zu 10.431 Parlamentarische Initiative Komatrinker sollen Aufenthalte im Spital und in Ausnüchterungszellen selber bezahlen Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 17. April 2015 Stellungnahme des Bundesrates vom 1. Juli 2015

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 17. April 20151 nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

1. Juli 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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BBl 2015 4115

2015-1590

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

1.1

Parlamentarische Initiative

Am 19. März 2010 reichte Nationalrat Toni Bortoluzzi (SVP, ZH) die parlamentarische Initiative 10.431 «Komatrinker sollen Aufenthalte im Spital und in Ausnüchterungszellen selber bezahlen» ein. Diese fordert, dass das Bundesgesetz vom 18. März 19942 über die Krankenversicherung (KVG) und allenfalls weitere Gesetze so geändert werden, dass die medizinische Notversorgung, die aufgrund von exzessivem Alkohol- und Drogenmissbrauch notwendig wird, durch den Verursacher oder die Verursacherin oder ihre gesetzliche Vertretung in vollem Umfang abgegolten werden muss und dass diese Person die Kosten des Aufenthalts in einer Ausnüchterungszelle selber tragen muss.

Am 13. Mai 2011 beschloss die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N), der parlamentarischen Initiative mit 14 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge zu geben. Die ständerätliche Schwesterkommission (SGK-S) stimmte diesem Entscheid am 24. Januar 2012 mit 7 zu 2 Stimmen zu.

Am 24. Oktober 2013 stimmte die SGK-N einem Vorentwurf ihrer Subkommision «KVG», der sich auf den übermässigen Alkoholkonsum beschränkt, mit 16 zu 8 Stimmen zu. Am 27. Juni 2014 beschloss die Kommission ohne Gegenstimme, das Vernehmlassungsverfahren zu dieser Vorlage zu eröffnen.

Im Vernehmlassungsverfahren wurde die Vorlage grossmehrheitlich abgelehnt.

Alle Kantone (ausser TG), mehrere Parteien (CVP, EVP, GPS, SPS), fast alle Leistungserbringerverbände, drei Konsumentenorganisationen und zahlreiche weitere Organisationen sprachen sich gegen die Vorlage aus. Zur Begründung führen sie insbesondere an, die Berücksichtigung des Verschuldens in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bedeute einen Systemwechsel, den sie ablehnten. Sie weisen darauf hin, dass die Umsetzung der Vorlage aufwendig wäre. Zudem betrachten sie die Vorlage als unvereinbar mit dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsgleichheit, weil sie nur den übermässigen Alkoholkonsum, nicht jedoch andere gesundheitsschädigende Verhalten erfasst. Weiter befürchten sie, dass die Regelung bewirken könnte, dass Betroffene sich zu spät behandeln lassen, was zu kostspieligen weiteren Gesundheitsschäden führen könnte.

Die Vorlage wurde begrüsst vom Kanton Thurgau, mehreren Parteien (BDP, FDP, SVP und JSVP) und einzelnen Organisationen.

Am 17. April 2015 beschloss die Kommission mit 13 zu
11 Stimmen bei 1 Enthaltung, die Vorlage so, wie sie diese in die Vernehmlassung gegeben hatte, ihrem Rat zu unterbreiten.

Mit Schreiben vom 28. April 2015 lud sie den Bundesrat ein, nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20023 bis zum 12. August 2015 zur Vorlage Stellung zu nehmen.

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SR 832.10 SR 171.10

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1.2

Postulat 13.4007 «Evaluation der Kostendeckung von Ausnüchterungszellen»

Am 24. Oktober 2013 beschloss die SGK-N, das Postulat 13.4007 «Evaluation der Kostendeckung von Ausnüchterungszellen» einzureichen. Darin wurde der Bundesrat beauftragt, aufgrund der in einigen Kantonen bereits gemachten Erfahrungen einen Bericht über die mögliche Umsetzung des zweiten Teils der parlamentarischen Initiative 10.431 «Komatrinker sollen Aufenthalte im Spital und in Ausnüchterungszellen selber bezahlen» zu erstellen, damit aufgezeigt werden kann, mit welchen Mitteln und auf welcher Rechtsebene die Forderung nach Deckung der Kosten der Ausnüchterungszelle durch den Verursacher oder die Verursacherin beziehungsweise die gesetzliche Vertretung am sinnvollsten und effizientesten erreicht werden kann.

