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Schweizerisches Bundesblatt.

47. Jahrgang. I.

Nr. 5.

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30. Januar 1895.

Bundesratsbeschluss über

den Rekurs des A. L. Meyrat in Neuenburg gegen einen Entscheid des Erziehungsdepartements vom 7. November 1894, betreffend Erfüllung der Schulpflicht.

(Vom 22. Januar 1895.) .

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t

hat in Sachen des Rekurses des Herrn Adolphe-Louis M e y r a t , in Neuenburg, gegen einen Entscheid des Erziehungsdepartements des Kantons Neuenburg vom 7. November 1894, betreffend Erfüllung der Schulpflicht; nach Anhörung seines Departements des Innern und auf Grundlage folgender Thatsachen : L In der Rekurseingabe vom 12. November 1894 führt Herr Meyrat an, er bekenne sich zu der Religionsgenossenschaft der Adventisten des 7. Tages, welche den Samstag als ihren religiösen Festtag feiern. Als Anhänger dieser Genossenschaft habe er an den Direktor der Primarschulen in Neuenburg das Gesuch gestellt, er möchte seine, des Potenten, schulpflichtige Tochter für den Samstag vom Besuche der Schule dispensieren, und zwar im Hinblick auf Art. 27 der Bundesverfassung. Dieses Gesuch sei ihm jedoch abgeschlagen worden und ebenso dasjenige, welches er hierauf, unter Anrufung des gleichen Verfassungsartikels und eines Präcedenzfalles, an den Chef des Erziehungsdepartements des Kantons Neuenburg gerichtet habe. Dieser stütze seinen ablehnenden Bundesblatt. 47. Jahrg. Bd. I.

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Bescheid auf einen Beschluß des Staatsrates vom 16. November 1883, der infolge eines analogen Gesuches einer Anzahl zu deu Adventisteu gehörender Eltern gefaßt worden sei. Die daherigea Ausführungen müsse er, der Rekurrent, bestreiten, und zwar aus folgenden Gründen : 1. Das Gesetz über den Primarschuluntei'richt des Kantons Neuenburg vom 27. April 1889 stütze sich selbst auf den Art. 27 der Bundesverfassung und führe dessen Woi'tlaut an. Die Verweigerung der aus Gewissensgründen anbegehrten Befreiung' vom Schulbesuch am Samstag sei daher ein Einbruch in jenes Gesetz.

2. Die Anrufung des staatsrätlicheu Entscheides vom 16. November 1883 durch den Chef des Erziehungsdepartements sei verfassungswidrig, da das dermalige Primarschulgesetz vom '27. April 1889 datiere und der Art. 123 desselben alle früheren sachbezüglichen Gesetze und Réglemente als aufgehoben erkläre.

3. Ein früherer Chef des Erziehungsdepartements des Kantons Neuenburg habe der Mutter eines schulpflichtigen Knaben eine Befreiung, wie die nachgesuchte, für letztem erteilt, und ebenso seien von einem Amtsvorgänger des jetzigen Direktors der Primarschulen in Neuenburg, sowie von mehr als einer Schulkommission des Kantons aus eigener Machtvollkommenheit einzelne Befreiungen erteilt worden, und zwar um dem Art. 27 der Bundesverfassung;, auf dessen Vergünstigung der Rekurrent auch Anspruch mache, Genüge zu leisten.

4. Die Auslegung, welche der Schaldirektor von Neuenburg und mit demselben übereinstimmend der Chef des Erziehungsdepartements dem Schulgesetze geben, habe entgegen dem Art. 5 des letztern einen bedrohlichen konfessionellen Charakter insofern, als sie nach Festsetzung der Schultage nach dem Gefallen der Mehrheit von der Minderheit verlange, daß diese sich unbedingt danach richte, selbst unter Verzicht auf die durch den Art. 27 der Bundesverfassung dargebotene Erleichterung.

5. Da die Bundesverfassung die Gewissensfreiheit vorbehaltlos verkünde, so dürfe dieselbe in keinem Falle beschränkt werden, nicht einmal durch ein Gesetz, das den obligatorischen Schulunterricht auf den Thron hebe. Es sei unzulässig, daß dieses jene beeinträchtige, und zwar um so mehr, als das Gesetz über den Primarunterrieht sich ausdrücklich auf den Inhalt des citierten Art. 27 berufe.

