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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs des Regierungsrates des Kantons Tessin gegen den Bundesratsbeschluss vom 6. März 1909 in Sachen Pagnamenta und Konsorten betreffend Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten.

(Vom 6. Dezember 1909.)

Tit.

Kurz vor den Nationalratswahlen vom 25. Oktober 1908 richteten Advokat Pagnamenta in Bellinzona und Konsorten eine Beschwerde an den Eegierungsrat des Kantons Tessin und darauf an den Bundesrat mit dem Begehren, dass die im 41. Wahlkreis wohnenden und im 42. Wahlkreis stationierten Landjäger an ihrem Wohnsitz und nicht an ihrem dienstlichen Stationsort abzustimmen haben. Entgegen der Verfügung des tessinischen Regierungsrates erkannten wir am 6. März 1909, dass die Polizisten in das Stimmregister desjenigen Kreises einzutragen seien, wo sie ihren Wohnsitz haben, und erklärten die Beschwerde für begründet.

Gegen diese Entscheidung hat die Regierung des Kantons Tessin am 14. Mai abhin an die Bundesversammlung rekurriert, indem sie im wesentlichen folgendes geltend macht : In der Frage, ob die politischen Rechte am zivilrechtlichen Wohnsitz oder am

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tatsächlichen Aufenthalt, auszuüben seien, habe sich der Bundesrat selbst zweimal gegenüber dem Kanton Tessin für den Aufenthaltsort entschieden : bei der Genehmigung des tessinischen Wahlgesetzes vom 15. Juli 1880 (Bundesbl. 1881, II, 670) und bei der Entscheidung des Rekurses Rossi und Konsorten vom 8. November 1902 (Bundesbl. 1902, V, 461). Im ersten Falle habe der Bundesrat an der Gleichstellung des politischen mit dem zivilrechtlichen Domizil Anstoss genommen und erklärt, diese Definition sei zu unbestimmt und dürfe gemäss Artikel 45 der Bundesverfassung nur in dem Sinn ausgelegt werden, dass jeder Niedergelassene die politischen Rechte gemessen müsse. Im zweiten Falle habe er entschieden,' dass der politische "Wohnsitz der Studenten in eidgenössischen Angelegenheiten nicht am Wohnorte ihrer Eltern sei, ,,sondern am tatsächlichen Wohnsitza, wohne ein Student an diesem Ort als Ortsbürger, Niedergelassener oder Aufenthalter. Was für die Studenten gelte, müssen auch für die Polizisten gelten, und die Ausübung des Stimmrechts am tatsächlichen Aufenthaltsorte stehe sowohl mit dem Artikel 43, Absatz 2, der Bundesverfassung als mit dem Artikel 3 des Bundesgesetzes vom 19. Juli 1872, die beide dasselbe vorschreiben, im Einklang. Die jetzige Auslegung des Bundesrates, wonach zur Ausübung des Stimmrechtes ein eigentlicher Wohnsitz erforderlich wäre, würde ja die Aufenthalter ihres Stimmrechtes berauben, das ihnen die Bundesbehörden stets vindiziert haben. Der Regierungsrat bemerkt schliesslich, es liege ihm nicht daran, dass in diesem oder jenem Sinn entschieden werde, wenn nur der politische Wohnsitz in eidgenössischen Angelegenheiten einmal genau bestimmt werde.

Bevor wir auf die Einwände des Rekurrenten eintretenmüssen wir zum bessern Verständnis die Begriffe des Wohnsitzes einerseits und der Niederlassung und des Aufenthaltes an, dererseits klarstellen. Wohnsitz bezeichnet im allgemeinen einen Ort, mit dem eine Person in besonderer Beziehung steht und der deshalb für die Bestimmung ihrer Rechtsverhältnisse von Bedeutung ist; der z i v i l r e c h t l i c h e Wohnsitz ist von Bedeutung für die zivilrechtlichen und prozessualischen Verhältnisse, der s t e u e r r e c h t l i c h e für die Steuerpflicht, der p o l i t i s c h e für die politischen Rechte. Der Wohnsitz im zivilrechtlichen Sinne ist
der Ort, ,,wo jemand mit der Absicht, dauernd zu verbleiben, wohnt", nach der herkömmlichen Definition, wie sie sich im Bundesgesetz über die zivilrechtlichen Verhältnisse, Artikel 3, und in etwas anderer Formulierung im Zivilgesetzbuch, Artikel 23,

