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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des J. J. Huber, Gemeindeammann in Wallenstadt, gegen den Bundesratsbeschluß vom 30. April 1895, betreffend die Anwendung des eidgenössischen Expropriationsverfahrens zur Errichtung einer Schießservitut auf des Beschwerdeführers Liegenschaft ,,Hackenriedt" bei Wallenstadt.

(Vom 13. August 1895.)

Tit.

Wir beehren uns, Ihnen nachfolgenden Bericht samt Beschlussesantrag vorzulegen.

I.

In den letzten Jahren wurde der Waffenplatz für Schießübungen in Wallenstadt durch Ankauf von Boden und Erwerbung von Dienstbarkeitsrechten auf Kosten des Kantons St. Gallen und der Eidgenossenschaft erweitert. Unter anderai wurde auch ein kleiner Teil des dem Herrn Alt Nalionalrat und -Kantonsrichter J. J. Hu hei-, Gemeindeammann in Wallenstadt, gehörenden Grundstückes ,,Haekenriedt" angekauft. Nachträglich verlangte dieser Grundbesitzer, da/i auch der übrige Teil seiner Liegenschaft wegen Gefährdung durch die Schießübungen ihm kaufweise abgenommen werde oder Abschätzung und Vergütung des Minderwertes demselben stattfinde.

Der eidgenössische Schießinstruktor in Wallenstadt erklärte sich bereit, den Reklamanten jeweilen für die durch die Schießübungen

772 unterbrochene Landarbeit zu entschädigen, obgleich eine eigentliche Gefahr für die Arbeiter nicht bestehe. Hiermit wollte sich jedoch Herr Huber nicht begnügen.

Auf ein Gutachten des Kantonsingenieurs, dahingehend, daß der Aufenthalt auf dem Huberschen Lande durch die Schießübungen zwar nicht wesentlich gefährdet sei, die Vorsicht indessen doch gebiete, wenigstens auf dem südlich gelegenen Teile desselben dio Feldarbeiten während der Dauer der Übungen xu unterbrechen, beschloß der Regierungsrat des Kantons St. Gallen am 23. März 1895, dem Begehren des Herrn Huber um eine Besitzesschutz Verfügung, entgegen einem abschlägigen Bescheide des Bezirksamtes Sargans, zu entsprechen, sofern der Staat (Eidgenossenschaft oder Kanton) nicht binnen Monatsfrist zur Expropriation, durch Enteignung oder Errichtung einer Servitut, schreite.

Da Herr Gemeindeammann Huber trotz allen Bemühungen des eidgenössischen Militärdepartements sich nicht dazu verstehen konnte, zur Einleitung des Schätzungsverfahrens behufs Begründung einer Schießservitut auf seiner Liegenschaft Hand zu bieten, vielmehr darauf beharrte, daß der Bund die Liegenschaft zu Eigentum zu übernehmen habe, beschloß der Bundesrat am 18. April 1895, durch Vermittlung des st. gallischen Militärdepartements die Errichtung einer Schießservitut auf der Huberschen Liegenschaft ,,Haekenriedt" nach Maßgabe des Bundesgesetzes vom 1. Mai 1850 betreffend die Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten durchführen zu lassen.

Dieser Beschluß wurde am 30. April bestätigt und gleichzeitig die Errichtung einer gleichartigen Servitut auf dem Grundstück des J. J. Mannhart in Gunz-Mols beschlossen, in der Meinung, daß für beide Fälle das in Art. 17, Ziffer 3 und 4, des allegierten Bundesgesetzes vorgesehene außerordentliche Verfahren anzuwenden und der Schätzungskornmission zur Wegleitung die Erklärung abzugeben sei, daß die Schießlinie jährlich nicht über 50 halbe Tage gebraucht werde, welche Erklärung als Verpflichtung des Servitutnehmer im Grundbuch eingetragen werden solle.

II.

Gegen diesen bundesrätlichen Beschluß hat Herr Advokat V. Huber in St. Gallen, namens des Herrn Gemeindeammann J. «J.

