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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Firma F. Muraour & Cie.

betreffend

Verletzung der

in Genf

Handels- und Gewerbe-

freiheit.

(Vom 11. Mai 1909.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t

hat über die Beschwerde der Firma F. M u r a o u r & Cie. in Genf, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, auf den Antrag des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehungwird festgestellt:

I.

Die Rekurrentin hat im Jahre 1899 das Geschäft der frühern Firma Achin fils aîné, distillerie et commerce de spiritueux, übernommen, nachdem ihr von den zuständigen Behörden des Kantons Genf die Bewilligung zum Kleinverkauf geistiger Getränke erteilt worden war. Seither ist der Rekurrentin diese Bewilligung regelmässig erneuert worden, letztmals für das Jahr 1909 gegen Entrichtung einer Gebühr von Fr. 258. 75.

Am 31. Dezember 1908 haben F. Muraour & Cie., gestützt auf die im Kanton Genf erhaltene Bewilligung, das Finanzdepartement des Kantons Wallis um die Bewilligung zur steuerfreien Versendung gebrannter Wasser nach dem Kanton Wallis ersucht. Am 4. Januar 1909 teilte das Finanzdepartement des Kantons Wallis der Rekurrentin mit, dass sie, wenn sie gebrannte Wasser nach dem Kanton Wallis verkaufen wolle, ein Patent dieses Kantons lösen müsse. Eine gegen diese Verfügung

317 des Finanzdepartements gerichtete Beschwerde wurde von der Regierung des Kantons Wallis am 5. Februar 1909 abgewiesen.

Darauf löste die Firma F. Muraour & Cie., um in ihren Geschäften keine Störung eintreten zu lassen und um Bussverfügungen und Rekurse zu vermeiden, unter ausdrücklicher Wahrung ihrer Rechte für den vorliegenden Rekurs, ein Patent für 6 Monate gegen Bezahlung einer Gebühr von Fr. 50.

II.

Mit Eingabe vom 2. März 1909 beschwert sich die Firma F. Muraour & Cie. beim Bundesrat mit dem Begehren, der Bundesrat wolle : 1. Annuler et mettre à néant l'arrêté dont est recours.

2. Dire que les recourants peuvent librement exercer leur commerce dans le Canton du Valais sans être astreints au paiement d'une taxe quelconque de patente ou de colportage.

3. Ordonner au Conseil d'Etat du Canton du Valais la restitution de la taxe perçue.

Zur Begründung der Beschwerde wird im wesentliche« ausgeführt: Art. 31 B.V. gewährleiste die Freiheit des Handels und des Gewerbes im ganzen Umfang der Eidgenossenschaft.

Die von der Regierung des Kantons Wallis, angeblich gestützt auf Art. 17 des Bundesgesetzes über gebrannte Wasser vom 29. Juni 1900, von der Rekurrentin verlangte Verkaufssteuer von Fr. 100 pro Jahr verletze den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit schon aus dem Grunde, weil, sofern alle Kantone zu einer derartigen Massregel greifen sollten, der Rekurrentin die Ausübung ihres Gewerbes geradezu unmöglich würde, da der Gesamtbetrag dieser Steuern zu der Grosse und dem Wert des Umsatzes in keinem richtigen Verhältnis stünde. Frage sich aber, welcher Kanton zur Besteuerung berechtigt sei, so ergebe sich ohne weiteres, dass derjenige Kanton, in dem die Rekurrentin ihr Domizil habe, in dem sie die Aufträge entgegennehme und von dem aus sie die Bestellungen ausführe, zur Besteuerung ihres Handels berechtigt sei. Die Rekurrentin besitze keine Filiale im Kanton Wallis. Auch in denjenigen Fällen, in denen die Bestellung nicht schriftlich per Post, sondern durch den Reisenden erfolge, sei der Vertrag als in Genf abgeschlossen zu betrachten, da die Reisenden der Rekurrentin nicht zum Abschluss von Verträgen, sondern nur zur Entgegennahme von Aufträgen berechtigt seien.

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III.

In ihrer Vernehmlassung vom 20. März 1909 beantragt die Regierung des Kantons Wallis Abweisung des Rekurses. Zur Begründung dieses Antrages wird im wesentlichen ausgeführt : Art. 17, Alinea 2, des Bundesgesetzes über gebrannte Wasser vom 29. Juni 1900 mache den Kantonen die Besteuerung des Kleinhandels mit gebrannten Wassern zur Pflicht. Die Rekurrentin werde vom Kanton Genf nur für den Umsatz in diesem Kanton besteuert. Jeder andere Kanton der Schweiz, in dem die Rekurrentin Waren umsetze, sei zu ihrer Besteuerung für sein Gebiet berechtigt. Dass die Rekurrentin, wenn sie in der ganzen Schweiz Handel treiben wolle, von 22 Kantonen besteuert werde, sei nicht verfassungswidrig, da Art. 31, lit. b, B. V. den Verkauf gebrannter Wasser ausdrücklich von der im allgemeinen garantierten Handels- und Gewerbefreiheit ausnehme. Zur Entscheidung der Frage aber, ob in der angefochtenen Massregel eventuell eine Doppelbesteuerung erblickt werden könne -- was bestritten werde -- sei der Bundesrat nicht kompetent.