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findet. Den Gegensatz zum Wohnsitz bildet der blosse Auf-enthaltsort, als der Ort, an dem eine Person verweilt, ohne mit ihm in die engere, den Wohnsitz begründende Verbindung zu treten. Der Begriff des steuerrechtlichen Wohnsitzes, wie er im ·interkantonalen Steuerrecht zur Anwendung kommt, wird vom Bundesgericht, abgesehen vom Geschäftsdomizil, in seiner neueren Praxis nach den gleichen Merkmalen bestimmt, wie der zivilrechtliche (B. G. E. 27, I, 41 ; 33, I, 284). Es wird zu untersuchen sein, ob der politische Wohnsitz nach den geltenden bundesrechtlichen Vorschriften ebenfalls nach diesen Merkmalen oder nach ändern zu umschreiben sei. Jedenfalls aber ist dieser politische Wohnsitz zu unterscheiden von der Niederlassung und .vom Aufenthalt im polizeirechtlichen Sinne. Niederlassung und Aufenthalt in diesem Sinne sind Begriffe der Fremdenpolizei und bezeichnen die Rechtsstellung desjenigen, der die polizeiliche Bewilligung für sein Verbleiben von unbestimmter oder bestimmter Dauer an einem Orte hat. Niedergelassener ist, wer die Bewilligung zur Niederlassung hat; Aufenthalter, wer die Bewilligung zum Aufenthalte hat. In der Regel wird der Niedergelassene ani Orte, wo er die Niederlassungsbewilligung hat, auch tatsächlich wohnen mit der Absicht dauernden Verbleibens, also Wohnsitz haben ; die Niederlassung ist aber ein Rechtsverhältnis, der Wohnsitz eine Tatsache und als solche Voraussetzung von Rechtsverhältnissen. Niederlassung und Wohnsitz fallen daher nicht stets zusammen ; Niederlassung und Wohnsitzort fallen z. B. auseinander, wenn jemand an einem Ort eine Niederlassungsbewilligung nimmt, aber dann seinen Wohnsitz tatsächlich nicht' an diesen Ort verlegt, oder wenn er an einen neuen Ort zu dauerndem Verbleiben übersiedelt, ohne sich mit der Polizei in Ordnung zu setzen.

Wohnsitz und Niederlassung sind also verschiedene Dinge, sie decken sich nicht und widersprechen sich nicht. Und ebenso sind die Begriffe des Wohnsitzes und des Aufenthaltes zu trennen.

Der Aufenthalter kann selbstverständlich einen Wohnsitz haben, "trotzdem er nur eine Aufenthaltsbewilligung hat, ja er muss irgendwo einen Wohnsitz haben. Es ist daher unrichtig, Wohnsitz und Aufenthalt im polizeilichen Sinne einander gegenüberzustellen, wie es die Regierung des Kantons Tessin unter lit. E und P ihrer Rekursschrift tut.
Die Bundesverfassung gewährleistet die politischen Rechte in kantonalen Angelegenheiten den niedergelassenen Schweizerbürgern anderer Kantone, und das Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 setzt voraus, dass der Schweizerbürger am Orte, wo er

472 stimmen will, wenigstens eine Niederlassungs- oder die Aufenthaltsbewilligung genommen habe 5 aber die Niederlassungs- oder die Aufenthaltsbewilligung allein genügen nicht zur Erwerbung des Stimm'rechts an einem Ort; sie allein machen das politische Domizil nicht aus, sondern es muss noch die Tatsache einer dauernden Verbindung mit dem Ort hinzukommen, sei es nun die Verbindung, die man Domizil heisst, wie der Bundesrat annimmt, oder diejenige des bloss tatsächlichen Verbleibens, wie es der Rekurrent behauptet. Wer diese Beziehung nicht herstellt, erwirbt das Stimmrecht nicht, auch wenn er an dem Orte regelrechte Niederlassung oder Aufenthalt in polizeilichem Sinne genommen hätte; und wer diese tatsächliche Verbindung löst, indem er wegzieht, verliert sein Stimmrecht an diesem Ort, auch wenn er seine Ausweisschriften zurückgelassen hat und noch als Niedergelassener oder Aufenthalter in der Einwohnerkontrolle eingetragen ist. Wenn es streitig wird, wo ein Schweizerbürger in kantonalen oder eidgenössischen Angelegenheiten zu stimmen ·habe, genügt es also nicht, zu konstatieren, wo er die Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung genommen habe. Es muss noch geprüft werden, mit welchem Ort er in der tatsächlichen Beziehung steht, die die Verfassung oder das Gesetz zur Begründung des politischen Domizils fordern.

