15.033 Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesschutz) vom 15. April 2015

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen den Entwurf einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesschutz) mit dem Antrag auf Zustimmung.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2011

M 08.3790

Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch (N 3.6.09, Aubert; S 29.11.10, N 2.3.11)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. April 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2014-3140

3431

Übersicht Fachpersonen, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben, sollen verpflichtet werden, der Kindesschutzbehörde Meldung zu machen, wenn sie den Verdacht haben, dass das Wohl eines Kindes und damit seine Entwicklung gefährdet ist. Zweck dieser Meldepflicht ist es sicherzustellen, dass gefährdete oder gar misshandelte Kinder unmittelbaren und wirksamen Schutz erhalten.

Ausgangslage Die zivilrechtliche Melderegelung soll sicherstellen, dass die Kindesschutzbehörden rechtzeitig von gefährdeten Kindern erfahren. Nach geltendem Recht sind lediglich Personen in amtlicher Tätigkeit verpflichtet, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu erstatten, wenn das Wohl des Kindes gefährdet erscheint (Art. 443 Abs. 2 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB). Gefährdete Kinder fallen jedoch auch verschiedenen Berufsgruppen, die keine öffentlich-rechtlichen Aufgaben erfüllen, häufig bereits in einem frühen Stadium auf.

Inhalt der Vorlage Die Verpflichtung, bei Gefährdungen des Kindeswohls eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu erstatten, soll auf Fachpersonen ausgedehnt werden, die eine besondere Beziehung zu Kindern haben, weil sie beruflich regelmässig Kontakt zu ihnen haben. Die Einführung einer solchen Meldepflicht soll gewährleisten, dass die Kindesschutzbehörde rechtzeitig die nötigen Massnahmen zum Schutz eines gefährdeten Kindes treffen kann. Damit soll verhindert werden, dass Kinder in einer Situation allein gelassen werden, aus der ihnen langfristige gravierende Schäden entstehen können.

Untersteht eine Person dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch (Art. 321 StGB), soll sie nicht verpflichtet, aber berechtigt sein, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu machen. Eine Meldepflicht kann kontraproduktiv sein, weil eine Meldung in diesen Fällen gerade die Vertrauensbeziehung zum betroffenen Kind oder zu Dritten unnötig gefährden oder zerstören könnte und daher nicht dem Wohl des Kindes dient. Eine Meldung soll nur dann erfolgen, wenn die Geheimnisträgerin oder der Geheimnisträger nach Abwägung der zu wahrenden Interessen zum Schluss kommt, dass sie dem Wohl des Kindes dient.

Personen, die dem Berufsgeheimnis unterstehen, sollen neu auch berechtigt sein, der Kindesschutzbehörde bei der Abklärung des Sachverhalts zu helfen. Dies, ohne sich vorgängig von der vorgesetzten Behörde, der
Aufsichtsbehörde oder den betroffenen Personen vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Wenn sie vom Berufsgeheimnis entbunden wurden, sollen sie zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet sein.

3432

Inhaltsverzeichnis Übersicht

3432

1

3435 3435 3435 3435 3435

Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Revisionsanliegen 1.1.2 Geltendes Recht 1.1.2.1 Melderechte und -pflichten im Zivilgesetzbuch 1.1.2.2 Meldepflichten in kantonalen Ausführungserlassen zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht 1.1.2.3 Meldepflichten des öffentlichen kantonalen Rechts 1.1.2.4 Melderechte im Strafgesetzbuch 1.1.2.5 Melderechte in Spezialerlassen 1.1.3 Anspruch des Kindes auf Schutz und Förderung seiner Entwicklung 1.1.4 Zivilrechtlicher Kindesschutz 1.1.5 Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung 1.1.6 Kindesmisshandlung 1.1.7 Strafbarkeit der Kindesmisshandlung 1.1.8 Risikofaktoren für die Entstehung von Kindesmisshandlung 1.1.9 Folgen von Kindesmisshandlung 1.1.10 Statistik über Kindesmisshandlung 1.2 Die beantragte Neuregelung 1.2.1 Ziel der Revision 1.2.2 Kreis der verpflichteten Personen 1.2.3 Der Ausnahmekatalog und das Berufsgeheimnis 1.3 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 1.4 Nicht berücksichtigte Revisionsanliegen 1.5 Rechtsvergleich 1.6 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

3436 3437 3438 3438 3439 3439 3440 3441 3442 3442 3443 3444 3446 3446 3447 3448 3450 3451 3452 3453

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 2.1 Zivilgesetzbuch 2.2 Strafgesetzbuch 2.3 Strafprozessordnung 2.4 Opferhilfegesetz 2.5 Bundesgesetz über die Schwangerschaftsberatungsstellen 2.6 Anwaltsgesetz

3454 3454 3462 3463 3463 3464 3464

3

Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

3465 3465 3465

3433

3.3 3.4 4

5

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft Auswirkungen auf die Gesellschaft

3465 3465

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrates 4.1 Verhältnis zur Legislaturplanung 4.2 Verhältnis zu nationalen Strategien des Bundesrates

3466 3466 3466

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungs- und Gesetzmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.3 Erlassform 5.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 5.5 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 5.6 Datenschutz

3466 3466 3467 3467 3467 3467 3467

Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Kindesschutz) (Entwurf)

3434

3469

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Revisionsanliegen

Mit der vorliegenden Revision soll die Motion 08.3790 Aubert vom 9. Dezember 2008 (Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch) umgesetzt werden. Diese verlangt, dass sämtliche Berufspersonen, die mit Kindern zusammenarbeiten, zur Meldung verpflichtet werden sollen, wenn sie im Rahmen ihrer Tätigkeit von einem Fall von Kindesmisshandlung oder -missbrauch Kenntnis erlangen.

Der Bundesrat beantragte am 25. Februar 2009 die Ablehnung dieser Motion. Er hielt allerdings in seiner Antwort fest, dass er bereit sei, eine allgemeine Meldepflicht mit klar umschriebenen Ausnahmen einzuführen, und beantragte eine Änderung der Motion in diesem Sinne. Der Nationalrat nahm am 3. Juni 2009 die Motion ohne Änderungen an. Der Ständerat folgte hingegen dem Vorschlag des Bundesrates und nahm am 29. November 2010 die Motion mit folgendem abgeänderten Motionstext an: «Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament eine Änderung des Zivilgesetzbuches oder eines anderen Bundesgesetzes vorzulegen, mit der eine allgemeine Meldepflicht gegenüber Kindesschutzbehörden mit gewissen klar umschriebenen Ausnahmen in allen Schweizer Kantonen eingeführt werden kann. Ein einheitliches Vorgehen durch eine allgemeine Meldepflicht soll dazu beitragen, dass die Misshandlung und der sexuelle Missbrauch von Kindern ­ beides fordert noch viel zu viele Opfer ­ wirksam bekämpft werden.» Der Nationalrat stimmte dieser Änderung am 2. März 2011 zu.

1.1.2

Geltendes Recht

1.1.2.1

Melderechte und -pflichten im Zivilgesetzbuch

Artikel 443 ZGB1 regelt, welche Personen berechtigt und welche verpflichtet sind, der Erwachsenenschutzbehörde zu melden, wenn sie von einer hilfsbedürftigen Person Kenntnis erhalten. Diese Regelung ist sinngemäss anwendbar, wenn das Wohl eines Kindes gefährdet ist (Art. 314 Abs. 1 ZGB).

Grundsätzlich ist jedermann berechtigt, eine Gefährdungsmeldung an die Kindesbzw. Erwachsenenschutzbehörde2 zu machen. Das Gesetz macht einen Vorbehalt für Personen, die einem Berufsgeheimnis unterstehen. In diesem Fall darf die betroffene Fachperson nur dann eine Meldung erstatten, wenn sie sich schriftlich vom Berufsgeheimnis entbinden lässt (Art. 443 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 321 Ziff. 2 und 3 StGB3).

1 2 3

Schweizerisches Zivilgesetzbuch; SR 210.

Zwischen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde besteht Personalunion (Art. 440 Abs. 3 ZGB).

Schweizerisches Strafgesetzbuch (StGB); SR 311.

3435

Eine Sonderregelung gilt für Personen in amtlicher Tätigkeit. Diese sind zur Meldung an die Kindes- bzw. Erwachsenenschutzbehörde verpflichtet, wenn eine Person hilfsbedürftig erscheint (Art. 443 Abs. 2 ZGB). Der Begriff der «amtlichen Tätigkeit» im Sinne dieser Regelung ist weit auszulegen: Es wird kein Beamten- oder Angestelltenverhältnis vorausgesetzt, sondern es genügt, wenn die betroffene Person öffentlich-rechtliche Befugnisse ausübt.4 Die Kantone können allerdings von der bundesrechtlichen Regelung abweichen und weitere Meldepflichten vorsehen (Art. 443 Abs. 2 zweiter Satz ZGB; vgl. Ziff. 1.1.2.2).

1.1.2.2

Meldepflichten in kantonalen Ausführungserlassen zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht

Mehrere Kantone haben gestützt auf Artikel 443 Absatz 2 zweiter Satz ZGB in ihrer Gesetzgebung die Meldepflichten auf bestimmte Personenkategorien ausgeweitet:5

4 5 6

­

Ärztinnen und Ärzte (AI, SZ, UR);

­

Lehrpersonen privater Bildungseinrichtungen (AR, UR);

­

Gesundheitsfachpersonen (AR);

­

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von subventionierten Betrieben und Institutionen im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes (BS);

­

Fachpersonen aus den Bereichen Bildung und Erziehung, Religion, Gesundheit, Sport und Freizeit, Sozialarbeit, Schulpsychologie, Logopädie und Psychomotoriktherapie sowie jegliche Personen, die eine Tätigkeit in Verbindung mit Kindern ausüben, unter Vorbehalt des Berufsgeheimnisses (GE6);

­

Fachpersonen aus den Bereichen Bildung und Erziehung, Religion, Gesundheit und Sport, Sozialarbeit, Schulpsychologie, Logopädie und Psychomotoriktherapie sowie jegliche Personen, die eine Tätigkeit in Verbindung mit Kindern ausüben (VD);

­

Personen, die beruflich regelmässigen Kontakt mit Kindern haben (JU);

­

Personen, die beruflich mit der Ausbildung, Betreuung oder der medizinischen oder psychologischen Behandlung von Kindern zu tun haben (ZG);

­

Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Pflege, Bildung, Erziehung, Betreuung, Sozialberatung und Religion (GR);

­

Mitarbeitende privater Institutionen in den Bereichen Bildung, Betreuung und Pflege, unter Vorbehalt des Berufsgeheimnisses (LU);

Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), BBl 2006 7076.

Die Zusammenstellung stützt sich auf: Affolter Kathrin, Anzeige- und Meldepflicht (Art. 443 Abs. 2 ZGB), ZKE 1/2013, S. 47 ff.

Der Kanton Genf sieht eine Meldung an das Jugendamt und nicht an die Kindesschutzbehörde vor (Art. 34 Abs. 4 LaCC).

3436

­

Mitarbeitende von privaten Institutionen in den Bereichen Bildung, Betreuung und Pflege sowie die Arztpersonen und Geistlichen (OW);

­

Familienangehörige in gerader Linie sowie auch in Seitenlinie ersten und zweiten Grades (GL).

1.1.2.3

Meldepflichten des öffentlichen kantonalen Rechts

Verschiedene Kantone kennen im Bereich des kantonalen Schul-, Bildungs-, Sozialhilfe-, Gesundheits- sowie Polizeirechts weitere Meldepflichten, die ebenfalls als Konkretisierung der in Artikel 443 Absatz 2 ZGB vorgesehenen amtlichen Meldepflicht anzusehen sind, so zum Beispiel:7 BL

§ 19a

Bildungsgesetz8

Personen, die in einem Anstellungs- oder Auftragsverhältnis an Privatschulen tätig sind, sind zur Meldung an die Kindesschutzbehörde verpflichtet, wenn sie in ihrer beruflichen Tätigkeit Kenntnis erhalten von Schülerinnen und Schülern, die in ihrem Wohl gefährdet sind und für deren Schutz ein behördliches Einschreiten erforderlich erscheint.

1

Verstösse gegen die Meldepflicht gemäss Absatz 1 werden mit Busse bestraft.

2

JU

Art. 13

Loi sur la politique de la jeunesse9

Tout agent public cantonal ou communal qui acquiert connaissance, dans l'exercice de ses fonctions, qu'un enfant est victime de mauvais traitements, de quelque nature que ce soit, ou ne reçoit pas les soins et l'attention commandés par les circonstances, est tenu d'en informer l'autorité tutélaire ou son supérieur hiérarchique à l'intention de cette dernière.

1

La même obligation incombe à toute personne qui, à titre professionnel, a des contacts réguliers avec des enfants. Dans les institutions, l'obligation de signaler échoit à la direction, au responsable ou au personnel désigné à cet effet.

2

SG

Art. 10

Suchtgesetz10

Erscheinen Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen im Interesse des Betroffenen, seiner Angehörigen oder der Allgemeinheit notwendig, erstattet die Fachstelle der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des zivilrechtlichen Wohnsitzes Bericht und Antrag.

1

Besteht ein Schutzbedürfnis wegen Suchtproblemen, sind die zur Wahrung des Amts- und Berufsgeheimnisses verpflichteten Personen von der Schweigepflicht gegenüber der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde befreit.

2

7 8 9 10

Affolter (Fn. 5), S. 52 f.

SGS 640 RSJU 853.21 sGS 311.2

3437

VS

Art. 54

Jugendgesetz11

Jede Person, die in Ausübung ihres Berufs, aufgrund eines Auftrags oder einer Funktion in Verbindung mit Kindern, sei es hauptberuflich, nebenberuflich oder aushilfsweise, Kenntnis von einer Situation hat, welche die Entwicklung eines Kindes gefährdet, und nicht selber Abhilfe schaffen kann, muss ihren Vorgesetzten oder fehlendenfalls die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde benachrichtigen.

