637

# S T #

2 4 0

Schreiben des Bundesrates an die

eidgenössischen gesetzgebenden Räte betreffend die Referendumsklausel für Bundesbeschlüsse allgemein verbindlicher Natur.

(Vom 28. Mai 1912.)

Hochgeachtete Herren !

Bei der Berätung über den Entwurf eines Bundesbeschlusses betreffend das passive Wahlrecht des Personals der Bundesbahnen wird die grundsätzliche Frage zur Erörterung gelangen, ob bei Bundesbeschlüssen allgemein verbindlicher Natur die bisher übliche ß e f e r e n d u m s k l a u s e l noch beigefügt werden solle.

Der Bundeskanzler hat uns über diese Frage Bericht erstattet und kommt zu dem Schlüsse, dass dies auch ferner geschehen sollte. Wir schliessen uns dieser Auffassung an und ersuchen Sie, bei diesem nächsten wie auch bei späteren allgemein verbindlichen Bundesbeschlüssen die übliche Formel beizubehalten.

Der Bericht lautet: Beim Erlass des Gesetzes über die Kranken- und Unfall·versicherung vom 13. Juni 1911 wurde beschlossen, die seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes betreffend Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vom 17. Juni 1874 bei allen Bundesgesetzen und allen Bundesbeschlüssen allgemein verbindlicher Natur angewendete Referendumsklausel zu streichen.

Die Anregung zur Streichung ging von der ständerätlichen Kommission aus. Der Bericht dieser Kommission vom 20. November 1909 enthält folgenden Passus: Bundesblatt. 64. Jahrg. Bd. m.

42

638

Das vorliegende Gesetz muss gemäss Art. l des Bundesgesetzes betreffend die V o l k s a b s t i m m u n g über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vom 17. Juni 1874 dem Volke zur Annahme oder zur Verwerfung vorgelegt werden, wenn 30,000 stimmberechtigte Schweizerbürger solches verlangen. Nach Art. 3 desselben Gesetzes ist auch das gegenwärtige Gesetz unmittelbar nach Erlass zu veröffentlichen und den Kantonsregierungen in einer angemessenen Zahl von Exemplaren zuzustellen. Zu dem Behufe übermittelt die Bundesversammlung gemäss Art. 32 des Gesetzes über den Geschäftsverkehr zwischen Nationalrat, Ständerat und Bundesrat, sowie über die Form des Erlasses und die Bekanntmachung von Gesetzen und Beschlüssen vom 9. Oktober 1902 dem Bundesrat eine Originalausfertigung des Gesetzes zur Bekanntmachung und eventuellen Vollziehung. Die Anwendung dieser rechtskräftigen Gesetzesbestimmungen wird im einzelnen Falle durch die Protokolle der beiden Räte (vgl. die in Ausführung des Art. 86 der Bundesverfassung rechtskräftig erlassenen Art. 22 und ff. des Réglementes des Nationalrates vom 5. Juni 1903 und Art. 24 und ff. des Réglementes des oStänderates vom 27. März 1903) beurkundet. Dagegen kommt der Aufnahme der sogenannten Referendumsklausel (Art. 100 der gegenwärtigen Vorlage) in die von den eidgenössischen Räten beratenen Bundesgesetze eine rechtliche Wirkung nicht zu ; denn deren Wirksamkeit hängt, da auch sie in das noch nicht rechtskräftige Gesetz eingereiht ist, davon ab. ob das Gesetz in der Folge die Rechtskraft erlangt. Im Momente aber, da man hierüber Gewissheit erlangt hat, ist das Gesetz durch Vollziehung der eingangs erwähnten Bestimmungen der einschlägigen Bundesgesetze in Rechtskraft erwachsen oder in der Referendumsabstimmung abgelehnt, sonach die Frage der Ergreifung des Referendums bereits anderweitig beantwortet worden. Die Referendumsklausel ist also in den Bundesgesetzen am unrechten Orte und überflüssig, indem sie in dem Zeitpunkte ihrer Rechtskraft von den Ereignissen bereits überholt ist.

