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Schweizerisches Bundesblatt.

47. Jahrgang. III.

Nr. 25.

8. Juni 1895.

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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung des Verfassungsgesetzes des Kantons Tessin vom 16. Juni 1893.

(Vom 31. Mai 1895.)

Tit.

Mit Zuschrift vom 21. November 1893 hat die Regierung des Kantons Tessin dem Bundesrat ihren Beschluß vom 10. desselben Monats über die Erwahrung des Ergebnisses der kantonalen Volksabstimmung vom 5. November mitgeteilt und damit das Gesuch verbunden, es sei dem durch diese Abstimmung angenommenen Verfassungsgesetze vom 16. Juni 1893 die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen.

In Abänderung der in Art. 33, Abs. 2, der Verfassungsreform vom 2. Juli 1892 enthaltenen Bestimmung über das Stimmrecht der Tessiner im Auslande bestimmt diese Verfassungsnovelle was folgt: ,,Die Tessiner im Ausland, die zu einer im Haushaltungsregister (Register der Herde) einer Gemeinde des Kantons eingetragenen Haushaltung (fuoco, Herd) gehören, üben das Stimmrecht in dieser Gemeinde aus, unter Vorbehalt der Fälle, in denen das Gesetz sie vom Stimmrecht ausschließt."

Die frühere Bestimmung des Art. 33, Abs. 2, der Verfassungsreform vom 2. Juli 1892 hatte dagegen gelautet: ,,Die im Ausland niedergelassenen Tessiner, die wieder im Kanton Wohnsitz nehmen, üben ihre politischen Rechte in der Gemeinde aus, wo sie seit zwanzig Tagen ihren wirklichen Wohnsitz haben.* Bundesblatt. 47. Jahrg. Bd. III.

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218 In Ausführung der Verfassungsnovelle von 1893 hat der Große Rat des Kantons Tessin den 15. Januar 1894 folgende Verordnung erlassen : ,,Ins Stimmregister sind einzutragen die Tessiner und die Schweizerbürger, die das 20. Altersjahr zurückgelegt haben und seit drei Monaten in der Gemeinde niedergelassen sind, sowie die Tessiner im Auslande, die zu einer im Haushaltungsregister einer Gemeinde eingetragenen Haushaltung (fuoco) gehören, unter Vorbehalt der im Gesetz vom 15. Juli 1880 vorgesehenen Ausschließungsfälle.

,,Die Tessiner im Ausland, die zu einer Haushaltung gehören, welche in den Registern von zwei oder mehreren Gemeinden eingetragen ist, sind in das Register ihrer Heimatgemeinde aufzunehmen, es sei denn, daß ihre Familie in einer andern Gemeinde des Kantons wohnt; in diesem Falle sind sie in das Register dieser Gemeinde einzuschreiben."

Mit 12,620 gegen 739 Stimmen ist die Verfassungsnovelle in der Volksabstimmung vom 5. November 1893 angenommen worden. Die annehmende Mehrheit darf demnach als eine großartige bezeichnet werden. Allerdings war die Beteiligung der Bevölkerung an der Abstimmung verhältnismäßig schwach; der Grund ist darin y,u finden, daß von keiner Seite Opposition gegen die Vorlage gemacht worden war; keine Partei hatte sich grundsätzlich vou der Abstimmung ferngehalten. Der Staatsrat des Kantons Tessin konnte daher in einem Schreiben vom 1. Dezember 1893 an das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement mit Recht hervorheben : Es hat mit der in Frage stehenden Bestimmung .,,ein Grundsatz in der Verfassung Aufnahme gefunden, der den Wünschen und Anschauungen des ganzen tessinischen Volkes entspricht. Als diese Bestimmung, welche den Ausgewanderten das Stimmrecht wieder erteilt, dem Volke zur Genehmigung unterbreitet wurde, stieß sie bei den politischen Parteien im Kanton auf keinerlei Widerspruch, die Parteien beeilten sich vielmehr, durch ihre Organe die Zustimmung zu derselben zu erklären."

Trotz alledem ist nachträglich gegen die Ausführung der Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 Einsprache erhoben worden; es geschah dies ,,namens des kantonalen konservativen Komitees"durch Herrn Advokaten G. R e s p i n i in Locamo in einer Eingabe an die Bundesversammlung d. d. Locamo 12. Dezember 1893.

