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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs Röschli und Forster, Bäcker, in Lugano, betreffend Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 5. Januar 1909.}

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde des Robert R ö s c h l i , Bäcker in Paradiso, und des 0. F o r s t e r , Bäcker, in Lugano, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

1.

Am 19. Juni 1908 nahm der Grosse Rat des Kantons Tessin ein Gesetz über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien an; am 30. Juli erklärte der Regierungsrat das Gesetz in Kraft und erliess am 31. Juli eine Vollziehungsverordnung dazu.

Mit Eingabe vom 16. September 1908 beschweren sich die Bäckermeister Robert Röschli, in Paradiso, und 0. Forster, in Lugano, beim Bundesrat über die Art. 4, 5 und 6 des genannten Gesetzes und die entsprechenden Artikel der Vollziehungsverordnung, und stellen folgende Begehren :

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1. Es möchte zum Schütze der bedrohten rechtlichen Interessen der Rekurrenten und der ganzen Bäckergilde im Kanton Tessin die Handhabung des angefochtenen Gesetzes vom 19. Juni 1908 in seiner Gesamtheit oder in seinen speziell angefochtenen Partien, speziell bezüglich der Art. 4, 5 und 6, einstweilen in der Form der vorsorglichen Verfügung ausser Wirksamkeit versetzt werden.

2. Es seien die in Art. 4, 5 und 6 des Decreto e Regolamento sul lavoro nei Panifici e nelle Pasticcerie vom 19. Juni 1908/30. Juli 1908 und die korrespondierenden Artikel der zudienenden Vollziehungsverordnung des tessinischen Regierungsrates vom 31. Juli 1908 als gegen den Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz verstossend und als einen Verstoss gegen Bundesverfassung und Bundesrecht enthaltend aufzuheben und ausser Wirksamkeit zu setzen.

Zur Begründung führen die Rekurrenten im wesentlichen folgendes aus : Das in Art. 6 des angefochtenen Gesetzes aufgestellte Verbot der Nachtarbeit sei Verfassung«- und bundesrechtswidrig. Soweit im Kanton Tessin die Bäckereien und Konditoreien unter dem Fabrikgesetz stehen, sei die Nachtarbeit in diesen Betrieben durch Bundesrecht geregelt. Dabei habe es sein Bewenden, und der tessinische Gesetzgeber sei nicht kompetent, hiervon abweichende Vorschriften für diese Betriebe zu erlassen. Für die dem Fabrikgesetz nicht unterstehenden Betriebe aber sei das Verbot der Nachtarbeit nicht zulässig, weil es eine Zurücksetzung der handwerksmässigen gegenüber den fabrikmässigen Betrieben zur Folge hätte, die mit der Rechtsgleichheit unvereinbar wäre und dem durch Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Prinzip der freien Konkurrenz direkt zuwiderlaufen würde.

Aus den gleichen Gründen sei auch Art. 5 des Gesetzes unhaltbar, da er einen Arbeitstag von 11 Stunden festsetze, ohne die im eidgenössischen Recht vorgesehenen Ausnahmen zu berücksichtigen.

Unvereinbar mit dem Bundesrecht sei auch Art. 4 des Gesetzes, wonach Geschäfte, die ihre Arbeiter nicht versichert haben, dem Fabrikhaftpflichtgesetz unterstellt sein sollen. Zur Regelung der Haftpflicht sei der eidgenössische Gesetzgeber ausschliesslich kompetent und er habe denn auch die Materie im Obligationenrecht und in den Spezialgesetzen über die Haftpflicht erschöpfend geordnet. Für kantonale Vorschriften sei daneben kein Raum.

Jedenfalls aber gehe es nicht an, durch kantonale Vorschrift dem

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Dienstherrn eine Verpflichtung aufzuerlegen, die im Obligationenrecht nicht vorgesehen sei, oder die Fabrikhaftpflicht auf Betriebe auszudehnen, die dem Fabrikgesetz nicht unterstehen.

Die angefochtenen Artikel des tessinischen Gesetzes seien für die Rekurrenten ruinös, und da die Rekurrenten schon mehrfach wegen Übertretung des Verbots der Nachtarbeit gebiisst worden seien, so sei die erbetene vorsorgliche Sistierung des Gesetzes dringend geboten zum Schütze der gefährdeten Interessen der Rekurrenten.

II.

Am 12. Oktober 1908 wies der Bundesrat das Gesuch der Rekurrenten um Erlass einer vorsorglichen Verfügung ab, in der Erwägung, dass im Kanton Tessin keine Bäckereien dem Fabrikgesetz unterstehen, dass den Rekurrenten schon seit dem 2. Mai 1907 die Nachtarbeit erst von morgens 2 Uhr ab gestattet war und dass die im Gesetz vorgesehene weitere Einschränkung der Nachtarbeit keine rechtlichen Interessen der Rekurrenten unwiederbringlich bedrohe.

