15.038 Botschaft zur Genehmigung des Dritten und des Vierten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 20. Mai 2015

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Dritten Zusatzprotokolls vom 10. November 2010 und des Vierten Zusatzprotokolls vom 20. September 2012 (SEV Nrn. 209 und 212) zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

20. Mai 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2015-0042

3963

Übersicht Ziel dieser Vorlage ist die Ratifikation des Dritten und des Vierten Zusatzprotokolls zum Auslieferungsübereinkommen des Europarats. Die Schweiz hat sowohl das Übereinkommen als auch dessen Erstes und Zweites Zusatzprotokoll ratifiziert. Die beiden vorliegenden Zusatzprotokolle führen die bewährte bisherige Zusammenarbeit fort. Sie bringen die Rechtsgrundlagen auf einen modernen Stand und folgen dem Ziel, das Auslieferungsverfahren zu beschleunigen und zu vereinfachen.

Ausgangslage Das Auslieferungsübereinkommen des Europarats gehört zu den wichtigsten Rechtsgrundlagen auf dem Gebiet der Auslieferung, also der zwangsweisen Übergabe einer strafrechtlich gesuchten Person von einem Staat an einen anderen zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Der Anwendungsbereich des Übereinkommens umfasst alle Mitgliedstaaten des Europarats sowie Israel, Südafrika und Südkorea.

Die immer engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung namentlich im europäischen Raum bewog den Europarat Mitte 2000, seine Auslieferungs- und Rechtshilfeinstrumente zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund wurden zwei neue Zusatzprotokolle zum Auslieferungsübereinkommen ausgearbeitet, die 2010 bzw. 2012 zur Unterzeichnung für die Mitgliedstaaten des Übereinkommens aufgelegt wurden.

Inzwischen sind beide Zusatzprotokolle in Kraft. Der Bundesrat hat sie im vergangenen Herbst namens der Schweiz unterzeichnet.

Inhalt der Vorlage Die beiden Zusatzprotokolle haben zum Ziel, das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen.

Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 schafft die Rechtsgrundlage für ein rascheres und mit weniger Formalitäten verbundenes Auslieferungsverfahren, sofern eine Person ihrer Auslieferung zustimmt. Für Auslieferungen von der Schweiz an das Ausland kennt die Schweiz auf der Grundlage des Rechtshilfegesetzes bereits ein derartiges vereinfachtes Auslieferungsverfahren. Das Zusatzprotokoll wird demnach vor allem dazu beitragen, dass Personen aus dem europäischen Ausland rascher an die Schweiz ausgeliefert werden können.

Das Vierte Zusatzprotokoll vom 20. September 2012 modernisiert einzelne Bestimmungen des Übereinkommens. Modifiziert werden insbesondere die Regelungen zur Verjährung, zu den Ersuchen und zu den Übermittlungsmodalitäten, zum Grundsatz
der Spezialität sowie zur Durch- und Weiterlieferung. Zudem wird vorgesehen, Auslieferungsunterlagen unter bestimmten Voraussetzungen fortan elektronisch zu übermitteln.

3964

Die Zusatzprotokolle enthalten Regelungen, die bereits weitgehend im nationalen Recht verankert sind. Sie erfordern keine Gesetzesanpassungen.