Herr Respini behauptet in dieser Eingabe, es bestehe ein Widerspruch
zwischen den Erklärungen, die der Tessiner Staatsrat Über die Bedeutung der Verfassungsnovelle vor und nach dem 16. Juni 1893 abgegeben habe; der Verfassungsnovelle liege nieht der Begriff des Wohnsitzes, sondern ausschließlich der der Gemeinde-

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angehörigkeit (attinenza) zu Grunde; dem Ausdruck des Volkswillens sei ein unrichtiger Sinn untergeschoben worden ; der Wille des Volkes sei darauf gerichtet gewesen, das Stimmrecht der Auswanderer ohne irgend eine aus dem Erfordernis des Wohnsitzes hergeleitete einschränkende Bedingung wiederherzustellen.

* Diese Behauptungen stellt der Staatsrat des Kantons Tessin in einem Schreiben an den Bundesrat vom 24. Januar 1894 als unbegründet dar.

I.

Die prinzipielle Bedeutung der Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 wird durch Hervorhebung folgender Hauptpunkte klargestellt : 1. Bei der Beratung der Verfassungsnovelle ist ausdrücklich erklärt worden, daß die Frage des Stimmrechts nicht mit der Frage der Repräsentationsbasis (Bevölkerungsziffer) für den Großen Rat des Kantons Tessin verknüpft werden solle. Die Frage der Repräsentationsbasis für den tessinischen Großen Rat war wiederholt Gegenstand der Beratung und Beschlußfassung der Tessiner- und der Bundesbehörden. Das zur Zeit geltende Tessiner Recht beruht auf dem Grundsatz, daß ,,auf je 1200 Seelen der seßhaften tessinischen und eidgenössischen Bevölkerung"' ein Abgeordneter in den Großen Rat zu wählen ist. Die Annahme dieses Grundsatzes, der z. B. nicht dem für den Nationalrat geltenden System entspricht, war im Jahre 1879 den Tessinern vom Bundesrat empfohlen worden; er wird im Tessin seit dem Jahre 1880 befolgt und die gegenwärtige Verfassungsnovelle ändert nichts daran.

2. Die Novelle läßt auch das inner- und interkantonale Stimmrecht unberührt. Das bisherige Recht bleibt in Kraft, soweit es sich handelt um das Stimmrecht der im Tessin wohnenden Tessiner und Schweizer aus andern Kantonen, und soweit es sich handelt um das Stimmrecht der zwar in der Schweiz, aber nicht im Heimatkanton wohnenden Tessiner. Bezüglich des inner- und interkantonalen Stimmrechts wiederholt die Novelle den Abs. l des Art. 33 der Verfassungsreform vom 2. Juli 1892, der also lautet: ,,Die Bürger des Kantons Tessin und die Schweizerbürger anderer Kantone üben ihre politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten in der Gemeinde aus, wo sie seit drei Monaten niedergelassen sind.a Das hier ausgesprochene Prinzip ist seit dem Tessiner Gesetz vom 15. Juli 1880 in Kraft. Und die Bundesbehörden hatten im Laufe der Zeit des öftern Anlaß, seine richtige Bedeutung und Wirkung gegenüber einer mißbräuchlichen Praxis zu betonen (vgl.

auch Bundesblatt 1880, III, 295; 1881, II, 670).

220 3. Mit Rücksicht auf die ins Ausland ziehenden und im Ausland wohnenden Tessiner dagegen bringt die Verfassungsnovelle eine einschneidende Neuerung: es wird für die Zukunft die bisher beobachtete Unterscheidung fallen gelassen, wonach die sogenannten periodischen Auswanderer im Tessin ihr Stimmrecht ausüben konnten, die dauernd Ausgewanderten dagegen nicht. Die Novelle bestimmt, daß jeder Tessiner, der, gleichviel ob dauernd oder nur vorübergehend, im Ausland lebt, in der tessinischen Gemeinde, in deren Haushaltungsregister er eingetragen ist, ein politisches Domizil besitzt, an dem er jederzeit -- sofern er nur persönlich anwesend ist -- von seinem kantonalen Aktivbürgerrecht Gebrauch machen kann.