III.

In seiner Vernehmlassung vom 5./8. Dezember 1908 beantragte der Regierungsrat des Kantons Tessin Abweisung der Beschwerde.

Da im Kanton Tessin sämtliche Bäckereien und Konditoreien dem kantonalen Gesetz unterstehen, so entstehe dadurch, dass das angefochtene Gesetz nicht mit dem Fabrikgesetz übereinstimme, doch keine Rechtsungleichheit.

Art. 4 des angefochtenen Gesetzes dehne aus Gründen des Arbeiterschutzes und der öffentlichen Gesundheitspflege die Haftung aus Fabrikbetrieb auf die Bäckereien und Konditoreien aus, und hierzu seien die Kantone berechtigt.

In Art. 5 werde in Übereinstimmung mit dem Fabrikgesetz die elfstündige Arbeitszeit festgestellt und ein wöchentlicher Ruhetag für den Arbeiter gefordert. In der Verteilung der Arbeitszeit auf die Tagesstunden sei der Arbeitgeber nur insofern beschränkt, als gemäss Art. 6 in der Zeit von 9 Uhr abends bis 4 Uhr morgens während der Monate Oktober bis Mär/, und bis 3 Uhr morgens während der Monate April bis September jede Arbeit ruhen müsse. In Art. 7 werden dann noch einige Ausnahmen von dieser Regel festgelegt. Diese Arbeitsordnung nehme

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Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse der Gewerbe, für welche sie aufgestellt worden sei und gehe in ihren Beschränkungen, weniger weit, als Art. 13 des Fabrikgesetzes. Auf den Bundesratsbesehluss vom 14. Januar 1893, welcher die Nachtarbeit in Bäckereien gestatte, können sich die Rekurrenten nicht berufen, da er nur für dem Fabrikgesetz unterstehende Betriebe gelte.

Der kantonale Gesetzgeber sei kompetent, die Arbeitsverhältnisse in den Bäckereien und Konditoreien innert den Schranken des Art. 31 der Bundesverfassung zu ordnen, und die im angefochtenen Gesetz vorgesehene Regelung entspreche den Anforderungen der Hygieine und der Arbeiterfürsorge, ohne den Betrieb der betroffenen Gewerbe erheblich einzuschränken oder gar unmöglich zu machen.

IV.

Die angefochtenen Bestimmungen des tessinischeri Gesetzes, über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien lauten, soweit sie in Betracht kommen, wie folgt: Art. 4. Meister, die nicht für die Versicherung ihrer Arbeiter sorgen, 'haften gemäss den Bestimmungen des Gesetzes betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb.

Art. 5. Die Arbeitszeit' in den Bäckereien und Konditoreien soll elf Stunden auf die 24 Stunden des Tages nicht übersteigen.

Diese elf Stunden können nach den Bedürfnissen des Betriebes verteilt werden.

Jeder Arbeiter soll wöchentlich einen Ruhetag haben. Dieser Ruhetag soll monatlich wenigstens einmal auf einen Feiertag fallen.

An den Ruhetagen kann der Arbeiter immerhin während einer Stunde mit der Erneuerung der Hefe beschäftigt werden.

Art. 6. Die Nachtarbeit ist verboten.

Als Nachtarbeit im Sinne dieses Gesetzes gilt vom 1. Oktober bis 31. März die Arbeit in der Zeit von abends 9 Uhr bis morgens 4 Uhr, vom 1. April bis 30. September die Arbeit in der Zeit von abends 9 Uhr bis morgens 3 Uhr.

§ 1. Während der zur Ruhe bestimmten Nachtstunden ist jede Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien verboten, inbegriffen diejenige des Meisters.

§ 2. In den Bäckereien, in welchen der Geschäftseigentümer allein arbeitet, darf mit der. Arbeit zwei Stunden früher,, als im gewöhnlichen Stundenplan vorgesehen ist, begonnen werden.

509 B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Soweit die Rekurrenten ihre Beschwerde auf die Behauptung stutzen, die Art. 5 und 6 des Gesetzes verletzen die Rechtsgleichheit, weil durch die darin vorgesehene Regelung der Arbeitszeit ein Unterschied zwischen den dem Fabrikgesetz unterworfenen Gross- und den Kleinbetrieben im Kanton Tessin geschaffen werden, ist der Rekurs von vornherein unbegründet; denn der Kanton Tessin ist auf dem Gebiet des Gewerbewesens, soweit es nicht durch Bundesrecht geregelt ist, autonom. Eine Divergenz zwischen der den Kantonen vorbehaltenen Gewerbegesetzgebung und dem eidgenössischen Fabrikgesetz kann daher nicht als Verletzung der Rechtsgleichheit betrachtet und angefochten werden.