1

1.1.2.4

Melderechte im Strafgesetzbuch

Ist an einer minderjährigen Person eine strafbare Handlung begangen worden, so sind die nach dem Strafgesetzbuch an das Amts- oder das Berufsgeheimnis gebundenen Personen berechtigt, dies im Interesse der minderjährigen Person der Kindesschutzbehörde zu melden (Art. 364 StGB). Diese Norm steht teilweise im Widerspruch zur zivilrechtlichen Regelung, welche für Personen in amtlicher Tätigkeit in solchen Fällen wie ausgeführt eine Meldepflicht statuiert (vgl. Ziff. 1.1.2.1). Die Regelung im Erwachsenenschutzrecht (Art. 443 ZGB; seit 1. Januar 2013 in Kraft) hat hier als jüngere Norm Vorrang.

1.1.2.5

Melderechte in Spezialerlassen

Im Opferhilfegesetz12 ist eine besondere Schweigepflicht mit spezieller Meldeberechtigung verankert. Die Beratungsstelle für Opfer von Straftaten kann die Kindesschutzbehörde informieren oder bei der Strafverfolgungsbehörde Anzeige erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines minderjährigen Opfers oder einer anderen unmündigen Person ernsthaft gefährdet ist (Art. 11 Abs. 3 OHG).

Eine weitere Meldeberechtigung findet man auch im Betäubungsmittelgesetz13.

Adressaten dieser Meldung sind allerdings nicht die Kindesschutzbehörden, sondern die kantonal zuständigen Behandlungs- oder Sozialhilfestellen: Amtsstellen und Fachleute im Erziehungs-, Sozial-, Gesundheits-, Justiz- und Polizeiwesen können Fälle von vorliegenden oder drohenden suchtbedingten Störungen melden, wenn sie solche Probleme in ihrer amtlichen oder beruflichen Tätigkeit festgestellt haben, eine Betreuungsmassnahme als angezeigt erachten und eine erhebliche Gefährdung der Betroffenen, ihrer Angehörigen oder der Allgemeinheit vorliegt (Art. 3c Abs. 1 BetmG).

11 12 13

SGS 850.4 Opferhilfegesetz vom 23. März 2007 (OHG); SR 312.5.

Betäubungsmittelgesetz vom 3. Oktober 1951 (BetmG); SR 812.121.

3438

1.1.3

Anspruch des Kindes auf Schutz und Förderung seiner Entwicklung

Die Schweiz hat gemäss dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK)14 die geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmassnahmen zu treffen, um Kindern den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu ihrem Wohlergehen notwendig sind (Art. 3 Ziff. 2 KRK). Sie hat namentlich alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen zu treffen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung sowie vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs zu schützen (Art. 19 Ziff. 1 KRK).

Minderjährige haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung (Art. 11 Abs. 1 BV15).

Adressaten dieser Norm sind in erster Linie der Bund, die Kantone und die Gemeinden, welche im Rahmen ihrer Zuständigkeiten durch rechtsetzende Massnahmen für den nötigen Schutz und die geeignete Förderung der Minderjährigen zu sorgen haben.16 Auch Behörden, die sich in der Praxis mit Minderjährigen befassen, sind verpflichtet, ihre Tätigkeit an den Leitlinien der Norm auszurichten, die erforderlichen Schutz- und Förderungsmassnahmen rechtzeitig zu treffen und bei der Rechtsanwendung den besonderen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen speziell Rechnung zu tragen.17 Private erziehungs- und betreuungsberechtigte Personen sind allerdings von dieser Norm ebenfalls in die Pflicht genommen. Nur auf diese Weise kann nämlich ein umfassender Schutz der Kinder gewährleistet werden.

Der Staat hat dafür zu sorgen, dass neben den Eltern als Hauptverantwortlichen für die Betreuung des Kindes auch andere Privatpersonen, die sich mit dem Kind befassen, dessen Schutz- und Förderungsanspruch gerecht werden.18

1.1.4

Zivilrechtlicher Kindesschutz

Die Kindesschutzbehörde greift von Amtes wegen ein, wenn sie erfährt, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist und die sorge- oder obhutsberechtigten Personen ihre Schutzpflicht nicht oder ungenügend wahrnehmen (Art. 307 ZGB). Die Kindesschutzbehörde hat die Aufgabe, eine drohende oder bereits eingetretene Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, unabhängig von deren Ursache. Sie hat unter anderem dann Massnahmen zum Schutz des Kindes anzuordnen, wenn das Kind von seiner Familie körperlich und psychisch misshandelt oder sexuell missbraucht wird.

14 15 16

17 18

Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK); SR 0.107.

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft; SR 101.

Reusser Ruth/Lüscher Kurt, in: Ehrenzeller Bernhard/Mastronardi Philippe/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus A. (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Auflage, Zürich/St. Gallen 2014, Art. 11 N 26.

BGE 132 III 359 E. 4.4.2.

Reusser/Lüscher (Fn. 16), Art. 11 N 28.

3439

Ebenso hat die Kindesschutzbehörde tätig zu werden, wenn das Kind von seinen Eltern vernachlässigt wird.19 Kindesschutzmassnahmen müssen verhältnismässig sein und in erster Linie zum Ziel haben, die vorhandenen elterlichen Fähigkeiten zu ergänzen.20 Die Kindesschutzbehörde hat in der Erfüllung dieser Aufgabe ein hohes Mass an Flexibilität und es stehen ihr deshalb verschiedene Instrumente zur Verfügung. Wenn Beratung, Mahnung oder Weisungen an die Eltern (Art. 307 Abs. 3 ZGB) nicht ausreichen, kann sie entweder eine Beistandschaft zur Unterstützung der Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe anordnen (Art. 308 ZGB), das elterliche Aufenthaltsbestimmungsrecht aufheben (Art. 310 ZGB) oder die elterliche Sorge entziehen (Art. 311 und 312 ZGB).

1.1.5

Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung

Das Kindeswohl gilt als oberste Maxime des Kindesrechts21 (Art. 3 Ziff. 1 KRK).

Das Wohl des Kindes ist gewährleistet, wenn seine altersbedingten Grundbedürfnisse in einem gegebenen Lebenszusammenhang befriedigt sind. Die Grundbedürfnisse des Kindes können in drei Hauptkategorien unterteilt werden: Grundbedürfnis nach leiblichem Wohlergehen, nach sozialer Bindung und nach Wachstum und Entwicklung.22 Darunter fallen die Bedürfnisse nach Ernährung, Schlaf, Kleidung, Körperpflege, medizinischer Versorgung und Schutz vor Gefahren. Im Verlauf ihrer Entwicklung übernehmen Kinder zunehmend selbst Verantwortung für die Versorgung und den Schutz dieser Grundbedürfnisse.

In erster Linie haben die Eltern dafür zu sorgen, dass die altersbedingten Grundbedürfnisse des Kindes befriedigt werden. Sie haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Kind zu erziehen und seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen (Art. 302 Abs. 1 ZGB). Darunter fällt auch die Pflicht, das Kind zu pflegen und auszubilden.23 Die Erziehung des Kindes hängt in erster Linie von den persönlichen und finanziellen Verhältnissen der Eltern ab; sie hat sich allerdings auch an den persönlichen Fähigkeiten und Neigungen des Kindes zu orientieren (Art. 302 ZGB).

Jedes Kind ist in seinem Leben gewissen Risiken ausgesetzt. Nicht sämtliche Risiken verwirklichen sich allerdings und führen zu einer tatsächlichen Gefährdung des Kindeswohls. Zum Teil entwickeln nämlich Kinder eigene Lösungsstrategien zur Behebung dieser Risiken, oder sie werden in der Überwindung der Risiken von ihren 19

20 21 22 23

Jud Andreas, Überlegungen zur Definition und Erfassung von Gefährdungssituationen im Kindesschutz, in: Rosch Daniel/Wider Diana (Hrsg.), Zwischen Schutz und Selbstbestimmung, Bern 2013, S. 51; Schmid Heike/Meysen Thomas, in: Kindler Heinz/Lillig Susanna/Blüml Herbert/Meysen Thomas/Werner Annegret (Hrsg.), Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), München 2006, Kapitel 2.

Breitschmid Peter, in: Honsell Heinrich/Vogt Nedim Peter/Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 5. Auflage, Basel 2014, Art. 307 N 2 ff.

BGE 132 III 359 E. 4.4.2; 129 III 250 E. 3.4.2.

Werner Annegret, in: Kindler Heinz/Lillig Susanna/Blüml Herbert/Meysen Thomas/Werner Annegret (Fn. 19), Kapitel 13.

Schwenzer Ingeborg/Cottier Michelle, in: Honsell Heinrich/Vogt Nedim Peter/Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 5. Auflage, Basel 2014, Art. 302 N 1.

3440

Eltern oder von Dritten unterstützt.24 Das Kindeswohl kann aus verschiedenen Gründen gefährdet sein: durch Handlungen oder Unterlassungen (vor allem der Eltern), Ereignisse, Interaktionen und Erfahrungen. Die Frage, wie hoch in einem konkreten Fall das Risiko einer Kindeswohlgefährdung ist und inwieweit die Grundbedürfnisse des Kindes in einem konkreten Fall sichergestellt sind, bedarf in der Praxis einer vertieften Abklärung durch erfahrene Fachpersonen.25 Bei der Abklärung von Kindeswohlgefährdungen geht es im Kern um die Frage, ob und inwieweit die (altersgemässen) Grundbedürfnisse eines Kindes in einem gegebenen Lebenszusammenhang befriedigt sind. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, wie Lücken der Bedürfnisbefriedigung bestmöglich geschlossen werden können.

1.1.6

Kindesmisshandlung

Der Begriff der Kindeswohlgefährdung fokussiert auf die (Nicht-)Befriedigung von kindlichen Grundbedürfnissen. Der Begriff der Kindesmisshandlung drückt hingegen vielmehr die Folgen einer Gefährdung aus. Jede Kindesmisshandlung stellt eine Kindeswohlgefährdung dar. Eine Gefährdung des Kindes kann allerdings auch vorliegen, wenn es (noch) von keiner Misshandlung betroffen ist.

Weder in der Praxis noch in der Forschung existiert eine einheitliche Definition von Kindesmisshandlung. Nachfolgende Ausführungen stützen sich auf den Begriff der Kindesmisshandlung, der vom amerikanischen National Center for Diseases Control and Prevention26 vorgeschlagen wird. Dieser Begriff beruht auf einem breiten Konsultationsprozess in den Bereichen Medizin und Sozialarbeit und trägt den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung. Dieser Definitionsansatz unterscheidet vier Kategorien von Kindesmisshandlung: die körperliche Misshandlung, den sexuellen Missbrauch, die psychische Misshandlung und die Vernachlässigung.27 Als körperliche Misshandlung wird die bewusste Anwendung physischer Gewalt von Bezugspersonen an Kindern verstanden, die in physischen Verletzungen mündet oder das Potenzial für derartige Verletzungen besitzt.

Der sexuelle Missbrauch umfasst jeden versuchten oder vollendeten sexuellen Akt oder Kontakt von Bezugspersonen mit Kindern, aber auch sexuelle Handlungen ohne direkten körperlichen Kontakt (z.B. Exhibitionismus, pornografische Aufnahmen).

Bei psychischer Misshandlung vermitteln Bezugspersonen Kindern den Eindruck, dass sie wertlos, fehlerhaft, ungeliebt, nicht gewollt, bedroht oder nur für die Erfüllung von Interessen und Bedürfnissen anderer von Wert sind.

24 25

26

27

Jud (Fn. 19), S. 50 f.

Schnurr Stefan, Bericht vom 11. Januar 2012 (Grundleistungen der Kinder- und Jugendhilfe), erstellt im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen als Beitrag zur Projektgruppe zur Beantwortung des Postulats Fehr (07.3725), S. 90: abrufbar unter www.bsv.admin.ch > Themen > Kinder- und Jugendfragen > Kinderschutz.

Leeb Rebecca T./Paulozzi Leonard J./Melanson Cindi/Simon Thomas R./Arias Ileana, Child maltreatment surveillance, Centers for Disease Control and Prevention National Center for Injury Prevention and Control, Atlanta 2008: abrufbar unter www.cdc.gov > More CDC Topics > Injury, Violence & Safety > Violence Prevention > Child Maltreatment > Child Maltreatment Surveillance.

Die nachfolgenden Definitionen stützen sich auf die Übersetzung in Jud (Fn. 19), S. 51 ff.

3441

Bei der Vernachlässigung werden zwei Formen unterschieden: ­

Bezugspersonen unterlassen es, grundlegende physische, emotionale, medizinische und erzieherische Bedürfnisse eines Kindes angemessen zu befriedigen.

­

Bezugspersonen gewähren einem Kind entsprechend seiner Entwicklung und seinen emotionalen Bedürfnissen ungenügenden Schutz und Sicherheit innerhalb und ausserhalb des Wohnraums.

Meistens liegen diese Formen der Misshandlung in Kombination vor.28 Wird ein Kind beispielsweise sexuell missbraucht, so erleidet es zwangsläufig auch eine schwerwiegende psychische Misshandlung.

1.1.7

Strafbarkeit der Kindesmisshandlung

Beim zivilrechtlichen Kindesschutz geht es in erster Linie darum, die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Schädigung des Kindes abzuschätzen und ihr durch die Anordnung entsprechender Massnahmen vorzubeugen. Die Strafgesetzgebung ist hingegen auf bereits erfolgte Schädigungen fokussiert29 und wirkt daher vor allem repressiv. Eine Kindesmisshandlung kann beispielsweise folgende Tatbestände erfüllen: Körperverletzung (Art. 122 ff. StGB), Tätlichkeit (Art. 126 StGB), Aussetzung (Art. 127 StGB), sexuelle Handlungen mit Kindern und Abhängigen (Art. 187 f.

