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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Thomas Goldner, in Rhäzüns, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache.

(Vom 18. Mai 1909.)

Der schweizerische Bundesrat,

hat über die Beschwerde des Thomas G o l d n e r , in Rhäzüns, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

L Am 5. April 1907 verunglückte Thomas Goldner in der Fabrik von P. Vieli & Cie. in Rhäzüns, indem ihm die Fräse sämtliche Finger.der rechten Hand abschnitt. Die haftpflichtige Unternehmung bot dem Verunglückten Fr. 3500 als Entschädigung an. Der dem Th. Goldner von der Vormundschaftsbehörde Lugnez bestellte Vogt nahm die Entschädigung an, ohne jedoch die Abmachung durch die Vormundschaftsbehörde genehmigen zu lassen. In der Folge wurde aber die Bevogtung aufgehoben und dem Goldner von der gleichen Vormundschaftsbehörde ein Beistand in der Person des Advokaten Dr. Mutzner in Chur be-

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stellt. Dieser gab sich mit der anerbotenen Entschädigung nicht zufrieden und ersuchte den Kleinen Rat des Kantons Graubünden, Goldner zur Einklagung einer höhern Entschädigung das Armenrecht zu gewähren. Der Kleine Rat entsprach diesem Gesuch durch Beschluss vom 14. Februar 1908 und ernannte als Armenanwalt den Beistand des Gesuchstellers. Dieser klagte darauf vor dem Bezirksgericht Imboden eine Entschädigung von Fr. 6000 ein. Auf Veranlassung des Gerichtspräsidenten und unter seiner Mitwirkung kam jedoch eine gütliche Verständigung zustande, wonach sich die Beklagten zu einer weitern Zahlung von Fr. 500 und zur Übernahme aller Gerichtskosten verpflichteten, nicht aber noch zu einer aussergerichtlichen Entschädigung. Der Anwalt Goldners erstattete dem Kleinen Rate am 6. Januar 1909 Bericht über den Ausgang der Sache ; er führte aus, die Instruktion der Sache habe ergeben, dass Goldner ihn in verschiedenen Punkten falsch instruiert hatte, derart, dass er die gänzliche Abweisung der Klage nicht für ausgeschlossen halten musste, weshalb er auf den vom Präsidenten vorgeschlagenen Vergleich eingegangen sei. Es sei ihm nicht bekannt, ob der Kanton auch beim Abschluss von Vergleichen die nicht gedeckten Anwaltskosten übernehme; er lege deshalb die Rechnung bei mit der Bitte um gefällige Mitteilung, ob der Kanton sie ganz oder teilweise bezahle, oder ob er sie bei der demnächst erfolgenden Abrechnung mit der Vormundschaftsbehörde Lugnez in Rechnung bringen solle.

Der Kleine Rat beschloss am 12. Januar 1909, in Erwägung, dass ein günstiger Vergleich erzielt worden sei, und dass Goldner daher in der Lage sei, die Anwaltskosten zu bezahlen, unter Verweisung auf das Verhalten Goldners, die Anwaltskosten nicht zu übernehmen.

II.

Gegen diesen Beschluss hat Thomas Goldner am 29. Januar 1909 gestützt auf das Haftpflichtgesetz vom 26. April 1887 den Rekurs an den Bundesrat ergrifien, indem er im wesentlichen folgendes ausführt: Die Weigerung des Kleinen Rates, Goldner die Anwaltskosten zu bezahlen, verletzt Art. 6 des zitierten Bundesgesetzes über die Ausdehnung der Haftpflicht. Der Kleine Rat habe selber seinerzeit konstatiert, dass die Klage nicht zum voraus als unbegründet zu betrachten gewesen sei, und der Erfolg habe diese Annahme auch bestätigt. Er könne nun nicht wegen des relativ günstigen Ausganges des Prozesses die Übernahme der Anwalts-

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kosten verweigern; denn es würde dazu führen, dass der Staat die Anwaltskosten zu zahlen hätte, wenn der dürftige Kläger ganz abgewiesen wird, der Kläger sie aber selbst zahlen müsste, wenn er teilweise mit seiner Klage durchdringt. Der unentgeltliche Rechtsbeistand dürfe selbstverständlich nicht auf Kosten des Klägers gewährt werden, und es widerspricht der Absicht des Gesetzes, dass der Verunfallte aus der ihm zugesprochenen Schadenersatzsumme die für ihn gemachten Verwendungen zurückerstatten solle. Die angefochtene Schlussnahme sei daher bundesrechtswidrig und sie missachte willkürlich die kantonale Ausführungsverordnung zum Haftpflichtgesetz, welche ausdrücklich bestimme, dass die unentgeltliche Rechtsverbeiständung in der Bestellung eines Anwaltes auf Staatskosten bestehe.