Diese tatsächliche Beziehung ist nun nach unserer Ansicht nichts anderes als der Wohnsitz nach zivilrechtlicher Definition, d. h. der Ort, an dem man sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Es ist richtig, dass die Bundesbehörden nicht von jeher und konsequent diese Ansicht vertreten haben. Die Bedenken, die der Bundesrat über den Artikel l des tessinischen Gesetzes vom 15. Juli 1880 äusserte, das doch den reinen Wohnsitzbegriff aufstellte, zeigen, dass man damals noch nicht glaubte, einfach den zivilrechtlichen Wohnsitzbegriff im Stimmrecht verwenden zu können, und dass man sich auch über das Verhältnis zwischen Niederlassung und Wohnsitz nicht klar war. Die Meinung dagegen, dass für das politische Domizil rein das tatsächliche Moment des sich Aufhaltens ohne Rücksicht auf die Absicht dauernden Verbleibens entscheiden solle, und dass das politische Domizil nicht mit dem zivilrechtlichen zusammenfallen könne, wie der Rekurrent annimmt, lässt sich aus den Äusserungen des
Bundesrates nicht ableiten ; der Bundesrat wollte sich nur nicht auf die streng zivilrechtliche Definition des Domizils verpflichten.

Auch das geben wir ohne weiteres zu, dass die Entscheidung des Bundesrates vom 8. November 1902 in Sachen Rossi und

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Konsorten in seiner Begründung missverständlich ist. Man kann im Zweifel darüber sein, wo ein Student sein zivilrechtliches Domizil habe, am Orte, wo er studiert, oder am Wohnorte seiner Eltern. Der Bundesrat hatte sich schon in einem Rekursentscheide vom 7. März 1896 in Sachen Bielmann und Bourgknecht (Bundesblatt 1896, II, 779) für den Studienort ausgesprochen, im Gegensatz zu einer Entscheidung vom Jahre 1891 in Sachen der Tessiner Studenten (Bundesbl. 1891, III, 896, 1005"). Der Rekursentscheid in Sachen Rossi wollte offenbar nur die im Jahre 1896 getroffene Entscheidung bestätigen und erklären, dass die Studenten an ihrem Studienort Wohnsitz haben; er tat es aber mit der unzutreffenden Formulierung, dass der t a t s ä c h l i c h e Wohnsitz der Studenten massgebend sei, als ob nicht nach dem herkömmlichen Begriff des Wohnsitzes, der das äussere und das innere Moment umfasst, zu entscheiden sei; richtigerweise hätte gesagt werden sollen, dass der Wohnsitz im herkömmlichen Sinne massgebend sei, dass aber Studenten eben diesem Begriffe gemäss ihren Wohnsitz am Studienort haben. ,,Tatsächlicher Wohnsitz" ist eine widerspruchsvolle Begriffsverbindung. Im ganzen aber hat sich der Bundesrat an den zivilrechtlichen Wohnsitzbegriff in seinen Entscheiden über Stimmrecht in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten gehalten. In den zahlreichen Tessiner Rekursen aus dem Jahre 1889 entschied der Bundesrat die Frage, wo jeder Schweizerbürger zu stimmen habe, schlechthin nach ihrem Wohnsitz im gemeinrechtlichen Sinn (Bericht von Prof. Schneider vom 1. Juni 1889 : Bundesbl. 1889, III, 381 ff.). Gerade damals wurde erkannt, dass Polizeisoldaten ihr wahres Domizil nicht am Orte haben, ,,wo sie stationiert sind und von wo sie jeden Tag wieder abberufen werden können, sondern da, wo ihre Familie, der häusliche Herd sich befindet, wohin sie daher auch immer wieder zurückkehren11 (Bundesbl.

