14.092 Botschaft zur Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» vom 28. November 2014

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die eidgenössische Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

28. November 2014

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Didier Burkhalter Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2014-0778

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Übersicht Der Bundesrat spricht sich für die Beibehaltung der heute geltenden Regelungen zu einer verantwortungsbewussten Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen aus: Die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung liegt bei den Eltern, die Schule unterstützt die Eltern im Rahmen des Bildungsauftrags mit einem alters- und stufengerechten Sexualkundeunterricht. Zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexueller Gewalt, sexuell übertragbaren Infektionen und unerwünschten Schwangerschaften ist der sexualkundliche Unterricht sehr wichtig. Er sollte daher nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen.

Inhalt der Initiative Die Volksinitiative legt durch eine Erweiterung des Schutzartikels 11 der Bundesverfassung (BV), der sich im Abschnitt über die Grundrechte befindet, fest, dass Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch ohne Sexualkunde ab Kindergarten, dass freiwilliger Sexualkundeunterricht ab dem neunten Altersjahr und obligatorischer Unterricht zu Themen der menschlichen Fortpflanzung und Entwicklung ab dem vollendeten zwölften Altersjahr erteilt werden dürfen. Die Teilnahme an weitergehendem Sexualkundeunterricht soll freiwillig sein. Sexualerziehung soll weiterhin in der Verantwortung der Eltern bleiben. Die Initiative bewirkt das generelle Verbot eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts bis zur Volljährigkeit.

Vorzüge und Mängel der Initiative Die Volksinitiative richtet sich gegen einen obligatorischen Sexualkundeunterricht ab dem Kindergarten. Auslöser der Initiative waren irreführende Medienberichte über eine mögliche Einführung eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts in Kindergärten und Primarschulen und der damit in Zusammenhang gebrachte «SexKoffer» an Basler Schulen.

Der Bundesrat nimmt grundsätzliche Sorgen von Eltern um ihre Kinder und die Angst vor einer nicht altersadäquaten Sexualerziehung ernst. Allerdings streben weder die Bildungsbehörden noch die Schulen den Sexualkundeunterricht im Kindergarten oder eine «Sexualisierung» von Kindergarten und Primarschule an. Der Bundesrat spricht sich daher uneingeschränkt für die Beibehaltung einer der heutigen Praxis entsprechenden altersadäquaten Unterstützung der elterlichen Sexualerziehung durch die Schule aus. Der Unterricht zur Prävention von sexuellen Missbräuchen ab Kindergarten und der sexualkundliche Unterricht ab
Ende der Primarschulzeit bedingen unbestrittenermassen den Einsatz geeigneter Unterrichtsmaterialien und die Pflege einer guten Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus auch im Themenbereich der Sexualität.

Das Anliegen der Volksinitiative steht in einem Spannungsfeld zwischen elterlichem Erziehungsrecht, kantonalem Bildungsauftrag und dem Kindeswohl. Der Komplexität dieses Zusammenwirkens wird die Volksinitiative nicht gerecht. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass durch die Umsetzung der Initiative der Schutz, die

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gesunde Entwicklung sowie die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen beschränkt würden.

In einigen Belangen sind die Forderungen vereinbar mit bestehenden Regelungen, in anderen erschweren oder verunmöglichen sie bewährte Formen des Sexualkundeunterrichts oder des Unterrichts zur Prävention von sexuellen Missbräuchen. So liegt die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung bereits heute bei den Eltern; die Schule ist im Rahmen des sexualkundlichen Unterrichts mit der Vermittlung von Informationen zu Fakten und Zusammenhängen im Bereich der Sexualität unterstützend und ergänzend tätig. Diese Wissensvermittlung gehört zum Bildungsauftrag der Kantone und ist Teil des ausreichenden Grundschulunterrichts und mit Blick auf die Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen ebenso notwendig wie eine wirksame Präventionsarbeit ab Kindergarten zur Vorbeugung von Kindesmissbrauch.

Die Bestimmungen der Volksinitiative verunmöglichen es, wichtige sexualkundliche Inhalte im obligatorischen Unterricht zu vermitteln, beispielsweise zur Prävention von Jugendschwangerschaften oder von Krankheiten, die sexuell übertragen werden. Sie erschwert oder verunmöglicht sinnvolle und bewährte Formen des Sexualkundeunterrichts wie die Erteilung von Sexualkundeunterricht durch externe Fachpersonen (Sexualpädagoge/Sexualpädagogin, Arzt/Ärztin, Hebammen usw.). Sie greift unverhältnismässig in die Schulorganisation ein, indem sie festlegt, welche Lehrpersonen sexualkundlichen Unterricht zu erteilen haben, und verhindert somit zum Beispiel den geschlechtergetrennten Unterricht (junge Frauen durch eine Lehrerin, junge Männer durch einen Lehrer).

Schlussfolgerungen Der Bundesrat sieht keine Veranlassung für die von der Volksinitiative geforderte Ergänzung des Grundrechts. Die bestehende Grundrechtsbestimmung (Art. 11 BV) garantiert bereits den Schutz der Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen und die Förderung ihrer Entwicklung. Diesen Rechten der Kinder und Jugendlichen sind die Kantone verpflichtet, sie tragen ihnen im Rahmen der Lehrpläne schon heute Rechnung.

Dass die Sexualerziehung in erster Linie in der Verantwortung der Eltern liegt, war und ist unbestritten. Darüber hinaus ist eine Vermittlung von altersgerechtem Wissen und altersadäquaten Kompetenzen im Rahmen des Präventionsunterrichts ab dem Kindergarten
unabdingbar für eine wirksame Prävention von sexuellen Übergriffen, von sexuell übertragbaren Krankheiten und von ungewollter Schwangerschaft. Alle Kinder und Jugendlichen sollen unabhängig von der Situation im Elternhaus ihrem Alter entsprechendes Wissen vermittelt bekommen. Ein generelles Verbot eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts ist nicht im Interesse des Kindesschutzes.

Der Bundesrat ist überzeugt, dass die Volksschule die sensiblen Inhalte mit der erforderlichen Sorgfalt und Professionalität vermittelt, die Privatsphäre der Kinder sowie die Elterninteressen respektiert und die Zusammenarbeit mit den Eltern beim Thema Sexualität ernst nimmt. In seltenen Fällen von Missständen verfügt sie über geeignete Mittel, die nötigen Massnahmen zu ergreifen. Es besteht deshalb aus Sicht

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des Bundesrats kein Bedarf nach einer Verfassungsbestimmung zum sexualkundlichen Unterricht.

Antrag des Bundesrates Im übergeordneten Interesse des Wohls des Kindes beantragt der Bundesrat mit dieser Botschaft den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen.

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Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Volksinitiative

1.1

Wortlaut der Volksinitiative

Die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 11 Abs. 3­7 3

Sexualerziehung ist Sache der Eltern.

Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch kann ab dem Kindergarten erteilt werden. Dieser Unterricht beinhaltet keine Sexualkunde.

4

Freiwilliger Sexualkundeunterricht kann von Klassenlehrpersonen an Kinder und Jugendliche ab dem vollendeten neunten Altersjahr erteilt werden.

5

Obligatorischer Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung kann von Biologielehrpersonen an Kinder und Jugendliche ab dem vollendeten zwölften Altersjahr erteilt werden.

6

Kinder und Jugendliche können nicht gezwungen werden, weitergehendem Sexualkundeunterricht zu folgen.

7

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» wurde am 5. Juni 2012 von der Bundeskanzlei vorgeprüft2 und am 17. Dezember 2013 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 30. Januar 2014 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 110 040 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.3 Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20024 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 17. Dezember 2014 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 17. Juni 2016 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen.

1 2 3 4

SR 101 BBl 2012 5837 BBl 2014 1503 SR 171.10

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1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung5 (BV): a)

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b)

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c)

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

2

Ausgangslage der Volksinitiative

2.1

Begriffe

Zur besseren Verständlichkeit legt der Bundesrat im Folgenden zunächst dar, wie er mit Blick auf die heutigen Gegebenheiten zentrale Begriffe dieser Botschaft versteht: ­

Sexualerziehung bezeichnet den Bereich der Erziehung, der sich mit der Entwicklung von Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werthaltungen im Zusammenhang mit Sexualität befasst und emotionale, physische und psychische Entwicklungen und Erleben von Sexualität beinhaltet. Die primäre Verantwortung für Sexualerziehung liegt bei den Eltern. Aber auch andere Bezugspersonen und Lebensbereiche prägen die Sexualerziehung. So stellen sich beispielsweise in Sportvereinen und in weiteren Institutionen und Organisationen, die ein Freizeit- oder Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche anbieten, ebenfalls Fragen der Sexualerziehung (Körperkontakt, Regelungen in Lagern, Schutz vor Übergriffen etc). Zudem sind Kinder und Jugendliche durch die neuen Medien heute früher als ältere Generationen mit sexuellen Bildern und Texten konfrontiert.

­

Sexualkundlicher Unterricht oder Sexualkundeunterricht gehört zum Bildungsauftrag der Schule und findet entsprechend den Bildungszielen im massgebenden Lehrplan in einem formalen Rahmen während des Unterrichts statt. Er besteht vorwiegend aus der schulischen Vermittlung von Informationen zu Fakten und Zusammenhängen (biologisch-medizinische wie auch soziale und psychologische) zu den Themen der menschlichen Sexualität. Er ergänzt die Sexualerziehung im Elternhaus. Dabei werden sexualkundliche Themen auch in einem breiteren lebenskundlichen Kontext in Bezug auf Werte und Normen im Zusammenleben der Menschen allgemein und speziell in Bezug auf das Verhältnis der Geschlechter behandelt.