Goldner verlangt deshalb die Aufhebung des Beschlusses.

III.

Die rekursbeklagte Regierung hat am 11. Februar 1909 folgendes geantwortet : Da Goldner, wie sein Anwalt im Bericht an den Kleinen Rat, vom 6. Januar 1909 selbst anführt, den Unfall, entgegen seinen früheren Behauptungen, mitverschuldet habe, sei schon die ihm anerbotene Entschädigungssumme von Fr. 3500 zu hoch gewesen; jedenfalls habe kein Grund vorgelegen, diesen Vergleich anzufechten. Goldner habe seinen Rechtsbeistand veranlasst, dies doch zu tun, durch seine lügnerische Darstellung des Sachverhaltes, ein Verhalten, das sich als unerlaubte Handlung und als Betrugsversuch gegenüber den Beklagten darstelle (Schweizerische Juristenzeitung 1909, Seite 148, Judikatur, Ziffer 387). Da der Kleine Rat den wahren Sachverhalt nicht gekannt habe, habe er das Armenrecht erteilt und es damit dem Kläger ermöglicht, seine Ansprüche gerichtlich zu verfechten. Dadurch habe der Kleine Rat die ihm durch Art. 6 des Haftpflichtgesetzes auferlegte Pflicht erfüllt. Es sei richtig, dass nach Art. 7 der kantonalen Ausführungsverordnung die Anwaltskosten, soweit sie nicht vom Beklagten erhältlich seien, in der Regel vom Staate getragen werden sollten; die Praxis habe aber hier schon Ausnahmen gemacht, z. B. dann, wenn, wie hier, dem Kläger eine bedeutende Entschädigungssumme bezahlt werde, die ihn in den Stand setzte, die Prozesskosten zu zahlen (Salis V, Seite 245). Das Armenrecht sei eine Institution der Humanität, die nicht dazu missbraucht werden solle, unrechtmässige Vorteile zu erlangen.

965 IV.

Replizierend erwidert darauf der Vertreter des Rekurrenten durch Eingabe vom 26. Februar 1909, er habe in seinem Bericht vom 6. Januar 1909 das Verschulden Goldners und seine unwahre Darstellung nur deshalb hervorgehoben, um zu zeigen, dass die Annahme des Vergleiches durch die Aktenlage geboten gewesen sei ; als unrechtmässig erworbenes Geld könne man aber doch eine Entschädigungssumme nicht bezeichnen, die unter Mitwirkung des Gerichtspräsidenten und mit Zustimmung der Gegenpartei vereinbart worden ist. Die Berufung auf den in Salis V, Seite 245. erwähnten Fall sei unzutreffend; dem Bundesgesetz und der kantonalen Ausführungsverordnung gemäss sei allein die von der Praxis befolgte Regel, dass der Staat die Anwaltskosten zu tragen habe.

V.

In ihrer Duplik vom 6. März 1909 erklärt sich die Regierung des Kantons Graubünden zu weiteren Bemerkungen nicht veranlasst.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Nach Art. 6 des Bundesgesetzes über die Ausdehnung der Haftpflicht vom 26. April 1887 haben die Kantone auf dem Gesetzgebungs- oder Verordnungswege dafür zu sorgen, dass den bedürftigen Personen, welche nach Massgabe des gegenwärtigen Gesetzes oder denjenigen vom 1. Juli 1875 und 25. Juni 1881 Klage erheben, auf ihr Verlangen, wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt, die Wohltat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempelbogen erlassen werden. In Ausführung dieser Vorschrift bestimmt die bündnerische Verordnung vom 29. Mai 1893 in Art. l und 7, dass dem Kläger auf Staatskosten ein Anwalt bestellt werden soll, und dass die Kosten des Anwalts, soweit sie nicht gerichtlich der beklagten Partei Überbunden ·werden oder von dieser nicht erhältlich sind, durch die Standeskasse getragen werden. Gemäss diesen Vorschriften hat der Kleine Rat des Kantons Graubünden dem Rekurrenten durch Beschluss vom 14. Februar 1909 das Armenrecht gewährt; es fragt sich, ob er berechtigt sei, diesem Beschluss durch die Weigerung, die Bundesblatt. 61. Jahrg. Bd. HI.

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966 Anwaltskosten zu übernehmen, teilweise wieder rückgängig zu machen.

2. Es ist richtig, dass der Anwalt des Rekurrenten die Bezahlung seiner Kosten nicht gefordert hat, sondern den Kleinen Rat angefragt hat, ob er sie bezahlen wolle oder ob er, der Anwalt, sie seinem Klienten anrechnen solle, mit der Bemerkung, es sei ihm nicht bekannt, ob der Kanton auch beim Abschluss von Vergleichen die nicht gedeckten Anwaltskosten übernehme.

