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Schreiben des

Bundesrates an den Regierungsrat des Kantons Aargau, in Sachen des Motu proprio ,,Quantavis diligentia".

(Vom 5. November 1912.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Sie haben unser Justiz- und Polizeidepartement ersucht, sich über seine Stellung zu dem Motu proprio ,,Quantavis diligentia" vom 9. Oktober 1911 zu äussern. Insbesondere wünschten Sie zu vernehmen, ob der neue päpstliche Erlass auf dem Gebiete der schweizerischen Eidgenossenschaft Geltung beanspruchen könne.

An Stelle des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements antwortet Ihnen der Bundesrat, weil insbesondere die Frage, ob in der Sache beim Vatikan Schritte zu tun seien, nicht von einem Departemente erledigt werden kann.

Wir beehren uns, Ihnen in der Angelegenheit folgendes auszuführen.

I.

Das Motu proprio vom 9. Oktober 1911 verlangt, dass Geistliche von Privaten nur mit Bewilligung der kirchlichen Behörden vor den weltlichen Richter gezogen werden dürfen. Damit erneuert die katholische Kirche einen alten Anspruch. Im Mittelalter war ihre Macht so gross, dass sie ihn durchzusetzen vermochte. Je mehr jedoch der Staat zum Bewusstsein kam, welche Aufgaben ihm obliegen, um so mehr wurde das Gerichtsstandsprivileg der Kleriker tatsächlich verdrängt oder durch die weltliche Gesetzgebung beseitigt.

Trotzdem hat die Kirche diesen Anspruch nie aufgegeben und immer wieder geltend gemacht.

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So verwarf in neuester Zeit der Papst Pius IX im S y I l a bus e r r o r u m vom 8. Dezember 1864 die Lehre, dass die geistliche Gerichtsbarkeit für die Kleriker abzuschaffen sei.

Im weitern bestimmt in Ziffer 7 der B u l l e A p o s t o l i c a e S e dis vom 12. Oktober 1869 der nämliche Papst: ,,daher erklären wir, dass der ipso jure eintretenden Exkommunikation, von der loszusprechen kraft speziellen Vorbehalts dem Papste allein das Recht zusteht, unterliegen: . . . 7. Alle diejenigen, welche, sei es direkt, sei es indirekt, Laienrichter zwingen, vor ihren Richterstuhl geistliche Personen zu ziehen, entgegen den kanonischen Bestimmungen, und ebenso diejenigen, welche Gesetze oder Verordnungen wider die Freiheit und die Rechte der Kirche erlassen". Dass zu den ,,Zwingenden" die Gesetzgeber und öffentlichen Persönlichkeiten zählen, war nie bestritten. Ebenso stand gestützt auf die offizielle Interpretation des Heiligen Offiziums fest, dass die durch das Gesetz gezwungenen Organe der Justiz -- man denke an die Polizeibeamten, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter, sowie die Geschwornen und ändern erkennenden Gerichte -- der Exkommunikation nicht unterliegen, wenn sie ohne kirchliche Approbation Geistliche vor die weltlichen Instanzen bringen oder dort in ihren Prozessen urteilen. Nur bezüglich der Privatpersonen -- der Kläger in Zivilsachen, der Privatkläger und Antragsteller in Strafsachen, sowie aller, welche der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder dem Gerichte Strafanzeige erstatten -- herrschte unter den Kanonisten Zweifel, bis die Kontroverse durch das Heilige Offizium in dem Sinne entschieden war, dass diese Privatpersonen nicht zu den ,,Zwingenden" gehören und daher der Exkommunikation nicht verfallen (vergi. Schultze in der Deutschen Juristen-Zeitung, 17. Jahrgang, Nr. 2, vom 15. Januar 1912, S. 122, und Heiner, Kölnische Volkszeitung, Abendausgabe vom 27. November 1911).

Dieser Ansicht stellt sich nun das Mo tu p r o p r i o ,,Quant a v i s d i l i g e n t i a a vom 9. Oktober 1911 entgegen, indem es -- ohne im übrigen die Ziffer 7 der Bulle Apostolicae Sedis abzuändern -- dem in dieser Bestimmung enthaltenen Verbote die Privatpersonen unterwirft, wenn sie es unterlassen, vor der Klaganhebung die Einwilligung der kirchlichen Behörden nachzusuchen. Das Motu proprio ,,Quantavis diligentia"
spricht sich in deutscher Übersetzung wörtlich folgendermassen aus: ,,Wie grosse Sorgfalt auch beim Erlassen der Gesetze angewendet werden mag, so ist es doch häufig nicht möglich, all dem Zweifel vorzubeugen, der sich in der Folge aus der praktischen Auslegung ergeben kann. .Bisweilen aber weichen die

53 Ansichten der Rechtskundigen, die sich mit der Ergründung der Natur und Bedeutung eines Gesetzes befasst haben, so weit von einander ab, dass das, was das Gesetz anordnet, nicht anders als durch authentische Interpretation festzustellen ist.