In Betracht dessen ersucht der Kekurrent um Anordnung von Maßregeln, welche geeignet seien, seine Freiheit zu schützen und der citierten Verfassungsbestimmung zur Anwendung zu verhelfen.

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II. Der Staatsrat von Neuenburg, zur Vernehmlassung eingeladen, beruft sich in Bezug auf das Materielle der Streitfrage auf den schon erwähnten Entscheid vom 16. November 1883, der im Wesentlichen folgende Erwägungen allgemeinen, auch auf den vorliegenden Fall passenden Inhalts enthält :., Das Begehren stützt sich auf den Art. 27, Absatz 3, der Bundesverfassung ; dieser hat den Wortlaut: ,,Die-öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können."1 Aus den Verhandlungen über die Verfassungsrevision von 1873 und 1874 ergiebt sich nun, daß diese Bestimmung ausschließlich auf die Unterrichtsgegenstände und die Erteilung des Unterrichts durch die Lehrer der öffentlichen Schulen Bezug hat; man wollte verhindern, daß der Familienvater gezwungen würde, sein Kind in eine Schule zu schicken, wo demselben Lehren vorgetragen würden, denen der Vater nicht zustimmt. Es wurde in der Diskussion durchaus nicht vorgesehen, daß dieser Artikel den Bürgern einen Rechtstitel dafür abgeben sollte, zu gunsten ihrer Kinder um Befreiung vom Schulbesuch für solche Tage nachzusuchen, die vom Staate nicht als Ferientage anerkannt werden.

Die Verbindlichkeit, seinen Kindern eine genügende Schulbildung zu geben, ist eine bürgerliche Pflicht des Schweizerbürgers, und nach Art. 49 der Bundesverfassung entbinden die Glaubensansichten nicht von der Erfülluag der bürgerlichen Pflichten. Sobald ein Bürger seine Kinder in die öffentliche Schule schickt, so übernimmt er dadurch die Verpflichtung, das über diese Schulen aufgestellte Gesetz zu beobachten. Das dermalige Gesetz über den öffentlichen Primarunterricht verpflichtet die Zöglinge der Alltagsschule zum regelmäßigen Besuch ihrer Klasse, vorbehaltlich der Zeit der Ferien und außerordentlicher Vorfälle im Familienleben, wie Krankheit, Trauer etc. ; es erlaubt aber den Familienvätern nicht, ihre Kinder aus irgend einem religiösen oder Gewissensmotiv an gewissen Tagen von der Schule zurückzubehalten.

Wenn jede religiöse Genossenschaft und jede Sekte auf die Anerkennung eines besondern Feiertages für sich Anspruch macheu wollte und dieses gestattet wäi-e, so würden die Verrichtungen des öffentlichen Lebens und damit auch der Schulunterricht unmöglich ; der Sabbath ist eine Einrichtung
der Juden; nichtsdestoweniger schicken die im Kanton Neuenburg niedergelassenen Israeliten ihre Kinder des Samstags in die Schule; sie scheinen hierin nicht einen Angriff auf ihre Glaubensfreiheit zu erblicken, sondern vielmehr anzunehmen, daß die Darreichung einer geistigen Nahrung an ihre Kinder ebensowenig ein niedriges Werk sei, als die Erlaubnis, eine

104 Mahlzeit einzunehmen. Die Adventisten, die dem jüdischen Sabbath nachahmen, dürfen das keineswegs als eine Gewissenspflicht erachten, strenger sein zu wollen als die Israeliten.