II.

Soweit das eidgenössische Fabrikgesetz nicht anwendbar ist, steht es den Kantonen zu, über den Gewerbebetrieb nicht nur gewerbepolizeiliche Vorschriften im eigentlichen Sinne zum Schütze Dritter zu erlassen, sondern auch Vorschriften über den Arbeiterschutz, wie es bereits in weitem Masse geschehen ist. Ohne Einschränkung der Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der Produktionsfähigkeit des Unternehmers, ist diese Regelung nicht möglich. In der blossen Tatsache daher, dass die Unternehmer durch eine solche Regelung der Arbeit in ihrem Gewerbe und im Absätze ihrer Produkte gehemmt werden, liegt noch keine Verletzung des Grundsatzes der Gewerbefreiheit.

Es mag dahingestellt bleiben, ob dieser Grundsatz als verletzt zu betrachten wäre, wenn die .kantonale Gewerbegesetzgebung ein Gewerbe so schwer belasten würde, dass es mit Gewinn nicht mehr betrieben werden könnte. Die Rekurrenten behaupten in der Tat, die Vorschriften der Art. 5 und 6 des tessinischen Gesetzes über die Arbeitszeit seien für sie ruinös ; sie haben aber keinerlei Tatsachen angeführt, durch die ihre Behauptung bewiesen, oder auch nur wahrscheinlich gemacht würde. Wenn auch zuzugeben ist, dass die in Frage stehenden Bestimmungen eine gewisse Belastung des Gewerbebetriebes, eine gewisse Beschränkung seiner freien Ausübung mit sich bringen, so ist doch nicht zu verkennen, dass auch bei der jetzigen Regelung der Arbeitszeit in den tessinischen Bäckereien die besonderen An-

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forcierungen des Gewerbes berücksichtigt worden sind, indem der Beginn der Arbeit im Sommer auf 3 Uhr, im Winter auf 4 Uhr morgens angesetzt wurde und dass, was die Rekurrentcn übergangen haben, Art. 7 des Gesetzes den Staatsrat ermächtigt, die Arbeit in Bäckereien und Konditoreien dann, wenn aussergewöhnliche Umstände dies erheischen, noch früher beginnen zu lassen.

Die im angefochtenen Gesetz vorgesehene Arbeitsordnung ist somit vom Standpunkt des Art. 31 der Bundesverfassung nicht zu beanstanden.

III.

In Anfechtung des Art. -i des Gesetzes haben sich die Kekurrenten im wesentlichen darauf gestützt, dass der kantonale Gesetzgeber mit Erlass dieser Vorschrift in ein dem eidgenössischen Gesetzgeber gemüss Art. 34 und 64 der Bundesverfassung aussehliesslich vorbehaltenes Gebiet eingegriffen habe. Art. 34 der Bundesverfassung ist nicht verletzt ; da der Bund von dem ihm dort verliehenen Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat, fragt es sich bloss, ob das tessinische Gesetz mit dem gemäss Art. 34 der Bundesverfassung erlassenen eidgenössischen Fabrikgesetz in Widerspruch stehe; das ist'aber nicht der Fall, da gegenwärtig keine Bäckereien im Kanton Tessin diesem Gesetze unterstehen.

Darüber, ob das tessinische Gesetz in die auf Art. 64 der Bundesverfassung beruhende Zivilgesetzgebungsboheit des Bundes eingreife, ist das Bundesgericht zu entscheiden berufen.

IV.

Die Beschwerde richtet sich auch gegen die einschlägigen Bestimmungen der Vollziehungsverordnung zum Gesetz über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien. Die Rekurrenten haben sich aber nicht die Mühe genommen, diese Bestimmungen namhaft zu machen. Übrigens halten sich die Vorschriften der Vollziehungsverorclriung strikte im Rahmen der Gesetzesbestimmungen, sodass die Beschwerde auch in dieser Hinsicht als unbegründet erscheint.

De m g e m ä s s w i r d e r k a n n t : 1. Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen Art. 5 und 6 des tessinischen Gesetzes über die Arbeit in den Bäckereien und Konditoreien richtet, als unbegründet abgewiesen.

511 2. Auf die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen Art. 4 des genannten Gesetzes richtet, wegen Inkompetenz nicht eingetreten.

B e r n , den S.Januar 1909.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: ßingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluss über den Rekurs Röschli und Forster, Bäcker, in Lugano, betreffend Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 5. Januar 1909.}

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13.01.1909

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