Dieser Unterricht hat wertneutral zu erfolgen.

­

Präventionsunterricht bezeichnet Unterrichtseinheiten meist im schulischen Rahmen. Der Präventionsunterricht will unerwünschte gesundheitsschädli-

5

718

SR 101

che Entwicklungen vermeiden. Im Zusammenhang mit Sexualität vermittelt er Sensibilisierung und Kompetenzen zum Schutz vor sexuellen Übergriffen, vor sexuell übertragbaren Infektionen, unerwünschten Schwangerschaften und vor Stigmatisierungen und Diskriminierung.

2.2

Heutige Situation

2.2.1

Kompetenzverteilung

Die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung der Kinder und Jugendlichen liegt in der Schweiz bei den Eltern. Basierend auf dem allgemeinen Bildungsauftrag der Schule und aus Gründen der Chancengleichheit ergänzen ein stufengerechter sexualkundlicher Unterricht gegen Ende der Primarschule und Präventionsunterricht ab dem Kindergarten die elterliche Sexualerziehung. Die Kantone tragen im Rahmen ihrer verfassungsmässig verankerten Schulhoheit (Art. 62 BV) hierfür die Verantwortung. Der Bund hat im obligatorischen Schulbereich keine Regelungskompetenzen. Einzig im Bereich der Prävention übernimmt er indirekt eine unterstützende Rolle, indem er auf nationale Präventionsziele ausgerichtete Grundlagen und Kampagnen mitfinanziert oder lanciert, die er den Schulen zur Verfügung stellen, aber nicht vorschreiben kann.

2.2.2

Heutige Praxis an den Schweizer Schulen

In den Schweizer Schulen wird seit Jahren sexualkundlicher Unterricht an den Primarschulen und den weiterführenden Schulen erteilt. Basierend auf den massgebenden kantonalen und regionalen Lehrplänen orientiert dieser Unterricht sich in allen Kantonen am Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen. Er beginnt meist gegen Ende der Primarschulzeit, wird auf der Sekundarstufe I fortgeführt und gehört seit Langem zum Auftrag der Schule als Teil des obligatorischen Unterrichts.

An dieser Praxis ändern auch der bereits in Kraft getretene Plan d'études romand (PER)6, der geplante Deutschschweizer Lehrplan 21 (LP 21)7 und der revidierte Lehrplan des Tessins8 nichts.

Hinsichtlich der Lehrplaninhalte und der Unterrichtsorganisation des sexualkundlichen Unterrichts bestehen zwischen den Sprachregionen gewisse Unterschiede.

­

6 7 8

Im französischsprachigen Teil der Schweiz werden sowohl der Unterricht zur Prävention von sexuellem Missbrauch ab Kindergarten wie auch der sexualkundliche Unterricht ab der zweiten Hälfte der Primarschule im Rahmen von Blockkursen von ausserschulischen Fachpersonen (éducatrices/éducateurs, formatrices/formateurs en santé sexuelle et reproductive, ARTANES) durchgeführt. Darüber hinaus werden Kenntnisse über die menschliche Fortpflanzung im schulischen Biologieunterricht vermittelt.

Diese Form des Sexualkundeunterrichts ist über einen Zeitraum von mehr Im Internet abrufbar unter www.plandetudes.ch Der Lehrplan 21 ist seit Herbst 2010 in Ausarbeitung und wird im März 2015 den Kantonen zur Einführung übergeben. www.lehrplan.ch Zum «nuovo piano di studio della scuola dell'obligo» siehe www4.ti.ch > DECS > HarmoS > Gruppi di Lavoro > Revisione dei piani di studio.

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als zwanzig Jahren gewachsen. Die Zusammenarbeit zwischen den ausserschulischen Fachpersonen und den Lehrpersonen ist klar geregelt und geprägt von gegenseitigem Respekt. Die Eltern werden systematisch und regelmässig informiert, sie können ihre Kinder von den Kursen, die von ausserschulischen Fachpersonen durchgeführt werden, dispensieren lassen, nicht aber vom Biologieunterricht. Im heute gültigen regionalen Lehrplan PER wird dem entsprechend Rechnung getragen. Einen wichtigen Hinweis, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern funktioniert, liefert das Positionspapier der organisierten Elternvereinigung der Romandie und des Tessins (Fédération des Associations des Parents d'Elèves de la Suisse Romande et du Tessin) zum Sexualkundeunterricht in der obligatorischen Schule.9 Sie spricht sich klar für die gegenwärtige Praxis eines altersgerechten sexualkundlichen Unterrichts durch schulexterne Fachpersonen aus und verweist auf die zentrale Bedeutung des Präventionsauftrags, den die Schulen wahrnehmen.

­

Im deutschsprachigen Teil der Schweiz verfügt gegenwärtig noch jeder Kanton über einen eigenen Lehrplan, der sich auf das jeweilige kantonale Schulgesetz stützt. Alle kantonalen Lehrpläne enthalten mehr oder weniger weitreichende Vorgaben für einen sexualkundlichen Unterricht. Dieser ist in der Deutschschweiz kein eigenes Fach, vielmehr sind sexualkundliche Themen Teil von übergeordneten Fachbereichen (wie z. B. Natur, Mensch und Gesellschaft). Dort werden sie in einem biologischen und in einem breiteren lebenskundlichen Kontext behandelt. Dieser Unterricht wird von den für das konkrete Fach zuständigen Lehrpersonen erteilt, da er Bestandteil der entsprechenden Fachbereiche ist. Teilweise werden auch externe Fachpersonen beigezogen. Dispensationsgesuche werden kantonal unterschiedlich gehandhabt. Probleme mit Eltern sind in Bezug auf den sexualkundlichen Unterricht sehr selten und können in aller Regel im Rahmen der direkten Zusammenarbeit zwischen Lehrperson und Eltern gelöst werden. Gerade deshalb weisen die Leitfäden und Grundlagen zum sexualkundlichen Unterricht auf die zentrale Bedeutung einer guten Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus hin.

Auch im Rahmen des für die gesamte Deutschschweiz geplanten Lehrplans 21 wird sexualkundlicher Unterricht kein eigenes Fach sein. Im Lehrplan 21 ist im ersten Zyklus10 der Aufbau von Kompetenzen, die auf die Prävention ausgerichtet sind, nicht mit sexualkundlichem Inhalt im engeren Sinne verbunden. Die entsprechenden Aussagen finden sich im Kompetenzbereich «Identität, Körper, Gesundheit ­ sich kennen und sich Sorge tragen». In Übereinstimmung mit dem Lehrplan der französischsprachigen Schweiz PER sollen die Schülerinnen und Schüler am Ende des ersten Zyklus «unangenehme und ungewollte Handlungen an ihrem Körper benennen und sich dagegen abgrenzen können (z.B. Nein-Sagen, Hilfe holen» (NMG 1.2.c).

Das Konsultationsergebnis11 lässt darauf schliessen, dass mit der Umsetzung

9 10 11

720

«Position de la FAPERT ­ Enseignement de l'éducation sexuelle à l'école obligatoire», 17.05.2014; www.fapert.ch > Publications > Prises de position.

Der 1. Zyklus umfasst den Kindergarten bzw. Eingangsstufe sowie die 1. und 2. Klasse, also Kinder im Alter von 4 bis 8 Jahren.

Auswertung der Konsultation zum Lehrplan 21 vom 27.3.2014 im Internet unter www.lehrplan21 > Auswertungsbericht.

des Themas Sexualkunde im Lehrplan 21 für die deutschsprachigen Kantone ein breit akzeptierter Weg gefunden werden konnte, da sich die grosse Mehrheit nicht zu diesem Thema geäussert hat.

­

Im Kanton Tessin wird seit den 1970er-Jahren ein gemischter Ansatz praktiziert: Die Lehrpersonen erteilen den sexualkundlichen Unterricht in Zusammenarbeit mit externen Spezialistinnen und Spezialisten. Er findet im Rahmen interdisziplinärer Projekte, der täglichen Bildungsaktivitäten oder in Reaktion auf Fragen von Schülerseite statt. Die Schule hat die Funktion einer Ergänzung zur Familie und muss sich um die Zusammenarbeit kümmern. Über sexualkundliche Projekte werden die Eltern systematisch informiert; Dispensationen sind nicht vorgesehen. Zur Prävention von Missbrauch werden den Schulen Programme angeboten, die durch schulexterne Akteure organisiert sind. Der sexualkundliche Unterricht ist im Tessin keinem spezifischen Fach und auch keinem übergeordneten Fachbereich zugeordnet, ausser in der neunten Klasse (HarmoS) den Naturwissenschaften.

Die Sexualkunde liegt in der Verantwortung aller Lehrpersonen.

2.2.3

Nationale Präventionsziele

Im Rahmen der Prävention von sexueller Gewalt werden den Schulen ab Kindergarten Sensibilisierungskampagnen und -aktionen angeboten, die in den Sprachregionen ähnlich genutzt und umgesetzt werden. Schulische Programme zur Prävention von sexueller Gewalt an Kindern haben zum Ziel, das Wissen und die Selbstschutzfähigkeiten zu erhöhen, damit die Kinder potenzielle Gefährdungssituationen meiden und sich in diesen besser schützen können. Die Schulen stützen sich dabei auf ihre kantonalen oder regionalen Lehrpläne.