Abgesehen von Art. 31, lit. b, B. V. und Art. 17 des Bundesgesetzes über gebrannte Wasser, beruft sich die Regierung des Kantons Wallis auf: Arrêté du Conseil d'Etat du Canton du Valais du 19 août 1890, concernant le débit et la vente en détail etc. des boissons spiritueuses distillées und loi du 26 novembre 1900 sur le colportage. Auch der Kanton Genf verlange nicht nur von den in seinen Grenzen domizilierten Kaufleuten die Entrichtung einer Gebühr, sondern auch von denjenigen, die in ändern Kantonen domiziliert seien, sofern sie im Kanton Genf Bestellungen aufnehmen wollen. Würde also der Rekurs gutgeheissen, so käme man · zu dem unhaltbaren und mit der verfassungsmässig garantierten Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze unvereinbaren Zustand, dass die Genfer Kaufleute im Kanton Wallis frei verkaufen und den im Kanton wohnenden Kaufleuten Konkurrenz machen könnten, während die Walliser Kaufleute, wenn sie in Genf Bestellungen aufnehmen wollen, dort eine Gebühr bezahlen müssen.

Dem Entscheid des Bundesrates vom 4. Juli 1907 in Sachen Beretta lägen andere tatsächliche Verhältnisse zugrunde. Im Fall Beretta habe sich das ganze Geschäft im Kanton Tessili abgewickelt. Hier aber handle es sich um Aufnahme von Bestellungen im Gebiet des Kantons Wallis durch Reisende der Rekurrentin. Bedenke man noch dazu, dass die bestellte Ware nach Wallis eingeführt und dort konsumiert werde, und dass

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ferner in der Regel auch die Zahlungen im Kanton Wallis erfolgten, so ergebe sich, dass der wichtigste Teil des Geschäftes sich im Kanton Wallis abwickle.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Die Ausführungen des Regierungsrates des Kantons Wallis, dass durch die Aufnahme von Art. 31, lit. b, in die Bundesverfassung die Handels- und Gewerbefreiheit für die Fabrikation und den Verkauf gebrannter Wasser habe aufgehoben werden wollen, und den Kantonen daher heute die unbeschränkte Gesetzgebungshoheit auf diesem Gebiete zustehe, können nicht als richtig anerkannt werden. Der lit. b des Art. 31 der Bundesverfassung kommt nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut keine selbständige Bedeutung zu. Auch Art. 32b'8 der Bundesverfassung kommt selbst nicht in Betracht, da er durch das Bundesgeset/ über gebrannte Wasser vom 29. Juni 1900 ausgeführt worden ist. Daraus folgt (abgesehen von der hier nicht in Betracht fallenden Bestimmung der lit. c des Art. 31), dass der in Art. 31 B. V. garantierte Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit, speziell auch der Grundsatz der Freizügigkeit im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft, auch für den Kleinhandel mit gebrannten Wassern gilt, soweit dieser Grundsatz nicht durch Bestimmungen des Alkoholgesetzes eingeschränkt worden ist.

II.

Die in Art. 17 des Alkoholgesetzes -- auf den sich der Regierungsrat des Kantons Wallis beruft -- vorgesehene Bewilligung durch die kantonalen Behörden und die Entrichtung einer der Grosse und dem Wert des Umsatzes entsprechenden kantonalen Verkaufssteuer sind dem Kleinhandel mit gebrannten Wassern nicht eigentümlich und beeinträchtigen an sich den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit nicht. Die gleichen Einschränkungen haben von jeher auch für die Wirtschaften und andere Gewerbe gegolten. Eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Freiheit des Handels und der Gewerbe im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft würde aber zweifellos dann eintreten, wenn der in einem Kanton domizilierte Gewerbetreibende für seivien Handel über die Kantonsgrenzen hinaus von allen

320 denjenigen Kantonen besteuert würde, auf die sich seine Geschäftsverbindungen erstrecken. Dadurch würde der Handel über die Kantonsgrenzen hinaus stärker belastet als der Handel innerhalb der Kantonsgrenzen, was zu einer Abschliessung des Absatzgebietes jedes Kantons nach Aussen führen müsste. Derartige Erschwerungen des interkantonalen Verkehrs sind durch die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 beseitigt worden. Im Gegensatz zum Hausierhandel und dem Handel im Umherziehen darf daher heute der sesshafte Handel nicht von jedem Kanton, auf den sich seine Geschäftsverbindungen erstrecken, mit Gewerbesteuern belastet werden, sondern nur von dem Kanton, in dem sich der Site des Geschäftes befindet.

Von diesen Grundsätzen der B.V. weicht das Alkoholgesete nicht ab. Weder die Entstehungsgeschichte noch der Wortlaut des Art. 17 dieses Gesetzes führen zu einem andern Ergebnis.

Durch die in Art. .17 des Alkoholgesetzes vorgesehene Besteuerungsollte lediglich eine Verteuerung des in kleinern Quantitäten abgegebenen Alkohols, keineswegs aber eine Erschwerung des interkantonalen Handels und eine damit verbundene Abschliessung des Absatzgebietes jedes Kantons nach Aussen herbeigeführt werden. (Vgl. den Beschluss de.s Bundesrates vom 4. Juli 1907 in Sachen ßeretta, Bundesbl. 1907, IV, 581, und den Bericht ari die Bundesversammlung vom 29. November 1907 in gleicher Sache, Bundesbl. :!907, VI, 152.)

D e m g e in ä s s w i r d e r k a ri n t :

Der Rekurs wird gutgeheissen.

Die Regierung des Kantons Wallis wird eingeladen, der Rekurrentin die bezahlte Pateritgebühr von Fr. 50 zurückzuerstatten.

B e r n , den 11. Mai 1909.

Im Namen des Schweiz. .Bundesrates, Der Vizepräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Firma F. Muraour & Cie. in Genf betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 11. Mai 1909.)

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19.05.1909

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