Am 6. Dezember 2013 beantragte der Bundesrat, dieses Postulat anzunehmen. Der Nationalrat folgte diesem Antrag am 10. März 2014.

Aufgrund dieses Postulates befragte das Bundesamt für Gesundheit die Kantone zu ihren Ausnüchterungszellen und verfasste gestützt auf die Antworten den Postulatsbericht, den der Bundesrat am 1. April 2015 verabschiedet hat4. Er kommt zum Schluss, dass die Verhältnisse in den Kantonen und deren Praxis sehr unterschiedlich sind. Deshalb ist es dem Bundesrat nicht möglich aufzuzeigen, mit welchen Mitteln und auf welcher Rechtsebene die Forderung nach Deckung der Kosten der Ausnüchterungszellen durch die Verursacherinnen und Verursacher am sinnvollsten und effizientesten umgesetzt werden kann. Der Bundesrat geht jedoch davon aus, dass die Kantone die Deckung der Kosten von Ausnüchterungszellen, soweit sie sie aufgrund ihrer Verhältnisse für sinnvoll erachten, umsetzen oder dass sie deren Umsetzung in der nächsten Zeit prüfen wollen. Bezüglich der Finanzierung der Aufenthalte in Ausnüchterungszellen besteht somit für den Bund kein Koordinations- oder anderweitiger Handlungsbedarf auf nationaler Ebene.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Beurteilung der Vorlage

Der Bundesrat hat in seinen Antworten auf frühere Vorstösse darauf hingewiesen, dass das KVG das Verschulden der versicherten Person weder für die Übernahme von Leistungen noch für die Kostenbeteiligung berücksichtigt. Dabei hat er dargelegt, dass es mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit kaum vereinbar ist, nur auf Leistungen für die Behandlung von Alkoholvergiftungen eine höhere Kostenbeteiligung zu erheben (Motionen Stahl 07.3202 und Humbel 08.3201 sowie Anfrage Humbel 09.1140). Die parlamentarische Initiative 10.431 geht inhaltlich weiter als die früheren Vorstösse: Sie verlangt, dass die versicherte Person im Fall einer Hospitalisierung mit Alkoholintoxikation die medizinische Notversorgung wie auch allfällige Aufenthaltskosten in Ausnüchterungszellen im vollen Umfang selber übernehmen muss. Der daraufhin von der SGK-N ausgearbeitete Entwurf fordert nun, neu das Verschulden der versicherten Person im Fall der Hospitalisierung mit 4

Der Bericht ist einsehbar unter: www.bag.admin.ch > Krankenversicherung > Publikationen > Berichte

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Alkoholintoxikation bei der Kostenbeteiligung derart zu berücksichtigen, dass die versicherte Person während einem vom Bundesrat noch festzulegenden Zeitraum die vollen Kosten zu übernehmen hat. Somit wird das Verschuldensprinzips im KVG für diesen speziellen Bereich eingeführt. Die zentralen Fragen der Rechtmässigkeit und Umsetzbarkeit bleiben unbeantwortet und der Bundesrat unterstützt eine solche Regelung aus verschiedenen Gründen nach wie vor nicht. Wie die grosse Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden lehnt der Bundesrat die Vorlage ab, und zwar insbesondere aus folgenden, auch von den Gegnern der Vorlage angeführten Gründen: ­

Systemwechsel im KVG: Die Berücksichtigung des Verschuldens in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung würde einen Systemwechsel bedeuten, der sowohl grundsätzlich wie auch für einen einzelnen Sachverhalt abzulehnen ist.

Ein solcher Systemwechsel würde dem heutigen schweizerischen Sozialversicherungssystem kaum entsprechen: Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 20005 über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sieht vor, dass Geldleistungen gekürzt oder verweigert werden können, wenn die versicherte Person den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt oder verschlimmert hat (Art. 21 ATSG).

Die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sind jedoch keine Geldleistungen, sondern Sachleistungen (Art. 14 und 15 ATSG).

Das Bundesgesetz vom 20. März 19816 über die Unfallversicherung (UVG) geht davon aus, dass eine absichtlich herbeigeführte Selbstschädigung keinen Unfall im Rechtssinn darstellt, weil das Erfordernis der unbeabsichtigten schädigenden Einwirkung auf den menschlichen Körper nicht erfüllt ist.

Deshalb richtet die obligatorische Unfallversicherung dafür grundsätzlich keine Leistungen aus. Ausgenommen sind die Bestattungskosten.