Diese Gemeinde ist die Heimatgemeinde, es wäre denn, daß die Familie, welcher der im Ausland lebende Tessiner angehört, nicht in ihrer Heimatgemeinde, sondern in einer andern Gemeinde des Kantons Tessin wohnt. Bei dem solchermaßen bestimmten politischen Domizil der landesabwesenden Tessiner handelt es sich natürlich^ nicht um einen wirklichen thatsächlichen Wohnsitz, sondern um ein sogenanntes gesetzliches Domizil.

II.

·> Durch die bisherige Praxis der Bundesbehörden ist die Frage keineswegs präjudiziert, ob einer kantonalen Verfassungsbestimmung, die dem im Auslande weilenden Kantonsbürger, unter dem Gesichtspunkt eines ihm in der Heimat zustehenden gesetzlichen Domizils, die Stimmberechtigung zuerkennt, die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen sei. In der präcisen Form, wie sich diese Frage heute darstellt, war sie vor den Bundesbehörden noch nie aufgeworfen und ist sie daher von ihnen bis jetzt noch nie prinzipiell entschieden worden. Denn wenn auch die Bundesgesetzgebung den thatsächlichen Wohnsitz in der Schweiz als eine der Voraussetzungen für die Ausübung des eidgenössischen Stimmrechtes aufstellt und wenn in der Mehrzahl der Kantone die Kantonalgesetzgebung ein Gleiches statuiert, so folgt daraus allein noch nicht, daß die Kantone verpflichtet seien, für ihr Gebiet in diesem Punkte der Bundesgesetzgebung zu folgen. Eine anderweitige Normierung der Bedingungen der Stimmrechtsausübung ist damit nicht ausgeschlossen.

Auch die Grundsätze, die von der bisherigen bundesrechtlichen Praxis zur Geltung gebracht worden sind und deren Festsetzung insbesondere durch die Prüfung tessinischer
Verfassungsgesetze veranlaßt worden ist, enthalten für die heute zu beantwortende Frage kein zwingendes Präjudiz. Im Eanton Tessin hatte es sich früher zunächst darum gehandelt, den Grundsatz zur Anerkennung und Durchführung zu bringen, daß die Ausübung des Stimmrechtes innerhalb des Kan-

221 tons am Wohnsitz und nicht mehr in der kantonalen Heimatgemeinde zu erfolgen habe. Zur Zeit der politischen Wirren, die in den Jahren 1889 und 1890 eidgenössische Interventionen zur Folge gehabt haben, wurde allerdings der Unterschied zwischen periodischen Auswanderern und dauernd Ausgewanderten aufgestellt; es wurde dabei festgesetzt, daß dem dauernd Ausgewanderten bei seiner Rückkehr das Stimmrecht erst nach Ablauf einer bestimmten Frist wieder zuerkannt werde; diese Bestimmung wurde indessen nicht als eine Forderung und Konsequenz des geltenden Bundesrechtes erlassen, sondern weil sie geeignet schien, das Land zu beruhigen und für die Zukunft Ordnung zu schaffen. Das war denn auch der leitende Gedanke der bundesrätlichen Abordnung, die anläßlich der Versöhnungskonferenzen am 16. Oktober 1890 den Tessiner Delegierten unter anderai folgende Erklärung abgab : ,,Die Bundesbehörden haben nicht die Absicht, sich mehr als durchaus notwendig in eure Wahleinrichtungen zu mischen. Wir wünschen, daß Ihr dieselben selbst umgestaltet in einem Sinne, welcher zugleich euern besondern Anschauungen auf diesem Gebiete und den Anforderungen einer dauernden und gerechten verfassungsmäßigen Ordnung entspricht Ihr müßt eine Wahlgesetzgebung schaffen, welche in bestimmter Weise den Wohnsitzbegriff feststellt11 (Bandesblatt 1890, V, S. 332).