StGB) oder Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (Art. 219 StGB).30

1.1.8

Risikofaktoren für die Entstehung von Kindesmisshandlung

Die Wissenschaft hat bestimmte Lebenssituationen erkannt, welche in der Praxis als Risikofaktoren für die Entstehung von Kindesmisshandlung angesehen werden. Das Vorliegen mehrerer solcher Risikofaktoren kann zu Überforderung, Kontrollverlust und der Unfähigkeit führen, die kindlichen Bedürfnisse zu erfassen oder zu befriedigen. Folgende Risikofaktoren gelten für sämtliche Formen der Kindesmisshandlung mit Ausnahme des sexuellen Missbrauchs:31 ­

28 29 30 31

Missbrauchserfahrung eines Elternteils,

­

Suchtmittelabhängigkeit eines Elternteils,

­

psychische Krankheit oder Auffälligkeit eines Elternteils,

­

chronische Krankheit eines Elternteils,

Lips Ulrich, in: Stiftung Kinderschutz Schweiz (Hrsg.), Ein Leitfaden zu Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis, Bern 2011, S. 11.

Jud (Fn. 19), S. 49.

Breitschmid (Fn. 20), Art. 307 N 9.

Lips (Fn. 28), S. 14; Vgl. auch Gewalt und Vernachlässigung in der Familie: notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung, Bericht des Bundesrates vom 27. Juni 2012 in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) vom 5. Oktober 2007, S. 14 f.: abrufbar unter www.bsv.admin.ch > Themen > Kinderund Jugendfragen > Kinderschutz.

3442

­

Straffälligkeit eines Elternteils,

­

Paarkonflikte, Trennungs- und Scheidungssituationen,

­

häusliche Gewalt,

­

Körperstrafe als Erziehungsmittel,

­

unangemessen hoher Erwartungsdruck der Eltern,

­

Mehrlinge,

­

extrem Frühgeborene,

­

Schreikinder,

­

Kinder mit problematischem Essverhalten,

­

Kinder mit Schlafstörungen,

­

Kinder mit Behinderung,

­

chronisch kranke Kinder.

1.1.9

Folgen von Kindesmisshandlung

Jede Kindesmisshandlung kann verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes haben und Hemmungen der körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes verursachen. In diesem Sinne ist jede Form von Misshandlung zu bekämpfen, unabhängig von ihrer scheinbaren Harmlosigkeit oder Schwere.32 Die Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung hat in ihrem Schlussbericht vom Juni 1992 zuhanden des Vorstehers des Eidgenössischen Departements des Innern erläutert, welche Folgen die verschiedenen Formen von Kindesmisshandlung haben können:33 Die Folgen körperlicher Misshandlung von Kindern können unterschiedlich schwerwiegend sein: Sie können je nach Handlung oder Unterlassung zum Tod führen, neurologische Störungen oder Sinnesstörungen auslösen, geistige Behinderungen oder mehr oder weniger reversible Verletzungen verschiedener Organe bewirken.

Ein psychisch misshandeltes Kind leidet hingegen unter dem Mangel an positiven Erfahrungen mit Erwachsenen und unter dem Mangel an Selbstbestätigung, welche notwendige Voraussetzungen für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins bilden.

Im Falle von Vernachlässigung und mangelnder Zuwendung können die betroffenen Kinder häufig geistig mehr oder weniger stark zurückbleiben, haben in der Schule Lernschwierigkeiten, Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration oder Sprachprobleme. Die meisten chronischen Anpassungsschwierigkeiten in der Schule werden durch eine solche Misshandlungsform verursacht.

32

33

Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung, Kindesmisshandlungen in der Schweiz, Schlussbericht zuhanden des Vorstehers des EDI, Bern 1992, S. 69: abrufbar unter www.bsv.admin.ch > Themen > Kinder- und Jugendfragen > Kinderschutz.

Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung (Fn. 32), S. 70 ff.

3443

Der sexuelle Missbrauch von Kindern hat ausser den physischen Schäden auch psychosomatische und psychische Konsequenzen. Dazu gehören Schlafstörungen, Störungen im Essverhalten sowie jegliche andere Art beobachtbarer körperlicher Reaktionen wie Einnässen, Einkoten, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Verdauungsstörungen, Depression, Selbstmordversuche oder Selbstverstümmelung. Diese Störungen sind oft der Beginn eines langen Weges durch das Gesundheitswesen, weil die Betroffenen aus Schamgefühl oder Hemmungen den wahren Grund ihres Leidens verschweigen.

Als Spätfolgen von Misshandlungen können weitere Störungen des Sozialverhaltens auftreten: Delinquenz, Suchtverhalten, Suizid oder Suizidversuche, psychische und psychiatrische Störungen sowie psychische und soziale Notlagen. Es ist im Übrigen erwiesen, dass nicht nur die Misshandlung als Extremform und die erlittene Gewalt, sondern auch eine inkohärente Erziehung sowie Vernachlässigung das Risiko erhöhen, dass das Kind bis ins Erwachsenenalter anhaltendes aggressives Verhalten entwickelt.34

1.1.10

Statistik über Kindesmisshandlung

Fälle von Kindesmisshandlung sind immer wieder Gegenstand der Berichterstattung in den Medien. Die Problematik ist deshalb in der Gesellschaft weitgehend bekannt.

Nicht bekannt ist allerdings, wie häufig der zivilrechtliche Kindesschutz auf gesamtschweizerischer Ebene mit Gefährdungssituationen konfrontiert ist,35 weil eine offizielle Statistik über Kindesmisshandlungen fehlt.

Gemäss verlässlichen Schätzungen erleiden 10­20 % der Minderjährigen mindestens eine Form von Kindesmisshandlung.36 Ein Anhaltspunkt für die Zahlen zu Kindesmisshandlung bietet die Statistik der Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken, welche jährlich entsprechende Daten erhebt. Im Jahr 2013 wurden von den beteiligten Kinderkliniken insgesamt 1292 Fälle von Kindesmisshandlung gemeldet;37 im Jahr 2010 waren es insgesamt 923, im Jahr 2011 1180 und im Jahr 2012 1136 Fälle. Die Fallzahlen lassen auf eine gestiegene Meldebereitschaft schliessen: Die Sensibilität der Öffentlichkeit und von Fachgremien in Bezug auf Kindesmisshandlungen scheint in den letzten Jahren gewachsen zu sein.38 Dass

34

35 36 37

38

Jugend und Gewalt ­ Wirksame Prävention in den Bereichen Familie, Schule, Sozialraum und Medien, Bericht des Bundesrates vom 20. Mai 2009 in Erfüllung der Postulate Leuthard (03.3298) vom 17. Juni 2003, Amherd (06.3646) vom 6. Dezember 2006 und Galladé (07.3665) vom 4. Oktober 2007, S. 15, abrufbar unter: www.bsv.admin.ch > Aktuell > Medieninformationen > Bericht Jugend und Gewalt.

Jud (Fn. 19), S. 50.

Lips (Fn. 28), S. 10.

Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie, Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken, Bericht vom 3. Juni 2014, abrufbar unter: www.swiss-paediatrics.org > Informationen > Nationale Kinderschutzstatistik 2013. Für die Erfassung standen die Daten von 18 der insgesamt 26 Kliniken zur Verfügung.

Fehr Jacqueline, Vorwort, in: Stiftung Kinderschutz Schweiz (Hrsg.), Ein Leitfaden zu Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis, Bern 2011, S. 9.

3444

es sich um eine echte Zunahme der Fälle handeln könnte, wird von der Fachgruppe Kinderschutz zwar nicht ausgeschlossen, würde jedoch nicht den internationalen Vergleichsdaten entsprechen.39 Für das Jahr 2013 hat die Fachgruppe Kinderschutz folgende Daten erhoben: Formen von Kindesmisshandlung Körperliche Misshandlung

351

(27,2 %)

Vernachlässigung

323

(25,0 %)

Psychische Misshandlung

323

(25,0 %)

Sexueller Missbrauch

281

(21,7 %)

14

(1,1 %)

Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom40

Die verschiedenen Formen von Kindesmisshandlungen kamen häufig auch miteinander kombiniert vor. Jedes vierte körperlich misshandelte Kind war jünger als zwei Jahre, in der Gruppe der vernachlässigten Kinder war sogar jedes zweite Kind jünger als zwei Jahre. Die Kinder im ersten Lebensjahr waren mit 245 Fällen (19 %) wie schon im Vorjahr am meisten von Kindesmisshandlungen betroffen. Drei Kinder sind aufgrund der Misshandlungen verstorben, alle waren jünger als ein Jahr.

Unter den betroffenen Kindern waren 45 % Knaben und 55 % Mädchen.

Ein interessanter Vergleich zu den oben genannten Zahlen bietet die Statistik des U.S. Department of Health & Human Services41, welche auf Daten der Child Protective Service Agencies (CPS) beruht. Darin werden auch Meldungen von Freunden, Nachbarn und Verwandten, von Fachpersonen wie Lehrerinnen und Lehrern, Polizistinnen und Polizisten, Anwältinnen und Anwälten sowie von Sozialhilfebehörden berücksichtigt:42 Vernachlässigung

(78,3 %)

Körperliche Misshandlung

(18,3 %)

Psychische Misshandlung

(8,5 %)

Sexuelle Misshandlung

(9,3 %)

39 40

41

42

Bericht der Fachgruppe Kinderschutz vom 3. Juni 2014 (Fn. 37), S. 1.

In der Medizin wird zu den in Ziff. 1.1.6 genannten Misshandlungsformen auch das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hinzugezählt. Dabei erfindet ein Elternteil (meist die Mutter) beim medizinischen Personal Symptome, die das Kind haben soll (Fieber, Krämpfe, Blutungen usw.), oder erzeugt diese durch verschiedenste Manipulationen. Beides bewirkt zahlreiche unnötige medizinische Abklärungen und Eingriffe. Das Elternteil rückt damit ins Zentrum als besorgte Betreuungsperson eines Kindes, dessen Krankheit niemand kennt und dem folglich nicht geholfen werden kann (Lips, Fn. 28, S. 13).

www.acf.hhs.gov > Programs > Children & Youth > Child Abuse & Neglect Prevention & Intervention > Child Abuse & Neglect Reporting Systems > Child Maltreatment, Statistik aus dem Jahr 2012.

U.S. Department of Health & Human Services, 23rd year of reporting, Child Maltreatment 2012 (Fn. 41), S. xi.

3445

Aufschlussreich sind auch die Angaben der Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken zur Beziehung zwischen Täterin bzw. Täter und Kind: Täterin/Täter: Beziehung zum Kind Familie

1008

(78,0 %)

177

(13,7 %)

Fremdtäter

46

(3,6 %)

Unbekannt

61

(4,7 %)

Bekannte/r des Kindes

Die Vernachlässigung und die psychische Misshandlung werden praktisch immer im engen Familienrahmen ausgeübt, die körperliche Misshandlung in 75 % der Fälle und der sexuelle Missbrauch in 42 % der Fälle.

Folgende Massnahmen wurden in den registrierten Fällen durch die Kindesschutzgruppe oder andere Stellen ergriffen: Kindesschutzmassnahmen Durch eine andere Stelle bereits eingeleitet

253

(19,6 %)

Gefährdungsmeldung durch die Kinderschutzgruppe gemacht

331

(25,6 %)

Gefährdungsmeldung durch die Kinderschutzgruppe empfohlen

157

(12,2 %)

Strafrechtliche Massnahmen Durch andere Stellen bereits eingeleitet

168

(13,0 %)

Durch die Kinderschutzgruppe veranlasst

85

(6,6 %)

Durch die Kinderschutzgruppe empfohlen

44

(3,4 %)

Die Kinderschutzgruppe machte in jedem vierten Fall eine Gefährdungsmeldung an die Kindesschutzbehörde, in gut 6 % der Fälle zudem auch eine Strafanzeige. Dies widerspiegle die Überzeugung der Kinderschutzgruppe, dass zum Schutz der Kinder oft behördliche Massnahmen nötig seien und Hilfe auf freiwilliger Basis nicht ausreiche.43 In knapp einem Fünftel der Fälle waren Kindesschutzmassnahmen bereits durch eine andere Stelle eingeleitet worden.

Keine Statistik besteht in der Schweiz in Bezug auf die finanziellen Auswirkungen ­ insbesondere auf die Gesundheitskosten ­ von Kindesmisshandlungen.

1.2

Die beantragte Neuregelung

1.2.1

Ziel der Revision

Die Einführung einer allgemeinen Meldepflicht hat zum Ziel, Kinder vor Gefährdungen zu schützen. Eine Kindesmisshandlung stellt zweifellos eine Gefährdung des Kindeswohls dar. Da die Meldepflicht allerdings auch präventiv gegen Kindesmisshandlungen wirken soll, berücksichtigt die Revision auch weitere Risikosituationen, in denen das Wohl des Kindes gefährdet sein könnte.

43

Bericht der Fachgruppe Kinderschutz vom 3. Juni 2014 (Fn. 37), S. 3.

3446

Die Melderegelung soll im Übrigen vereinheitlicht werden und die Meldungen an die Kindesschutzbehörden abschliessend regeln. Sie soll in sämtlichen Kantonen als Standardlösung gelten. Fachpersonen, die in verschiedenen Kantonen tätig sind, werden nicht mehr unterschiedlichen Regelungen unterstellt. Die Vereinheitlichung dient deshalb auch der Rechtssicherheit. In den Bereichen, für welche die Kantone zuständig sind, wie beispielsweise im Gesundheits-, Polizei- oder Schulwesen, dürfen die Kantone allerdings weiterhin Meldungen vorsehen.