Leistungskürzungen sind lediglich bei Nichtberufsunfällen möglich, wobei das Taggeld während höchstens zwei Jahren gekürzt werden kann, wenn die versicherte Person den Unfall grobfahrlässig verursacht hat und zwischen dem Verschulden und dem Unfall beziehungsweise seinen Folgen ein adäquater Kausalzusammenhang besteht.

Weiter kann der Bundesrat aussergewöhnliche Gefahren und Wagnisse bezeichnen, die in der Versicherung der Nichtberufsunfälle zur Verweigerung sämtlicher Leistungen oder zur Kürzung der Geldleistungen führen (Art. 39 UVG). Der Bundesrat hat abschliessend festgelegt, dass sämtliche Versicherungsleistungen verweigert werden für Nichtberufsunfälle, die sich bei ausländischem Militärdienst, Teilnahme an kriegerischen Handlungen, Terrorakten und bandenmässigen Verbrechen ereignen. Zudem sieht er bei Nichtberufsunfällen in bestimmten Fällen die Kürzung von Geldleistungen vor (Art. 49 und 50 der Verordnung vom 20. Dezember 19827 über die Unfallversicherung, UVV).

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SR 830.1 SR 832.20 SR 832.202

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Somit wird im schweizerischen Sozialversicherungssystem das Verschulden für Sachleistungen bisher nur in klar umschriebenen Fällen berücksichtigt.

In der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, die Sachleistungen versichert, stellte sich die Frage des Verschuldens bisher nicht.

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Wirksamkeit: Es ist kein europäisches Land bekannt, das aufgrund einer Alkoholintoxikation eine Beteiligung an den Krankheitskosten verlangt.

Entsprechend gibt es bisher keine Studien, die die Wirksamkeit einer Kostenbeteiligung in Bezug auf eine Reduktion des Konsums von Alkohol nachweisen würden. Demgegenüber basiert die schweizerische Alkoholpolitik auf wissenschaftlichen Grundlagen: Die erwiesenermassen wirksamsten Massnahmen, die angewendet werden, um Alkoholmissbrauch vorzubeugen, sind preisliche Massnahmen, eine Beschränkung der Erhältlichkeit von Alkohol und der Alkoholwerbung sowie Kurzinterventionen.8 Ebenfalls vorbeugend wirken Massnahmen zur Verhinderung des Verkaufs von Alkohol an Minderjährige, die Haftbarkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer von Alkohol in Schadensfällen oder die Früherkennung und Frühintervention bei Alkoholmissbrauch.9 Mit dem Nationalen Programm Alkohol (NPA), das der Bundesrat 2008 verabschiedet hat, wird eine auf Evidenzen basierende, kohärente Alkoholpolitik auf der Ebene des Bunds und der Kantone verfolgt, um dem Alkoholmissbrauch entgegenzuwirken. Im Rahmen des NPA wird zum Beispiel der Jugendschutz durch Schulungen für das Verkaufspersonal, durch Jugendschutzkonzepte oder Empfehlungen zur Strukturierung des Vorgehens bei Alkoholintoxikationen gestärkt (vgl. Ziff. 2.2). Im Weiteren hat der Bundesrat im Entwurf zur Totalrevision des Alkoholgesetzes Massnahmen im Bereich der Erhältlichkeit vorgeschlagen, so eine gesetzliche Grundlage für Testkäufe und ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot im Detailhandel.10 Die Wirksamkeit der letztgenannten Massnahme lässt sich durch die Erfahrungen im Kanton Genf belegen: Nach der Einführung des Nachtverkaufsverbots im Februar 2005 in Läden, Tankstellen und Videotheken ab 21 Uhr gingen die Alkoholvergiftungen bei 10- bis 29-Jährigen im Vergleich zu anderen Kantonen um 35 Prozent zurück.11

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Finanzielle Auswirkungen: Es ist darauf hinzuweisen, dass die finanziellen Auswirkungen der Vorlage ungenügend geklärt sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Abklärung des Verschuldens, insbesondere wegen Abgrenzungsschwierigkeiten, für Leistungserbringer und Versicherer aufwendig wäre und zudem zu Gerichtsverfahren führen könnte. Weiter ist anzunehmen, dass die Betroffenen die Kosten bereits heute über Franchise und Selbstbehalt teilweise selber bezahlen, und es ist deshalb zu befürchten, dass die Kosten dieser Vorlage für die Versicherer höher sein könnten als die Einsparungen.