Die Kommission hat darum Art. 100 gestrichen, und sie ist der Meinung, dass die Referendumsklausel von nun an aus de» Bundesgesetzen weggelassen werden solle.

Der Ständerat strich den damaligen Artikel 100 in seiner Sitzung vom 13. April 1910.

(Siehe stenographisches Bulletin 1910, pag. 75.)

Der Nationalrat stimmte der Streichung unterm 4. November 1910 bei. Eine Begründung ist im stenographischen Bulletin nicht enthalten.

639 Der Bundesrat hatte sich auf die Anregung des Industriedepartements mit dieser Frage am 16. November 1909 befasst.

Das Industriedepartement hatte beantragt, dass in künftigen Vorlagen von Bundesgesetzen und Bundesbeschlüssen eine Bestimmung, wonach der Bundesrat mit der Bekanntmachung des betreffenden Gesetzes oder Beschlusses und mit der Feststellung des Tages seines Inkrafttretens beauftragt wurde, unterbleiben solle.

Der Bericht des genannten Departements lautete : ,,Aus diesen klaren Bestimmungen ergibt sich, dass jeder Bundesbeschluss, der in seinem Texte selbst weder als nicht allgemein verbindlich noch als dringlich erklärt wird, mit Bezug auf Bekanntmachung und Inkrafterklären ohne weiteres wie ein Bundesgesetz zu behandeln ist."

Das Justiz- und Polizeidepartement hatte sich in seinem Berichte vom 10. November 1909 dahin ausgesprochen, dass die Referendumsklausel in der Tat für Gesetze entbehrlich sei. Bezüglich der Bündesbeschlüsse sprach pich aber das Justizdepartement dahin aus; ,,Für Bundesbeschlüsse scheint jedoch die Klausel, wenn nicht unentbehrlich, so doch auch nicht ganz unnütz zu sein.

Es ist zwar richtig, dass alle Bundesbeschlüsse, die nicht dem Referendum unterstellt werden müssen, nach Art. 2 des Gesetzes vom 17. Juni 1874, eine die Dringlichkeit oder die Nichtallgemeinverbindlichkeit konstatierende Klausel tragen sollten, so.

dass alle anderen, in denen nichts derartiges steht, als referendumspflichtig zu betrachten wären. Es wäre aber eine lästige und überflüssige Arbeit, a l l e Beschlüsse der Bundesversammlung mit jenem Vermerk zu versehen, auch diejenigen, die offenbar nicht allgemein verbindlich sind, von niemand als solche angesehen und zum Teil nicht einmal veröffentlicht werden, z. B. Beschlüsse über staatsrechtliche Rekurse, Erteilung von Eisenbahnkonzessionen, Genehmigung der Staatsrechnung, Postulate, Kreditbewilligungen u. a. m. Setzt man nun den Vermerk, nach bisheriger Praxis, nur in gewisse, wichtige Bundesbeschlüsse, so mag es der Deutlichkeit dienen, wenn auch die allgemein verbindlichen Bundesbeschlüsse, gewissermassen zur Gegenprobe, als solche gekennzeichnet werden durch die Beifügung der Referendumsklausel.

'Endlich sind wir der Ansicht, dass der Bundesrat jetzt keinen Anlass hat, diese Frage prinzipiell zu entscheiden. Wenn die ständerätliche Kommission für das Versicherungsgesetz die An-

640

gelegenheit der Entscheidung wert hält, mag sie dem Rate ihre Anträge unterbreiten, und wir nehmen an, dass sich der Bundesrat nicht dagegen zur Wehre setzen wird. Nimmt die Bundesversammlung das Gesetz in dieser Form an, so kann die Frage für Gesetze wenigstens für die Zukunft als entschieden gelten.