1891, III, 896). Im gleichen Sinn ist entschieden worden für die Gefängniswärter im erwähnten Falle Bielmann und Bourgknecht, und am 24. Dezember 1901 in Sachen Radikales Komitee in Freiburg (Bundesbl. 1902, I, 357; Salis HI, S. 381).

Wir verweisen ferner noch auf die bei S a l i s III, 1161, 3°, 1194, 1195, 1220, Ziffer H, angeführten Fälle.

Die Rekursbehörden sind nicht ohne gute Gründe in ihrer Praxis zu dieser
Auffassung gelangt. Wenn, wie es die Bundesverfassung und die gute Ordnung verlangt, niemand an mehr als einem Orte seine politischen Rechte ausüben soll, und wenn man es nicht in die Wahl des Bürgers stellen will, wo er stimmen

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will, so rauss von Gesetzes wegen für jeden Bürger ein Ort bestimmt werden, an dein allein er stimmberechtigt ist. Dieser Ort wird nach unserer, auf eine lange Rekurspraxis gestützten Ansicht -am sichersten durch die bekannten Merkmale des zivilrechtlichen Wohnsitzes bestimmt. Lässt man, wie die tessinische Regierung es in dem jetzt bestrittenen Fall getan hat, das rein tatsächliche Moment des Wohnens, sich Aufhaltens, entscheiden, so vermisst man in vielen Fällen ein ausreichendes Kriterium. Wo halten sich der auswärts arbeitende Angestellte, der Geschäftsreisende, der ein Absteigequartier hat, der Kurgast auf"? Es kann sich jemand während eines Tages oder einer Woche an verschiedenen Orten aufhalten, z. B. tagsüber in der Gemeinde, in der er arbeitet, nachts in derjenigen, wo er wohnt; oder die Woche durch an seinem Arbeitsort, Sonntags in seiner Familie. Die Dauer der körperlichen Anwesenheit an einem Ort kann da unmöglich entscheiden. Ebensowenig, wenn es sich fragt, wann das bisherige politische Domizil aufgegeben und wann ein neues begründet worden sei. Solange der Bürger nicht durch sein Verhalten die Absicht kundgegeben hat, den bisherigen Wohnsitz aufzugeben, bleibt dieser bestehen ; die blosse Abwesenheit hebt ihn noch nicht auf, und umgekehrt genügt die blosse Anwesenheil, zur Begründung des politischen Wohnsitzes nicht, wenn nicht das Wahlmanöver fiktiver Domizile legalisiert werden soll. Überall rnuss man, wenn man zu einem sichern Entscheidungsprinzip kommen will, auch die innern Momente, die auf eine mehr oder weniger enge Verbindung einer Person mit einem Orte schliessen lassen, den animus, berücksichtigen können. Aus diesen Gründen, aus ähnlichen also, wie sie zur Bestimmung des zivilrechtlichen Wohnsitzbegriffes geführt haben mögen, sind wir dazu gekommen, auch für das politische Domizil die Erfordernisse des tatsächlichen Aufenthaltes u n d der Absicht dauernden Verbleibens aufzustellen, in Übereinstimmung, wie wir glauben, mit dem Bundesgesetz vorn 19. Juli 1872 und dem Artikel 43 der Bundesverfassung (vgl. Burckhardt, Kommentar der Bundesverfassung, S. 392).

Wir bestreiten nicht, dass auch dieser Begriff des politischen Wohnsitzes nicht jede Schwierigkeit aufhebt; es wird stets Fälle geben, in denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, wo jemand ,,sich aufhalte mit der
Absicht dauernden Verbleibens11.

Aber das sind Schwierigkeiten der Anwendung, wie sie jeder Rechtsbegriff', auch der richtigste und klarste, bringen kann.

Der Begriff des tatsächlichen sich Aufhaltens würde weit mehr Schwierigkeiten bereiten, weil er selbst unbestimmt ist.