Vgl. dazu das im Jahr 2012 abgeschlossene Amphora-Projekt, das im Rahmen des 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramms der Europäischen Kommission durchgeführt wurde; Informationen dazu sind einsehbar unter: www.amphoraproject.net/ Vgl. Babor et al., Alkohol ­ kein gewöhnliches Konsumgut, Hogrefe 2005.

BBl 2012 1315 Vgl. Gmel Gerhard/Wicki Matthias, Effekt der Einschränkung der Erhältlichkeit von Alkohol auf Alkohol-Intoxikationen im Kanton Genf, Lausanne, 2010. Der Bericht ist einsehbar unter: www.bag.admin.ch > Alkohol > Forschung und Evaluation > Forschungsberichte > 2010.

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Rechtsgleichheit: Die Vorlage ist schwer vereinbar mit dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsgleichheit, weil sie nur den übermässigen Alkoholkonsum, nicht jedoch andere gesundheitsschädigende Verhaltensweisen erfasst.

Auch übermässiges Rauchen, Essen, Arbeiten und Sporttreiben können auf die Dauer gesundheitsschädigend wirken. Der übermässige Konsum von Betäubungsmitteln oder Medikamenten kann auch kurzfristig zu Gesundheitsschäden führen. Der nach übermässigem Alkoholkonsum übliche Behandlungsbedarf ist nicht grösser oder kostspieliger als bei anderen gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen. Die unterschiedliche Regelung der Folgen dieser Verhaltensweisen lässt sich daher kaum sachlich begründen.

Zudem werden Behandlungen aufgrund eines Unfalls nach übermässigem Alkoholkonsum bei Personen, die dem UVG unterstehen, weiterhin nach diesem vergütet. Ebenso wird bei Personen, die dem Bundesgesetz vom 19. Juni 199212 über die Militärversicherung unterstehen, keine solche Kostenbeteiligung erhoben, was zu einer weiteren Ungleichbehandlung führen würde.

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Verhältnismässigkeit: Die Vorgaben des Entwurfs erlauben es kaum, ihn unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit umzusetzen, selbst dann, wenn die Grenze dessen, was als übermässiger Alkoholkonsum gelten soll, hoch angesetzt und der Zeitraum, in dem eine 100-prozentige Kostenbeteiligung erhoben wird, stark eingeschränkt wird. Der Entwurf der Kommission erlaubt es nämlich nicht, die Sanktion den Besonderheiten des Einzelfalls anzupassen. Eine 100-prozentige Kostenbeteiligung dürfte jedoch ­ unabhängig von den verursachten Kosten ­ in vielen Fällen unverhältnismässig sein.

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Zielgruppe: Die in der Vorlage anvisierte Zielgruppe ist unklar. Alkoholintoxikation ist kein Jugendphänomen: Im Jahr 2012 waren über 90 Prozent der wegen übermässigem Alkoholkonsum hospitalisierten Personen über 23 Jahre alt. Die Raten der Haupt- und Nebendiagnosen Alkoholintoxikation nehmen auch im Erwachsenenalter weiter zu.13 Somit ist es kaum vertretbar, die Entwicklung der Hospitalisierung der 10­23-Jährigen als hauptsächliche Grundlage für diese Gesetzesänderung anzusehen. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass heute (im Gegensatz zu 2010, als die parlamentarische Initiative 10.431 eingereicht wurde) bekannt ist, dass die Anzahl der Hospitalisierungen nach einer starken Zunahme ab 2003 seit 2008 in allen Altersgruppen (auch bei den 10­23-Jährigen) wieder zurückgeht. 2012 lagen die Hospitalisierungen wieder auf einem niedrigeren Niveau als 2007.14

SR 833.1 Wicki Matthias/Gmel Gerhard, Hospitalisierungen aufgrund von Alkohol-Intoxikation oder Alkoholabhängigkeit bei Jugendlichen und Erwachsenen ­ Eine Analyse der Schweizerischen «Medizinischen Statistik der Krankenhäuser» 2001­2010. Forschungsbericht Nr. 62. Sucht Schweiz. Lausanne 2013.

Wicki Matthias/ Stucki Stephanie, Hospitalisierungen aufgrund von Alkohol-Intoxikation oder Alkoholabhängigkeit bei Jugendlichen und Erwachsenen ­ Eine Analyse der Schweizerischen «Medizinischen Statistik der Krankenhäuser» 2003­2012. Forschungsbericht Nr. 73. Sucht Schweiz. Lausanne 2014.

