Die chinesischen Streitkräfte sind auch im Ostchinesischen Meer immer aktiver und bedrängen damit Japan. Auch mit Indien häufen sich im Himalaya die Zwischenfälle.

Die Hauptstossrichtung Chinas zur Erweiterung seiner Einflusssphäre bleibt aber die wirtschaftliche Entwicklung. Unter der Führung der Kommunistischen Partei und ihres Generalsekretärs Xi Jinping wird die Modernisierung vorangetrieben und die globale Führung in ausgewählten Technologiebereichen angestrebt. Mit Handelsverträgen und Auslandsinvestitionen erweitert China seinen globalen Einfluss. Aussenpolitisch setzt es zunehmend seine Wirtschaftsmacht zur Durchsetzung politischer Forderungen, aber auch zur Abwehr internationaler Kritik ein, die die immer stärkere Repression von Minderheiten und politischem Dissens anprangert. China hat zudem sein Instrumentarium zur Durchführung von Beeinflussungsaktivitäten ausgebaut ­ auch weil es im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie internationaler Kritik ausgesetzt war.

Russland verfügt über eine stabile Führung, die den eigenen Machterhalt mit weitgehender Kontrolle über die Medienlandschaft, hartem Vorgehen gegen politischen Dissens und korrupten Praktiken sichert. Sie setzt ihre begrenzten Mittel im Ausland mit verhältnismässig wenig Aufwand erfolgreich zur Stärkung der eigenen Einflusssphäre in Osteuropa, im Nahen Osten und in Nordafrika ein. Präsident Putin profitiert auch von den Schwächen seiner aussenpolitischen Gegner, deren Uneinigkeit und innere Zerstrittenheit ausgenützt und gefördert werden.

Belarus ist im Zug der innenpolitischen Auseinandersetzungen noch stärker von Russland abhängig geworden, und in der Ukraine versucht Russland weiter seinen Einfluss zu stärken. In einem Krisenfall besteht an der Nato-Ostflanke ein erhebliches Eskalationsrisiko. In
Syrien, wo ein Ende des Konflikts nicht absehbar ist, hat Russland weiterhin den grössten Einfluss. Der Einfluss Russlands bleibt aber regional begrenzt, da es über weit weniger wirtschaftliche Macht verfügt als die beiden anderen Grossmächte USA und China. Bemerkenswert ist das Verhältnis zur Türkei, die in fast allen Konfliktgebieten konkurrierende Interessen verfolgt und gleichzeitig ein enger wirtschaftlicher Partner ist. Präsident Putin findet mit Präsident Erdogan immer wieder Wege, die konkurrierenden Einflusssphären Russlands und der Türkei gegeneinander abzugrenzen.

Unter den Regionalmächten strebt die Türkei weiterhin nach Ausdehnung ihrer Einflusszone. Neben dem Nordirak ist sie in Syrien und Libyen militärisch engagiert; ihr Vorgehen im Konflikt mit der PKK und affiliierten Gruppen kann direkte Auswirkungen auf die Bedrohungslage in Europa haben. Im östlichen Mittelmeerraum erhebt sie Anspruch auf die exklusive wirtschaftliche Nutzung eines weiträumigen Meeresgebiets, das auch von Griechenland und Zypern beansprucht wird. Bisher war die Türkei in der Region trotz grosser wirtschaftlicher Verwundbarkeit erfolgreich. Die EU als wichtigster Handelspartner der Türkei sieht vorerst von einschneidenden Sanktionen 8 / 10

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ab, unter anderem weil die EU nach eigener Einschätzung die Türkei als Partner im Kampf gegen illegale Migration braucht. Gleichzeitig bleibt die Türkei über ihre Mitgliedschaft in der Nato mit den zahlreichen europäischen Mitgliedstaaten sowie Kanada und den USA formal verbündet.

Im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zeichnet sich nach wie vor keine Lösung ab. Trotz Wiederaufnahme der iranischen Anreicherungstätigkeiten im Widerspruch zum Joint Comprehensive Plan of Action ist nicht erkennbar, dass der Iran auf eine schnelle Entwicklung hin zu einer Kernwaffe abzielt. Seit der Amtsübernahme von Präsident Biden signalisieren beide Seiten eine gewisse Bereitschaft zu deeskalierenden Schritten und zur Aufnahme neuer Verhandlungen. Nordkorea kehrte nach einer Periode der Entspannung und des Dialogs mit den USA zu einer konfrontativeren Haltung zurück, da seine Ambitionen im Verhältnis zu den USA nicht erfüllt wurden.

Die Abrüstung der nordkoreanischen Massenvernichtungswaffenprogramme bleibt damit in weiter Ferne.

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Auswirkungen auf die Schweiz

Das weltweite Ringen um Einflusssphären und das Machtstreben von Regionalmächten hat Auswirkungen auf die Sicherheit und Stabilität Europas und damit der Schweiz. Insgesamt nimmt die Schutzwirkung des sicherheitspolitischen Umfelds der Schweiz weiter ab. Regionale Konflikte führen zu Migrationsbewegungen, die auch unser Land berühren. Besonders deutlich werden die Bedrohungen im Cyberraum, wo täglich massive Angriffe stattfinden, sei es von staatlichen und staatlich beauftragten Akteuren oder von Cyberkriminellen, unter deren Opfern sich immer wieder auch staatliche Stellen und private Personen oder Firmen in der Schweiz finden. Hervorzuheben ist zudem das Bedrohungspotenzial von Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation für die Schweiz.

Neue sicherheitspolitisch relevante Akteure treten ­ zum Beispiel als Folge der technologischen Entwicklung ­ auf, während die bisherige multilaterale Zusammenarbeit und die existierenden internationalen Sicherheitsstrukturen unter starkem Druck stehen oder gar erodieren und verstärkt hybride Mittel eingesetzt werden, um Konflikte auszutragen. Damit nimmt die Handlungsfähigkeit internationaler Sicherheitsorganisationen ab, während die Bedeutung eines Multistakeholder-Ansatzes steigt. Die Schweiz setzt keine Machtmittel zur Verfolgung ihrer Interessen ein und ist deshalb auf den Erhalt bewährter und die Entwicklung neuer internationaler Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung angewiesen.

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