Für Bundesbeschlüsse könnte dann der Bundesrat bei der nächsten Vorlage durch Weglassung oder Nichtweglassung der Klausel oder der Worte über die Inkraftsetzung Stellung nehmen."

Der Bundesrat beschloss daher am 10. November 1910, im vorliegenden Falle keinen grundsätzlichen Beschluss zu fassen und die Entscheidung der Frage, ob Artikel 100 des Entwurfes der Kranken- und Unfallversicherung zu streichen sei, der Bundesversammlung zu überlassen.

Der Entscheid der Räte, durch den die Referendumsklausel gestrichen wurde, hatte also nur Bezug auf die Gesetze, und es ist bei den später vom Bundesrate vorgelegten Gesetzesentwürfen diese Bestimmung nicht mehr aufgenommen worden. Alle früheren Vorlagen hatten noch diesen Passus. Die Bundeskanzlei machte die Kommissionen jedoch jeweilen darauf aufmerksam, dass die Referendumsklausel nach der beim Kranken- und Unfallversicherungsgesetz erfolgten Beschlussfassung nicht mehr anzubringen sei.

Nun ist seit Erlass des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes ein einziger allgemein verbindlicher Bundesbeschluss vorgekommen. Es ist dies der Bundesbeschluss vom 11. März 1912 betreffend die Erhöhung der Besoldungen der Bundesräte und des Kanzlers. Für diesen Beschluss ist die Initiative von den Räten ausgegangen; die Kommission des Nationalrates hat die Referendumsklausel ohne weiteres aufgenommen, und der Rat nahm sie ohne Diskussion an. Im Ständerat gab gerade diese Bestimmung Veranlassung zu einer Erörterung (vide das beiliegende stenographische Bulletin). Der Bundesbeschluss betreffend Errichtung eines eidgenössischen Grundbuchamtes wurde dringlich erklärt.

Die Annahme des Herrn Usteri trifft somit nicht zu, dass bei diesem Beschlüsse die Formel weggelassen worden sei.

Allerdings hat der Bundesrat in seinem Entwurf über das passive Wahlrecht des Personals der Bundesbahnen vom 24. November 1911 die Klausel aufgenommen, und der Nationalrat hat dieselbe unterm 7. März 1912 unverändert angenommen.

Es ist nun aber vorauszusehen, dass die Frage im Ständerat wieder aufgegriffen und in anderem Sinne gelöst werde. Der Bundesrat hat daher seinerseits Stellung zu der Frage zu nehmen.

641

Bei den Bundesgesetzen und Bundesbeschlüssen, die eine Verfassungsrevision enthalten, ist die Frage einfach; jedermann weiss, dass diese Beschlüsse der Volksabstimmung, Verfassungsrevisionen auch der Abstimmung der Stände unterstellt sind.

Der Bundesrat und die Bundeskanzlei wissen daher, dass diese Erlasse unter Ansetzung der Referendumsfrist zu publizieren sind.

Anders verhält es sich mit den Bundesbeschlüssen ; hier will man die Referendumsklausel auch aufheben. Seit 1874 wurde diese Formel in 83 allgemein verbindlichen Bundesbeschlüssen (Verfassungsrevisionsbeschlüsse inbegriffen) aufgenommen. Die Bestimmung des Art. 89 der Bundesverfassung und Art. 2 des Gesetzes vom 17. Juni 1874 sind daher seit 1874 ununterbrochen so aufgefasst worden, dass bei den Bundesbeschlüssen von den Räten zu entscheiden war, ob ein solcher allgemein verbindlich, oder aber dringlich und nicht allgemein verbindlicher Natur sei.