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Nebendiagnosen: Die notfallmässigen Behandlungen nach übermässigem Alkoholkonsum sind oft auf mehrere Ursachen (vorbestehende Erkrankungen wie Alkoholabhängigkeit oder psychische Störungen, Einnahme von Medikamenten zusätzlich zum Alkohol, Verletzungen nach Gewaltanwendungen oder Unfall) zurückzuführen. 2012 wurden rund 12 000 Personen mit einer Alkoholintoxikation im Spital behandelt (davon rund 1000 unter 24-Jährige). Von diesen 12 000 Personen haben 75 Prozent eine weitere Haupt- oder Nebendiagnose, insbesondere Alkoholabhängigkeit (40,6 %) oder eine psychische Störung15. So müsste beispielsweise eine versicherte Person, die nach übermässigem Alkoholkonsum einen Knochenbruch erleidet und eine Nebendiagnose Alkoholabhängigkeit aufweist, aber den Nachweis nach Artikel 64a0 Absatz 3 oder 4 des Entwurfs zur Änderung des KVG nicht erbringen kann, im betreffenden Zeitraum alle Kosten, auch diejenigen der Operation des Knochenbruchs, tragen. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Regelung verhältnismässig ist.

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Definitionskriterien: Die SGK-N macht im erläuternden Bericht selber darauf aufmerksam, dass eine Schwierigkeit bei der Umsetzung darin liegt, verschiedene Leistungen und Haupt- und Nebendiagnosen einer Patientin oder eines Patienten voneinander abzugrenzen und zu bestimmen, ob ein Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum besteht oder nicht. Dieses Abgrenzungsproblem will die SGK-N mit der Erhebung einer neuen Form der Kostenbeteiligung lösen («Die medizinischen Behandlungskosten, die aufgrund von übermässigem Alkoholkonsum anfallen, sollen durch die Verursacher in vollem Umfang selber bezahlt werden.») Diese Kostenbeteiligung soll zusätzlich zu Jahresfranchise, Selbstbehalt und Spitalkostenbeitrag erhoben werden, und sie soll für alle Leistungen gelten, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach der Feststellung des übermässigen Alkoholkonsums erbracht werden.

Die Mehrheit der SGK-N will festlegen, dass die versicherte Person kein Verschulden trifft und sie damit nicht unter diesen Sachverhalt fällt, wenn sie seit mindestens sechs Monaten wegen Alkoholabhängigkeit in ärztlicher Behandlung steht. Der Bundesrat erachtet es aber als fachlich nicht vertretbar, die Unterscheidung zwischen Fehlverhalten und Krankheit alleine am Kriterium aufzuhängen, ob sich jemand in Behandlung befindet oder nicht.

Die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit ist im Klassifikationssystem ICD10 genau beschrieben. Für einen «übermässigen Alkoholkonsum» hingegen existiert keine medizinische Diagnose. Darüber hinaus ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Zeitdauer, wie lange sich eine Person in ärztlicher Behandlung befinden muss, festgesetzt wird. Zudem schliesst diese Bestimmung auch alle Personen aus, die sich von einer Suchtfachstelle beraten lassen, aber nicht in ärztlicher Behandlung sind. Ohnehin befinden sich viele Alkoholabhängige weder in Beratung noch in Behandlung. Der vorliegende Entwurf würde somit einer beträchtlichen Anzahl Personen, die nach anerkannten medizinischen Kriterien als abhängig gelten, für den

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Wicki Matthias/Stucki Stephanie, Hospitalisierungen aufgrund von Alkohol-Intoxikation oder Alkoholabhängigkeit bei Jugendlichen und Erwachsenen ­ Eine Analyse der Schweizerischen «Medizinischen Statistik der Krankenhäuser» 2003­2012. Forschungsbericht Nr. 73. Sucht Schweiz. Lausanne 2014. S. 16.

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Bezug von KVG-Leistungen eine 100-prozentige Kostenbeteiligung auferlegen.

Auch bezüglich des Zeitraums, während dessen die versicherte Person die Kosten selber übernehmen soll, ist eine sachlich begründete Dauer schwierig zu bestimmen.