Für die psychische Verarbeitung von Missbräuchen ist es zentral, dass sich die Betroffenen nicht selbst die Schuld für das Geschehene zuweisen. Im Rahmen des Präventionsunterrichts soll daher allen Kindern auch die Botschaft vermittelt werden, dass sie niemals schuld sind, wenn ihre Grenzen verletzt werden.

Zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und vor unerwünschten Schwangerschaften setzt sich die Volksschule das Ziel, dass alle Jugendlichen zu Beginn ihrer Pubertät über die wichtigsten Themen der Sexualität Bescheid wissen.

Dieses Ziel lässt sich nur flächendeckend erreichen, wenn der sexualkundliche Unterricht Teil des regulären Schulunterrichts ist.

2.3

Zur Entstehung der Volksinitiative

2.3.1

Urheber und Auslöser

Zu den Urhebern der Initiative zählen vorwiegend Basler Eltern, die sich in einem «Elternkomitee» zusammengeschlossen haben, sowie aktive und ehemalige Parlamentarierinnen und Parlamentarier hauptsächlich der Parteien SVP, CVP und EVP.

Eingereicht wurde die Volksinitiative von einem überparteilichen Komitee.12 12

Überparteiliches Komitee «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule», Postfach 90, 4011 Basel; http://schutzinitiative.ch

721

Auslöser der Initiative waren im Frühjahr 2011 verschiedene Medienberichte, gemäss denen der Kanton Basel-Stadt ab 2011 in Kindergärten und Primarschulen obligatorischen Sexualkundeunterricht einführen wolle. Diese Annahme war falsch und wurde vom Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt offiziell dementiert.13 Nationale Bekanntheit erlangte der sogenannte «Sex-Koffer» an Basler Schulen, der von besorgten Eltern kritisiert wurde.

Die Koffer enthalten Anschauungsmaterial, Bücher und andere Medien und wurden «Sexboxen» genannt. Inzwischen kritisierte das Basler Appellationsgericht zwar, dass der Begriff «Sexbox» nicht kindgerecht sei, wies aber eine Elternbeschwerde ab. Die vom Kanton Basel-Stadt verwendete Bezeichnung lautet «Unterrichtsmaterialien für die Sexualerziehung». Im Kanton Basel-Stadt wird im Kindergarten und in der Primarschule kein systematischer Sexualunterricht erteilt. Die Thematik «Sexualität» wird im Unterricht reaktiv, nur bei spontanen Fragen und Handlungen von Kindern, aufgegriffen; dies im Bewusstsein, dass Sexualerziehung auf dieser Altersstufe primär Aufgabe der Eltern ist. Ein solcher reaktiver Unterricht soll laut Gerichtsbeschluss weiterhin möglich sein. Insbesondere der Vorwurf, es würden heikle Inhalte vermittelt, konnte aufgrund der Rekurse entschärft werden.

Das Eltern- und Initiativkomitee bezieht sich bei seiner Kritik vor allem auf die Materialien für Kindergarten und Primarschule, bestehend aus Büchern, einem Körperpuzzle aus Holz und zwei Puppen sowie Unterrichtsideen für die Lehrperson.

Dabei handelt es sich lediglich um ein Element des Gesamtkonzepts des Kantons Basel-Stadt. Basel-Stadt hat umfassende Grundlagen für die Einführung sexualkundlichen Unterrichts erarbeitet und darin die Rollen der diversen Beteiligten beschrieben. Von einem obligatorischen Fach Sexualkunde ab Kindergarten ist darin nicht die Rede.14 In anderen Kantonen werden vergleichbare und teilweise die gleichen Materialien eingesetzt. Die in Basel ausgelöste Debatte blieb trotzdem auf die Angebote in Basel beschränkt.

Im vom Bundesrat am 24. November 2010 gutgeheissenen Nationalen Programm HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten 2011­2017 des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)15 steht: «Die Sexualerziehung beginnt im Elternhaus, wird in der Schule ergänzt und bildet die Basis
für die Förderung der sexuellen Gesundheit».16 Dem BAG wird von den Initiantinnen und Initianten vorgeworfen, dass es im Rahmen dieses Programms landesweit die Integration eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts ab dem Kindergarten in die Lehrpläne der Volksschule fordere.

Im Zusammenhang damit wird vom Initiativkomitee zudem das heute nicht mehr existierende Kompetenzzentrum für Sexualpädagogik und Schule der vormaligen Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ) und insbesondere ein vom Kompetenzzentrum bereits 2008 publiziertes Grundlagenpapier kritisiert. Das Kompetenzzentrum erhielt im Sinne einer Anschubfinanzierung einen Bundesbeitrag von jährlich 300 000 Franken. Das finanzielle Bundesengagement war angesichts der

13

14 15 16

722

Stellungnahme sowie Fragen und Antworten des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt siehe: www.ed-bs.ch > Bildung > Volksschulen > Sexualerziehung an den Schulen Vgl. Leitfaden unter www.medienmitteilungen.bs.ch Siehe www.bag.admin.ch/aids > Interessierte Öffentlichkeit > Nationale Bekämpfungsstrategie.

Siehe Medienmitteilung www.bag.admin.ch > Dokumentation > Archiv > 2010 > 01.12.2010.

kantonalen Zuständigkeit im Schulwesen bis Mitte 2013 befristet.17 Die Hauptaufgabe des Kompetenzzentrums bestand darin, fachlich fundierte Voraussetzungen für die Umsetzung einer stufengerechten Sexualerziehung an Schulen zu schaffen.18 Das Grundlagenpapier 2008 des Kompetenzzentrums fasst den als gültig anerkannten Forschungsstand zusammen, wird von Fachleuten als nützlich beurteilt und hat empfehlenden Charakter. Über die Nutzung der erarbeiteten Grundlagen entscheiden die Kantone.

2.3.2

Zwei Anläufe für die Volksinitiative

Die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Schule» wurde bereits zum zweiten Mal eingereicht. Kurz nach der erstmaligen Lancierung der Unterschriftensammlung wurde bekannt, dass ein Mitglied des Initiativkomitees aufgrund sexueller Übergriffe an Kindern verurteilt worden war. Dieses und ein weiteres Mitglied zogen sich daraufhin aus dem Initiativkomitee zurück. Da weder Initiativtext noch Zusammenstellung des Initiativkomitees verändert werden dürfen, reichten die Initiantinnen und Initianten die Initiative mit nur einer gültigen Unterschrift ein. Dies hatte zur Folge, dass die Initiative gescheitert war und mit einem veränderten Initiativkomitee neu lanciert werden konnte.

3

Ziele und Inhalt der Volksinitiative

3.1

Ziele der Volksinitiative

Die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» hat zum Ziel, die Sexualerziehung in die alleinige Verantwortung der Eltern zu stellen. Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch soll ab dem Kindergarten erteilt werden können, sexualkundliche Inhalte sind aber verboten. Sexualkundeunterricht sei nur freiwillig und frühestens ab dem neunten Altersjahr möglich.

Obligatorischer Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung wird durch die Initiative erlaubt, sofern er ausschliesslich von Biologielehrpersonen und ab dem vollendeten zwölften Altersjahr erteilt wird. Die Teilnahme an weitergehendem Sexualkundeunterricht muss freiwillig sein.

3.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Die Volksinitiative verlangt in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs die Ergänzung von Artikel 11 BV um die neuen Absätze 3­7 (vgl. Ziff. 1.1), wonach der Sexualkundeunterricht im Kindergarten und in der Primarschule eingeschränkt werden soll.

Der bestehende Artikel 11 BV ist den Grundrechten zugeordnet und regelt auf einer allgemeinen Ebene den Schutz, die Förderung und die Rechte der Kinder und 17 18

Das Kompetenzzentrum Sexualpädagogik und Schule an der Pädagogischen Hochschule Luzern (PHZ) wurde per 30. Juni 2013 mangels Weiterfinanzierung aufgelöst.

Hierfür wurden bei Bedarf die Prozesse in den Schulen unterstützt, beispielsweise durch ein Beratungsangebot, des weiteren Lehrmittel erarbeitet und Inhalte für die Weiterbildung der Lehrpersonen zur Verfügung gestellt.

723

Jugendlichen. Im Rahmen dieses Schutzartikels würde die Volksinitiative die Kompetenz der Kantone in Bezug auf die Regelung sexualkundlichen Unterrichts einschränken.

3.3

Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

3.3.1

Grundsätze zur Auslegung von Verfassungsbestimmungen

3.3.2

Methodik

Grundsätzlich ist bei der Auslegung der Verfassung ­ nicht anders als bei der Auslegung von Gesetzes- und Verordnungsnormen ­ vom Wortlaut einer Norm auszugehen (grammatikalisches Auslegungselement). Ist der Text unklar oder lässt er verschiedene Deutungen zu, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden. Dabei sind weitere Auslegungselemente zu berücksichtigen, wie namentlich die Entstehungsgeschichte der Norm (historisches Auslegungselement) und ihr Zweck (teleologisches Auslegungselement). Wichtig ist zudem die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt (systematisches Auslegungselement).