Die nunmehrige Verfassungsnovelle ist diesem Ansinnen -- nachdem anderweitige versuchte Lösungen nicht befriedigt hatten -- dadurch gerecht geworden, daß sie unterschiedslos für alle im Ausland wohnenden Tessiner den Begriff des gesetzlichen Wohnsitzes aufstellt und so ihnen allen die Berechtigung zur Ausübung ihres Stimmrechtes prinzipiell und uneingeschränkt zuerkennt. Die Novelle hat damit unzweifelhaft den heißesten Wünschen dieser Tessiner selbst Rechnung getragen, und sie ist den im ganzen Volke herrschenden Anschauungen entgegengekommen. Es wird nun allerdings eingewendet, daß es bei der Zulassung der im Ausland wohnenden Tessiner zu einer Abstimmung im Kanton nie möglich sein werde, Ordnung und Zuverlässigkeit in die Stimmregister zu bringen, und daß die berüchtigten Wählerzüge (treni elettorali) die Regierung des Landes vom Spiele des Zufalls abhängig machen und sie verhindern werden, einen starken und sichern Halt im Lande selbst zu finden. Diese und ähnliche
Behauptungen sind Übertreibungen.

Die Hauptsache ist, daß in den Stimmregistern Ordnung herrsche, und diese Ordnung ist gerade hinsichtlich der Tessiner im Ausland gemäß dem Novellenrecht leichter und sicherer herzustellen und zu erhalten, als auf Grund der gesetzgeberischen Versuche der Jahre 1890 und 1892. Die Wählerzüge können übrigens nie mehr die

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Bedeutung erlangen, die sie zur Zeit der Wirren besessen haben mögen; denn seit Einführung des proportionalen Wahlverfahrens hat die mit solchen Wählerzügen zu erzielende größere Anzahl von Stimmen nicht denselben Einfluß, wie zur Zeit der Herrschaft des Prinzips des absoluten Mehrs.

Von entscheidender Bedeutung ist der Gesichtspunkt der Rechtseinfachheit und Rechtsgewißheit, woraus die Rechtssicherheit resultiert. Daß aber, von dieser Erwägung aus, dein System der Novelle des Jahres 1893 vor dem der frühern Gesetze der Vorzug gebührt, dürfte nicht bestritten werden. Ist einmal die Heimatgemeinde des im Ausland wohnenden Tessiners ermittelt -- und das wird stets leicht möglich sein -- so ist damit auch, wenigstens io der Regel, sein politisches Domizil festgestellt.

Anderseits hätten sich im Laufe der Zeit trotz den gesetzlichen Detailvorschriften, vielleicht gerade ihretwegen, die Schwierigkeiten häufen müssen, die sich bei der Bestimmung ergeben, ob jemand zu den periodischen oder zu den nicht periodischen Auswanderern gehöre ; der Wohnsitz fällt eben nicht zusammen mit dem Ort des jeweiligen Verweilens und Aufenthaltes, sondern er muß aus einer Reihe von verschiedener Würdigung unterliegenden Umständen ermittelt werden.

Durch die Einführung eines gesetzliehen politischen Wohnsitzes für alle im Ausland lebenden Tessiner ist in der Frage der Ausübung des Stimmrechtes nach außen hin das einheitliche Prinzip des Wohnsitzes gewahrt; nach dem Kern der Sache dagegen ist für sie allerdings -- wenn auch in anderer Form, als früher -- das Stimmrecht wieder mit der Gemeindeangehörigkeit (attinenza) verknüpft worden.

Es ist nicht daran zu zweifeln, daß, vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit betrachtet, dieses System gegenüber dem der zweierlei Auswanderer den Vorzug verdient. Die Erfahrung hat übrigens inzwischen bereits die Überlegenheit des neuen Verfahrens über das im Gesetze von 1890 vorgesehene in unzweifelhafter Weise nachgewiesen. Die Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 ist nämlich (laut Art. 3) um Tage ihrer Annahme durch das Volk vollstreckbar geworden, und das dazu erlassene Vollziehungsgesetz vom 15. Juni 1894, das als dringlich erklärt wurde, trat sofort in Kraft (vgl. dessen Art. 3). Zahlreiche Abstimmungen über sehr umstrittene Fragen sind seither vorgenommen worden : es mag nur an die
Abstimmung vom 25. November 1894 über den Beschluß betreffend Gründung einer Irrenanstalt in Mendrisio, sowie an die Abstimmung vom 3. März 1895 über die Revision des Kirchengesetzes erinnert werden.

Während nun in jedem einigermaßen wichtigen Falle die Anwendung des Gesetzes von 1890 Hunderte von Wahlrekursen her-

223 vorzurufen pflegte, ist unter dem neuen Systeme die Zahl derselben ganz unbedeutend gewesen. Der Geschäftsbericht des Staatsrates für 1894 ist nach dieser Hinsicht besonders lehrreich.