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Gefährdung der Gesundheit der Versicherten: Die Regelung könnte bewirken, dass insbesondere Jugendliche und Personen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen aus Kostengründen nicht oder zu spät hospitalisiert und behandelt werden, was durch die Notwendigkeit von zusätzlichen und komplexeren ärztlichen Eingriffen zu kostspieligen gesundheitlichen Folgeschäden oder sogar zu Todesfällen wegen Alkoholintoxikation führen könnte.

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Ausgangspunkt für Früherkennung: Die neue Regelung würde die bestehende Tabuisierung bezüglich Alkoholismus verstärken und somit das ArztPatienten-Verhältnis belasten und eine Früherkennung von Alkoholabhängigkeit behindern. Ein Spitalaufenthalt kann nämlich ein Ausgangspunkt für Früherkennung und Frühintervention sein, womit Folgeerkrankungen verhindert und längerfristig auch Kosten reduziert werden können.

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Massnahmen der Kantone: Der Bericht in Erfüllung Postulats der SGK-N 13.4007 «Evaluation der Kostendeckung von Ausnüchterungszellen» hat gezeigt, dass die Kantone, die in diesem Bereich Handlungsbedarf sehen, bereits in ihrer Kompetenz Massnahmen ergriffen haben oder dabei sind, das zu tun. Er kommt zum Schluss, dass bezüglich der Finanzierung der Aufenthalte in Ausnüchterungszellen für den Bund kein Handlungsbedarf besteht.

Im Übrigen vermag auch die vorgesehene Befristung der Vorlage auf fünf Jahre die erwähnten Einwände nicht zu beseitigen. Insbesondere der Systemwechsel im KVG, die schwere Vereinbarkeit der Vorlage mit dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsgleichheit und die ungenügend geklärten finanziellen Auswirkungen sprechen auch gegen eine nur befristete Einführung der Vorlage.

2.2

Weitere Tätigkeiten des Bundes und der Kantone

Der Bundesrat teilt die Einschätzung der SGK-N, dass im Umgang mit Alkoholmissbrauch Probleme bestehen. Er hat der Handlungsbedarf erkannt und deshalb im Jahr 2008 das Nationale Programm Alkohol (NPA) verabschiedet und im Jahr 2012 um weitere vier Jahre verlängert. Das Programm sorgt für ein koordiniertes Vorgehen und setzt Ziele in der nationalen Alkoholpolitik.

Eines der drei strategischen Ziele des Programms ist die Stärkung des Jugendschutzes. Die Zielerreichung wird unter anderem anhand der Erfassung des Anteils der alkoholbedingten Spitaleinweisungen Jugendlicher überprüft werden. Ziel ist es, die Einweisungen bis 2016 im Vergleich zu 2007 um 5 Prozent zu verringern. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen unterstützt (z.B. durch Schulungen von Verkaufspersonal und Testkäufe). Gemeinsam mit den Kantonen wurden Jugendschutzkonzepte erarbeitet, und die Früherfassung und Frühintervention werden gefördert. Das NPA unterstützt die Kantone in diesem und in anderen Bereichen der Alkoholpolitik mit Informationen und Austauschplattformen und ermöglicht den Austausch auf Kantonsebene zwischen Polizei-, Justiz-, Volkswirtschafts-, Gesundheits- und Sozialbehörden.

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Ebenfalls im Rahmen des NPA werden gegenwärtig Empfehlungen zur Strukturierung des Vorgehens bei Alkoholintoxikationen erarbeitet. Hierbei geht es vor allem um die Klärung der Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen (Spitäler, Polizei, Suchtberatung). Diese Arbeiten schliessen an Interventionsmodelle an, die in den letzten Jahren in verschiedenen Spitälern, unter anderem in Genf, Zürich, Lausanne, Basel und in den Kantonen Aargau und Wallis entwickelt wurden. Sie umfassen ein ärztliches Gespräch mit Jugendlichen, die wegen übermässigem Alkoholkonsum in eine Notfallstation eingeliefert werden. Die untersuchten Programme weisen eine sehr hohe Teilnehmerquote aus und werden von Eltern und Jugendlichen positiv beurteilt.

Andere erwiesenermassen wirksame Massnahmen wie preisliche Massnahmen oder Einschränkungen der Erhältlichkeit von Alkohol in der Nacht hat der Bundesrat in seinem Entwurf zur Totalrevision des Alkoholgesetzes vorgeschlagen. Viele Kantone haben diese unterstützt.

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Antrag des Bundesrates

Aus den dargelegten Gründen beantragt der Bundesrat, auf die Vorlage nicht einzutreten.

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