Bei der Gesetzes- wie bei der Verfassungsauslegung findet nicht ein bestimmtes Auslegungselement vorrangig oder sogar ausschliesslich Anwendung. Vielmehr werden die Auslegungselemente nebeneinander berücksichtigt. Es muss im Einzelfall abgewogen werden, welche Methode (oder Methodenkombination) geeignet ist, den Normsinn der auszulegenden Verfassungsbestimmung korrekt wiederzugeben (sog. Methodenpluralismus).19 Der Wille der Initiantinnen und Initianten einer neuen Verfassungsnorm ist nicht ausschlaggebend. Er kann aber etwa im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden.20 Solange der Verfassungsgeber nicht selber einzelnen Verfassungsbestimmungen einen ausdrücklichen Vorrang einräumt,21 gilt zudem der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Verfassungsnormen.22 Deshalb dürfen die für die Auslegung des Gesetzesrechts entwickelten Prinzipien, wonach das spätere Recht dem früheren und die speziellere Norm der allgemeinen vorgehe, bei der Verfassungsinterpretation nicht schematisch angewendet werden.23 Zusätzlich zu den allgemeinen Auslegungselementen ist im vorliegenden Zusammenhang die harmonisierende Auslegung (oder die Herstellung praktischer Konkordanz) zu berücksichtigen24: Danach ist der Gesetzgeber gehalten, alle von der Sache 19 20 21 22

23 24

724

Häfelin, Ulrich / Haller, Walter / Keller, Helen, 2012, N 130.

Bericht des Bundesrats vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht (BBI 2010 2263), Ziff. 8.7.1.2.

Vgl. hierzu Biaggini, Giovanni: Über die Auslegung der Bundesverfassung und ihr Verhältnis zur EMRK, ZBI 6/2013, 5. 322 f.

Tschannen, Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 3. Auflage, Bern Stämpfli 2011, § 4 N.13, § 9 N. 5; Müller, Jörg Paul, Wie wird sich das Bundesgericht mit dem Minarettverbot auseinandersetzen? in: Jusletter 01.03 2010 N.7; vgl. auch BGE 105 Ia 330 E. 3c; BGE 139 116 E.4.2.1.

Tschannen 2011, § 4 N.16.

Rhinow, René / Schefer, Markus, Schweizerisches Verfassungsrecht. 2. Auflage. Basel, Helbing/Lichtenhahn 2009, N. 524, 529; Hangartner, lvo, Unklarheiten bei Volksinitiativen. Bemerkungen aus Anlass des neuen Art. 121 Abs. 3­6 BV (Ausschaffungsinitiative), AJP 2011, S. 473.

berührten Verfassungsanliegen mitzubedenken. Verfassungsnormen sind so zu interpretieren, dass Widersprüche innerhalb der Verfassung nach Möglichkeit vermieden werden.25

3.3.3

Erweiterung von Artikel 11 BV (Rechtliche Grundlagen)

Der bestehende Artikel 11 BV trägt der völkerrechtlichen Bestimmung zum Schutz des Wohls des Kindes ­ insbesondere der Kinderrechtskonvention26 ­ auf Verfassungsebene Rechnung. Er besteht aus zwei Absätzen: Absatz 1 besagt, dass Kinder und Jugendliche den Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben. Durch Absatz 2 wird ihnen die Ausübung ihrer Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit zuerkannt. Die Volksinitiative beabsichtigt nun, diesen den Grundrechten zugeschriebenen Artikel durch fünf zusätzliche Absätze (siehe Ziff. 1.1) zu ergänzen.

Die neuen Absätze 3­7 thematisieren materiell die Ausgestaltung der Unterrichtsinhalte vor allem im Kindergarten und in der obligatorischen Schule. Die von der Volksinitiative angestrebte Erweiterung von Artikel 11 BV träte neben die in Artikel 62 BV verankerte Schulhoheit der Kantone. Mit der angestrebten Änderung ist eine Abwägung zwischen den beiden Verfassungsnormen vorzunehmen.

Die Regelung der obligatorischen Schule liegt ebenso wie der Kindergarten vollumfänglich in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden: Gemäss Artikel 62 Absatz 1 BV sind die Kantone für das Schulwesen zuständig und haben für einen ausreichenden Grundschulunterricht aller Kinder und Jugendlichen mit Aufenthalt in der Schweiz zu sorgen. Die Bundesverfassung verpflichtet ausserdem Bund und Kantone, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben den besonderen Förderungs- und Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen (Art. 67 Abs. 1 BV).

Die Kantone verfügen bei der Ausgestaltung des Grundschulunterrichts im Rahmen der Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs «ausreichender Grundschulunterricht» über einen weiten Spielraum. Ihnen obliegt es, Ziele, Methoden, Struktur und Inhalte des Unterrichts festzulegen und auf die wechselnden wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse abzustimmen. Dabei haben sie sich an den programmatischen Vorgaben in den einschlägigen Normen des Völkerrechts und der Bundesverfassung zu orientieren. Die vorgeschlagenen Absätze sind als Konkretisierungen der verfassungsmässigen Schulhoheit der Kantone und somit ebenfalls als vorrangig gegenüber dem allgemeinen Grundsatz anzusehen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Artikel 19 BV hat die Grundschule den einzelnen Menschen
angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten. Der verfassungsrechtliche Anspruch wird verletzt, wenn die Ausbildung in einem Masse eingeschränkt wird, dass die Chancengleichheit (Art. 2 Abs. 3 BV) nicht mehr gewahrt wird, oder wenn Lehrinhalte fehlen, die als unverzichtbar für die Verwirklichung der geltenden Ziel- und Wertnormen des Bildungsraumes anzusehen sind.27 25 26 27

Zu den Grenzen der harmonisierenden Auslegung vgl. Biaggini 2013, 5. 321.

Übereinkommen vom 20. Nov. 1989 über die Rechte des Kindes, SR 0.107.

Vgl. u.a. Ehrenzeller, B. / Schott, M. (2008). St. Galler Kommentar zu Art. 62 BV.

725

3.3.4

Die neuen Bestimmungen der Volksinitiative

Wie oben erläutert, erwächst dem Bund aus der Volksinitiative keine unmittelbare Regelungskompetenz für den sexualkundlichen Unterricht in der obligatorischen Schule. Die konkrete Umsetzung liegt in der Verantwortung der Kantone. Der Bund wird dazu keine Vorgaben machen. Bei der folgenden Auslegung der einzelnen Bestimmungen der Volksinitiative geht es im Wesentlichen darum, mögliche Widersprüche und Umsetzungsprobleme zu identifizieren.

Art. 11 Abs. 3 3

Sexualerziehung ist Sache der Eltern.

Artikel 11 Absatz 3 gibt das bestehende Recht und Rechtsverständnis wieder. Bereits unter geltendem Recht liegt die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung der Kinder und Jugendlichen bei den Eltern. Das Zivilgesetzbuch28 (ZGB) überträgt in Übereinstimmung mit dem Verfassungsauftrag den Eltern die Hauptverantwortung für die Pflege und Erziehung des Kindes und hält sie an, dem Kind eine angemessene, seinen Fähigkeiten und Neigungen so weit als möglich entsprechende allgemeine und berufliche Ausbildung zu verschaffen. Anders als von der Initiative gefordert, sind die Eltern heute jedoch verpflichtet, zu diesem Zweck umfassend mit der Schule zusammenzuarbeiten (Art. 302 ZGB).

Der öffentliche Bildungsauftrag tritt also neben das ausschliessliche Erziehungsrecht der Eltern. Im konkreten Fall unterstützt die Schule die Erziehungsberechtigten bei der Sexualerziehung der Kinder und Jugendlichen im Rahmen eines alters- und stufengerechten Sexualkundeunterrichts und leistet ab Kindergarten im Rahmen des Unterrichts einen wertvollen Beitrag zur wirksamen Prävention von sexueller Gewalt.

Art. 11 Abs. 4 Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch kann ab dem Kindergarten erteilt werden. Dieser Unterricht beinhaltet keine Sexualkunde.

4

Mit Absatz 4 wird die Möglichkeit eingeräumt, Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch zu erteilen, jedoch ohne Sexualkunde. Die zentrale Bedeutung der Sensibilisierung ab Kindergarten wird somit anerkannt.

Falls unter einem Unterricht, der Sexualkunde beinhaltet, die Vermittlung von Inhalten wie die Benennung der primären Geschlechtsteile, die Unterschiede von Frau und Mann usw. zu verstehen wäre ­ wovon angesichts der Formulierung von Absatz 6 auszugehen ist ­stellt diese Bestimmung bestehende Präventionsangebote in Frage. Präventionskampagnen, die in den ersten Primarschuljahren oder sogar im

28

726

SR 210

Kindergartenalter greifen (z. B. «mein Körper gehört mir!»)29, wären einzustellen.

Der Bundesrat und die kantonalen Bildungsbehörden sind der Ansicht, dass die richtige Benennung von Körperteilen im Kindergarten nicht als Sexualkundeunterricht definiert werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass ohne die altersgerechte Vermittlung von Wissen und Kompetenzen über bestimmte sexualkundliche Grundbegriffe kein nachhaltiger Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch erfolgen kann. Dem Bundesrat sind keine Modelle oder Vorgehensweisen bekannt, wie eine wirksame Prävention ohne sexualkundliche Basis, zum Beispiel ohne Begriffe für die primären Geschlechtsteile, erfolgen kann.

Art. 11 Abs. 5 Freiwilliger Sexualkundeunterricht kann von Klassenlehrpersonen an Kinder und Jugendliche ab dem vollendeten neunten Altersjahr erteilt werden.

5

Nach dieser Bestimmung kann Sexualkundeunterricht ab dem vollendeten neunten Altersjahr erteilt werden, muss aber nicht. Der Unterricht muss zwingend durch die Klassenlehrperson erfolgen und für die Schülerinnen und Schüler freiwillig sein.