Für die Bundesbeschlüsse ist nur der Inhalt, bestimmend, ob die eine oder andere Eigenschaft vorhanden sei, und die Fälle sind oft diskutierbar. Diese Ausscheidung erfolgte bis anhin nicht in dem Sinne, dass die allgemeine Verbindlichkeit der Bundesbeschlüsse die Regel und die Dringlichkeit oder nicht allgemeine Verbindlichkeit die Ausnahme bildeten, und dass nur in den Fällen der Dringlichkeit oder nicht allgemeinen Verbindlichkeit die betreffende Formel aufgenommen wurde. Vielmehr wurden die Bundesbeschlüsse,. die von der Bundesversammlung als allgemein verbindlich erklärt wurden, auch von vorneherein als solche bezeichnet. Dies sollte auch jetzt beibehalten werden; es scheint uns das geradezu nötig zu sein, und es sollte die Bezeichnung ,,allgemein verbindlich" dem Bundesbeschlusse angefügt werden, sei es durch die Klausel, oder dann durch Änderung des Titels ,,allgemein verbindlicher Bundesbeschluss". Die allgemeine Verbindlichkeit ist nämlich nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Die Bundesbeschlüsse nicht allgemein verbindlicher Natur bilden die grosse Mehrzahl. Alle Subventionsbeschlüsse haben diese Formel.

Es gibt aber eine Anzahl sehr wichtiger Bundesbeschlüsse, die weder die eine noch die andere Formel tragen. So die Beschlüsse über den Voranschlag, die Rechnung und die Geschäftsführung der Eidgenossenschaft, der Alkoholverwaltung und der Bundesbahnen, sowie die grosse Zahl der
Beschlüsse betreffend Eisenbahnkonzessionen etc. Auch die Bundesbeschlüsse für Anschaffung von Kriegsmaterial haben bis anhin weder die eine noch die andere Formel enthalten. Es hängt das damit zu-

642

sammen, dass die Festsetzung des Budgets und der Rechnungen, in die Kompetenz der Bundesversammlung fällt. In den Beschlussesentwürfen betreffend die Anschaffungen von Haubitzen, InfanterieMitrailleuren, Gebirgsartilleriematerial und Festungsgeschützen ist diesmal die Formel der nicht allgemein verbindlichen Natur beigefügt. Die Eisenbahnbeschlüsse tragen meistens die Formel: Dieser Beschluss tritt dann und dann in Kraft.

Einer besonderen Formel bedürfen auch nicht die Bundesbeschlüsse über die Genehmigung der Staatsverträge.

Eine neue Art Bundesbeschlüsse sind diejenigen, die als Ausführungsbestimmungen von in Bundesgesetzen erteilten Kompetenzen zu betrachten sind. So erteilte das Gesetz über die Militärorganisation der Bundesversammlung verschiedene Kompetenzen, wie die Feststellung der Truppenordnung. Der Beschluss betreffend die Organisation des Heeres (Truppenordnung) vom 6. April 1911 (A. S. XXVII, 605) enthält lediglich die Bestimmung in Art. 9: ,,Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Truppenordnung. Auf diesen Zeitpunkt werden alle mit ihr in Widerspruch stehenden Vorschriften aufgehoben."

Alle Beschlüsse über die Anordnung einer Fortsetzung der Session sind auch Bundesbeschlüsse im weiteren Sinne. Es wird niemanden einfallen, zu behaupten, dass eine Schlussformel beigefügt werden müsse.

Wir empfehlen Ihnen daher, an der bisherigen Referendumsklausel für die allgemein verbindlichen Bundesbeschlüsse festzuhalten.

Genehmigen Sie, hochgeachtete Herren, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung.

B e r n , den 28. Mai 1912.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

-~5S~-

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Schreiben des Bundesrates an die eidgenössischen gesetzgebenden Räte betreffend die Referendumsklausel für Bundesbeschlüsse allgemein verbindlicher Natur. (Vom 28. Mai 1912.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1912

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

24

Cahier Numero Geschäftsnummer

240

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

12.06.1912

Date Data Seite

637-642

Page Pagina Ref. No

10 024 642

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.