III.

Nach Art. 6, Abs. 2, litt, a, der Bundesverfassung übernimmt der Bund die Gewährleistung der kantonalen Verfassungen, insofern sie nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten. Durch die Praxis ist längst außer Zweifel gesetzt, daß bei der Frage der eidgenössischen Gewährleistung einer kantonalen Verfassungs vorschrift nicht nur die ausdrücklichen Normen der Bundesverfassung in Betracht zu ziehen sind, sondern der gesamte Inhalt des geltenden Bundesrechtes. Danach ist die Frage zu beantworten : Steht das Tessiner Verfassungsrecht, wie es in der Novelle vom 16. Juni 1893 enthalten ist, im Widerspruch mit Bundesrecht, indem es den im Auslande lebenden Tessinern unterschiedslos die Ausübung kantonalen und kommunalen Stiramreehtes in der Heimat dadurch ermöglicht, daß es einem jeden ein gesetzliches Domkil im Kanton zuschreibt.

Diese Frage ist zu verneinen, und daraus ergiebt sich, daß der Tessiner Verfassungsnovelle vom 16. Juni 1893 die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen ist. Ein Widerspruch zwischen dem Inhalt dieser Novelle und dem Bundesrecht läge nur dann vor, wenn im Bundesrecht ein Grundsatz etwa folgenden Inhalts als geltend anerkannt werden müßte : Der Schweizer, der in der Schweiz keinen wirklichen Wohnsitz hat, vielmehr im Ausland wohnt, kann in der Schweiz sein Stimmrecht nicht ausüben.

Man ist darüber einig, daß ein solcher Satz, in dieser Allgemeinheit und Vollständigkeit formuliert, sich in keiner Quelle des Bundesrechtes findet. Er kann aber auch nicht aus Sinn und Geist des Bundesrechtes abgeleitet werden, und das, wie uns scheint, aus folgenden Gründen: 1. Es geht nicht an, dasjenige, was durch Bundesrecht hinsichtlich der außerhalb ihres Heimatkantons oder ihrer Heimatgemeinde, aber in der Schweiz niedergelassenen Schweizerbürger festgesetzt ist, ohne weiteres auch als maßgebend zu betrachten für die im Ausland wohnenden Schweizerbürger. Die Entwicklung der internen schweizerischen Verhältnisse, insbesondere derjenigen von Kanton zu Kauton, hat dazu geführt, den ,,niedergelassenen" Schweizerbürgern im Kanton und am Orte der Niederlassung politische Rechte von Bundes wegen zu garantieren. (Vgl. Art. 43, 47 der Bundesverfassung.) Anfangselemente dieser Entwicklung sind

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schon in der Mediaiionsakte (Art. 4) niedergelegt. Seit den dreißiger Jahren wurde sie von einzelnen liberalen Kantonen begünstigt. In den Jahren 1848 und 1874 ist sie durch die Bundesgesetzgebung wesentlich gefördert worden. Ihren Abschluß hat sie noch heute nicht gefunden : denn nur dem Niedergelassenen, nicht auch dem Aufenthalter ist der Genuß der politischen Rechte im Wohnsitzkanton von Bundes wegen garantiert; und nicht sofort, sondern erst nach einer ,,Niederlassung von drei Monaten"1 muß dem Niedergelassenen das kantonale Stimmrecht erteilt werden. Sodann ist es ein gleichfalls schon in der Mediationsakte richtig ausgesprochener Gedanke, daß niemand in mehr als einem Kanton politische Rechte ausüben dürfe, und daß daher, wer im Niederlassungskanton stimmberechtigt ist, im Heimatkanton sein Stimmrecht nicht soll ausüben können.