Terminologisch ist unklar, was die Initiantinnen und Initianten in Abgrenzung zu den verwendeten Begriffen Sexualerziehung, Sexualkunde, weitergehendem Sexualkundeunterricht und Vermittlung im Biologieunterricht unter «Sexualkundeunterricht» verstehen. In Anlehnung an die bisherigen Ausführungen geht der Bundesrat in der vorliegenden Botschaft davon aus, dass mit «Sexualkundeunterricht» in Absatz 5 der «sexualkundliche Unterricht» gemäss Definition unter Ziffer 2.1 gemeint ist.

Einer Klärung bedarf auch die Formulierung «ab dem vollendeten neunten Altersjahr»: Angenommen die Initiantinnen und Initianten setzten das vollendete neunte Altersjahr mit dem Ende der dritten Primarklasse gleich, so könnte freiwilliger Sexualkundeunterricht ab der vierten Klasse möglich sein. Gemäss bisheriger Praxis beginnt der sexualkundliche Unterricht gegen Ende der Primarschulzeit (5./6. Primarklasse).30 Die Schülerinnen und Schüler sind zu Beginn der fünften Primarklasse in der Regel mindestens zehn Jahre alt. Der Zeitpunkt des Beginns des sexualkundlichen Unterrichts ist so gewählt, um sicherzustellen, dass Mädchen vor ihrer ersten Menstruation über die auf sie zukommenden Veränderungen angemessen informiert sind.

Damit ist klar, dass der von den Initiantinnen und Initianten gewählte Altersrahmen nicht im Widerspruch zur heute gelebten Praxis des sexualkundlichen Unterrichts steht. Hinsichtlich des im Initiativtext festgelegten Alters stellt sich aber das Problem, dass sich Schülerinnen und Schüler bei Vollendung des neunten Altersjahrs in unterschiedlichen Klassenstufen befinden können. Für die Vermittlung des freiwilligen Sexualkundeunterrichts müsste also eine Aufspaltung der Klassen erfolgen, was schulorganisatorisch kaum zu bewältigen wäre.

29

30

Zum Projekt «Mein Körper gehört mir!», das von der Stiftung Kinderschutz Schweiz entwickelt wurde und seit 2013 an die Kantone übergeben wird (mindestens 13 Kantone haben es schon übernommen), siehe: http://kinderschutz.ch.

In dieser Botschaft wird nicht die Zählweise gemäss HarmoS-Konkordat verwendet.

727

Bezüglich der geforderten Freiwilligkeit des Unterrichts und der zwingenden Vorgabe, dass der Sexualkundeunterricht durch die Klassenlehrperson erteilt werden muss, ist auf folgende Problematik hinzuweisen: Freiwilligkeit: Wie bereits festgehalten, gibt es kein eigenes Fach «Sexualkunde».

Sexualkundliche Themen sind Teil anderer Fachbereiche, die sich mit breiteren gesellschaftlichen und lebenskundlichen Themen befassen. Wenn sich nun einzelne Schülerinnen und Schüler vom sexualkundlichen Unterricht dispensieren lassen könnten, würde dies die Schule zwingen, den sexualkundlichen Unterricht vom lebenskundlichen Unterricht zu trennen. Damit würde eine sinnvolle Umsetzung der Lehrpläne für den Sexualkundeunterricht, wie er in der Deutschschweiz praktiziert wird, verunmöglicht. Dies würde zudem bedeuten, dass die Vorstellungen von Eltern betreffend Sexualmoral höher gewichtet würden als die fachlichen Empfehlungen zu Gesundheitsförderung und Prävention. Das hätte zur Folge, dass das unter den Aspekten «ausreichender Grundschulunterricht» und «Chancengleichheit» vorgegebene Ziel, dass alle Jugendlichen zu Beginn ihrer Pubertät über die wichtigsten Themen der Sexualität Bescheid wissen, sich nicht erreichen liesse, wenn der sexualkundliche Unterricht freiwillig wäre. In der Westschweiz und im Kanton Tessin, wo der Unterricht zur Prävention von sexuellem Missbrauch ab Kindergarten wie auch der sexualkundliche Unterricht gegen Ende der Primarschule im Rahmen von Blockkursen von ausserschulischen Fachpersonen vermittelt wird, sind Dispensationen möglich und entsprechend geregelt. Nicht möglich ist die Dispensation vom schulischen Biologieunterricht, in dem Kenntnisse über die menschliche Fortpflanzung unterrichtet werden.

Klassenlehrperson: Die zwingende Vorgabe, dass der sexualkundliche Unterricht durch die Klassenlehrperson erteilt werden muss, hat zur Folge, dass jede als Klassenlehrperson eingesetzte Lehrperson sexualkundliche Inhalte vermitteln muss.

Nicht mehr zugelassen wären für diesen Unterricht externe Fachpersonen. Auch ein geschlechtergetrennter sexualkundlicher Unterricht, bei dem Knaben von einem Mann und Mädchen von einer Frau unterrichtet werden, wäre verunmöglicht. Diese Einschränkung stellt nicht nur einen umfassenden Eingriff in die Schulorganisation dar, sondern würde zudem bewährte
Modelle mit dem Beizug von Fachpersonen (seit Jahren in der Romandie und in mehreren Kantonen der Deutschschweiz unbestrittene Praxis) verbieten.

Darauf hinzuweisen ist, dass im Initiativtext die Rechtswirksamkeit der Aussagen nicht auf die obligatorische Schulzeit eingeschränkt wird. Die Einschränkungen von Absatz 5 gelten daher auch für die berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II für alle Jugendlichen bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr.

Art. 11 Abs. 6 Obligatorischer Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung kann von Biologielehrpersonen an Kinder und Jugendliche ab dem vollendeten zwölften Altersjahr erteilt werden.

6

Absatz 6 erlaubt einen obligatorischen Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung im Rahmen des Biologieunterrichts 728

ab dem vollendeten zwölften Altersjahr. Entsprechend dem Wortlaut dieser Bestimmung könnte dieser Unterricht auch im Rahmen eines anderen Unterrichts vermittelt werden, sofern dieser durch eine Biologielehrperson erteilt wird. Eine Klassenlehrperson, sofern sie nicht Biologielehrperson ist, darf also ab dem zwölften Altersjahr keinen obligatorischen Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung geben, wohl hingegen freiwilligen Sexualkundeunterricht.

Geht man davon aus, dass diese Bestimmung die Thematisierung der Sexualität auf biologische Aspekte einschränkt, so hätte sie auf jeden Fall die einschneidendsten Auswirkungen auf die Lehrpläne in der Schweiz. Die Verbindung mit lebenskundlichen Fragen aus anderen Fachbereichen wie Ethik, Religionen, Gemeinschaft wäre nicht mehr möglich.

Die Unterscheidung zwischen den Termini «Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung» und «Sexualkunde» wird zu präzisieren sein. Insbesondere Ersterer ist in hohem Masse auslegungsbedürftig. Ob beispielsweise zum Wissen über menschliche Fortpflanzung und Entwicklung auch die Methoden der Empfängnisverhütung sowie die Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten zählen, kann kontrovers beurteilt werden.

Um eine Umsetzung von Absatz 6 zu ermöglichen, ist auch hier wieder zu klären, welche Klassenstufe Schülerinnen und Schüler nach vollendetem zwölften Altersjahr besuchen. In der Regel wird es sich dabei um Schülerinnen und Schüler handeln, welche die Sekundarstufe I besuchen. Es gilt aber auch hier festzuhalten, dass eine feste Zuordnung von Schülerinnen und Schülern nach vollendetem zwölften Altersjahr in eine Klasse nicht möglich ist, weil sich viele Schulklassen aus Kindern und Jugendlichen zusammensetzen, die bis zu drei Altersjahre auseinander liegen.

Zudem ist zu beachten, dass der körperliche Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler ab dem zwölften Altersjahr sehr unterschiedlich ist. Mit der vorgeschlagenen Regelung könnten also körperlich bereits geschlechtsreife zwölfjährige Schülerinnen und Schüler überhaupt erstmalig ausserhalb des Elternhauses in Kontakt mit Fragen der menschlichen Fortpflanzung und Entwicklung kommen.

Falls freiwilliger Unterricht angeboten wird, könnte die Kombination der Absätze 5 und 6 dazu führen,
dass Themen, die im obligatorischen Unterricht gemäss Absatz 6 nicht behandelt werden dürfen, bereits im freiwilligen Unterricht gemäss Absatz 5 thematisiert werden.

Auch bezüglich des Absatzes 6 ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtswirksamkeit der Aussagen nicht auf die obligatorische Schulzeit eingeschränkt ist. Die Einschränkungen von Absatz 6 gelten auch für die berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II für alle Jugendlichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.

729

Art. 11 Abs. 7 7 Kinder

und Jugendliche können nicht gezwungen werden, weitergehendem Sexualkundeunterricht zu folgen.

Mit Absatz 7 wird die bereits in Absatz 5 genannte Freiwilligkeit nochmals unterstrichen. Da dieser Absatz unmittelbar dem in Absatz 6 genannten Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung folgt, muss er im Zusammenhang mit diesem interpretiert werden. Der Besuch eines Unterrichts, der über die Vermittlung von Wissen über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung hinausgeht, wäre also fakultativ. Für einen solchen freiwilligen Unterricht gelten die Überlegungen zu Absatz 5 (freiwilliger Sexualkundeunterricht) sinngemäss.

4

Würdigung der Volksinitiative

4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Die Volksinitiative richtet sich gegen einen obligatorischen Sexualkundeunterricht ab dem Kindergarten. Auslöser der Initiative waren Medienberichte über die mögliche Einführung eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts in Kindergärten und Primarschulen und der damit in Zusammenhang gebrachte «Sex-Koffer» an Basler Schulen.