1.2.2

Kreis der verpflichteten Personen

Im geltenden Recht sind nach Bundesrecht lediglich Personen in amtlicher Tätigkeit verpflichtet, Vermutungen von Kindesgefährdungen an die Kindesschutzbehörde zu melden (Art. 443 Abs. 2 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB). Der Schutz des Kindes kann gestärkt werden, indem die Meldepflicht auf einen grösseren Personenkreis ausgeweitet wird, insbesondere auf Personen, die beruflich regelmässig mit Kindern zu tun haben.

Die Einführung einer erweiterten Meldepflicht hat zum Ziel, rechtzeitig zu erkennen, wann ein Kind in seiner Entwicklung gefährdet ist. Die Ursachen der Gefährdung können beispielsweise eine unzureichende Sorge oder körperliche, psychische oder sexuelle Gewaltanwendung sein (vgl. Ziff. 1.1.6). Bei älteren Kindern können aber auch Suchterkrankungen, Fremd- oder Selbstgefährdungen in Frage kommen, bei denen die Eltern in der Regel nicht in der Lage sind, ihrem Kind die nötige professionelle Hilfe zur Bekämpfung des Problems zu bieten.

Gefährdete Kinder fallen verschiedenen Berufsgruppen häufig bereits in einem frühen Stadium auf. Diese Berufsleute haben eine Schlüsselfunktion für die weitere Entwicklung dieser Kinder, denn ihre Reaktion auf die vermutete oder sichere Gefährdung des Kindeswohls entscheidet in vielen Fällen, ob dem Kind und den Eltern der notwendige Schutz und die nötige Hilfe zur Abwendung der Gefährdung zukommt.44 Berufsleute, die unmittelbar mit den betroffenen Kindern zu tun haben, sollen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zur Meldung verpflichtet werden. Die Meldepflicht soll diese Fachpersonen ermutigen, sich für das Wohl des Kindes einzusetzen.

Bei sehr kleinen Kindern ist es beispielsweise problematisch, dass ihre Vernachlässigung selten rechtzeitig festgestellt und noch seltener wirksam behandelt wird. So wird z.B. in Kinderkrippen festgestellt, dass Kinder aus mangelnder Zuwendung in der Familie geistig oder körperlich immer mehr zurückbleiben, aber sie werden keiner Behandlung zugeführt. Die beste Vorbeugung für derartige Entwicklungsdefizite bei Kindern wäre das klare Erkennen von Risikosituationen vor oder gleich nach der Geburt und die sofortige Einleitung von Behandlungen und Betreuung schon in diesen frühen Lebensphasen.45 Die Meldepflicht soll jedoch nicht für sämtliche Drittpersonen gelten. Eine solche allgemeine Meldepflicht scheint prima vista dem Kindeswohl
zu dienen, weil sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, Kindeswohlgefährdungen aufzudecken und zu bekämpfen. Die neue Meldepflicht soll allerdings nicht zu einem Denunziantentum 44 45

Lips (Fn. 28), S. 46.

Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung (Fn. 32), S. 71.

3447

führen. Eine allgemeine Meldepflicht sämtlicher Drittpersonen könnte nämlich zur Folge haben, dass die Kindesschutzbehörde häufig mit offensichtlich unbegründeten Meldungen konfrontiert wäre. Das Misstrauensklima, das eine solche Pflicht auslösen würde, wäre dem Zweck der Meldepflicht ebenfalls abträglich: Sie würde Konflikte verursachen, unter denen vorab und überwiegend die Kinder zu leiden hätten.

Es wäre ausserdem zu befürchten, dass begründete Meldungen in einer Flut von unbegründeten Meldungen untergingen und gefährdete Kinder so nicht rechtzeitig den nötigen Schutz erhielten.

1.2.3

Der Ausnahmekatalog und das Berufsgeheimnis

Die Einführung einer erweiterten Meldepflicht wirft Fragen auf im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Personen mit einem Berufsgeheimnis. Nach der geltenden bundesrechtlichen Regelung dürfen diese erst dann eine Meldung an die Kindesschutzbehörde erstatten, wenn sie sich von der vorgesetzten Behörde oder von der Aufsichtsbehörde vom Berufsgeheimnis schriftlich entbinden lassen oder wenn die betroffene Person mit der Meldung einverstanden ist (Art. 443 Abs. 1 ZGB i.V.m.

Art. 321 Ziff. 2 StGB).

Den Kantonen steht es nach geltendem Recht frei, auch für Fachpersonen mit einem Berufsgeheimnis eine Meldepflicht einzuführen (Art. 443 Abs. 2 zweiter Satz ZGB).

Mehrere Kantone haben von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und verpflichten bestimmte Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger, der Kindes- bzw. Erwachsenenschutzbehörde Fälle von Hilfsbedürftigkeit zu melden, ohne sich im Voraus vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Dies ist beispielsweise der Fall für die Ärztinnen und Ärzte (AI, AR, GR, JU, OW, SZ, UR, VD, ZG) und die Geistlichen46 (GR, JU, OW, VD) (vgl. Ziff. 1.1.2.2). Die Einführung einer entsprechenden allgemeinen bundesrechtlichen Meldepflicht wird aus folgenden Gründen abgelehnt: Meldepflichten sind nicht sinnvoll in Bereichen, in denen der Erfolg einer Zusammenarbeit entscheidend von einem Vertrauensverhältnis abhängt. Dieses Vertrauensverhältnis stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, dass die besondere Arbeits-, Fürsorgeoder Unterstützungsbeziehung erfolgreich verläuft und wird, wie beispielsweise in den Bereichen Psychologie, Medizin oder Justiz, durch das Berufsgeheimnis geschützt. So offenbaren hilfsbedürftige Minderjährige ihre Schwierigkeiten oftmals einer Vertrauensperson gerade deshalb, weil sie wissen, dass der Inhalt ihres Gesprächs vertraulich behandelt wird. Diese Vertraulichkeit bzw. Intimitätszusicherung ist die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zugunsten der betroffenen minderjährigen Person. Absolute Meldepflichten können in diesen Fällen kontraproduktiv wirken und ihrem eigentlichen Ziel, nämlich der Verwirklichung des Schutzes der betroffenen Minderjährigen, zuwiderlaufen.47

46

47

Die parlamentarische Initiative Sommaruga Carlo 10.540 (Berufsgeheimnis von Geistlichen) verlangte eine Änderung des Strafgesetzbuches, damit Angriffe auf die sexuelle Freiheit Minderjähriger nicht mehr durch das Berufsgeheimnis von Geistlichen geschützt werden. Am 7. März 2012 entschied der Nationalrat, dieser Initiative keine Folge zu geben. Das Ziel der Initiative wurde zwar grundsätzlich begrüsst, aber die Begrenzung der Initiative auf das Berufsgeheimnis Geistlicher und auf Delikte gegen die sexuelle Integrität kritisiert (AB 2012 N 301 ff.).

Rosch Daniel, Melderechte, Melde- und Mitwirkungspflichten, Amtshilfe: die Zusammenarbeit mit der neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, FamPra 2012, S. 1024.

3448

Eine absolute Meldepflicht könnte mit anderen Worten dazu führen, dass sich die betroffenen Minderjährigen nicht mehr frei fühlen würden, mit Fach- und Bezugspersonen über ihre Probleme zu sprechen. Opfer von Misshandlungen oder Vergewaltigungen sollen aber nicht fürchten müssen, dass ihre gegenüber den Fach- oder Bezugspersonen gemachten Aussagen ohne oder gegen ihren Willen gemeldet werden. Eine absolute Meldepflicht für Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger könnte auch dazu führen, dass Eltern ihr verletztes Kind nicht mehr ärztlich behandeln lassen aus Angst, gemeldet zu werden.

Aus diesen Überlegungen erachtet der Bundesrat die Einführung einer absoluten Meldepflicht als nicht zweckmässig. Gleichzeitig kann die geltende bundesrechtliche Regelung es allerdings erschweren, begründete Fälle von Kindeswohlgefährdungen zu melden und aufzudecken. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn kleine Kinder betroffen sind, die sich noch nicht genügend äussern und mitteilen können.

Wurde an einer minderjährigen Person eine strafbare Handlung begangen, so dürfen an das Berufsgeheimnis gebundene Fachpersonen bereits nach geltendem Recht eine Meldung an die Kindesschutzbehörde erstatten (Art. 364 StGB). Diese Personen müssen einen ernsthaften Anlass haben, von einer strafbaren Handlung auszugehen.48 Dieses Erfordernis führt in der Praxis zu Abgrenzungsschwierigkeiten und Unsicherheiten. Es kann nicht von allen an das Berufsgeheimnis gebundenen Fachpersonen verlangt werden, dass sie strafrechtliche Tatbestandsmerkmale erkennen.49 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn solche Fachpersonen zögern, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu erstatten. In der Lehre wird zwar die Meinung vertreten, dass es bei der Meldung nach Artikel 364 StGB nicht darauf ankommen kann, ob eine strafbare Handlung vorliegt.50 Dies ist allerdings aus der strafrechtlichen Norm nicht klar ersichtlich, was zu Unsicherheiten in der Praxis führt. Im Zentrum einer Meldung soll nicht die Tatsache stehen, dass an einer minderjährigen Person eine Straftat begangen worden ist, sondern dass eine Abklärung der Lebensumstände des Kindes zu seinem Schutz opportun erscheint.

Beispiel: Eine Ärztin stellt bei der Behandlung eines Kindes fest, dass dieses sehr häufig krank ist und regelmässig zu wenig schläft. Die Eltern der Kinder
leiden unter einer Suchterkrankung und sind mit ihrem Kind überfordert. Die Ärztin könnte nach dem geltenden Recht eine Gefährdungsmeldung an die Kindesschutzbehörde machen, wenn die Eltern ihre Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber dem Kind verletzen würden (Art. 364 StGB i.V.m. Art. 219 StGB). Aufgrund der Unbestimmtheit dieses Straftatbestandes51 ist es allerdings nicht klar, ob eine Meldung in diesem Fall erlaubt wäre. Die Ärztin wird deshalb bewusst davon absehen, sich darauf zu berufen und eine Meldung zu machen. In einem solchen Fall könnte sich die Ärztin vom Berufsgeheimnis entbinden lassen, was allerdings eine administrative Hürde darstellt. In Zukunft soll verhindert werden, dass in solchen Fällen von einer Meldung abgesehen wird.

48 49 50 51

Biderbost Yvo, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht II, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 364 N 5.

Vgl. das Beispiel im folgenden Absatz.

Biderbost (Fn. 48), Art. 364 N. 5.

Eckert Andreas, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht II, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 219 N 9.

3449

Aus diesen Gründen sollen Personen mit einem Berufsgeheimnis berechtigt werden, Fälle von vermuteten Gefährdungen des Kindeswohls zu melden, ohne sich zuerst vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen (vgl. Ziff. 2.1, Erläuterungen zu Art. 314c Abs. 2 E-ZGB).

1.3

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Das Vernehmlassungsverfahren zum Vorentwurf für eine Revision des Zivilgesetzbuches (Kindesschutz) dauerte vom 13. Dezember 2013 bis zum 31. März 2014. Zur Teilnahme eingeladen wurden die Kantone, die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien sowie weitere interessierte Organisationen. Geantwortet haben alle Kantone, fünf politische Parteien, 50 Organisationen und eine Privatperson. Insgesamt gingen 82 Stellungnahmen ein.52 Im Folgenden werden die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens kurz zusammengefasst. Weitere Ausführungen folgen bei den Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln.

In der Vernehmlassung wurden die Stossrichtung des Revisionsvorhabens und insbesondere die angestrebte Vereinheitlichung der Melderechte und Meldepflichten durch eine bundesrechtliche Regelung mehrheitlich begrüsst. Dennoch gab es einige kritische Stellungnahmen von Teilnehmenden, denen die Vorlage nicht weit genug oder zu weit ging. Die beiden Hauptpfeiler des Revisionsvorhabens wurden dabei unterschiedlich beurteilt.

Das vorgeschlagene Melderecht für Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen (Art. 314c VE-ZGB), wurde von der grossen Mehrheit der Teilnehmenden befürwortet. Einzelne Teilnehmende setzten sich aber für die Beibehaltung des geltenden Rechts ein.

Die vorgeschlagene Ausdehnung der Meldepflichten auf Fachpersonen ohne amtliche Funktion, die regelmässig Kontakt zu Kindern haben (Art. 314d VE-ZGB), wurde dagegen kontrovers beurteilt. Dieser Teil der Vorlage wurde nur von rund der Hälfte der Kantone, zwei Parteien und rund einem Drittel der Organisationen ausdrücklich unterstützt. Zahlreiche Teilnehmende lehnten eine Ausdehnung der Meldepflichten zwar nicht grundsätzlich ab, betrachteten diese aber äusserst kritisch und brachten verschiedene Vorbehalte vor, namentlich zum Kreis der meldepflichtigen Personen und zur Ausgestaltung der Meldepflicht. Nur einzelne Teilnehmende hätten sich aber eine Ausdehnung der Meldepflichten auch auf Personen gewünscht, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Auch dass der Vorentwurf keine allgemeine Meldepflicht für Drittpersonen vorschlug, wurde überwiegend positiv aufgenommen. Die Teilnehmenden teilten die Ansicht, dass eine solche allgemeine Meldepflicht zu einer Flut von unbegründeten Meldungen führen
und das Denunziantentum fördern würde.

Ebenfalls Anlass zu Kritik gab die Komplexität der Vorlage. Kritisiert wurde insbesondere, dass der Vorentwurf sowohl in der Bestimmung zu den Melderechten als auch in der Bestimmung zu den Meldepflichten Aufzählungen von Kategorien von Fachpersonen enthielt, welche sich zum Teil überschnitten.

52

Bericht über das Vernehmlassungsverfahren, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Meldepflicht.