475 Endlich bemerken wir noch, dass auch unsere Auffassung nicht dazu führt, das politische Domizil der unverheirateten Polizisten an den Wohnort ihrer Familie zu verlegen. Verheiratete allerdings werden in der Regel ihren Wohnsitz am Orte haben, wo sie ihren häuslichen Herd, ihre Familie haben; Unverheiratete aber, die auf ihren eigenen Erwerb angewiesen sind, werden in der Regel da domiziliert sein, wo sie sich ihres Berufes wegen ständig aufhalten ; ob sie mit ihren Eltern oder Geschwistern in so reger Verbindung geblieben sind, dass dort der Mittelpunkt ihrer bürgerlichen Existenz sich befindet, ist eine Tatfrage.

Es ist begreiflich, dass die Regierung des Kantons Tessin im vorliegenden Falle entscheiden konnte, wie sie es getan, da der rechtliche Begriff des politischen Domizils nicht völlig abgeklärt war und auch die Frage, wo Polizeisoldaten, die längere Zeit am gleichen Ort stationiert sind, domiziliert seien, in guten Treuen verschieden beantwortet werden kann. Wir zweifeln daher nicht, dass die rekurrierende Behörde nach sachlichen Erwägungen, nicht nach Willkür entschieden hat. Die Rechtssicherheit und die richtige Durchführung der bundesrechtlichen Grundsätze über das Stimmrecht fordern aber, dass der Wohnsitz im zivilrechtlichen Sinne auch für die Ausübung der politischen Rechte massgebend erklärt werde.

Wir beantragen Ihnen deshalb, Tit., unsern Entscheid vom 6. März 1909 zu bestätigen und den Rekurs des Regierungsrates des Kantons Tessin abzuweisen.

B e r n , den 6. Dezember 1909.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der I. Vizekanzler :

Schatzmann.

l Seilage.

(Bundesratsbeschluss vom 6. März 1909.)

476 Beilage.

ßimdesratsbeschluss über

die

Beschwerde des Advokaten Pagnamenta, in

Bel-

linzona, und Konsorten, betreffend das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten.

(Vom 6. März 1909.)

Der schweizerische ßundesrat

hat über die Beschwerde des Advokaten P a g n a m e n t a , in Bellinzona, und K o n s o r t e n , betreifend das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst :

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 22. Oktober 1908 richteten Advokat Pagnamenta, in Bellinzona, und Genossen, eine Eingabe folgenden Inhalts an die Regierung des Kantons Tessin : In verschiedenen Gemeinden des 42. Nationalratswahlkreises (Sopraceneri) seien, auf Anordnung der Distriktskommissäre hin, ins Stimmregister Polizeisoldaten eingetragen worden, die ihre Familien und ihren Wohnsitz im 41. Wahlkreise (Sottoceneri)

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haben. Diese Wähler werden also ihre Stimme in einem Wahlkreise abgehen, in welchem sie nach Art. 4 des Bundesgesetzes vom 19. Juli 1872, betreffend die eidgen. Wahlen und Abstimmungen, in seiner abgeänderten Fassung vom 20. Dezember 1888 und nach Art. 8, Abs. 3, des tessinischen Gesetzes vom ·5. Dezember 1892, betreffend die Aufstellung der Stimmregister, nicht stimmberechtigt wären ; denn nach den bestehenden eidgenössischen und kantonalen Gesetzen werden die Gendarmen den Soldaten im Dienste gleichgestellt und müssen an ihrem Wohnorte stimmen. Da die Stimmen dieser Wähler für das Resultat der Wahlen ausschlaggebend sein können, so solle die Regierung dem Gesetze nachkommen, indem sie die Polizeisoldaten an ihrem Stationsort entweder in ihrem Dienstgebäude, oder in einer besondern Urne für den Wahlkreis ihres Wohnortes stimmen lasse.

Mit Beschluss vom 23. Oktober 1908 trat die tessinische Regierung auf die Eingabe wegen Verspätung nicht ein : Gemäss Art. 4 des Bundesgesetzes betreffend die eidgen.