Der Bundesrat und die kantonalen Bildungsbehörden nehmen grundsätzliche Sorgen von Eltern um ihre Kinder und die Angst vor einer nicht altersadäquaten Sexualerziehung ernst. Allerdings streben weder die Bildungsbehörden noch die Schulen den Sexualkundeunterricht im Kindergarten oder eine «Sexualisierung» von Kindergarten und Primarschule an. Ausserdem ist ein alters- und stufengerechter Sexualkundeunterricht für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt, vor sexuell übertragbaren Infektionen und unerwünschten Schwangerschaften wichtig.

Ein generelles Verbot eines obligatorischen Sexualkundeunterrichts ist daher nicht im Sinne des Kindesschutzes. Der Bundesrat spricht sich aus diesen Gründen uneingeschränkt für die Beibehaltung einer der heutigen Praxis entsprechenden altersadäquaten Unterstützung der elterlichen Sexualerziehung durch die Schule aus. Es ist unbestritten, dass der Unterricht ab dem Kindergarten zur Prävention von sexuellen Missbräuchen und der sexualkundliche Unterricht ab Ende der Primarschulzeit den Einsatz geeigneter Unterrichtsmaterialien und die Pflege einer guten Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus im Themenbereich der Sexualität bedingt. Dies ist den Kantonen bewusst.

Das Anliegen der Volksinitiative steht in einem Spannungsfeld zwischen elterlichem Erziehungsrecht, kantonalem Bildungsauftrag und dem Kindeswohl.31 Der Komple31

730

Ehrenzeller, B. (2014): Das Elternrecht auf religiöse Erziehung der Kinder im Spannungsfeld von staatlichem Bildungsauftrag und Kindeswohl am Beispiel des Sexualkundeunterrichtes. In: Liechtenstein-Institut (Hg.): Beiträge zum liechtensteinischen Recht aus nationaler und internationaler Perspektive. Festschrift zum 70. Geburtstag von Herbert Wille.

Schaan: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft (Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 54), S. 201­221.

xität dieses Zusammenwirkens wird die Volksinitiative in keiner Weise gerecht. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass durch die Umsetzung der Initiative der Schutz, die gesunde Entwicklung sowie die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen beschränkt und darüber hinaus die föderale Struktur im Schweizer Bildungswesen geschwächt würden.

In einigen Belangen sind die Forderungen vereinbar mit bestehenden Regelungen, in einigen Belangen erschweren oder verunmöglichen sie bewährte Formen des Sexualkundeunterrichts oder des Unterrichts zur Prävention von sexuellen Missbräuchen.

So liegt die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung bereits heute bei den Eltern, die Schule ist im Rahmen des sexualkundlichen Unterrichts mit der Vermittlung von Informationen zu Fakten und Zusammenhängen im Bereich der Sexualität unterstützend und ergänzend tätig. Diese Wissensvermittlung gehört zum Bildungsauftrag der Kantone und ist Teil des ausreichenden Grundschulunterrichts gemäss den Artikeln 19 und 62 BV und mit Blick auf die Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen ebenso notwendig wie eine wirksame Präventionsarbeit ab Kindergarten.

4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

4.2.1

Keine Auswirkung auf die Regelungskompetenz des Bundes

Artikel 3 BV regelt in allgemeiner Weise das System der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen und bestimmt, dass die Kantone alle Rechte ausüben, die nicht dem Bund übertragen sind (originäre Kompetenz der Kantone). Artikel 42 Absatz 1 BV führt diesen Grundsatz weiter aus und bestimmt, dass der Bund die Aufgaben erfüllt, die ihm die Bundesverfassung zuweist. Der Bund darf demnach nur in jenen Bereichen tätig werden, in welchen die Bundesverfassung ihn für zuständig erklärt und ihm die Kompetenz zum Tätigwerden erteilt. Alle nicht dem Bund zugewiesenen Kompetenzen verbleiben bei den Kantonen. Diese bestimmen nach Artikel 43 BV, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen. Der Grundsatz von Artikel 43 BV gilt allerdings nicht uneingeschränkt: Die kantonale Zuständigkeit wird in jenen Bereichen insoweit eingeschränkt, als die Bundesverfassung den Kantonen in einem Bereich, der in ihrer Kompetenz liegt, spezifische Aufgaben überträgt oder vorgibt, wie sie eine Aufgabe zu erfüllen haben.

Der gemäss Volksinitiative zu erweiternde Artikel 11 BV ist im Grundrechtskatalog der Bundesverfassung angesiedelt. Die Grundrechtsverwirklichungspflicht von Artikel 35 Absatz 2 BV hält fest, dass jeder, der staatliche Aufgaben wahrnimmt, an die Grundrechte gebunden und verpflichtet ist, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.32 Die Grundrechte begründen jedoch keine neuen Kompetenzen. Bund und Kantone müssen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen die Grundrechte respektieren. Die Kompetenz im Bereich des obligatorischen Schulunterrichts liegt bei den Kantonen. Eine Kompetenz oder gar Verpflichtung des Bundes zur Konkretisierung des Initiativtextes ist somit nicht gegeben. Es liegt in der alleinigen Kompetenz der Kantone, die Volksinitiative umzusetzen.

32

Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1, hier 193.

731

4.2.2

Beschneidung der kantonalen Schulhoheit

Der Initiativtext enthält konkrete Vorgaben, ob und wie der Sexualkundeunterricht im Kindergarten und in der obligatorischen Schule auszugestalten ist. Er greift somit direkt und sehr einschränkend in die mit Artikel 62 BV verbundene kantonale Schulhoheit ein.

4.2.3

Erziehungsrecht der Eltern bleibt unverändert

Das grundsätzliche Erziehungsrecht der Eltern ergibt sich aus den Grundsätzen der Bundesverfassung, dem Zivilgesetzbuch, dem UNO-Pakt I33 und der UNO-Kinderrechtskonvention34. Dieses Primat wird auch ohne die Bestimmungen der Volksinitiative von den Kantonen bereits heute entsprechend umgesetzt.

4.2.4

Einschränkung in der Ausübung des öffentlichen Bildungsauftrags

Der sexualkundliche Unterricht ist bisher Teil der obligatorischen Schule und im Rahmen der Schulpflicht zu besuchen. Die Absätze 5­7 des Initiativtexts beinhalten zwar nicht explizit, aber faktisch das Verbot von obligatorischem stufengerechten sexualkundlichen Unterricht während der obligatorischen Schule und auf der allgemeinbildenden und berufsbildenden Sekundarstufe II bis zur Volljährigkeit. Damit lässt sich das Ziel, dass alle Jugendlichen zu Beginn ihrer Pubertät über die wichtigsten Themen der Sexualität Bescheid wissen, nicht mehr sicherstellen. Mit der Annahme der Initiative entstünde also eine Konfliktlage zwischen Artikel 11 BV und dem von der Verfassung definierten staatlichen Bildungsauftrag (Art. 19 und Art. 62 BV). Ein ausreichender Grundschulunterricht, so wie er nach gängiger Lehre und Rechtsprechung verstanden wird, wäre nicht mehr oder nur noch partiell gewährleistet.

Aus Sicht des Bundesrates würde deshalb mit der Annahme der Initiative auch das gleichberechtigte Wohl aller Kinder gefährdet. Im Interesse der Unversehrtheit und zum Schutz vor sexuellem Missbrauch, vor Ansteckung mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen und vor ungewollter Schwangerschaft kommt einer alters- und entwicklungsgemässen Information und Sexualaufklärung eine bedeutende Rolle zu. Sie kann nur im Rahmen des Grundschulunterrichts für alle gleichermassen wahrgenommen werden. Der so verstandene öffentliche Bildungsauftrag steht mit dem Erziehungsrecht der Eltern nicht in Widerspruch, sondern ergänzt die primären Erziehungskompetenzen der Eltern. Die Schule vermittelt als Teil des öffentlichen Bildungsauftrags vor allem Kenntnisse zur Sexualität und Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Diese Aufgabe der Schule erhält angesichts der immer früher einsetzenden Pubertät und Geschlechtsreife wichtige Bedeutung.

33 34

732

Internationaler Pakt vom 16. Dez. 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, SR 0.103.1.

Übereinkommen vom 20. Nov. 1989 über die Rechte des Kindes, SR 0.107.

4.2.5

Gefährdung einer wirksamen Prävention

Eine Annahme der Initiative hätte zur Folge, dass Sexualität in einem umfassenden Sinne gar nicht und Fortpflanzung erst ab dem vollendeten zwölften Altersjahr und nur im Rahmen des Biologieunterrichts durch eine Biologielehrperson thematisiert werden dürfte. Dadurch würde eine wirksame, auf sexualkundlichem Wissen aufbauende Prävention von sexueller Gewalt, ungewollter Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Krankheiten verhindert oder zumindest erheblich erschwert.

Da Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit haben, sind für den Bund diese Präventionsanliegen jedoch von zentraler Bedeutung.

Im Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) sind zwei Ämter für Präventionsmassnahmen zuständig: das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hinsichtlich der Prävention von sexueller Gewalt und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hinsichtlich der Prävention von sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten.

Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Die Optimus-Studie Schweiz35 hat gezeigt, dass Kinder, die sexuelle Übergriffe erleben, mehrheitlich im engeren Familienkreis missbraucht werden ­ vom Vater, vom Bruder, von der Mutter, vom Onkel oder einem den Eltern nahestehenden Freund. Bei Jugendlichen geht sexuelle Gewalt vor allem von Gleichaltrigen aus.