3450

Der Bundesrat hat im Zuge der Auswertung des Vernehmlassungsergebnisses entschieden, die Vorlage zu vereinfachen und für die Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger auf eine separate Aufzählung von Kategorien von Fachpersonen zu verzichten. Wie von einzelnen Kantonen vorgeschlagen wurde, soll sich die Bestimmung neu ausschliesslich an Artikel 321 StGB (Verletzung des Berufsgeheimnisses) orientieren und ein Melderecht für alle Personen vorsehen, die dem Berufsgeheimnis unterstehen. Die Kategorien der Meldepflichtigen und Meldeberechtigten lassen sich anhand des Kriteriums des Berufsgeheimnisses klar voneinander abgrenzen. Die Vorlage gewinnt damit an Übersichtlichkeit und Klarheit. Die weiteren Neuerungen werden im Detail bei den Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln dargestellt.

1.4

Nicht berücksichtigte Revisionsanliegen

Im Einklang mit dem Auftrag des Parlaments53 wird darauf verzichtet, auch das Meldewesen im Erwachsenenschutzrecht grundlegend zu revidieren, wie dies in der Vernehmlassung teilweise verlangt worden war. Der Entwurf richtet sich an den Kreis von Personen, die beruflich Kontakt zu Kindern und ihren Familien haben, und ist konkret auf diese zugeschnitten. Dieser Kreis ist in der Regel nicht deckungsgleich mit demjenigen der Personen, die mit hilfsbedürftigen Erwachsenen arbeiten. Im Erwachsenenschutzrecht ist aber nach wie vor eine Meldepflicht für Personen in amtlicher Tätigkeit vorgesehen (Art. 443 Abs. 2 E-ZGB; vgl. Ziff.

1.1.2.1 und 2.1). Diese Meldepflicht wird punktuell an die neue Regelung im Kindesschutzrecht angepasst (vgl. Erläuterungen zu Art. 443 Abs. 2 E-ZGB, Ziff. 2.1).

In der Vernehmlassung war zudem angeregt worden, für meldende Personen ein Recht auf Information über den Verfahrensstand analog Artikel 301 Absatz 2 StPO54 einzuführen. Die Kindesschutzbehörden sind gemäss Artikel 451 Absatz 1 ZGB, der auch im Kindesschutzrecht gilt (Art. 314 Abs. 1 ZGB),55 jedoch bereits nach geltendem Recht berechtigt, über Kindesschutzmassnahmen Auskunft zu geben, wenn dafür überwiegende Interessen bestehen. Die Bestimmung dient dem Schutz der Privatsphäre des von einer Massnahme betroffenen Kindes und verpflichtet die Behörde, eine Interessenabwägung im Einzelfall vorzunehmen.56 Diese Lösung ist im Kindesschutz ­ bei dem besonders sensible Daten gesammelt werden, die stark in den Persönlichkeitsbereich der betroffenen Kinder und ihrer Angehörigen eingreifen57 ­ sachgerecht und soll deshalb beibehalten werden.

53 54 55 56 57

Motion 08.3790 Aubert vom 9. Dezember 2008 (Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch), siehe Ziff. 1.1.1.

Schweizerische Strafprozessordnung; SR 312.0.

Geiser Thomas, in Honsell Heinrich/Vogt Nedim Peter/Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 5. Auflage, Basel 2014, Art. 451 N 9.

Geiser (Fn. 55), Art. 451 N 14 und 17; Botschaft Erwachsenenschutz (Fn. 4), BBl 2006 7089.

Vgl. Cottier Michelle/Hassler Jannine, in: Büchler Andrea/Häfeli Christoph/Leuba Audrey/Stettler Martin (Hrsg.), FamKomm Erwachsenenschutz, Bern 2013, Art. 451 N 2.

3451

1.5

Rechtsvergleich

Die meisten Länder kennen eine gesetzliche Regelung für Meldungen an die für den Kindesschutz zuständigen Behörden. Dabei findet sich ein breites Spektrum von unterschiedlichen Lösungen, von einem Verzicht auf Meldepflichten verbunden mit Melderechten bis hin zu einer allgemeinen Meldepflicht für Drittpersonen.

In Deutschland wurde auf die Einführung von Meldepflichten verzichtet. § 4 des Kinderschutz-Kooperations-Gesetzes (KKG)58 sieht stattdessen ein Melderecht für gewisse Kategorien von Fachpersonen vor (u.a. Angehörige von Heilberufen, Psychologinnen und Psychologen, Mitarbeitende von verschiedenen Beratungsstellen sowie Lehrerinnen und Lehrer). Die Fachpersonen werden in Absatz 1 der Bestimmung angehalten, die Situation zuerst mit dem betroffenen Kind und den Sorgeberechtigten zu erörtern und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken, soweit hierdurch der Schutz des Kindes nicht in Frage gestellt werde. Falls dieses Vorgehen ausscheide oder erfolglos bleibe und die Fachperson ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich halte, um die Kindeswohlgefährdung abzuwenden, besteht ein Melderecht.

Im Gegensatz dazu kennt Österreich mit § 37 des Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes (B-KJHG)59 eine Meldepflicht für Institutionen und selbstständige Fachpersonen bei konkreter, erheblicher Gefährdung eines Kindes, welche nicht anders verhindert werden kann. Unter den aufgeführten Institutionen befinden sich auch Gerichte, Behörden, Heime und Krankenhäuser. Eine allfällige Schweigepflicht wird durch die Meldepflicht durchbrochen (§ 37 Abs. 5 B-KJHG).

In Frankreich besteht eine allgemeine Meldepflicht zum Schutz von Jugendlichen, wobei Personen unter Berufsgeheimnis von dieser Pflicht ausgenommen sind.60 Ärztinnen und Ärzte, welche Kindesmisshandlungen oder -vernachlässigungen feststellen, werden jedoch in der Standesordnung angehalten, Meldung zu erstatten.61 Für Fachpersonen unter Berufsgeheimnis besteht zudem ein allgemeines Melderecht bei Misshandlungen von Kindern, namentlich bei sexueller Gewalt.62 In Italien bestehen eine Vielzahl von Meldepflichten für Personen in amtlicher Funktion, z.B. wenn gegen ein Kind ein Offizialdelikt verübt wurde, es sich in einem verwahrlosten Zustand befindet oder sexuell ausgebeutet wird.63 Die Meldungen haben je nach Anlass an die für Strafverfolgung oder die für den Kindesschutz zuständige Behörde oder an beide Behörden zu erfolgen.

58 59 60 61 62 63

Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vom 22. Dezember 2011, Bundesgesetzblatt I S. 2975.

Bundesgesetz über die Grundsätze für Hilfen für Familien und Erziehungshilfen für Kinder und Jugendliche vom 17. April 2013, Bundesgesetzblatt I Nr. 69/2013.

Article 434-3 code pénal.

Article R4127-44 code de la santé publique.

Article 226-14 alinéa 1er code pénal.

Vgl. art. 331 codice di procedura penale, art. 9 legge 184/1983 (Diritto del minore ad una famiglia) und art. 25bis regio decreto-legge 1404/1934 (eingefügt durch articolo 2 legge 269/1998).

3452

Eine im Auftrag der Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission erstellte Studie64 aus dem Jahr 2011 zum Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder listet die in den verschiedenen EU-Mitgliedsländern vorhandenen Lösungen zu Meldepflichten (mandatory reporting) gegenüber Kindesschutz- und an Strafverfolgungsbehörden auf. Die Erkenntnisse deuten gemäss den Verfassern der Studie darauf hin, dass das Vorhandensein eines solchen Meldesystems nicht notwendigerweise mit der Qualität des Kindesschutzes korreliere.65 Obligatorische Meldungen bestünden namentlich in Osteuropa, wo seit jeher die Polizei für den Kindesschutz zuständig sei und nach dem Prinzip der Gefahrenabwehr arbeite. In Westeuropa habe der Kindesschutz dagegen eine enge Verbindung zum Sozialsystem, und «Schutz» werde zunächst im Sinne von Hilfe und Unterstützung, auch Unterstützung der Eltern, verstanden. Eine allgemeine Bürgerpflicht, mögliche Kindesmisshandlung bei den Kindesschutzbehörden anzuzeigen, bestehe in neun Mitgliedstaaten (BG, CY, DK, EE, LU, LV, PL, RO, SK). In 13 Mitgliedstaaten (AT, CY, CZ, EL, FI, HU, IT, LT, MT, PT, SE, SI, UK) bestehe für alle oder wenigstens manche Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, die Pflicht, mutmassliche Kindesmisshandlungen an die zuständigen Kindesschutzeinrichtungen zu melden. In anderen Mitgliedstaaten seien ­ teilweise nach langen Debatten zu den Vor- und Nachteilen ­ keine Vorschriften für eine Anzeigepflicht eingeführt worden, stattdessen bestünden Regeln bezüglich der Schwellen für einen Informationsaustausch (BE, DE, ES, FR, IE, NL).

In den USA kennen gemäss Angaben des U.S. Department of Health & Human Services die meisten Bundesstaaten eine Meldepflicht für Fachpersonen, die beruflich Kontakt zu Kindern haben, z.B. für Angestellte von Kinderkrippen, Lehrpersonen, Fachpersonen aus den Bereichen Recht und Rechtsdurchsetzung (z.B. Polizei) sowie Medizin. Einige Bundesstaaten haben zudem eine allgemeine Meldepflicht für Drittpersonen eingeführt.66 Die meisten Gefährdungsmeldungen erfolgen gemäss der Statistik des U.S. Department of Health & Human Services jeweils durch Fachpersonen aus den Bereichen Recht und Rechtsdurchsetzung sowie durch Lehrpersonen.67

1.6

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit der beantragten Neuregelung wird die Motion 08.3790 Aubert (Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch) erledigt.

64

65 66 67

Machbarkeitsstudie zur Bewertung der Möglichkeiten, Aussichten und des bestehenden Bedarfs für die Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf den Gebieten Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder und Gewalt wegen sexueller Orientierung, abrufbar unter: http://ec.europa.eu > Justice > Fundamental Rights > Documents > Rights of the Child.

EU-Machbarkeitsstudie 2011 (Fn. 64), S. 47.

U.S. Department of Health & Human Services, 23rd year of reporting, Child Maltreatment 2012 (Fn. 41), S. 7.

U.S. Department of Health & Human Services, 23rd year of reporting, Child Maltreatment 2012 (Fn. 41), S. 12.

3453

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

2.1

Zivilgesetzbuch

Vorbemerkung: Die Regelung der Melderechte und -pflichten in den Artikeln 314c und 314d E-ZGB dient der Verwirklichung des materiellen Kindesrechts. Die Meldung muss die Mitteilung einer rechtserheblichen Tatsache beinhalten, die die Grundbedürfnisse eines Kindes, sein Wohl oder seine Entwicklung als beeinträchtigt erscheinen lässt. Die meldende Person hat mit der Meldung nicht den Beweis zu erbringen, dass ein Kind tatsächlich gefährdet ist; vielmehr genügt die Wahrnehmung einer solchen gefährdenden Tatsache. Die Abklärung, ob das Wohl des Kindes tatsächlich beeinträchtigt ist, hat durch die Kindesschutzbehörde oder die zuständigen Dienste zu erfolgen.

Die Gefährdungssituation soll nach dem gesunden Menschenverstand ein Einschreiten der Behörde zum Schutz des Kindes als nötig erscheinen lassen. Leiden Eltern beispielsweise an einer akuten Suchterkrankung, die Zweifel an ihrer Erziehungsfähigkeit aufkommen lässt, so kann eine Meldung sinnvoll sein, auch wenn die Gesundheitssituation des betroffenen Kindes nicht bekannt ist. In diesem Sinne können also auch deutliche Risikosituationen für das Kind melderelevant sein.

Bei kleinen Kindern wird der Verdacht auf Kindesmisshandlung im Vordergrund stehen. Bei älteren Kindern können sich auch andere Formen von Hilfsbedürftigkeit manifestieren, bei denen ein Handeln der Behörde als opportun erachtet werden kann. Dies ist beispielweise der Fall, wenn das Verhalten oder die Lebensumstände eines Kindes den Eindruck geben, dass dieses einer psychiatrischen Behandlung oder einer Therapie in einer Einrichtung bedarf (Art. 314b ZGB).

Die Kindesschutzbehörde ist aufgrund der im Kindesschutz geltenden Offizialmaxime und des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 446 ZGB)68 verpflichtet, jede Gefährdungsmeldung zu prüfen und wenn sich diese nicht als offensichtlich unbegründet erweist dieser nachzugehen. Der meldenden Person soll es auch möglich sein, ihre Meldung anonym abzugeben.

Art. 314c

Melderechte

Jede Person soll wie nach dem geltenden Recht (Art. 443 Abs. 1 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB) berechtigt sein, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu erstatten, wenn ihr das Wohl eines Kind gefährdet erscheint. Die Meldeschwelle soll damit gleich wie im Erwachsenenschutzrecht angesetzt werden. Dies wird durch die gegenüber dem Vorentwurf geänderte Formulierung deutlich gemacht.

Nach dem geltenden Bundesrecht gilt die Meldeberechtigung für Personen, die einem Berufsgeheimnis unterstehen, nicht uneingeschränkt. Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger wie Geistliche, Rechtsanwältinnen und -anwälte, Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Psychologinnen und Psychologen, Hebammen sowie ihre Hilfspersonen sind nur dann meldeberechtigt, wenn an einer minderjährigen Person eine strafbare Tat begangen wurde (Art. 364 StGB; vgl. Ziff. 1.2.3). In den übrigen Fällen müssen sie sich vor einer Meldung entweder von der betroffenen

68

Vgl. Auer Christoph/Marti Michèle, in: Honsell Heinrich/Vogt Nedim Peter/Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 5. Auflage, Basel 2014, Art. 446 N 2.