Im Verhältnis zum Ausland hat zu einer derartigen Entwicklung niemals die geringste Veranlassung bestanden. Eine Interessengemeinschaft, wie sie unter den zum Bundesstaat verbündeten Kantonen begründet wurde, kann zwischen dem Ausland und der Schweiz nicht bestehen. Die Stärkung des einheitlichen staatlichen Gesamtbewußtseins, gefördert durch Erteilung politischer Rechte an den Niedergelassenen, fallt im Verhältnis zum Ausland weg. Die Erteilung der politischen Rechte in Kantons- und Gemeindeangelegenheiten an den kantonsfremden niedergelassenen Schweizer beschleunigt seine politische und sociale Annäherung an die Kantonsangehörigen und hewirkt, daß er im Niederlassungskanton in nicht allzu langer Zeit aus einem Kantonsfremden ein Kantonsangehöriger wird, womöglich unter Aufgabe seines bisherigen Heimatrechtes; entsprechende Bestrebungen mit Rücksicht auf den im Ausland wohnenden Schweizer zu begünstigen , dazu hat die Eidgenossenschaft keinen Beruf. Und so lag und liegt nie ein Grund vor, von ,,Bundes wegen"1 den im Ausland lebenden Schweizern die Ausübung ihres kantonalen Stimmrechtes in der Heimat zu untersagen. Ein derartiges Verbot besteht in der That nicht und darf auch nicht aus Art. 43 der Bundesverfassung durch angeblich entsprechende Anwendung der Vorschriften dieses Artikels hergeleitet werden.

Ebensowenig sind die in den Art. 4 und 60 der Bundesverfassung niedergelegten Prinzipien geeignet, ein bundesrechtliches Verbot der Stimmrechtsausübung zu Lasten
der im Ausland lebenden Schweizer zu begründen : Es ist gewiß mehr wie gewagt, als Konsequenz der bundesrechtlich vorgeschriebenen Rechtsgleichheit und Gleichhaltung der kantonsfremden Schweizer mit den Kantonsbürgern den Satz hinzustellen, daß innerhalb der Schweiz der kantonsfremde Schweizer wie der Kantonsangehörige ihr Stimmrecht an ihrem Wohnorte und

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nur dort auszuüben haben ; denn gälte dieser Satz, so wäre die dreimonatliche Karenzfrist des Art. 43 der Bundesverfassung laugst dahingefallen, ferner müßte der kantonsfremde ,,Aufenthalter" nicht nur dem kantonsangehörigen Aufenthalter im Stimmrecht gleichgestellt werden, sondern beiden müßte gleich dem Ortsangehörigen gestattet sein, an ihrem Wohnorte sofort und ohne Karenzfrist ihr Stimmrecht auszuüben. Auch der im Ausland lebende Tessiner ist und bleibt Tessiner; die erste und hauptsächlichste Voraussetzung für das Stimmrecht -- den Besitz des Bürgerrechtes -- teilt er also mit dem Tessiner im Inland; und wenn daher beide vom kantonalen Gesetzgeber rechtsgleich und nicht rechtsungleich behandelt werden, wenn demgemäß der Tessiner im Ausland nicht an der Ausübung seines Stimmrechtes verhindert wird, so ist hiergegen vom Standpunkt der bundesreehtlichen Rechtsgleichheit nichts einzuwenden. Der kantonsfremde Schweizer aber, der im Kanton Tessin sein Stimmrecht ausübt, kann vom Standpunkt des Bundesrechtes aus nur Gleichstellung mit den Kantonsbürgern verlangen, nicht Besserstellung; es ginge aber über die ihm gebührende Gleichstellung hinaus, wenn um seinetwillen, aus Rücksicht für ihn, der im Ausland lebende Tessiner von der Ausübung des Stimmrechtes im Tessin ausgeschlossen werden mußte.

Der Schweizer, der in der Schweiz keinen Wohnsitz hat, ist allerdings in eidgenössischen Angelegenheiten von der Ausübung des Stimmrechts ausgeschlossen. Dieser in konstanter Praxis befolgte Satz ist aber kein verfassungsrechtlicher Grundsatz, sondern findet seine Begründung in gesetzlichen Bestimmungen. (Vgl. Bundesverfassung 1848, Art. 42, Abs. l, und Art. 63, Bundesverfassung 1874, Art. 43, Abs. 2, und Art. 73, sodann Bundesgesetz betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrates vom 21. Dezember 1850, Art. 4, und Bundesgesetz betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen yom 19. Juli 1872, Art. 3.) Was übrigens für das eidgenössische Stimmrecht Rechtens ist, muß deshalb noch nicht auch für das kantonale Stimmrecht gelten. Nirgends verlangt das Bundesrecht, daß die Voraussetzungen zur Ausübung des kantonalen Stirnmrechtes die gleichen seien, wie die für das eidgenössische Stimmrecht aufgestellten ; und es besteht weder ein rechtliches, noch ein politisches Interesse, eine solche Übereinstimmung
nach jeder Hinsicht herbeizuführen.