Huber, mit Schriftsatz vom 16. Mai 1895, ,,in Anwendung von Art. 192 des Organisationsgesetzes Über die Bundesrechtspflege", den staatsrechtlichen Rekurs an die schweizerische Bundesversammlung ergriffen ,,wegen Verletzung der Artikel 29 und 31 der st. gallischen Kantonsverfassung"'.

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Die Rekursbegründung zerfallt in einen g e s c h i c h t l i c h e n und einen r e c h t l i c h e n Teil.

In geschichtlicher Beziehung wird angebracht: Der Waffenplatz Wallenstadt ist ein k a n t o n a l e r Waffenplatz ; die Ortsgemeinde Wallenstadt ist Eigentümerin des Bodens; Verträge über die Benutzung desselben sind nur zwischen der Eigentümerin und dem Kanton St. Gallen abgeschlossen worden; sämtlicher Boden, welcher zur Erweiterung des Schießplatzes angekauft werden mußte, ist vom Staate St. Gallen und nicht vom Bunde erworben worden.

Daraus folgert die Rekursschrift in rechtlicher Beziehung, es könne für den Waffenplatz Wallenstadt auch nur k a n t o n a l e s Expropriationsrecht zur Anwendung kommen.

Dieses Recht ist nach der Darstellung des Rekurrenten folgendermaßen gestaltet.

Durch die Artikel lö und 19 der Verfassung des Kantons 8t. Gallen vom 17. November 1861 war das Privateigentum als unverletzlich, jedoch die A b t r e t u n g (nicht auch die Belastung) jeder Art unbeweglichen Gutes, wenn das öffentliche Wohl sie unumgänglich erheischt, gegen volle, streitigenfalles durch den Richter festzusetzende Entschädigung, als eine Pflicht des Eigentümers erklärt, mit dem Zusätze, daß das Gesetz das Nähere zu bestimmen habe.

Ein kantonales Gesetz vom 23. April 1835 sieht, damit übereinstimmend, gleichfalls nur die Zwangsabtretung des Eigentums vor, und kennt nicht, wie das Bundesgesetz; vom 1. Mai 1850, die Expropriation für einzelne Rechte, die Belastung des Grundeigentums mit Dienstbarkeiten.

Die gegenwärtig in Kraft bestehende Staatsverfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890 enthält in Art. 31 den Grundsatz der Unverletzlichkeit des Privateigentums, erklärt, daß, wo das öffentliche Wohl es erheischt, die Abtretung o d e r B e l a s t u n g jeder Art unbeweglichen Gutes gegen volle, streitigenfalls durch den Richter festzusetzende Entschädigung gefordert werden könne, und weist die näheren Bestimmungen hierüber ebenfalls der Gesetzgebung zu.

Solange nun nicht -- so räsonniert die Rekursschrift -- ein den Art. 31 der Kantonsverfassung in Abweichung von dem bisherigen Gesetze ausführendes Gesetz erlassen ist, kann die n e u e Bestimmung, welche die Belastung des Grundeigentums auf dem Expropriationswege zuläßt, nicht zur Anwendung kommen ; denn sie entzieht dem Bürger
ein Recht und setzt als Bedingung ihrer Anwendbarkeit eine gesetzgeberische Normierung voraus. Diese Auffassung entspricht einem vom Bundesgerichte wiederholt ausgesprochenen Grundsatze.

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Der Rekurrent findet es begreiflich, daß dus st. gallische Militärdepartement bei diesem Expropriationsfalle die Anwendung des Bundesgesetzes ,,durchzudrücken"' versuche; denn der Staat möchte sich aus finanziellen Rücksichten lieber mit einer bloß servitutarischen Belastung der rekurrentischen Liegenschaft befassen, als mit der Expropriation derselben zu Eigentum. Allein dies könne ohne Rechtsverletzung nicht geschehen. Dei' Bundesratsbeschluß vom 30. April 1895, welcher die Anwendung des eidgenössischen Expropriationsverfahrens zum Zwecke der Errichtung einer Schießservjtut auf der Liegenschaft des Rekurrenten verfügt, macht in rechtswidriger Weise von einer noch nicht anwendbaren Bestimmung des Art. 31 der St. Galler Verfassung Gebrauch; er verletzt überdem den Art. 29 der nämlichen Verfassung, welcher Inutet: ,,Niemand darf seinem verfassungsmäßigen Gerichtsstand entzogen und es dürfen keine Ausnahmegerichte eingeführt werden." Wenn das eidgenössische Expropriationsgesetz zur Anwendung käme, so wäre damit der eidgenössische Gerichtsstand, d. h. der Gerichtsstand des Bundesgerichts, gegeben, während bei Anwendung des kantonalen, d. h. in concreto des verfassungsmäßigen, Expropriationsrechtes der st. gallische der verfassungsmäßige Gerichtsstand ist.