Täterinnen und Täter von sexuellem Missbrauch sind somit mit den Opfern meist bekannt oder sogar verwandt. Eine andere Studie36 über Strategien bei sexuellem Missbrauch von Tätern37 zeigt, dass diese gezielt nach Voraussetzungen suchen, die einen Missbrauch ermöglichen. Hierzu zählt auch ein Mangel an oder gänzliches Fehlen von Sexualaufklärung des Opfers.

Gemäss den nationalen Präventionszielen (vgl. Ziff. 2) ist für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch eine alters- und stufengerechte Sexualerziehung oder -kunde unverzichtbar. Da alle Kinder und Jugendlichen von sexueller Gewalt betroffen sein können, ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen in der Schweiz von Präventionsmassnahmen profitieren, und zwar unabhängig von der Situation im Elternhaus, da gerade auch dort Risikofaktoren für die Entstehung von sexueller Gewalt liegen können. Wie Kinder sich vor sexuellen Übergriffen besser schützen und darüber berichten können, ist früh zu vermitteln.

Die Durchführung
und Finanzierung präventiver Massnahmen liegt im Wesentlichen im Kompetenzbereich der Kantone. Das BSV kann die Präventionsbemühungen der Kantone und privater Organisationen finanziell unterstützen.

Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen Sexualkundeunterricht ist auch aus Sicht der Prävention von sexuell übertragbaren Infektionen notwendig. Sie lässt sich aus dem geltenden Epidemiengesetz vom

35 36

37

Averdijk, M., Müller-Johnson, K., Eisner, M. (2012) Sexual Victimization of Children and Adolescents in Switzerland.

Heiliger, A. (2001). Täterstrategien bei sexuellem Missbrauch und Ansätze zur Prävention. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 56/57 Köln. Eigenverlag, S. 71­82.

Nach den verfügbaren Statistiken sind es überwiegend Männer, die Übergriffe und Grenzverletzungen begehen. Wenn von «Tätern» die Rede ist, orientiert sich das am bisher anzunehmenden Regelfall und soll nicht negieren, dass auch Frauen sexuelle Gewalt ausüben.

733

18. Dezember 197038 herleiten. Es überträgt Bund und Kantonen die Aufgabe, die nötigen Massnahmen zu treffen, um übertragbare Krankheiten des Menschen zu bekämpfen. Im neuen Epidemiengesetz vom 28. September 201239 ist in Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c festgehalten, dass das BAG unter Einbezug der Kantone themenspezifische nationale Programme zur Erkennung, Überwachung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten erarbeitet. Explizit erwähnt ist unter anderem der Bereich HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten. Auch hier ist aus Gründen der Chancengleichheit ergänzender und altersgerechter Sexualkundeunterricht auf allen Stufen der obligatorischen Schule sinnvoll und wichtig.

4.2.6

Finanzielle Folgen bei einer Annahme der Initiative

Da dem Bund aus der Volksinitiative weder eine neue Regelungskompetenz noch eine Regelungspflicht erwächst, sind keine finanziellen Folgen für den Bund absehbar. Finanzielle Konsequenzen wären dagegen auf kantonaler Ebene im Rahmen der Umsetzung der Volksinitiative denkbar, zum Beispiel wegen unterschiedlicher Unterrichtsorganisation und wegen Anpassung der kantonalen Schulgesetze, Lehrpläne sowie der Lehrmittel.

4.3

Mängel der Initiative

4.3.1

Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten im Initiativtext

Die Auslegung des Wortlauts und die Begrifflichkeiten der Volksinitiative sind nicht eindeutig. Es zeigen sich vielerlei Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten der unterschiedlichen Begriffe an sich wie auch zwischen dem Wortlaut der einzelnen Absätze (vgl. Ziff. 3.3).

Bereits der Titel der Volksinitiative ist missverständlich. So spricht die Initiative vom «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule», wobei der Begriff «Sexualisierung» ­ so auf der Website des Initiativkomitees ­ sowohl mit Pornografie als auch mit Aufklärung in der Schule und mit Sexualkundeunterricht während der Schule gleichgesetzt wird. Damit ist sehr unklar, was genau die Initiantinnen und Initianten unter «Sexualisierung» verstehen. Der Initiativtext selber ist in sich nicht schlüssig und somit bezüglich des Titels auch nicht klärend.

In den einzelnen Bestimmungen des Initiativtexts werden die Begriffe «Sexualerziehung», «Sexualkunde», «(freiwilliger) Sexualkundeunterricht» verwendet, ohne dass klar ist, was unter diesen Begriffen zu verstehen bzw. welcher Vermittlungsinhalt unter welchen Begriff zu subsumieren ist. Anhand des Wortlauts lässt sich lediglich vermuten, dass die Initiantinnen und Initianten Sexualerziehung und Sexualkunde vom Präventionsunterricht und diesen wiederum vom Biologieunterricht zur menschlichen Fortpflanzung und Entwicklung unterscheiden. Ob und inwiefern sich die Begriffe aber tatsächlich unterscheiden, wird ­ auch unter Berücksichtigung der zusätzlichen Informationen des Initiativkomitees ­ nicht klar.

38 39

734

SR 818.101 BBl 2012 8157

Obwohl der Initiativtext dies vermuten liesse, enthält die Initiative keine Schutzbestimmungen. Es ist auch unter Einbezug der Unterlagen des Initiativkomitees nicht ersichtlich, inwiefern die von den Initiantinnen und Initianten angeführte sogenannte «Sexualisierung» die Kinder schädigen kann. Bei den dargestellten Einzelfällen (z. B. «Doktorspiele» mit Verletzungsrisiken) wird nicht gezeigt, inwieweit diese die Folge von sexualkundlichen Unterrichtseinheiten sind. Dem Bundesrat sind keine relevanten wissenschaftlichen Studien bekannt, die Schädigungen von Kindern aufgrund des bisher in der Schweiz praktizierten alters- und stufengerechten sexualkundlichen Unterrichts in der Grundschule vermuten lassen würden.

Darüber hinaus enthält die Begleitdokumentation des Initiativkomitees unzutreffende Aussagen. Die Annahme, Sexualkunde solle neu im Kindergarten verankert werden, ist falsch.40 Auch von Seiten des Bundes wurde nie gefordert, einen obligatorischen Sexualkundeunterricht ab Kindergarten in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren.

Die Argumentation des Initiativkomitees, Kinder würden im Rahmen des sexualkundlichen Unterrichts zu sexuellen Handlungen angeregt, mit pornografischem Material geschockt und christliche Werte würden mit Füssen getreten, entbehrt jeder Grundlage. Die organisierte Lehrerschaft der Deutschschweiz widerlegt dies in einem Positionspapier und stellt den sexualkundlichen Unterricht in einen grösseren Zusammenhang, der u. a. Partnerschaft, Gleichberechtigung, Respekt und Selbstbestimmung einschliesst.41

4.3.2

Problematische Umsetzung

Aufgrund der Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten des Initiativtextes ergäben sich erhebliche rechtliche Konfliktlagen im Fall einer Annahme der Volksinitiative.

Der Initiativtext als Verfassungstext wäre in der Umsetzung in hohem Masse interpretations- und konkretisierungsbedürftig. Artikel 62 BV definiert eine ausschliessliche kantonale Zuständigkeit im Bereich der Grundschule, inklusive Sonderschulung. Die Einhaltung der neuen Verfassungsbestimmungen läge entsprechend diesem Verfassungsgrundsatz in der alleinigen Verantwortung der Kantone, welche die in Artikel 11 BV vorgegebenen Grundsätze in den regionalen Lehrplänen berücksichtigen müssten.42 Hier müssten, obwohl in den letzten Jahren eine unproblematische Praxis bezüglich des sexualkundlichen Unterrichts und des Unterrichts zur Prävention von sexuellen Missbräuchen gehandhabt wurde, einschneidende und zum Teil kaum umsetzbare Änderungen vorgenommen werden.

40

41

42

Vgl. Medienmitteilung «Lehrplan 21: Keine Sexualerziehung im Kindergarten» vom 16. Juni 2011 der D-EDK, im Internet abrufbar unter http://d-edk.ch > Dokumentation > Medienarchiv.

Unaufgeklärte Kinder sind ausgeliefert; Stellungnahme der GL LCH zur «Petition gegen die Sexualisierung der Volksschule», 22.8.2011; www.lch.ch > Publikationen > Bildung Schweiz > Dokument > 9_2011.

Gemäss den Art. 3 und 42 BV ist der Bund für Regelungen zuständig, soweit ihn die Verfassung dazu ermächtigt. Fehlt eine solche Ermächtigung, sind die Kantone für die Regelung eines Sachgebietes zuständig. Die BV enthält keine Generalklauseln zugunsten des Bundes, sondern weist ihm in einzelnen Artikeln die Kompetenz für einen bestimmten, meist genau umgrenzten Sachbereich zu.

735

Ein konkretes Umsetzungsproblem ergäbe sich hinsichtlich des Alters der Schülerinnen und Schüler. Die Initiative bezieht die vorgeschlagenen Regelungen in Absatz 4 auf eine Schulstufe (Kindergarten) und in den Absätzen 5 und 6 auf Altersgruppen. Das schafft in der schulorganisatorischen Umsetzung Schwierigkeiten, da der entsprechende Unterricht erst an dem Tag einsetzen kann, an dem auch das jüngste Kind einer Klasse die entsprechende Alterslimite erreicht hat. Häufig setzt sich eine Schulklasse heute aus Schülerinnen und Schülern zusammen, die bis zu drei Altersjahre auseinander liegen.