Wie wir sehen, ist dies eingetroffen nach der Verkündigung des Gesetzes ,,Apostolicae Sedis", welches die Verurteilungen latae sententiae beschränkt. Unter den Schriftstellern nämlich, welche zu jenem Gesetze Kommentare verfassten, ist ein grosser Streit in Betreff des cap. VII jenes Gesetzes ausgebrochen, darüber nämlich, ob mit dem vom Gesetze gebrauchten Worte ,,Cogentesa (zwingende) nur die Gesetzgeber und öffentlichen Amtspersonen, oder auch die Privatpersonen verstanden werden, welche den Laienrichter durch direkte Anrufung oder Einreichung einer Klage zwingen, einen Kleriker vor seinen Richterstuhl zu laden.

Welches aber der Sinn der angeführten Vorschrift ist, hat die Kardinalskongregation des Heiligen Offiziums mehr als einmal ausgesprochen. -- Jetzt allerdings, in diesen Zeiten der Ungerechtigkeit, in denen man der Unabhängigkeit der Kirche so wenig Rechnung trägt, dass nicht bloss Kleriker und Priester, sondern sogar Bischöfe und der Heiligen Römischen Kirche Kardinale vor Laiengerichte gezogen werden, verlangt die Sache von uns durchaus, dass wir diejenigen, welche von einer so gottlosen Übeltat nicht die Schwere der Schuld abschreckt, durch die Strenge der Strafe bei ihrer Pflicht festhalten. Daher bestimmen und befehlen Wir aus eigener Initiative was folgt: Welche Privaten immer, sie seien Laien oder Geistliche, Männer oder Frauen, ohne Erlaubnis der geistlichen Gewalt kirchliche Personen, wer sie immer sein mögen, vor ein Laiengericht laden und sie von Staatswegen zwingen, dort zu erscheinen, die sollen Alle insgesamt der ipso jure eintretenden Exkommunikation verfallen sein, von der loszusprechen allein der Papst kraft speziellen Vorbehalts Gewalt hat.

Was aber in dem vorstehenden Erlasse angeordnet ist, soll fest und unverbrüchlich beobachtet werden, hiervon abweichende Vorschriften sind aufgehoben11.

II.

Die Frage, welchem Gerichte die römisch-katholischen Geistlichen in weltlichen Dingen unterworfen sind, liegt völlig auf weltlichem Gebiete.

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Wenn die römisch-katholische Kirche sich trotzdem in der Bulle ,,Apostolicae Sedisa und im Motu proprio ,,Quantavis diligentia11 über den Gerichtsstand ihrer Geistlichen in nichtgeistlichen Sachen ausgesprochen hat, so hat sie dies getan auf Grund der von ihr seit der Mitte des 11. Jahrhunderts mehr oder weniger bestimmt vertretenen theokratischen Auffassung. Danach vereinigt die Kirche die Fülle der geistlichen und weltlichen Macht in sich und bestimmt als die höhere Gewalt, auf welchem Gebiet Staat und Kirche sich zu bestätigen haben.

Der moderne Staat lehnt aber diese Auffassung ab. Er würde sich selbst verneinen, wenn er die theokratische Üeberordnung der Kirche anerkennen würde. Der Staat bestimmt, wo er gesetzgeberisch tätig werden will, und kann da, wo er Gesetze erlassen hat, keinen ändern Gesetzgeber neben sich dulden.

Bund und Kantone haben für alle Staatsbürger die Gerichtsunterworfenheit und den Gerichtsstand geregelt. Wenn der Papst es unternimmt, in seinem Motu proprio in dieser Hinsicht für einzelne Staatsbürger Normen aufzustellen, so greift er damit unbefugterweise in die Gesetzgebungshoheit des Staates ein. D i e Vorschriften des M o t u p r o p r i o sind d a h e r r e c h t l i c h unwirksam.

Das ist auch der Grund, der es uns unmöglich macht, an den Papst mit der Frage zu gelangen, ob das im Motu proprio für die römisch-katholischen Geistlichen beanspruchte Gerichtsstandsprivileg durch kirchliches Gewohnheitsrecht beseitigt worden sei. Ein solches Vorgehen wäre unvereinbar mit unserm Standpunkte, wonach das Motu proprio von vornherein ungültig ist.

III.

