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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Kantonsregierungen, betreffend Tragung der Gerichtskosten bei Konkurrenz von eidgenössischem und kantonalem Strafrecht.

(Vom 21. Mai 1909.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Das Bundesgesetz vom 22. März 1893, betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege, enthält in Artike 1156 Bestimmungen über das Mass der Kosten, die Tragung der Kosten und den Anfall von Bussen in denjenigen Straffällen, welche Übertretungen von Bundesgesetzen beschlagen und durch Spezialbeschlüsse des Bundesrates den kantonalen Gerichten zur Untersuchung und Beurteilung überwiesen werden. Es lässt aber die Frage offen, wie es zu halten sei, wenn mit derartigen Delikten solche des kantonalen Strafrechtes konkurrieren, wie die Unterschlagung eidgenössischer Beamter mit Fälschung von Bundesakten, Amtspflicht Verletzung u. dgl.

Die Praxis glaubte sich damit behelfen zu können, dass die kantonalen Gerichte veranlasst wurden, in solchen Fällen die Strafen auszuscheiden, je nachdem sie auf Übertretung des einen und des ändern der beiden Rechtsgebiete sich bezogen, und zwar so, dass die Bussen je nach dieser Ausscheidung entweder dem Bunde oder dem Kanton zukamen, und dass über die Kosten

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zwischen den beteiligten Behörden eine mit den Strafsätzen proportionelle Verteilung getroffen wurde.

In neuester Zeit kam der Kassationshof des Bundesgerichtes in die Lage, einen Entscheid darüber zu treffen, welche Rechtsgrundsätze von den Kantonen bei Beurteilung von Strafsachen anzuwenden seien, in denen eidgenössisches mit kantonalem Strafrecht konkurriert (siehe das Urteil in Sachen Matti vom 31. März 1908 in Beilage). Dabei gelangte er zu dem Schlüsse, dass der Artikel 33 des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853, der sich direkt nur auf das Zusammentreffen von Übertretungen eidgenössischer Strafgesetze bezieht, auch massgebend sei dann, wenn eidgenössische und kantonale Straftatbestände miteinander konkurrieren. Auch in solchen Fällen solle die Strafe des schwersten der Verbrechen angewendet, die übrigen aber als besondere Schärfungsgründe berücksichtigt werden. Der Kassationshof des Bundesgerichtes hat durch dieses Urteil eine rechtsverbindliche Interpretation der Vorschrift des Artikel 33 des Bundesstrafrechtes gegeben, und wir nehmen keinen Anstand, bei künftigen Fällen der Konkurrenz eidgenössischen und kantonalen Strafrechtes die Konsequenzen dieses Entscheides zu ziehen, um damit eine erwünschte Vereinfachung der Behandlung der in Frage kommenden Delikte sowohl hinsichtlich der Beurteilung als hinsichtlich des Strafvollzuges herbeizuführen.

Wir sind daher der Ansicht, dass in Abänderung der bisherigen Praxis bei Beurteilung konnexer Delikte nicht mehr eine Teilung der Strafe in eine solche des kantonalen und eine solche des eidgenössischen Rechtes vorgenommen, sondern in allen Beziehungen eine einheitliche Strafe ausgesprochen werden sollte, gegründet auf das schwerste der in Frage kommenden Delikte und unter Berücksichtigung der übrigen als besondere Schärfungsgründe. Wenn das schwerste der zu beurteilenden Delikte sich als Übertretung eidgenössischen Strafrechtes darstellt, so ist die Gesamtstrafe eine solche aus eidgenössischem Recht, und es fallen die Kosten bei Unerhältlichkeit zu Lasten der Bundeskasse; in gleicher Weise sind die Bussen zu behandeln. Sofern aber die schwerste Strafe auf kantonalem Rechte beruht, so hat der Kanton die nämlichen Konsequenzen für die Gesamtstrafe zu übernehmen.

Die Kompetenz zur Begnadigung, die bisher so manche Schwierigkeiten verursachte,
fällt im ganzen Umfange des Urteils einheitlich entweder dem Bund oder dem Kanton zu, und die Frage der Anwendung der kantonalen Gesetze betreffend bedingten Strafvollzug oder bedingte Verurteilung ist dahin gelöst, dass

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diese Gesetze von den Kantonen im ganzen Umfange für solche Urteile angewendet werden können, denen eine Übertretung kantonalen Strafrechtes als schwerste zugrunde liegt.

Wir ersuchen Sie, von dieser veränderten Praxis Kenntnis zu nehmen, und werden unsererseits dafür sorgen, dass in den Spezialfällen, bei Mitteilungen über die Delegation der Bundesgerichtsbarkeit, jeweilen die Grundsätze des Artikels 33 des Bundesstrafrechtes über Beurteilung konnexer Delikte den kantonalen Instanzen in Erinnerung gerufen werden.

Im übrigen benützen wir diesen Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 21. Mai 1909. .

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident: Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesblatt. 61. Jahrg. Bd. III.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen, betreffend Tragung der Gerichtskosten bei Konkurrenz von eidgenössischem und kantonalem Strafrecht. (Vom 21.

Mai 1909.)

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