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 19571 (Übereinkommen oder EAUe) gehört zu den ersten völkerrechtlichen Instrumenten, die das Auslieferungsverfahren auf multilateraler Ebene regeln. Das Übereinkommen kodifiziert die wesentlichen Grundsätze des Auslieferungsrechts und steckt damit den Rahmen für die zwangsweise Übergabe einer strafrechtlich gesuchten Person zur Strafverfolgung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe an den ersuchenden Staat ab. Die Schweiz hat das Übereinkommen am 20. Dezember 1966 ratifiziert. In der damaligen Botschaft hatte der Bundesrat betont, der Beitritt der Schweiz zu diesem Übereinkommen bringe vor allem den Vorteil, dass auf dem Gebiet der Auslieferung eine Reihe von Fragen geregelt würden, für die es bis zu diesem Datum weder eine gesetzliche noch eine staatsvertragliche Regelung gegeben hatte.2 Das Übereinkommen hat damit eine neue Ära der Auslieferungszusammenarbeit zwischen der Schweiz und ihren europäischen Nachbarstaaten eingeläutet, darüber hinaus mit der erstmaligen staatsvertraglichen Verankerung von Grundsätzen des Auslieferungsverfahrens aber auch Auswirkungen auf die neueren bilateralen Verträge der Schweiz auf dem Gebiet der Auslieferung und nicht zuletzt auch auf das Rechtshilfegesetz vom 20. März 19813 (IRSG) gezeitigt. Auch für die Praxis ist das Übereinkommen von grosser Bedeutung, betreffen doch regelmässig über 80 Prozent der schweizerischen Auslieferungen den Verkehr mit Staaten aus dessen Anwendungsbereich. Vor diesem Hintergrund kann das Übereinkommen als Eckpfeiler unter den Grundlagen des schweizerischen Auslieferungsrechts bezeichnet werden.

Die Schweiz hat später auch das Erste Zusatzprotokoll vom 15. Oktober 19754 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie das Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 19785 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen ratifiziert.6 Der Bundesrat hatte in der damaligen Botschaft geschrieben, das Übereinkommen entspreche nicht mehr allen Erfordernissen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen und müsse darum durch die zwei Zusatzprotokolle ergänzt werden.7 Ähnlich präsentierte sich die Situation erneut Mitte 2000. Die Entwicklung im europäischen Raum bewog den Europarat, seine Auslieferungs- und Rechtshilfeinstrumente zu modernisieren. Der Lenkungsausschuss für Strafrechtsfragen (CDPC)8 beauftragte das Expertengremium (PC-OC)9, zwei neue Zusatzprotokolle 1 2 3 4 5 6

7 8 9

EAUe, SR 0.353.1, SEV Nr. 24 Vgl. BBl 1966 I 457, hier 458 SR 351.1. Die Botschaft des Bundesrats vom 8. März 1976 zum IRSG nahm explizit Bezug auf das Europäische Rechtshilfeübereinkommen, vgl. BBl 1976 II 444, hier 445.

SR 0.353.11 SR 0.353.12 Anlässlich der Ratifikation des Zweiten Zusatzprotokolls hat die Schweiz erklärt, Kapitel II (fiskalische strafbare Handlungen) nicht anzunehmen, vgl. Art. 1 Abs. 1 Bst. 1 des BB vom 13. Dez. 1984, AS 1985 712.

Vgl. BBl 1983 IV 121, hier 122 Comité européen pour les problèmes criminels.

Comité d'experts sur le fonctionnement des Conventions européennes dans le domaine pénal.

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zum Auslieferungsübereinkommen auszuarbeiten. Im Oktober 2009 und im Juni 2011 genehmigte der Lenkungsausschuss den Text der Zusatzprotokolle und des erläuternden Berichts. Das Ministerkomitee verabschiedete das Dritte Zusatzprotokoll am 7. Juli 2010 und das Vierte Zusatzprotokoll am 13. Juni 2012 und legte die Protokolle am 10. November 2010 bzw. am 20. September 2012 für die Mitgliedstaaten des Übereinkommens zur Unterzeichnung auf.

Inzwischen sind die beiden neuen Zusatzprotokolle in Kraft.10 Das Dritte Zusatzprotokoll wurde bis Mitte März 2015 von 30 Staaten unterzeichnet, darunter die Schweiz am 23. Oktober 2014. Zwölf Staaten haben es bis dahin ratifiziert. Das Vierte Zusatzprotokoll wurde bis dahin von 17 Staaten unterzeichnet, darunter die Schweiz am 23. Oktober 2014. Albanien, Lettland, Serbien und das Vereinigte Königreich haben es bisher ratifiziert.