in.

Gegenüber diesen rekurrentischen Ausführungen hat das Polizei- und M i l i t ä r d e p a r t e m e n t des Kantons St. Gallen in einem Schreiben an das schweizerische Militärdepartement vom 4. Juni 1895 konstatiert, daß der Rekurrent von zwei durchaus unrichtigen Voraussetzungen ausgeht.

Einmal -- sagt das kantonale Departement -- bestehen für den Waffenplatz Wallenstadt zur Zeit zu Recht: 1. der Vertrag zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Ortsgemeinde Wallenstadt vom 2S./26. Februar 1891, betreffend den Schießplatz von der Eisenbahnlinie bis gegen Lehn, d. h. für die in Frage kommende neue Schießlinie; 2. der Vertrag zwischen dem Regierungsrate des Kantons St. Gallen und der Ortsgemeinde.

Wallenstadt vom 25. Februar / 5. März 1891, dessen Eingang wörtlich lautet wie folgt : ,,Der Regierungsrat des Kautons St. Gallen einerseits und der Verwaltungsrat der Ortsgemeiude Wallenstadt andererseits haben über Erstellung und Einrichtung eines eidgenössischen Waffenplatzes für Schießschulen in Wallenstadt unter beigefügtem Datum nachfolgenden Vertrag abgeschlossen.11 In der That ist der Waffenplatz Wallenstadt für die Schießschulen der Eidgenossenschaft eigens eingerichtet worden.

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Zweitens -- fährt das Departement fort -- hat nicht bloß der Staat St. Gallen, sondern auch die Eidgenossenschaft Boden für den neuen Schießplatz angekauft.

Die thatsächlichen Verhältnisse lassen somit den Rekurs des Herrn Gemeindeammann Huber als durchaus unbegründet erscheinen.

IV.

Der Bundesrat hat sich vorab die Frage vorgelegt, ob die Weiteraehung des bundesrällichen Beschlusses vom 30. April 1895 an die Bundesversammlung als zulässig zu betrachten sei.

Zufolge Art. 19 und Art. 25 des Bundesgesetzes vom 1. Mai 1850 betreffend die Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten ·entscheidet der Bundesrat in letzter Instanz Streitigkeiten über die Frage, ob die Abtrelungspflicht begründet sei oder nicht, und durch Bundesbeschluß vom 28. Januar 1882 ist der Bundesrat ermächtigt worden, bei Erwerbungen und Erweiterungen von eidgenössischen Waffenplätzen das Bundesgesetz vom 1. Mai 1850 in Anwendung zu bringen.

Im vorliegenden Falle ist nun aber bestritten, ob der Wafienplatz Wallenstadt, zu dessen Gunsten das Zwangsenteignungsvert'ahren stattfinden soll, ein eidgenössischer sei, und ob das eidgenössische Expropriationsgesetz Anwendung zu finden habe.

D i e s e Frage hat die Bundesversammlung endgültig zu entscheiden ; sie ist gleichbedeutend mit der Frage, ob der Bundesrat in einem konkreten Falle von der ihm durch den Bundesbeschluß vom 28. Januar 1882 verliehenen Befugnis einen richtigen Gebrauch gemacht oder diesem Beschlüsse zuwidergehandelt habe.

Die Weiterziehung des bundesrätlichen Beschlusses erscheint sonach als statthaft.

In der Sache selbst scheinen uns folgende Momente maßgebend zu sein: Der Waffenplatz Wallenstadt ist ein e i d g e n ö s s i s c h e r , nicht ein kantonaler Waffenplatz.