Trotz dieser etwas ungeschickten Ausdruckweise konnte der Kleine Rat nicht annehmen, der Rekurrent wolle auf seinen Anspruch an die Bezahlung der Armenrechtskosten verzichten, sondern die Anfrage war offenbar dahin aufzufassen, dass der Rekurrent Anspruch auf die Vergütung der Anwaltskosten erhebe, wenn er, was ihm nicht ganz klar sei, Anspruch darauf habe. Die fragende Form der Eingabe konnte daher dem Recht des Petenten nicht Eintrag tun.

3. Zum Beweise, dass der Rekurrent keinen Anspruch auf die Bezahlung der Anwaltskosten durch den Staat habe, führt der Kleine Rat zunächst an, es habe sich nachträglich herausgestellt, dass Goldner nicht nur auf mehr als Fr. 3500 Entschädigung keinen rechtmässigen Anspruch, sondern nicht einmal diese, ihm vor dem Prozesse zugestandene Summe ganz hätte beanspruchen können.

Dieses Argument ist unzutreffend. Die zur Erteilung des Armeurechts zuständige Behörde kann wohl vor der Erteilung prüfen, ob der geltendzumachende Haftpflichtanspruch sich nicht zum voraus als unbegründet herausstelle ; ist aber der Prozess erledigt, so steht es ihr nicht zu, die vom Kläger erstrittene Entschädigung als rechtswidrig hinzustellen, es wäre denn, dass dem Kläger das Recht auf die Entschädigung in einem neuen gerichtlichen Verfahren abgesprochen würde.

4. Ebenso unhaltbar ist der Einwand des -Kleinen Rates, er habe die Vorschrift des eidgenössischen Haftpflichtgesetzes erfüllt, indem er dem Kläger einen Anwalt bestellt und ihm die Geltendmachung seiner Ansprüche ermöglicht habe. Art. 6 des Haftpflichtgesetzes verlangt die unentgeltliche Verbeiständung, und wenn diese nur mit dem Vorbehalt gewährt wird, die Kosten dem Verbeiständeten nachträglich doch aufzuerlegen, ist dem Bundesgesetz selbstverständlich nicht Genüge getan, auch wenn unter solchen Umständen ein Anwalt zur Übernahme des Prozesses veranlagst werden könnte.

967 5. Der Umstand endlich, dass der Verunfallte eine bedeutende Entschädigung erhalten hat, berechtigt keineswegs dazu, die Unentgeltlichkeit der Verbeiständung rückgängig zu machen.

Das Gesetz will dem bedürftigen Verletzten, der durch den Unfall um seine Arbeitskraft gekommen ist, die Möglichkeit geben, ohne Auslagen machen zu müssen, auf gerichtlichem Wege Ersatz für seinen Schaden zu erlangen. Dringt er mit seinem Anspruch durch, so erhält er nur den Schaden ersetzt, der ihm durch den Unfall zugefügt worden ist; er ist nicht reicher als vor dem Unfall. Diesen Ausgleich will ihm das Gesetz durch die Rechtswohltat des Armenrechts kostenlos verschaffen ; wenn daher die Kosten der Verbeiständung nach dem Urteil oder Vergleich zu lasten des Klägers geblieben sind, können sie nicht nachträglich von der Entschädigung abgezogen werden. Nach erneuter Prüfung kann die im Bundesblatt 1891, II, 244 (Salis V., Nr. 2363) mitgeteilte gegenteilige Ansicht nicht aufrecht erhalten werden.

Auch die Praxis in den Kantonen befolgt den früher aufgestellten Grundsatz zum grossen Teil nicht mehr, wie sich dies aus einer Umfrage ergeben hat. Die Auffassung, der obsiegende Kläger sei durch die Entschädigung in Stand gesetzt, seinen Rechtsbeistand selbst zu entschädigen, steht auch kaum mit Art. 92, Ziffer 10, des Betreibungsgesetzes im Einklang, wonach Entschädigungen für Körperverletzung und Gesundheitsstörung unpfändbar sind. Sie ist endlich im Widerspruch mit dem klaren Wortlaut der bündnerisehen Ausführungsverordnung.

beschlossen: Der Rekurs wird gutgeheissen.

B e r n , den 18. Mai 1909.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates.

Der Vizepräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Thomas Goldner, in Rhäzüns, betreffend Armenrecht in einer Haftpflichtsache. (Vom 18. Mai 1909.)

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1909

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09.06.1909

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962-967

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