Diesen Ausführungen des Entscheides von 1883 fügt der Staatsrat in Bezug auf den vorliegenden Fall noch folgende Bemerkungen bei: a. Der Rekurrent begreift nicht, daß die Primarschule eine öffentliche und weltliche ist und daß die Familienväter, welche ihre Kinder dahin schicken, sich unter die über die Schule erlassenen Gesetze und Réglemente ohne Ausnahme fügen müssen.

b. Es wurde dem Rekurrenten bemerkt, daß, wenn er sich den Vorschriften über den Primarschulbesuch nicht unterwerfen wolle, es ihm nach der Bundes- und der Kantonsverfassung unbenommen bleibe, seine Kinder in den Privatunterricht zu schicken.

c. Der Rekurrent befindet sich im Irrtum, wenn er behauptet, der Entscheid des Staatsrates sei durch das neue Gesetz über den Primarschulunterricht vom 27. April 1889 aufgehoben; der Rekurrent verwechselt hierbei gesetzliche Bestimmungen mit einer Verwaltungsmaßregel, welche das neue Gesetz nicht aufhebt; in B e t r a c h t : 1. Durch Art. 189, Ziffer 2, des Bundesgesetzes von 1893 über die Organisation der Bundesrechtspflege sind Streitigkeiten über die Anwendung des Art. 27, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung der Prüfung und Entscheidung des Bundesrates und der Bundesversammlung unterstellt; der Bundesrat hat sich daher mit dem vorliegenden Rekurse zu befassen.

2. Was die Streitfrage selbst betrifft, ist der Rekurrent der Ansicht, daß die Vorschrift des citierten Art. 27 -- welche verfügt, daß die öffentlichen Schulen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit sollen besucht werden können -- ihm ein Recht gebe, sein schulpflichtiges Kind des Samstags, d. h. am Feiertage der Religionsgenossenschaft , zu der er sich bekennt, von der Schule zurückzubehalten.

Dieser Ansicht kann der Bundesrat nicht zustimmen, und zwar nicht mehr, als es früher in gleichartigen Fällen geschehen. Der Staatsrat von Neuenburg betont' mit Recht die Bestimmung des Art. 49 der Bundesverfassung, daß die Glaubensansichten nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten befreien ; ihr steht noch eine analoge zur Seite in Art. 50 desselben Grundgesetzes, welche sagt, daß die Ausübung der gottesdienstlichen Handlungen

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nur innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet sei. Diese Bestimmungen ergänzen sich gegenseitig und fuhren notwendig zum Schluß, daß der Staat auch die Glaubensansichten, nur soweit es die Schranken der Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung erlauben, anerkennen und ihnen freien Spielraum gewähren kann.

Nun ist aber, wie der Rekurrent kaum wird bestreiten wollen, das Obligatorium der Primarschule ebenso gut eine bürgerliche Pflicht, wie die Wehrpflicht (Art. 18 der Bundesverfassung). Diesen Pflichten kann nur Genüge geleistet werden nach Maßgabe der einmal bestehenden öffentlichen Ordnung, wovon die Anordnung der Schulzeit, beziehungsweise der Schultage einen Teil ausmacht.

Diese Ordnung darf nicht durch Glaubensansichten eine Einschränkung erleiden, wenn nicht auch das Obligatorium, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz verletzt werden soll. Denn ebenso gut, wie eine religiöse Genossenschaft da/u gelangen kann, einen vom bürgerlichen Feiertag abweichenden religiösen Feiertag aufzustellen, kann sie dazu kommen, mehrere solche Feiertage in der Woche anzunehmen, so daß schließlich die für den Schulbesuch verfügbare Zeit für gewisse Kinder auf ein Minimum zusammenschrumpfen würde.

3. Aus der Thatsache, daß im Kanton Neuenburg schon einzelnen Kindern adventistischer Eltern ein Dispens vom Schulbesuch am Samstag erteilt worden ist, kann der Rekurrent kein Recht auf Berücksichtigung seines Begehrens herleiten ; denn jene Befreiungen waren angesichts des Schulgesetzes und der Bundesverfassung ungerechtfertigte und stehen auf der Verantwortlichkeit der Behörden, welche sie erteilten, erkennt: Herr A. L. Mevrat wird mit seinem Rekursbegehren abgewiesen.

Dieser Entscheid ist den Parteien zu eröffnen.

B e r n , den 22. Januar 1895.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs des A. L. Meyrat in Neuenburg gegen einen Entscheid des Erziehungsdepartements vom 7. November 1894, betreffend Erfüllung der Schulpflicht. (Vom 22. Januar 1895.) .

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30.01.1895

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101-105

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