Wahlen und Abstimmungen müsse den Angestellten der Polizeikorps Gelegenheit gegeben werden, an den Wahlen teilzunehmen, Da aber die Polizeisoldaten, wie alle übrigen Bürger an ihrem gewöhnlichen Wohnorte stimmen können, so habe der Regierungsrat weder in dem am 23. September veröffentlichten Regierungsdekret betreffend die Einberufung der Wählerversammlungen für die Wahlen vom 25. Oktober 1908, noch späterhin besondere Vorschriften für die Stimmabgabe der Polizeisoldaten bei den, Wahlen vom 25. Oktober 1908 erlassen.

Wenn die Regierung auf Grund der erst drei Tage vor der Wahl eingereichten Eingabe des Advokaten Pagnamenta und Konsorten SpezialVorschriften für die Stimmabgabe der Polizei-> Soldaten erliesse, so würde sie sich mit dem obgenannten Art. 4 des Bundesgesetzes betreffend die eidg. Wahlen und Abstimmungen in Widerspruch setzen, der verlange, dass solche Vorschriften vierzehn Tage vor der Wahl veröffentlicht werden.

Die Eingabe der Rekurrenten sei daher verspätet und die Regierung könne darauf nicht eintreten. Dies um so weniger, als schon am 21. Oktober die sämtlichen Stimmregister geschlossen worden seien und die Regierung daher nur noch über Beschwerden betreffend einzelne Eintragungen oder Streichungen in den Stimmregistern entscheiden, die Stimmregister aber nicht mehr abändern könne, soweit sie nicht im einzelnen angefochten werden.

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n.

Mit Telegramm und schriftlicher Eingabe vom 23. Oktober 190S beschweren sich Advokat Pagnamenta und Konsorten beim Bundesrat über die Zulassung ron Gendarmen, die im 41. Wahlkreis wohnen, zu den Wahlen im 42. Wahlkreis, und verlangen Aufhebung der vom Regierungsrat des Kantons Tessin in diesem Sinne getroffenen Massnahmen. Zur Begründung führen sie in der genannten Eingabe und in ihrer Replik vom 20. November 1908 im wesentlichen folgendes aus : Die Stimmabgabe der Gendarmen an ihrem Stationsort widerspreche dem Grundsatze, dass der Stimmberechtigte an seinem Wohnorte zu stimmen habe. Da dem Gendarmen sein Dienstort von seinem. Vorgesetzten angewiesen werde, so fehle ihm der Wille zur Begründung seines Wohnsitzes am Dienstort, weshalb er nicht dem Studenten gleichgestellt werden könne, der seinen Studienort frei wähle. Die Gendarmen hätten ganz, gut. zur Abstimmung an ihrem Wohnort beurlaubt werden können, da Störungen der öffentlichen Ordnung nicht zu befürchten gewesen seien.

Wenn aber der Regierungsrat geglaubt habe, dies nicht verantworten zu können, so hätte er die Polizisten gleich behandeln müssen, wie die Bürger im Militärdienst, was auch bisher, abgesehen von dem Fall, wo der Kanton einen einzigen Wahlkreis bilde, immer geschehen sei. Er hätte dann im Dekret zur Einberufung der Wähler den Polizisten die Ausübung des Stimmrechts in der Kaserne für den Wahlkreis, in welchem sie wohnen, ermöglichen müssen. Dass der Regierungsrat keine besondern Massnahmen für die Gendarmen getroffen habe, mache die Beschwerde nicht gegenstandslos.

III.

In seiner Vernehmlassung vom 28. Oktober 1908 auf die Beschwerde und in der Duplik vom 2. Dezember 1908 führt der Regierungsrat im wesentlichen folgendes aus : Zu speziellen Bestimmungen über die Stimmabgabe der Gendarmen sei kein Grund vorhanden gewesen, weil die Polizisten, im Gegensatz gerade zu den Bürgern im Militärdienst, einen wirklichen Wohnsitz an ihrem Dienstort haben ; dieser Dienstwohnsitz ändere sich nur sehr selten, so dass von den 120 Mann des Polizeikorps 43 schon länger als 'ein Jahr, 40 schon