3454

Person oder von der vorgesetzten Stelle schriftlich vom Berufsgeheimnis entbinden lassen (Art. 443 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 321 StGB).

Die Interessen eines gefährdeten Kindes können es jedoch im Einzelfall rechtfertigen, dass eine involvierte Fachperson die Hilfsbedürftigkeit eines Kindes auch dann unverzüglich und ohne vorgängige Entbindung vom Berufsgeheimnis an die Kindesschutzbehörde meldet, wenn keine strafbare Tat begangen wurde. Das Vorliegen einer Meldeberechtigung nach Artikel 364 StGB genügt insofern nicht, um den Interessen des Kindes genügend Rechnung zu tragen und es zu schützen (vgl.

Ziff. 1.2.3).

Aus diesen Gründen sieht der Entwurf vor, dass Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, neu Gefährdungsmeldungen an die Kindesschutzbehörde erstatten können, ohne dass sie sich im Voraus vom Berufsgeheimnis entbinden lassen müssen. Die neue Regelung orientiert sich inhaltlich an Artikel 3c BetmG. Mit dieser seit 201169 erweiterten Meldebefugnis für Fachleute sollen die Früherkennung und die Frühintervention bei suchtgefährdeten Personen gefördert werden.70 Das Melderecht besteht immer dann, wenn die Trägerin oder der Träger des Berufsgeheimnisses über Informationen verfügt, welche das Wohl eines Kindes als gefährdet erscheinen lassen, und die Meldung im Interesse des Kindes liegt. Wie in der Lehre bereits für Artikel 364 StGB vertreten wird,71 kommt es nicht darauf an, aus welchem Verhältnis die Information stammt. Ob die Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger von der Täterin oder dem Täter, von den Eltern, von Dritten oder von dem betroffenen Kind selbst von der Gefährdungslage erfahren, hat damit keinen Einfluss auf das Melderecht.

Eine Meldeberechtigung für Personen, die an das Berufsgeheimnis gebunden sind, lässt der betroffenen Berufsperson die Möglichkeit, im Einzelfall die verschiedenen Interessen angemessen gegeneinander abzuwägen. Fachpersonen wissen, wie wichtig das Vertrauensverhältnis zum Klienten oder zur Patientin ist, und können abschätzen, ob dieses im Einzelfall zugunsten des Kindeswohls angetastet werden soll. Dieser Grundsatz gilt für sämtliche durch ein Vertrauensverhältnis geschützten Beziehungen. Eine Meldung hat nur zu erfolgen, wenn die Trägerin oder der Träger des Berufsgeheimnisses aufgrund einer Interessenabwägung zum Schluss kommt,
dass sie dem Wohl des Kindes dient. Zu berücksichtigen sind insofern auch die Interessen weiterer Kinder (z.B. von Geschwistern oder Mitschülern), die es vor Gefährdungen durch die gleiche Täterschaft zu beschützen gilt.72 Eine Meldung an die Kindesschutzbehörde wäre in diesen Fällen nicht strafbar (Art. 14 StGB und Art. 321 Ziff. 3 E-StGB).

Es kann vorkommen, dass Fachpersonen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, gleichzeitig in amtlicher Tätigkeit handeln. Betroffen sind beispielsweise Ärztinnen und Ärzte, die in einem öffentlichen Spital tätig sind, oder 69 70 71 72

AS 2009 2623 Blättler Richard/Kläusler-Senn Charlotte/Häfeli Christoph, Meldebefugnis und Zusammenarbeit mit den neuen Kindesschutzbehörden, Suchtmagazin 4/2011, S. 25.

Biderbost (Fn. 48), Art. 364 N 13; Stratenwerth Günter/Wohlers Wolfgang, Schweizerisches Strafgesetzbuch Handkommentar, 3. Aufl., Bern 2013, Art. 364 N 4.

Vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985 (Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie), BBl 1985 II 1062.

3455

Schulpsychologinnen und -psychologen, die mit dem Inkrafttreten des Psychologieberufegesetzes73 am 1. April 2013 ebenfalls dem Berufsgeheimnis unterstellt wurden (Art. 321 Ziff. 1 StGB). Auch in diesen Fällen gilt für die betroffenen Fachpersonen das Melderecht und nicht die Meldepflicht nach Artikel 314d. Es wäre nämlich kontraproduktiv, wenn hilfsbedürftige Personen sich wegen einer Meldepflicht den zuständigen Fachpersonen nicht mehr anvertrauen würden. In solchen Fällen können die Fachpersonen eine Meldung an die Kindesschutzbehörde erstatten, wenn die Interessen der betroffenen minderjährigen Person dies gebieten. Ist diese Person urteilsfähig, so ist es ­ soweit möglich und sinnvoll ­ angezeigt, vor einer Meldung ihr Einverständnis einzuholen.

Der Entwurf verzichtet gegenüber dem Vorentwurf auf eine Aufzählung von Fachpersonen, die meldeberechtigt sind. Wie im Vernehmlassungsverfahren vorgeschlagen wurde, orientiert sich die Regelung nun ausschliesslich an Artikel 321 StGB und führt ein Melderecht für alle dort erwähnten Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger ein. Dies dient nicht zuletzt einer einfacheren Abgrenzung zu den Kategorien von Meldepflichtigen nach Artikel 314d. Gegenüber dem Vorentwurf neu meldeberechtigt sind namentlich Personen aus dem Justizbereich (Rechtsanwälte, Verteidiger, Notare). Auch diese Personen ­ insbesondere Kinderanwältinnen und -anwälte sowie Notare, die am Vollzug des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts beteiligt sind74 ­ können mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen konfrontiert sein. Auf der anderen Seite sprechen keine sachlichen Gründe für eine unterschiedliche Gewichtung der Vertrauensverhältnisse zu den verschiedenen Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern.

Das Melderecht gilt auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Beratungsstellen, welche durch Verweis in Spezialgesetzen ebenfalls dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Dies ist der Fall für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schwangerschaftsberatungsstellen (Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 9. Oktober 198175 über die Schwangerschaftsberatungsstellen) und für das Personal von zuständigen Behandlungs- oder Sozialhilfestellen nach dem Betäubungsmittelgesetz (Art. 3c Abs. 4 BetmG).

Auf ein Melderecht für Hilfspersonen, die ebenfalls dem Berufsgeheimnis nach dem
Strafgesetzbuch unterstehen (Art. 321 Ziff. 1 StGB), soll dagegen verzichtet werden.

Die Interessenabwägung, ob das Vertrauensverhältnis bewahrt oder eine Meldung an die Kindesschutzbehörden gemacht werden soll, obliegt den primären Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern selber. Falls eine Hilfsperson Kenntnis von einer möglichen Kindeswohlgefährdung erhält, sollte sie dies den primären Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern zur Kenntnis bringen, damit diese die erforderliche Interessenabwägung vornehmen können.

Der Entwurf berücksichtigt die Tatsache, dass die Kindeswohlgefährdungen vielfältig und von unterschiedlicher Dringlichkeit sein können. Er geht davon aus, dass die betroffenen Fachpersonen am besten wissen, in welchen Fällen die Interessen am Schutz eines Kindes diejenigen an der Geheimhaltung bestimmter Informationen überwiegen.

73 74 75

Psychologieberufegesetz vom 18. März 2011 (PsyG); SR 935.81.

Vgl. Auer/Marti (Fn. 68), Art. 448 N 37.

SR 857.5

3456

Art. 314d

Meldepflichten

Kindesmisshandlungen anzugehen und zu bekämpfen, erfordert ein Umdenken der Fachleute bezüglich ihrer Verantwortung gegenüber Kindern: Es gibt Fachpersonen wie zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrem Berufsleben täglich Kinder sehen. Die Lebensqualität dieser Kinder kann sowohl kurzfristig als auch für das ganze zukünftige Erwachsenenleben wesentlich verbessert werden, wenn man Gefahren für die gesunde Entwicklung dieser Kinder behebt. Es ist deshalb wichtig, dass Fachpersonen, die regelmässig mit Kindern Kontakt haben, zu deren Schutz handeln.

Wie nach geltendem Recht (Art. 443 Abs. 2 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB) weiterhin zur Meldung verpflichtet sind Personen, die eine amtliche Tätigkeit ausüben (Abs. 1 Ziff. 2). Die amtliche Tätigkeit ist wie unter Artikel 443 Absatz 2 ZGB in einem weiten Sinne zu verstehen. Nicht erforderlich ist ein Anstellungsverhältnis zum Staat. Massgebend ist, dass die betroffenen Fachpersonen eine öffentlich-rechtliche Aufgabe erfüllen.76 Darunter fallen beispielsweise Fachpersonen in den Bereichen Polizei, Schule oder Sozialarbeit. Zu den wichtigsten Ansprechpartnern von Kindern zählen zweifellos Lehrerinnen und Lehrer. Personen, die Kinder im Pflichtschulalter unterrichten, erfüllen eine öffentlich-rechtliche Aufgabe, unabhängig davon, ob sie in einer öffentlichen oder in einer privaten Schule unterrichten. Sie unterstehen bereits nach geltendem Recht einer Meldepflicht, weil sie für die Vermittlung von Grundfachwissen zuständig sind, das vom Staat als unabdingbar für die Wahrnehmung von Bürgerrechten und -pflichten angesehen wird. In amtlicher Tätigkeit handeln beispielsweise auch private Mandatsträger (Führung einer Beistandschaft oder Vormundschaft). Personen in amtlicher Tätigkeit sind nur meldepflichtig, wenn sie in Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit von einer Kindeswohlgefährdung erfahren. Dies impliziert der Begriff der Fachperson. Der Adressatenkreis wird damit gleich umfasst wie in Artikel 443 Absatz 2 ZGB. Die Meldung an die Kindesschutzbehörde braucht keine Entbindung vom Amtsgeheimnis (Art. 14 StGB).

Der zentrale Punkt der Revision betrifft die Erweiterung der geltenden Meldepflicht auf Personen, die regelmässig mit Kindern zusammenarbeiten, aber keine amtliche Tätigkeit ausüben (Abs. 1 Ziff. 1). In diesen Katalog fallen beispielsweise Lehrpersonen
in Schulen ausserhalb des schulpflichtigen Alters, Angestellte in einer privat organisierten Kinderkrippe, Nannies, Therapeutinnen und Therapeuten, Mitarbeitende von Beratungsstellen (z.B. Elternberatungsstellen) oder von privaten Hilfswerken, die soziale Unterstützung anbieten, sowie Trainerinnen und Trainer jeder Sportart. Gegenüber dem Vorentwurf wird nun jedoch im Gesetzestext selbst klargestellt, dass nur Fachpersonen, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben, von der Regelung erfasst sein sollen. Damit wird der Kreis der Meldepflichtigen auf Fachpersonen konkretisiert, die in der Lage sein sollten, Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen und die mit der Meldepflicht verbundene Verantwortung zu tragen.

Tatsächlich wären Personen, die nur im Freizeitbereich und hauptsächlich freiwillig mit Kindern zu tun haben (z.B. ehrenamtliche Sporttrainerinnen und -trainer, J+S-, Pfadi- und JUBLA-Leiterinnen und -Leiter, freiwillige Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter), mit einer Meldepflicht in den meisten Fällen überfordert: Ihnen fehlen das nötige Fachwissen und die nötige Erfahrung, um eine Kindeswohlgefährdung richtig einschätzen zu können. Dies ist auch im Vernehmlassungsverfahren von verschiedener Seite vorgebracht worden.

76

Botschaft Erwachsenenschutz (Fn. 4), BBl 2006 7076.

3457

Von dieser neuen Meldepflicht ausgenommen sind ebenfalls Fachpersonen, die zwar regelmässig mit Kindern zu tun haben, aber dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Diese sind nach Artikel 314c Absatz 2 lediglich berechtigt, eine Meldung zu erstatten. In diesem Sinne geht die Meldeberechtigung der Meldepflicht nach Artikel 314d vor. Diese Ausnahme findet ihre Rechtfertigung in der Tatsache, dass Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger in der Regel ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihren Patientinnen und Patienten oder Klientinnen und Klienten haben (vgl. Ziff. 1.2.3).

Soweit die Fachpersonen als Hilfspersonen einer Trägerin oder eines Trägers eines Berufsgeheimnisses tätig sind, unterstehen sie ebenfalls dem Berufsgeheimnis (Art. 321 Ziff. 1 StGB). Sie sind damit ebenfalls vom Kreis der Meldepflichtigen ausgenommen. Auf die Einführung eines Melderechts für Hilfspersonen von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern wurde verzichtet, da die Interessenabwägung, ob das Vertrauensverhältnis bewahrt oder eine Meldung an die Kindesschutzbehörden gemacht werden soll, den primären Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern selber obliegen sollte (vgl. die Erläuterungen zu Art. 314c). Die Einführung einer Meldepflicht für Hilfspersonen von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern würde dieser Gewichtung zuwiderlaufen und die Hilfspersonen in einen Interessenkonflikt bringen. Hilfspersonen von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern sind damit zwar weder meldeberechtigt noch meldepflichtig. Sie sind jedoch angehalten, mögliche Kindeswohlgefährdungen den primären Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern zur Kenntnis bringen. Es muss gewährleistet sein, dass diese die erforderliche Interessenabwägung vornehmen können.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schwangerschaftsberatungsstellen und von Behandlungs- oder Sozialhilfestellen nach Betäubungsmittelgesetz werden durch Verweis in den Spezialgesetzen ebenfalls dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstellt (vgl. Erläuterungen zu Art. 314c). Auch sie sind damit von der neuen Meldepflicht ausgenommen. Andere bundesrechtliche Regelungen des Datenaustauschs und der Schweigepflichten, wie beispielsweise diejenigen in Artikel 33 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 200077 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, in Artikel
50a des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 194678 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung oder in Artikel 35 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 199279 über den Datenschutz (DSG), sollen hingegen vor der bundesrechtlichen Regelung von Artikel 314d zurücktreten, weil in diesen Fällen kein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den Fachpersonen und den betroffenen Dritten besteht. Die neue Melderegelung im Kindesschutzrecht geht diesen allgemeinen Schweigepflichten vor. Eine Spezialregelung gilt für Personen, die für eine Beratungsstelle gemäss Opferhilfegesetz arbeiten (vgl. Ziff. 2.4, Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 3 OHG).