Seit durch die Militärorganisation von 1874 auch der Infanterieunterricht Bundessache geworden ist, giebt es überhaupt keine kantonalen Waffenplätze mehr, sondern nur noch eidgenössische.

Dies geht schon daraus hervor, daß der Bundesrat die Waffenplätze wählt. Als Warfenplatz für die Schießschulo hätte seiner Zeit statt Wallenstadt gerade so gut eine nicht st. gallische Ortschaft, z. B. Payerne, das mit in Frage kam, gewählt werden, können.

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Daß diese Auffassung schon gleich zu Anfang bei der Vollziehung der Militärorganisation diejenige des Bundesrates war, geht aus dessen Schlußnahme vom 13. Januar 1876 und aus dem vom schweizerischen Militärdepartemente am 15. Januar 1876 an die Militärbehörden erlassenen Kreisschreibea hervor. In dem letztern wurden die seitens der Militärbehörden l e i h w e i s e zu stellenden Waffenplätze e i d g e n ö s s i s c h e W a f f e n p l ä t z e genannt (Militärverordnungsblatt von 1876, S. 5) und vom Bunde die Normalien, erlassen (Militärverordnungsblatt 1876, 8. 6).

Diese Auffassung ist seither von keiner Seite beanstandet worden.

Gegenüber Wallenstadt treffen die gleichen Verhältnisse zu.

Es ist also nicht das Eigentumsverhältnis, sondern die Zweckbestimmung ausschlaggebend dafür, ob ein Waffenplatz eidgenössisch oder kantonal sei.

Auch ist es gleichgültig, ob die Eidgenossenschaft den Vertrag betreffend die Benutzung des Platzes mit dem Kanton oder mit einer Gemeinde abgeschlossen habe. Entgegen der Voraussetzung des Herrn Gemeindeammann Huber ist in casu letzteres der Fall.

Übrigens besitzt nun auch die Eidgenossenschaft gerade an der hier in Frage kommenden Schießlinie Grundeigentum.

Ange'sichts dieses SachVerhältnisses kann darüber, ob der Waffenplatz für Schießschulen in Wallenstadt den Charakter eineseidgenössischen Waffenplatzes besitze, kein Zweifel bestehen.

Wenn aber dem so ist, so erscheint auch jeder Zweifel an der Anwendbarkeit des Bundesbeschlusses vom 28. Januar 1882 und damit des Bundesgesetzes vom 1. Mai 1850 im vorliegenden Falle ausgeschlossen.

Die Anwendung des in den Artikeln 17 bis 21 vorgesehenen außerordentlichen Verfahrens ist durch Art. 17, Ziff. 3 und 4, des genannten Gesetzes begründet. Es hat übrigens der Rekurrent nicht hiergegen, sondern gegen die Anwendung des eidgenössischen Gesetzes überhaupt seine Beschwerde gerichtet.

Die Anwendbarkeit des eidgenössischen Expropriationsverfahrens schließt selbstverständlich diejenige des kantonalen Rechts aus. Wir haben daher nicht zu untersuchen, ob die dem kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrechte vom Rekurrenten gegebene Auslegung richtig ist, ob das kantonale Recht die vom Rekurrenten hervorgehobenen Abweichungen vom eidgenössischen enthält, u. s. w.

Auch die Klage des Rekurrenten, daß er seinem verfassungsmäßigen, d. h. dem kantonalen, Richter durch den Bundesratsbeschluß entzogen sei, fällt als grundlos dahin.

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Demnach kommen wir zum Schlüsse, es sei die Beschwerdedes Herrn Gemeindeammann Huber in thatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unbegründet, und beehren wir uns, Ihnen unter Einbegleitung sämtlicher Akten die Abweisung des Rekursbegehrens zu beantragen..

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 13. August 1895.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,.

Der V i z e p r ä s i d e n t :

A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde des J. J. Huber, Gemeindeammann in Wallenstadt, gegen den Bundesratsbeschluß vom 30. April 1895, betreffend die Anwendung des eidgenössischen Expropriationsverfahrens zur Errichtung...

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14.08.1895

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