2. Die Ausübung des eidgenössischen Stim/nrechts hat am schweizerischen Wohnsitze zu erfolgen. Erfordernis ist der Besitz des Schweizerbürgerrechtes; der Unterschied zwischen kantonsangehörigen und kantonsfremden Schweinern ist dabei ohne Belang.'

Der Vorschrift, daß die Stimmabgabe am ,,politischen Domizil a zu

226 erfolgen habe, liegt denn auch keinerlei politisches Motiv zu Grunde ; es ist eine bloße Ordnungsvorschrift. Höchst beachtenswert ist nun, wie der eidgenössische Begriff des politischen Domizils nach und nach die Entwicklung des kantonalen Rechtes beeinflußt und wie er sich hier den Begriffen : Ortsangehörigkeit, Kantonsangehörigkeit, Niederlassung, Aufenthalt substituiert hat. Nicht nur haben die Kantone den althergebrachten Unterschied zwischen Niederlassung und Aufenthalt zum Teil fallen gelassen, sondern sie stellen mit Bezug auf die Ausübung des Stimmrechts, gleich dem eidgenössischen Recht, ausschließlich auf den Wohnsitz ab. Allein diese Entwicklung ist keine vom Bundesrecht gebotene, den Kantonen steht durchaus frei, den Begriff des ,,politischen Domizils" gerade in der ihm vom Bundesrecht gegebenen Gestalt zu recipieren oder ihn anders zu gestalten.

Wenn daher die Kantone den Wohnsitz für die Ausübung des Stimmrechtes in Kantons- und Gemeindeangelegenheiten als maßgebend erklären, so haben sie bloß die durch Art. 43 der Bundesverfassung gesetzten Schranken zu beobachten; im übrigen sind sie in der Ausgestaltung dieses Wohusitzbegriffes frei.

Daraus ergiebt sich folgendes : Vom Standpunkt des Bundesrechtes aus darf den Kantonen nicht untersagt werden, festzusetzen : durch Wegziehen ins Ausland geht das kantonalrechtliche politische Domizil im Kanton nicht unter; oder: jeder Kantonsbürger, der im Ausland lebt, hat an einem bestimmten Orte im Kanton sein politisches Domizil, woselbst er iu kantonalen und kommunalen Angelegenheiten sein Stimmrecht auszuüben befugt ist.

3. Schwerlich zutreffend ist es endlich, wenn man sich in Ermangelung positiver Normen auf allgemeine Gesichtspunkte zu stützen sucht, um den Ausschluß der im Ausland lebenden Schweizer von der Ausübung ihres kantonalen Stimmrechtes zu begründen, auf Gesichtspunkte, die de lege ferenda, ' nicht aber de lege lata von Bedeutung sein mögen. Indem der kantonale Gesetzgeber dem Kantonsbürger, der im Ausland lebt, die Ausübung des kantonalen Stimmrechtes ermöglicht, läßt er sich von der Erwägung leiten, daß von diesem Bürger aogenomtnen werden darf, er bekunde im allgemeinen ein gleich intensives Interesse am öffentlichen Leben des Kantons, wie der landesanwesende Bürger, und daß ihm die aus verschiedenen Gründen verursachte
thatsächliche Entfernung aus der Heimat in seiner politischen Rechtsstellung dann nicht zum Nachteile gereichen soll, wenn er zur Zeit einer Wahl oder Abstimmung in die Heimat zurückkehrt, welche Rückkehr in die Heimat infolge der modernen Verkehrseinrichtungen leichter möglich ist, als in früheren Zeiten.