Fachpersonen, die beruflich regelmässig mit Kindern zu tun haben und nicht dem Berufsgeheimnis unterstehen, sind dann zur Meldung verpflichtet, wenn sie nicht selber den betroffenen Kindern die nötige Hilfe zur Behebung der Gefährdung leisten können. Die Meldepflicht trägt somit der Tatsache Rechnung, dass in vielen Fällen die betroffenen Fachpersonen selber für die Wiederherstellung des Kindeswohls sorgen können oder sogar dafür zuständig sind. Dies kann insbesondere der 77 78 79

SR 830.1 SR 831.10 SR 235.1

3458

Fall sein für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Polizistinnen und Polizisten oder Mitarbeitende von Beratungsstellen. In solchen Fällen hat die Meldung nur dann zu erfolgen, wenn die Fachperson nicht in der Lage ist, die Hilfsbedürftigkeit oder die Gefährdung des Kindes selber zu beheben. In diesem Sinne ist das Einschreiten der Kindesschutzbehörde subsidiär. Damit wird auch den im Vernehmlassungsverfahren vielfach geäusserten Bedenken Rechnung getragen, dass gerade Fachpersonen aus den Bereichen Sozialberatung und Pflege im gleichen Masse wie die Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger in einem schützenswerten Vertrauensverhältnis zu den Betroffenen stehen können. Indem diese Fachpersonen nur dann meldepflichtig sind, wenn sie die Gefährdung des Kindeswohls nicht durch ihre eigene Tätigkeit abwenden können, sollen niederschwellige Lösungen weiterhin möglich bleiben. Die betroffenen Fachpersonen erhalten einen Handlungsspielraum: Wenn sie selber eine Lösung für die Kindeswohlgefährdung herbeiführen können, sind sie nicht meldepflichtig. Nicht erforderlich ist dabei, dass die Fachperson der Kindeswohlgefährdung im Alleingang Abhilfe schaffen kann. Sie kann im Rahmen ihrer Tätigkeit alle Massnahmen ergreifen, die ihr geboten erscheinen, und dabei insbesondere auch auf weitere Stellen oder ein Netzwerk zurückgreifen. Wo solche Lösungen jedoch nicht zum Ziel führen oder von Anfang an als aussichtslos erscheinen, muss eine Meldung an die Kindesschutzbehörde erfolgen. Die betroffenen Fachpersonen können die zuständige Kindesschutzbehörde aber auch dann über eine vorhandene Gefährdungslage informieren, wenn sie (zunächst) eigene Massnahmen ergreifen.

Die Meldepflicht kommt unabhängig davon zur Anwendung, ob die Fachperson von der Täterin oder dem Täter, von den Eltern, Dritten oder dem betroffenen Kind selbst von der Gefährdungslage erfährt (vgl. auch die Erläuterungen zu Art. 314c).

Die Meldepflicht besteht jedoch nur für Tatsachen, die die Fachperson in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit wahrgenommen hat (vgl. Art. 443 Abs. 2 ZGB und oben Ausführungen zu Abs. 1 Ziff. 2).

Die Meldepflicht gegenüber der Kindesschutzbehörde hat keinen Einfluss auf die gesetzliche Regelung der Strafanzeige nach der Strafprozessordnung80 (StPO). Jede Person, unter Vorbehalt der Strafbehörden (Art. 302 Abs. 1 StPO),
ist weiterhin berechtigt, eine Straftat gegen eine minderjährige Person bei einer Strafverfolgungsbehörde schriftlich oder mündlich anzuzeigen (Art. 301 Abs. 1 StPO). Dabei zu beachten ist, dass sowohl der Bund als auch die Kantone die Kompetenz haben, für bestimmte Behördenmitglieder eine Anzeigepflicht vorzusehen (Art. 302 Abs. 2 StPO).

Die Verletzung der Meldepflicht nach Artikel 314d ist grundsätzlich nicht strafbar.

Die Unterlassung der gebotenen Meldung könnte allerdings unter dem Aspekt eines Unterlassungsdelikts strafrechtlich relevant werden, wenn die minderjährige Person ein Delikt begeht und der Eintritt der Schädigung beim Opfer durch das gebotene Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können.81 Dasselbe gilt, wenn eine meldepflichtige Person eine Meldung unterlässt, das betroffene Kind Opfer einer strafbaren Handlung wird (vgl. Ziff. 1.1.7) und eine Meldung die Tat hätte verhindern können. Wegen Begehen eines Verbrechens oder Vergehens durch Unterlassen kann bestraft werden, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er 80 81

SR 312.0 Vgl. Auer/Marti (Fn. 68), Art. 443 N 28.

3459

aufgrund seiner Rechtsstellung dazu verpflichtet ist (Art. 11 Abs. 2 StGB). Fachpersonen, die beruflich mit Kindern arbeiten, haben für diese Kinder in der Regel eine Garantenstellung, wenn sich die Kinder in ihrer Obhut befinden. Diese sogenannten Obhutspflichten ergeben sich im Falle von Amtspersonen meist aus Gesetz, in den anderen Fällen aus Vertrag.82 Die Fachpersonen sind zumindest in den Zeitfenstern, in denen sie mit den ihnen anvertrauten Kindern arbeiten, für deren Schutz verantwortlich. Durch die gesetzliche Meldepflicht wird diese Schutzpflicht auf Fälle ausgedehnt, in denen sich die Kinder nicht in der Obhut der Fachperson befinden.

Ihnen wird von Gesetzes wegen die Pflicht auferlegt, Verletzungen oder Gefährdungen des Kindeswohls auch ausserhalb ihrer Betreuungszeiten nach Möglichkeit zu verhindern. Durch die Meldepflicht wird damit unter Umständen eine gesetzliche Garantenstellung geschaffen (Art. 11 Abs. 2 Bst. a StGB). Eine Verletzung der Meldepflicht kann deshalb sehr einschneidende Folgen haben, wenn sich die Gefahr verwirklicht und gegen das Kind ein Delikt verübt wird. In Frage kommt namentlich eine Verurteilung wegen Gehilfenschaft (Art. 25 StGB) zu den fraglichen Delikten (z.B. sexuelle Handlungen mit Kindern, Art. 187 StGB, oder Körperverletzung, Art. 122 ff. StGB), wenn auch die übrigen Voraussetzungen nach Artikel 11 StGB erfüllt sind. Soweit der betroffenen minderjährigen Person ein Schaden entsteht, kann auch eine zivilrechtliche Haftung in Frage kommen, wenn die Voraussetzungen nach Artikel 41 Absatz 1 OR83 erfüllt sind. Ebenfalls möglich ist, dass ein Spezialgesetz eine Haftung vorsieht, die bei einer unterlassenen Meldung zur Anwendung kommen könnte, oder dass personal- oder disziplinarrechtliche Bestimmungen derartige Widerhandlungen sanktionieren.

Die neue Regelung der Meldepflichten gegenüber der Kindesschutzbehörde ist abschliessend. Die Kantone dürfen keine zusätzlichen Meldepflichten gegenüber der Kindesschutzbehörden vorsehen. Vorbehalten bleiben allerdings die Meldungen, deren Erlass im Kompetenzbereich der Kantone ist, wie beispielsweise im Gesundheits- oder im Schulwesen (vgl. Ziff. 1.2.1). Die Kantone dürfen im Rahmen der Ausführungsgesetzgebung zum Zivilrecht zudem nach wie vor Sanktionen und Disziplinarmassnahmen gegen fehlbare Fachpersonen vorsehen.

Art. 314e

Mitwirkung und Amtshilfe

Die Mitwirkungspflichten und die Amtshilfe bei der Abklärung eines Sachverhalts im Kindesschutzbereich sind im geltenden Erwachsenenschutzrecht geregelt (Art. 448 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB). Die Einführung einer besonderen Melderegelung im Kindesschutz bedingt eine Anpassung dieser Bestimmung und eine Neueinordnung unter die Verfahrensbestimmungen im Kindesschutzrecht.

Für Fachpersonen, die nach Artikel 314d einer Meldepflicht unterstehen sollen, bringt die Vorlage keine Neuerung. Sie sind wie bisher verpflichtet, bei der Abklärung des Sachverhalts mitzuwirken (Art. 448 Abs. 1 und 4 ZGB bzw. Art. 314e Abs. 1 und 4 E-ZGB).

Inhaltlich neu ist Absatz 2. Fachpersonen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen und gestützt auf Artikel 314c Absatz 2 meldeberechtigt 82

83

Vgl. Trechsel Stefan/Jean-Richard-dit-Bressel Marc, in: Trechsel Stefan/Pieth Mark (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2013, Art. 11 N 7 ff.; Seelmann Kurt, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 11 N 47 f.

Obligationenrecht (OR); SR 220.

3460

sind, sollen auch berechtigt sein, bei der Abklärung des Sachverhalts mitzuwirken, ohne sich vorgängig vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Die Vorlage sieht für diese Fachpersonen bewusst eine Berechtigung und keine Verpflichtung zur Mitwirkung vor. Damit wird die Tatsache berücksichtigt, dass die betroffene Berufsgeheimnisträgerin oder der betroffene Berufsgeheimnisträger über persönlichkeitsrelevante Daten der am Verfahren beteiligten Personen verfügt und selber im Rahmen einer Verhältnismässigkeitsprüfung in der Lage sein muss zu bestimmen, welche Informationen weitergegeben werden sollen und welche nicht. Kann beispielsweise eine für das Verfahren relevante Information auf dem Weg der Amtshilfe erreicht werden, soll die betroffene Fachperson ihre Mitwirkung verweigern können. Das Mitwirkungsrecht soll für Trägerinnen und Träger eines Berufsgeheimnisses unabhängig davon bestehen, ob sie vorgängig eine Gefährdungsmeldung gegenüber der Kindesschutzbehörde abgegeben haben. Dies ist eine Neuerung gegenüber dem Vorentwurf, die von Teilnehmenden des Vernehmlassungsverfahrens angeregt wurde. Wie bei der Regelung der Melderechte sind jedoch die Hilfspersonen der Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger nicht ohne Weiteres zur Preisgabe von geschützten Informationen und damit zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts ermächtigt. Der Entscheid zur Aufhebung des Berufsgeheimnisses soll auch hier in erster Linie den primären Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern selbst obliegen. Wo sie die Mitwirkung ihrer Hilfspersonen für angezeigt halten ­ etwa weil es die Hilfsperson war, welche die mögliche Kindeswohlgefährdung wahrgenommen hat ­, können sie sich jedoch durch diese im Verfahren vertreten lassen. Auch eine Entbindung der Hilfsperson vom Berufsgeheimnis durch die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde kommt in Frage.

Neu ist ebenfalls Absatz 3, welcher im Kindesschutzrecht Artikel 448 Absatz 2 ZGB ablöst. Wenn die Trägerinnen und Träger des Berufsgeheimnisses von der geheimnisberechtigten Person oder auf Gesuch der Kindesschutzbehörde von der vorgesetzten Behörde oder der Aufsichtsbehörde vom Berufsgeheimnis entbunden wurden, sollen sie die Mitwirkung nicht verweigern können. In diesen Fällen sind sie zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet. Nur auf diese Weise
kann dem in Artikel 446 Absatz 1 ZGB vorgeschriebenen uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatz Nachachtung verschafft werden. Diese im Erwachsenenschutzrecht bisher nur für Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Apothekerinnen und Apotheker und Hebammen sowie ihre Hilfspersonen vorgesehene Regelung wird im Kindesschutzrecht ­ in Abbildung der Melderegelung (Art. 314c Abs. 2) ­ neu für alle Personen vorgesehen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen.

Art. 443 Abs. 2 und 3 Die Melderegelung im Erwachsenenschutzrecht soll punktuell an die neue Regelung im Kindesschutzrecht angepasst werden (vgl. Ziff. 1.4). In Absatz 2 wird neu ausdrücklich festgehalten, dass das Berufsgeheimnis vor der Meldepflicht Vorrang hat.

Diese Frage war in der Lehre nicht unumstritten.84 Zudem wird wie im Kindes84

Für den Vorrang des Berufsgeheimnisses bereits nach bisherigem Recht Auer/Marti (Fn. 68), Art. 443 N 25; Rosch (Fn. 47), S. 1029 f.; Kuhn Mathias, Das Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, recht 2014, S. 218 ff., 230; anderer Ansicht Fassbind Patrick, in: Kren Kostkiewicz Jolanta/Nobel Peter/Schwander Ivo/Wolf Stephan (Hrsg.), ZGB Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2011, Art. 443 N 3; Schmid Hermann, Kommentar Erwachsenenschutz, Zürich/St. Gallen 2010, Art. 443 ZGB N 6.

3461

schutzrecht vorgesehen, dass die Meldepflicht nur für diejenigen Personen in amtlicher Tätigkeit besteht, welche der Hilfsbedürftigkeit im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht selber Abhilfe schaffen können (vgl. die Erläuterungen zu Art. 314d Abs. 1).

Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch im Erwachsenenschutzrecht in vielen Fällen die von einer Meldepflicht betroffenen Personen selber für die Unterstützung von hilfsbedürftigen Erwachsenen zuständig sind (z.B. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Polizistinnen und Polizisten). Eine Meldepflicht soll für diese Personen in amtlicher Tätigkeit erst entstehen, wenn sie keine Lösung für die Hilfsbedürftigkeit herbeiführen können oder eine Lösung von Anfang an als aussichtslos erscheint.