Hinzu kommt, dass im Initiativtext die Rechtswirksamkeit der Bestimmungen nicht auf die obligatorische Schulzeit eingeschränkt wird. Die Einschränkungen in den Absätzen 5 und 6 würden daher auch für die berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II bis zur Volljährigkeit gelten.

4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Im Zusammenhang mit der vorliegenden Volksinitiative sind auch die für die Schweiz massgebenden Bestimmungen auf internationaler Ebene zu betrachten. Die Schweiz hat verschiedene Verträge ratifiziert, die sie verpflichten, das Wohl des Kindes bei sämtlichen Staatshandlungen, die Kinder betreffen, ins Zentrum zu stellen und sexuellen Kindesmissbrauch sowie sexuell übertragbare Krankheiten wie Aids durch Prävention zu bekämpfen.

Die UNO-Kinderrechtskonvention43 verlangt, alle geeigneten Bildungsmassnahmen zu treffen, um das Kind vor jeder Form von Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen, solange es sich in Obhut der Eltern oder anderer Betreuungspersonen befindet (Art. 19 der Konvention).

Die Lanzarote-Konvention44 verpflichtet die Vertragsstaaten, Kinder während der Schulzeit altersgerecht über die Gefahren sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs sowie über die Möglichkeiten, sich davor zu schützen, aufzuklären, wobei dies im Rahmen des Sexualkundeunterrichts erfolgen soll (Art. 6 der Konvention). In der Botschaft zur Ratifizierung dieser Konvention wird erläutert, dass die Zuständigkeit zu solchen Massnahmen aufgrund von Artikel 62 BV den Kantonen zukommt und diese dabei durch verschiedene Präventionsprogramme vom Bund unterstützt werden.45 Die Konvention verpflichtet ausserdem die Vertragsparteien, präventive Massnahmen zu ergreifen, um alle Formen der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu verhüten und sie davor zu schützen. Dies beinhaltet insbesondere auch die Sensibilisierung von Kindern und Eltern sowie von Personen, die bei ihrer Arbeit Kontakt zu Kindern haben. Das WHO-Regionalbüro für Europa und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Deutschlands haben «Standards für Sexualaufklärung in Europa» veröffentlicht.

43 44 45

736

Übereinkommen vom 20. Nov. 1989 über die Rechte des Kindes, SR 0.107 Übereinkommen des Europarats vom 25. Okt. 2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, SR 0.311.40 Botschaft vom 4. Juli 2012 zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote Konvention) sowie zu seiner Umsetzung (Änderung des Strafgesetzbuchs), BBl 2012 7571 Ziff. 2.2.2 ff.

Richtungsweisend für die HIV/Aids-Arbeit auf internationaler Ebene sind die «Verpflichtungserklärung zu HIV/Aids» (2001)46 und das Ziel 6 der «MillenniumEntwicklungsziele» (2000) der Generalversammlung der Vereinten Nationen.47 Diese globalen Verpflichtungen wurden 200648 und 201149 wiederholt und bekräftigt, indem die UNO-Generalversammlung eine erneute politische Erklärung verabschiedete, die das Konzept des allgemeinen Zugangs zu Prävention, Diagnostik, Therapie und Betreuung in den Vordergrund stellt. Auf europäischer Ebene wurde dies auch durch die «Dublin Declaration on Partnership to fight HIV/AIDS in Europe and Central Asia» von 2004 ergänzt.50 Die Deklaration betont die Bedeutung der stufengerechten Sexualerziehung.

Die heutige kantonale Schulpraxis des sexualkundlichen Unterrichts ist mit den internationalen Verpflichtungen vereinbar. Im Fall einer Annahme der Volksinitiative wird nach der Umsetzung in den Kantonen neu zu beurteilen sein, ob die internationalen Verpflichtungen zum Schutz von Kindern und im Bereich der Kinderrechte weiterhin eingehalten werden.

5

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat beantragt mit dieser Botschaft den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» ohne Gegenentwurf Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen. Die kantonale Schulhoheit soll nicht eingeschränkt werden.

Die Tragweite der Initiative, nämlich die massive, nicht alters- und realitätsgerechte Einschränkung des sexualkundlichen Unterrichts für die gesamte Schweiz steht in keinem Verhältnis zu ihrem Auslöser, den umstrittenen Basler Unterrichtsmaterialien sowie der irrtümlichen Annahme, es würde obligatorischer Sexualkundeunterricht bereits im Kindergarten eingeführt.

Die der Volksinitiative zugrundeliegenden Befürchtungen lassen sich weitgehend entkräften und sind bezüglich der Umsetzung der sprachregionalen Lehrpläne unbegründet. Nach geltendem Recht liegt die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung der Kinder und Jugendlichen bei den Eltern. Diese werden im Rahmen eines alters- und stufengerechten Sexualkundeunterrichts durch die Schule unterstützt.

Dazu kommt, dass auch mit den neuen Lehrplänen (PER, Lehrplan 21 und Lehrplan Tessin) kein eigenes Schulfach «Sexualkunde» eingeführt wird. Der sexualkundliche Unterricht ist und bleibt Teil von übergeordneten Fachbereichen wie «Natur, Mensch und Gesellschaft» oder liegt, wie im Kanton Tessin, in der Verantwortung aller Lehrpersonen. Entsprechende sexualkundliche Inhalte sind bereits seit vielen Jahren Gegenstand der kantonalen Volksschullehrpläne. Aufklärung im eigentlichen Sinne gibt es in Kindergarten bis gegen Ende der Primarschule nicht.

46 47 48 49 50

www.unaids.org > About > United Nations Declarations and Goals > 2001 UN General Assembly special session in HIV/AIDS.

www.un.org > Development > The Millenium Development Goals (MDGs).

www.unaids.org > About > United Nations Declarations and Goals > 2006 UN General Assembly Political Declaration HIV/AIDS.

www.unaids.org > About > United Nations Declarations and Goals > 2011 UN General Assembly Political Declaration on HIV and AIDS.

www.unicef.org > Where we work > Central and Eastern Europe and the Commonwealth of Independent States > Search > The Dublin Declaration.

737

Der Bundesrat ist sich durchaus bewusst, dass bestimmte Inhalte oder Vermittlungsweisen des schulischen Unterrichts nicht immer von allen befürwortet werden und es verschiedene Vorstellungen über die Grenzen des Grundschulauftrags gibt.

Das betrifft aber auch andere, ebenfalls als sensibel geltende Fachbereiche wie Turnen und Schwimmen oder auch Geschichte und Ethik. Eine Verankerung derlei fachspezifischer Lehrplaninhalte oder sogar schulorganisatorischer Regelungen im Grundrechtskatalog der Bundesverfassung wird vom Bundesrat als unangemessener Eingriff in die föderale Struktur im Schweizer Bildungswesen abgelehnt.

Dass Kinder und Jugendliche in der Schweiz nie einen obligatorischen sexualkundlichen Unterricht erhalten sollen und erst nach Eintreten der Pubertät einzig über die menschliche Fortpflanzung und Entwicklung ausschliesslich von Biologielehrpersonen unterrichtet werden dürfen, erachtet der Bundesrat als unverantwortlich. Dies gilt insbesondere, da bekannt ist, dass kindliches Unwissen von Sexualstraftätern gezielt in deren Strategien einkalkuliert wird. In diesem Sinne dient die eingereichte Volksinitiative nicht dem Schutz der Kinder, sondern behindert eine wirksame Prävention. Gleichzeitig reduziert sie die Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler.

Auch verschiedene nationale und internationale Rechtsgrundlagen zeigen das öffentliche Interesse an einem Mindestmass an sexualkundlichem Unterricht, welcher für die persönliche und soziale Entwicklung des Kindes in der heutigen Gesellschaft wie auch für ein von Achtung und Toleranz geprägtes Zusammenleben erforderlich ist.

Elterliche Erziehung und sexualkundlicher Unterricht erfüllen insbesondere eine wichtige Aufgabe zur Prävention von sexuellen Übergriffen, sexuell übertragbaren Infektionen und ungewollter Schwangerschaft. Alle Kinder und Jugendlichen sollen unabhängig von der Situation im Elternhaus von altersentsprechenden Präventionsmassnahmen profitieren können. Chancengleichheit in Bezug auf sachliche Information und die Möglichkeit zur Kompetenzentwicklung ist in dieser Hinsicht ein zentrales staatspolitisches Anliegen zur Sicherung des Kindeswohls.

Damit erfüllt die Volksschule einen wichtigen öffentlichen Grundauftrag. Der Bundesrat ist überzeugt, dass sie ihre Aufgaben verantwortungsbewusst wahrnimmt, dass sie die
Grenzen ihres Auftrags kennt und öffentlich macht, und dass sie bei diesem sensiblen Thema mit den Eltern zusammenarbeitet und kein Interesse haben kann, sich gegen die Wertmassstäbe der Eltern zu wenden. Im seltenen Fall von Missständen verfügt sie über geeignete Mittel, die nötigen Massnahmen zu ergreifen (Schulleitung, Schulaufsicht und dergleichen mehr). Der Bundesrat spricht damit der Volksschule gegenüber ausdrücklich sein Vertrauen aus.

Aus den dargelegten Gründen beantragt der Bundesrat, den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern zu empfehlen, die Initiative abzulehnen. Er sieht auch keine Veranlassung, der Initiative einen direkten Gegenentwurf oder einen indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen.

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