Die am 19. April 1874 vom Schweizervolke angenommene Bundesverfassung enthält eine Reihe von Bestimmungen, die mit dem beanspruchten Gerichtsstandspi'ivileg der römisch-katholischen Geistlichen nicht vereinbar sind : 1. Die bürgerliche Gesetzgebung gewährt denjenigen Personen, die ihr unterstellt sind, die Befugnis auf Erhebung von Zivil- und Strafklagen, auf Stellung von Strafanträgen bei Antragsdelikten usw. Sie räumt nicht nur die blosse Möglichkeit, diese Vorkehren zu treffen, ein; sie gibt dem Einzelnen ein darauf gerichtetes subjektives Recht. Dieses Recht will die Kurie an kirchliche Bedingungen knüpfen, wenn sie dessen Geltendmachung und Ausübung in gewissen Fällen von der Zustimmung der kirchlichen Behörden abhängig macht. Dies ist ausgeschlossen

55 durch den Art. 49, Absatz 4, der Bundesverfassung, der sagt: -,,Die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte darf durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden."

2. Nach römisch-katholischer Auflassung gehört der Klerus einer höher berechtigten, privilegierten Ordnung des Glaubensstaates an. Der bürgerliche Staat kann jedoch auf weltlichem Gebiete eine solche bevorzugte Stellung des Klerus nicht anerkennen. Bund und Kantone würden, wenn sie in ihrer Prozessgesetzgebung das von Rom beanspruchte Gerichtsstandsprivileg anerkennen und damit die römisch-katholischen Geistlichen anders als die Geistlichen anderer Konfessionen und als die übrigen Staatsbürger behandeln würden, gegen den Art. 4 der Bundesverfassung verstossen, der bestimmt, dass alle Schweizer vor dem Gesetze gleich seien.

3. Die römisch-katholische Kirche ist nicht der Meinung, dass der Geistliche, der nach ihrer Ansicht vor dem weltlichen Richter nicht Rede und Antwort zu geben hat, rechtlich nicht verfolgbar sein solle. Vielmehr nimmt sie an, dass dann an Stelle des weltlichen der geistliche Richter treten solle. Diese Substitution steht aber im Widerspruch mit der Bestimmung des Art. 58, Absatz 2, der Bundesverfassung, welcher die geistliche Gerichtsbarkeit als abgeschafft erklärt.

Im Jahre 1869 hat der Papst Pius IX in der Bulle ,,Apostolicae Sedis" den Anspruch auf das Gerichtsstandsprivileg der römisch-katholischen Geistlichen mit Nachdruck geltend gemacht und den Gesetzgeber, der ihn nicht anerkennt, mit der Exkommunikation belegt. Trotzdem hat 5 Jahre später das Schweizervolk mit der neuen heute noch geltenden Bundesverfassung Rechtsgrundsätze angenommen, welche die Verwirklichung des päpstlichen Anspruchs ausschliessen. Diese Rechtsgrundsätze sind so sehr zum Gemeingut unseres Volkes geworden, dass ein päpstliches Motu proprio nicht imstande ist, ihre Anerkennung und Beobachtung ernstlich zu gefährden. So ist denn auch in der Schweiz, so viel wir wissen, in der Öffentlichkeit weniger über die Geltung oder Nichtgeltung, als vielmehr über die Gründe der Nichtgeltung des Motu proprio diskutiert worden : wer sich scheut, den päpstlichen Erlass aus staatsrechtlichen Gründen als nichtig zu bezeichnen, betrachtet ihn als durch entgegenstehendes kirchliches Gewohnheitsrecht aufgehoben.

56 Wir stellen mitbin, in Beantwortung Ihrer Anfrage, fest, das» das Motu proprio ,,Quantavis diligentia" auf dem Gebiete der schweizerischen Eidgenossenschaft keine Geltung beanspruchen kann. Wir müssen es auch ablehnen, in der Sache beim Papste zu intervenieren.

Wir benützen diesen Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 5.November 1912.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Schreiben des

Bundesrates an den Regierungsrat des Kantons Solothurn,.

in Sachen des Motu proprio ,,Quantavis diligentia".

(Vom 5. November 1912.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Mit Schreiben vom 22. März 1912 richteten Sie an uns das Gesuch, über die Frage der Geltung des päpstlichen Motu proprio' vom 9. Oktober 1911 eine verbindliche Erklärung der zuständigen Stelle des Heiligen Stuhles herbeizuführen und Ihnen von den gewechselten Noten seinerzeit Kenntnis zu geben.

Wir beehren uns, unsere Stellung zu dem von Papst Pius X.

am 9. Oktober 1911 erlassenen Motu proprio ,,Quantavis diligentiaa wie folgt zu umschreiben : Wie im Schreiben an Aargau (s. Seite 51 heirvor).

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Schreiben des Bundesrates an den Regierungsrat des Kantons Aargau, in Sachen des Motu proprio ,,Quantavis diligentia". (Vom 5. November 1912.)

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13.11.1912

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