Die Vorlage bezweckt eine Vereinheitlichung der Melderegelung auch im Falle der Hilfsbedürftigkeit von Erwachsenen. Nach Absatz 3 sollen die Kantone im Bereich des Erwachsenenschutzrechts keine Kompetenz mehr haben, weitere Meldepflichten gegenüber der Erwachsenenschutzbehörde vorzusehen. Vorbehalten bleiben auch hier die Meldungen, deren Erlass im Kompetenzbereich der Kantone ist, wie beispielsweise im Gesundheits- oder im Schulwesen (vgl. Ziff. 1.2.1 und Erläuterungen zu Art. 314d Abs. 2).

Art. 448 Abs. 2 Mit dem Inkrafttreten des Psychologieberufegesetzes am 1. April 2013 wurde der Katalog der Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger in Artikel 321 StGB um die Psychologinnen und Psychologen sowie die Chiropraktorinnen und Chiropraktoren erweitert. Dies rechtfertigt eine Ergänzung der zivilrechtlichen Bestimmung um diese Berufskategorien.85 Die Umschreibung «Psychologinnen und Psychologen» wird gemäss der Botschaft zum Psychologieberufegesetz weit verstanden und umfasst auch die anderen Fachrichtungen der Psychologie wie z.B. die Psychotherapie und die klinische Psychologie.86 Rein redaktioneller Natur ist die geschlechtergerechte Bezeichnung «Hebammen und Entbindungspfleger» im deutschen Text.

2.2

Strafgesetzbuch

Mit der Einführung von Melderechten für Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger sowie der Ausdehnung der Meldepflichten werden auch Anpassungen des Strafgesetzbuches notwendig.

Art. 321 Ziff. 3 Diese Bestimmung wird im Sinne der vorgeschlagenen zivilrechtlichen Melderegelung ergänzt.

Art. 364 Diese Bestimmung geht in der neuen zivilrechtlichen Meldereglung auf. Ausgangspunkt für ein Tätigwerden der Kindesschutzbehörden ist stets eine mögliche Gefähr85 86

Vgl. Kettiger Daniel, Zum Berufsgeheimnis der Psychologinnen und Psychologen gegenüber der Erwachsenenschutzbehörde (Art. 448 ZGB), SJZ 2014, S. 512 ff., 515.

BBl 2009 6948 f.

3462

dung des Wohls eines Kindes. In Artikel 314c E-ZGB ist bei mutmasslichen Kindeswohlgefährdungen neu ein Melderecht für alle Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger mit Ausnahme ihrer Hilfspersonen vorgesehen. Für Fachpersonen in amtlicher Tätigkeit, die nicht dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, besteht sogar eine Meldepflicht (Art. 314d Abs. 1 Ziff. 2 E-ZGB). Ein separates Recht zur Mitteilung an die Kindesschutzbehörden, wenn an einer minderjährigen Person eine strafbare Handlung begangen worden ist, hat daneben keine Berechtigung. Wie im Vernehmlassungsverfahren von verschiedenen Teilnehmenden vorgebracht wurde, macht eine Meldung an die Kindesschutzbehörden dort keinen Sinn, wo eine strafbare Handlung sich nicht als Gefährdung des Kindeswohls auswirkt.

Die Bestimmung soll deshalb aufgehoben werden.

2.3

Strafprozessordnung

Diese Gesetzesrevision soll genutzt werden, um die Terminologie der Strafprozessordnung an das neue Erwachsenenschutzrecht anzupassen.

Art. 75 Abs. 2 und 3 Der Begriff «Sozial- und Vormundschaftsbehörden» in Absatz 2 wird durch «Sozialbehörden sowie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden» ersetzt. Die Begriffe «Unmündige» und «Vormundschaftsbehörden» werden in Absatz 3 durch «Minderjährige» beziehungsweise «Kindesschutzbehörden» ersetzt.

Art. 168 Abs. 1 Bst. g Der Begriff der Beiratschaft wurde mit Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechts am 1. Januar 2013 abgeschafft und wird deshalb aus dieser Bestimmung gestrichen.

2.4

Opferhilfegesetz

Art. 11 Abs. 3 Auch die Terminologie des Opferhilfegesetzes vom 23. März 200787 wird an das neue Erwachsenenschutzrecht angepasst. Der Begriff der «unmündigen Person» wird durch den der «minderjährigen Person» bzw. «Person unter umfassender Beistandschaft» ersetzt und derjenige der «Vormundschaftsbehörde» durch «Kindesund Erwachsenenschutzbehörde». Im Übrigen wird die bewährte spezialgesetzliche Regelung im Opferhilfegesetz beibehalten (vgl. Ziff. 1.1.2.5). Diese geht der Regelung im Kindesschutzrecht als lex specialis vor; die Mitarbeitenden von OpferhilfeBeratungsstellen unterstehen damit der Meldepflicht von Artikel 314d Absatz 1 E-ZGB nicht.

87

SR 312.5

3463

2.5

Bundesgesetz über die Schwangerschaftsberatungsstellen

Art. 2 Abs. 1 dritter Satz Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schwangerschaftsberatungsstellen werden ebenfalls durch eine spezialgesetzliche Regelung der Geheimhaltungspflicht nach den Artikeln 320 und 321 des Strafgesetzbuches unterstellt (vgl. oben Ziff. 2.1, Erläuterungen zu Art. 314c und 314d E-ZGB). Artikel 2 Absatz 1 zweiter Satz des Bundesgesetzes vom 9. Oktober 198188 über die Schwangerschaftsberatungsstellen erklärt jedoch Artikel 321 Ziffer 3 des Strafgesetzbuches ­ welche die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht und über die Auskunftspflicht und neu auch die Melde- und Mitwirkungsrechte gegenüber einer Behörde vorbehält ­ für nicht anwendbar. Durch Hinzufügen eines Verweises auf die neuen Bestimmungen im Kindesschutzrecht soll deshalb klargestellt werden, dass für diese Personen im Kindesschutzrecht die für die Berufsgeheimnisträgerinnen und -träger vorgesehene Regelung ebenfalls gilt. Die Artikel 314c Absatz 2 und 314e Absätze 2 und 3 E-ZGB werden deshalb ausdrücklich für anwendbar erklärt.

Mit dieser Klarstellung auf Gesetzesebene wird einem im Vernehmlassungsverfahren geäusserten Anliegen Rechnung getragen.

2.6

Anwaltsgesetz

Art. 13 Abs. 1 zweiter Satz Durch die Gleichstellung aller Kategorien von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern in Artikel 314e Absatz 3 E-ZGB wird eine Anpassung des Anwaltsgesetzes vom 23. Juni 200089 nötig. Dieses sieht bisher vor, dass Anwältinnen und Anwälte auch dann, wenn sie vom Berufsgeheimnis entbunden wurden, nicht zur Preisgabe von Anvertrautem verpflichtet werden können. Dies soll im Kindesschutzverfahren nun relativiert werden, wenn die Klientel oder die Aufsichtsbehörde die Anwältin oder den Anwalt vom Berufsgeheimnis entbunden hat. In diesen Fällen sollen auch Anwältinnen und Anwälte die Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts nicht verweigern können.

Eine ähnliche Regelung war vom Bundesrat schon bei der Einführung der Strafprozessordnung vorgeschlagen worden,90 wurde vom Parlament jedoch verworfen. Den parlamentarischen Beratungen lässt sich entnehmen, dass befürchtet wurde, die angeklagte Person könnte sich ihrer Anwältin oder ihrem Anwalt nicht mehr anvertrauen und somit ihre Verteidigung erschweren, wenn zu befürchten wäre, dass die Anwältin oder der Anwalt zur Aussage in einem Strafprozess verpflichtet werden könnte.91 Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Interessenlage im Kindesschutz jedoch eine andere Beurteilung erfordert. Anders als im Strafprozess dient die Wahrheitsfindung im Kindesschutzverfahren nicht der Zuweisung von Schuld oder Unschuld, sondern 88 89 90 91

SR 857.5 SR 935.61 Vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1203 f.

AB 2006 S 1018 ff.; AB 2007 N 961 ff.

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einzig dem Schutz eines möglicherweise gefährdeten Kindes. Nur wenn der Kindesschutzbehörde alle Fakten bekannt sind, kann sie entscheiden, welche Massnahmen zu treffen sind. Eine Mitwirkungspflicht besteht erst dann, wenn die Trägerin oder der Träger des Berufsgeheimnisses durch die geheimnisberechtigte Person oder die Aufsichtsbehörde vom Berufsgeheimnis entbunden wurde. In diesen Fällen ist es nach Ansicht des Bundesrats im Kindesschutzverfahren nicht gerechtfertigt, die Anwältinnen und Anwälte einer anderen Regelung als die anderen Kategorien von Berufsgeheimnisträgerinnen und -trägern zu unterwerfen.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat weder auf den Personalbestand noch auf die Finanzen des Bundes Auswirkungen.

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Nach dem geltenden Recht dürfen die Kantone im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts Meldepflichten vorsehen, die über die bundesrechtliche Regelung hinausgehen (Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art. 443 Abs. 2 ZGB). Der vorliegende Entwurf sieht für Fälle, in denen das Wohl Minderjähriger gefährdet erscheint, eine abschliessende Regelung der Meldepflichten vor. Auch die Meldepflichten im Erwachsenenschutzrecht sollen vereinheitlicht werden (vgl. Ziff. 2.1, Erläuterungen zu Art. 443 Abs. 3 E-ZGB). Aus diesem Grund dürfen die Kantone in diesen Bereichen keine weiteren Meldepflichten gegenüber der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde mehr vorsehen. Sie dürfen allerdings nach wie vor Sanktionen und Disziplinarmassnahmen gegen fehlbare Fachpersonen vorsehen. Vorbehalten bleiben auch die Meldungen, deren Erlass im Kompetenzbereich der Kantone ist, wie beispielsweise im Gesundheits- oder im Schulwesen (vgl. Ziff. 1.2.1).

Es ist davon auszugehen, dass die Erweiterung der Meldepflichten und Melderechte zu einer Zunahme von Gefährdungsmeldungen und in der Folge zu einem erhöhten Abklärungsbedarf seitens der Kindesschutzbehörden führen wird.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft.

3.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Vorlage hat zum Ziel, den Schutz des Kindes zu stärken. Sie verpflichtet Personen, die regelmässig eine Tätigkeit im Zusammenhang mit Kindern ausüben, eine Meldung an die Kindesschutzbehörde zu erstatten, wenn sie eine Gefährdung des Kindeswohls vermuten. Zu dieser Meldung werden im Übrigen Personen mit einem

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Berufsgeheimnis berechtigt, ohne dass sie sich vorab vom Berufsgeheimnis entbinden lassen müssen.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrates

4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201292 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201293 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt. Die Revision des Zivilgesetzbuches ist dennoch angezeigt, weil ein parlamentarischer Vorstoss den Bundesrat dazu aufgefordert hat, den Kindesschutz durch Einführung einer neuen Melderegelung zu stärken.

4.2

Verhältnis zu nationalen Strategien des Bundesrates

Mit Verabschiedung des Berichts «Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik» vom 27. August 200894 hat sich der Bundesrat für ein verstärktes Engagement des Bundes im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik ausgesprochen.

Im Zentrum stehen dabei Massnahmen zum Schutz, zur Förderung und zur Integration von Kindern und Jugendlichen. Die Vorlage unterstützt die Ziele des Bundesrates, insbesondere die Politik zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefährdungen durch Einwirkungen und Einflüsse in ihrer Lebensumwelt (Missbrauch, insbesondere sexueller Missbrauch, Gewalt in der Erziehung, persönlichkeitsbeeinträchtigende Einflüsse durch Medien, gesundheitsschädigende Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Missbrauch oder nicht altersgemässer Gebrauch legaler und illegaler Suchtmittel).95

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Die beantragte Revision stützt sich auf Artikel 122 Absatz 1 BV, wonach die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts Sache des Bundes ist.

92 93 94

95

BBl 2012 481 BBl 2012 7155 Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik. Bericht des Bundesrates vom 27. August 2008 in Erfüllung der Postulate Janiak (00.3469) vom 27. September 2000, Wyss (00.3400) vom 23. Juni 2000 und Wyss (01.3350) vom 21. Juni 2001; abrufbar unter: www.bsv.admin.ch > Themen > Kinder- und Jugendfragen > Kinder- und Jugendförderung.

Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik (Fn. 94), S. 4.

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5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der vorliegende Entwurf ist vereinbar mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz: Der Anspruch des Kindes auf besonderen Schutz und Beistand sowie auf Förderung der Entwicklung ergibt sich in erster Linie aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK)96 (insbesondere Art. 3 und 19) sowie aus Artikel 10 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNOPakt I)97 und Artikel 24 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Reche (UNO-Pakt II)98.

5.3

Erlassform

Die Änderung des Zivilgesetzbuches erfordert den Erlass eines Bundesgesetzes.

5.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredits oder Zahlungsrahmens enthält.

5.5

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Entwurf delegiert keine Rechtsetzungskompetenzen an den Bundesrat.

5.6

Datenschutz

Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wird durch kantonale Behörden angewendet.

Aus diesem Grund finden die kantonalen Datenschutzgesetze Anwendung (Art. 2 Abs. 1 e contrario DSG). Die zivilrechtlichen Bestimmungen sind im Verhältnis zu den kantonalen Datenschutzbestimmungen als lex specialis zu betrachten. Die vorgeschlagene Melderegelung geht den kantonalen Datenschutzbestimmungen vor.

96 97

98

Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK); SR 0.107.

Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, von der Bundesversammlung genehmigt am 13. Dezember 1991 (UNO-Pakt I); SR 0.103.1.

Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte, von der Bundesversammlung genehmigt am 13. Dezember 1991 (UNO-Pakt II); SR 0.103.2.

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