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länger als zwei Jahre an ihrem Dienstorte wohnen. Da bei eidgen. Abstimmungen kein Unterschied zwischen dem Ortsbürger-T dem Niederlassungs- und dem Aufenthaltswohnsitz gemacht werde, so komme es offenbar auf die für den zivilrechtlichen Wohnsitz entscheidende Absicht nicht an, und somit habe es ganz natürlich geschienen, die Gendarmen an ihrem Dienstorte stimmen zu lassen. Viele von ihnen haben die Einschreibung in die Stimmregister ihres Stationsortes geradezu verlangt, einzelne, denen die Eintragung von den Gemeindebehörden verweigert worden sei,, haben an die Regierung rekurriert und diesen sei die Einschreibung durch Entscheid gewährt worden. Übrigens stehe die Stimmabgabe der Gendarmen an ihrem Stationsort im Einklangmit der Praxis des Bundesrates, der in seinem Entscheid vom 8. November 1902 (Bundesblatt 1902, V, 461) anerkannt habe, dass Studenten in eidg. Angelegenheiten ihr Stimmrecht an ihrem Studienort ausüben können, weil sie ihren tatsächlichen Wohnsitz dort und nicht am Orte des Wohnsitzes ihrer Familie haben.

Dieselbe Erwägung spreche auch dafür, die Gendarmen an ihrem Dienstorte stimmen zu lassen.

Sollte es aber auch gemäss Art. 3 und 5 des Bundesgesetzes vorn 19. Heumonat 1872 nicht zulässig erscheinen, die Gendarmen an ihrem Dienstorte stimmen zu lassen, so hätten sie hierzu auf Grund ' von Art. 4 des genannten Gesetzes ermächtigt werden müssen, da sie sonst ihres Stimmrechtes verlustig gegangen wären. Die Beurlaubung der Gendarmen zur Stimmabgabe an ihrem zivilrechtlichen Domizil sei untunlich gewesen, weil dadurch bedeutende Ortschaften an einem Tag politischer Erregungvon Polizei entblösst worden wären. Hätte man aber die Gendarmen an ihrem Stationsorte ihre Stimme für den Wahlkreis ihres zivilrechtlichen Domizils abgeben lassen wollen, so wäre man genötigt gewesen, an jedem Stationsort zwei Wahlbureaux für die beiden Wahlkreise und ein drittes für die Abstimmung über den Wasserrechtsartikel zu bilden ; das wäre in kleinen Orten schon aus Mangel an tauglichen Personen unmöglich gewesen und hätte ausserdem dort, wo nur ein oder zwei Polizisten stationiert sind, zur Verletzung der geheimen Abstimmung geführt. Von der Stimmabgabe der Gendarmen in der Kaserne aber habe man absehen müssen, weil gerade gegenüber diesem Abstimmungsmodus früher der Vorwurf des Zwanges erhoben, worden sei.

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B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Der Bundesrat war nicht in der Lage, über die Beschwerde vom 23. Oktober 1908 vor den Wahlen vom 25. Oktober Beschluss zu fassen oder Verfügungen im Sinne des Begehrens der Eekurrenten zu treffen, da er die Vernehmlassung der Regierung einholen und namentlich abwarten musste, welchen Entscheid der Regierungsrat über die erst am 22. Oktober bei ihm eingereichte Beschwerde der Rekurrenten fällen werde. Inzwischen sind die Nationalratswahlen im Kanton Tessin validiert worden, und infolgedessen ist die Beschwerde, soweit sie diese Wahlen betrifft, gegenstandslos geworden. Dagegen ist sie für die Anlage der Stimmregister in eidgenössischen Angelegenheiten in der Zukunft noch von Bedeutung, und da die Rekurrenten sie mit Zuschrift vom 17. Januar 1909 ausdrücklich aufrecht erhalten, so muss ·der Bundesrat einen Entscheid fällen.

II.

Wie der Regierungsrat zugegeben hat, sind eine Anzahl Gendarmen, die im 41. Wahlkreis ihre Familie haben und im 42. Wahlkreis stationiert sind, entweder von den Gemeinderäten ihres Dienstortes ohne weiteres, oder auf Anordnung des Regierungsrates hin, in die Wählerlisten des 42. Wahlkreises aufgenommen worden. Die Rekurrenten behaupten nun, dieses Vorgehen widerspreche dem Bundesrecht.