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Solche und ähnliche Erwägungen haben natürlich ein ganz besonderes, ja ein entscheidendes Gewicht in einem Kantone, in dem, wie dies für den Tessin der Fall ist, die volkswirtschaftlichen Verhältnisse große Klassen der männlichen Bevölkerung geradezu zwingen, einen mehr oder minder ansehnlichen Teil ihres Lebens außerhalb des Landes zuzubringen. Soll der Ausgewanderte trotz der oft langen Abwesenheit die Anhänglichkeit an die heimische Scholle bewahren, soll sein Interesse an den Landesangelegenheiten nicht erblassen, so empfiehlt es sich -- so dachte der tessinische Gesetzgeber -- jede Gelegenheit wahrzunehmen, die ihn mit dem Leben des Landes in werkthätige Verbindung bringt; es gilt, ihm damit zu bezeugen, daß er auch in der Fremde als ein Landeskiud betrachtet wird, daß er zu jeder Zeit, auch bei nur vorübergehendem Besuche, als ein gleichberechtigtes Glied der großen tessinisehen Familie aufgenommen wird. Solche Verhältnisse, wie sie in dieser Beziehung der Kanton Tessin aufzuweisen hat, bestehen, wenigstens in annähernd gleichem Maße, in keinem andern Sehweizerkantone; und darum wäre es auch verfehlt, wollte man die dadurch für den Tessin bedingte besondere Gestaltung des Stimmrechts vom Standpunkte der in andern Kantonen bestehenden Verhältnisse und Rechtsanschauungen aus beurteilen. Wenn je, so ist hier das Sprichwort am Platze: ,,Eines schickt sich nicht für alle!"

Auf den weiteren Umstand dagegen, daß zur Zeit der Tessiner im Ausland seinem Kantone gegenüber in gleicher Weise steuerpflichtig ist, wie der landesanwesende Bürger, ist kein Gewicht zu legen; denn Steuerpflicht und Stimmrecht sind nach den im schweizerischen Staatsreeht herrschenden Grundsätzen nicht von einander abhängig: der im Inland wohnende Ausländer ist dem inländischen Staat gegenüber steuerpflichtig, stimmberechtigt ist er dagegen nicht. ^Das Stimmrecht an die Steuerpflicht oder die Möglichkeit, dieser Pflicht zu genügen, zu binden, ist eine Verkennung des Begriffs der politischen Berechtigung der Bürger."1 (Morel.)

4. Nicht schlüssig ist endlich die Behauptung, d^,ß bei der Erteilung des Stimmrechtes an den im Ausland wohnenden Kantonsbürger diesem ein Recht eingeräumt werde, dem keine Pflicht entspreche. Wer stimmberechtigt ist, der hat allerdings auch die Pflicht, sein Stimmrecht auszuüben. Allein in den wenigsten
Kantonen ist dieser Satz schon dermaßen in das Volksbewußtsein eingedrungen, daß aus der bloß moralischen Pflicht eine rechtlich zu erzwingende Pflicht gemacht wurde. Und selbst da, wo die Stimmabgabe obligatorisch ist, giebt es notwendigerweise Entschuldigungsgründe, die durch die thatsächlichen Verhältnisse bedingt sind.

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Die Landesabwesenheit gilt auch bei dem im Inland wohnenden Bürger als Entschuldigung. Und daß bei dem, der im Ausland wohnt, die zwingenden Umstände, die ihn an der Rückkehr und damit an der Ausübung seiner Stimmpflicht thatsächlieh hindern und sein .Ausbleiben entschuldigen, noch zahlreicher sind und in größerem Umfange sich geltend machen als bei dem in der Heimat wohnenden, ist selbstverständlich. Ein Gebot, den Auswärtigen deswegen vom Stimmrecht ganz auszuschließen, läßt sich daraus nicht ableiten.

Aus allen diesen Gründen wird der Antrag gestellt, dem tessinischen Verfassungsgesetz vom 16. Juni 1893 gemäß dem nachstehenden Beschlussesentwurf die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 31. Mai 1895.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Stellvertreter des eidg. Kanzlers : Schatzmann.

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(Entwurf.)

Bnndesbeschluß betreffend

die eidgenössische Gewährleistung des Verfassungsgesetzes des Kantons Tessin vom 16. Juni 1893.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 31. Mai 1895 betreffend die eidgenössische Gewährleistung des Verfassungsgesetzes des Kantons Tessin vom 16. Juni 1893 ; in Betracht: daß das neue Verfassungsgesetz nichts enthält, was mit den Bestimmungen der Bundesverfassung im Widerspruche wäre, daß es in der Volksabstimmung vom 5. November 1893 von der Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen worden ist; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Dem Verfassungsgesetze des Kantons Tessin vom 16. Juni 1893 wird die Bundesgarantie erteilt.

2. Der Bundesrat ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung des Verfassungsgesetzes des Kantons Tessin vom 16. Juni 1893. (Vom 31.

Mai 1895.)

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