Nach Theorie und Praxis steht fest, dass der Schweizerbürger in eidgenössischen Angelegenheiten nur an e i n e m Orte stimmberechtigt sein soll. Dieser Ort wird bestimmt durch den Wohnsitz des Stimmberechtigten, und der politische Wohnsitz fällt zusammen mit dem zivilrechtlichen Wohnsitz (vgl. Salis, Bundesrecht, m, Nr. 1147, 1193, 1194, 1220, III, 4, 1221; Bundesblaft 1889, HI, 381 ff.). Hierfür spricht auch der Wortlaut des Art. 43, Absatz 2, der Bundesverfassung, welcher, genauer als Art. 3 des Gesetzes vom Jahr 1872, den Wohnsitz als den Ort bezeichnet, wo der Schweizerbürger seine politischen

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Rechte auszuüben hat. Auch die Polizisten sind somit an dem Orte als stimmberechtigt zu betrachten, wo sie ihre Familie haben, wohin sie, nach Verrichtung ihres Dienstes am Stationsort, immer wieder als an den Mittelpunkt ihrer bürgerlichen Existenz zurückkehren. Der Polizist, dessen Wohnsitz im 41. Wahlkreis liegt, ist einzig im 41. Wahlkreis stimmberechtigt. Seine Eintragung in die Stimmregister des 42. Wahlkreises steht also im Widerspruch mit dem Bundesrecht. Es ist auch irrig, anzunehmen, wie der Regierungsrat es zu tun scheint, Art. 3, Absatz l, des Bundesgesetzes vom 19. Heumonat 1872 gebe dem Schweizerbürger ·die Wahl, sein Stimmrecht an einem der drei dort genannten Orte auszuüben. Das ist keineswegs der Sinn des Bundesgesetzes ; das Stimmrecht soll nur am Wohnsitz ausgeübt werden, welchen der Stimmberechtigte als Ortsbürger, Niedergelassener oder Aufenthalter hat. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber die Frage, wo der Bürger zu stimmen habe, nach einem einheitlichen und der Willkür sowohl des Bürgers selbst, als der Behörden ·entzogenen Merkmal entscheiden.

Wenn auch im Entscheide vom 8. November 1902 in Sachen Rossi und Konsorten (Bundesbl. 1902, V, 461 ff.) zur Bestimmung des politischen Domizils der Studenten ausnahmsweise einmal auf das tatsächliche Wohnen abgestellt worden ist, so fallt ·doch dieser vereinzelte Entscheid gegenüber der übrigen Praxis, die vom rechtlichen Begriff des Wohnsitzes ausgeht, nicht ins Gewicht. In Bestätigung dieser Praxis ist daher im vorliegenden Fall anzunehmen, dass die Polizeisoldaten, die ihre Familie nicht an ihrem Dienstort haben, auch nicht dort, sondern am Wohnorte ihrer Familie domiziliert sind und hier auch ihre politischen Hechte auszuüben haben.

in.

Auf welche Weise den Gendarmen, sofern sie ihres Dienstes -wegen nicht nach ihrem Wohnsitz beurlaubt werden können, die Stimmabgabe zu ermöglichen sei, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls dürfen sie ihre Stimme nur für denjenigen Wahlkreis abgeben, in welchem sie domiziliert sind. Sollte ihnen aber aus irgendwelchen zwingenden Gründen die Stimmabgabe für den Wahlkreis ihres Wohnsitzes nicht ermöglicht werden können, so dürfen sie deshalb nicht in die Stimmregister eines anderen Wahlkreises aufgenommen und zur Stimmabgabe für diesen zugelassen werden.

Bundesblatt. 61. Jahrg. Bd. VI.

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Ü e mg e mäs s w i r d er k a n n t : Die Besehwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und die Regierung des Kantons Tessin eingeladen, dafür besorgt zu sein, dass inskünftig bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen die Polizeisoldaten ihr Stimmrecht gemäss den eidgenössischen Vorschriften ausüben können.

B e r n , den 6.März 1909.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der I. Vizekanzler: Schatzmann.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs des Regierungsrates des Kantons Tessin gegen den Bundesratsbeschluss vom 6. März 1909 in Sachen Pagnamenta und Konsorten betreffend Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten.

(Vom 6...

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1909

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50

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15.12.1909

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469-482

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