1.2

Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis

Das Bedürfnis nach einer Modernisierung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens wurde in den 2000er-Jahren in verschiedenen Gremien des Europarats thematisiert.11 In der Folge beschloss der Lenkungsausschuss für Strafrechtsfragen, in einem ersten Schritt ein Zusatzprotokoll über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zu erarbeiten und dabei dem Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten besondere Bedeutung zu schenken. In einem zweiten Schritt wurden in einem separaten Protokoll verfahrensspezifische Bestimmungen des Übereinkommens überarbeitet.12 Die Schweiz setzt sich regelmässig für einen stetigen Ausbau der Europaratsinstrumente auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ein. So trug sie auch die Erarbeitung der Zusatzprotokolle von Anfang an mit. Schweizerische Expertinnen und Experten konnten die beiden nun vorliegenden Protokolle in verschiedenen Gremien des Europarats massgeblich mitgestalten. Gerade hinsichtlich der vereinfachten Auslieferung konnten auch schweizerische Erfahrungen eingebracht werden.

Vor diesem Hintergrund ist der Umstand hervorzuheben, dass die Zusatzprotokolle auf internationaler Ebene nunmehr im Wesentlichen den Stand des schweizerischen Rechtshilferechts verankern.

10

11

12

Gemäss seinem Art. 14 Abs. 2 trat das Dritte Zusatzprotokoll am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Hinterlegung der dritten Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde folgt. Gleiches definiert Art. 9 Abs. 2 für das Vierte Zusatzprotokoll. Demnach ist das Dritte Zusatzprotokoll am 1. Mai 2012 in Kraft getreten und das Vierte Zusatzprotokoll am 1. Juni 2014.

Vgl. den erläuternden Bericht des Europarats zum Dritten Zusatzprotokoll, abrufbar auf der Webseite des Europarats in englischer Sprache (Third Additional Protocol to the European Convention on Extradition, Explanatory Report), para. 2, [zit. Explanatory Report AP III] sowie den erläuternden Bericht des Europarats zum Vierten Zusatzprotokoll, abrufbar auf der Webseite des Europarats in englischer Sprache (Fourth Additional Protocol to the European Convention on Extradition, Explanatory Report), para. 2, [zit. Explanatory Report AP IV]; beide Dokumente sind zu finden unter http://conventions.coe.int > full list > No. 209 bzw. No. 212.

Vgl. Explanatory Report AP III, para. 4f.

3967

1.3

Überblick über den Inhalt des Dritten und des Vierten Zusatzprotokolls

Beide Zusatzprotokolle folgen dem Ziel, das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen.

Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 schafft die Rechtsgrundlage für ein rascheres und mit weniger Formalitäten verbundenes Auslieferungsverfahren: Eine verhaftete Person kann ohne formelles Auslieferungsersuchen und -verfahren einem ausländischen Staat zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung übergeben werden, sofern sie und der betroffene Staat dem vereinfachten Verfahren zustimmen (Art. 1­4). Gleichzeitig kann die Person auf den Spezialitätsschutz verzichten (Art. 5). Damit wird dem um Auslieferung ersuchenden Staat ermöglicht, sie für weitere ­ vor der Übergabe begangene ­ Straftaten ins Recht zu fassen.

Das Vierte Zusatzprotokoll vom 20. September 2012 ändert und ergänzt einzelne Bestimmungen des Übereinkommens. Die Verjährung als Auslieferungshindernis (Art. 1), die Übermittlung von Ersuchen und Unterlagen (Art. 2), der Grundsatz der Spezialität bei Nachtragsersuchen (Art. 3) sowie die Weiterlieferung (Art. 4) und die Durchlieferung (Art. 5) werden den heutigen Bedürfnissen angepasst. Dabei werden insbesondere Fristen gestrafft bzw. neu eingeführt. Zudem sieht das Zusatzprotokoll die Möglichkeit vor, Auslieferungsersuchen und -unterlagen unter bestimmten Voraussetzungen elektronisch zu übermitteln (Art. 6). Dadurch kann die Arbeit der involvierten Behörden vereinfacht und die Wahrscheinlichkeit einer fristgerechten Einreichung der Auslieferungsunterlagen erhöht werden.

1.4

Würdigung

Das Europäische Auslieferungsübereinkommen ist ein Eckpfeiler der schweizerischen Auslieferungszusammenarbeit. Es hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt und durch den Beitritt aller Staaten des Europarats ­ wie auch von Staaten ausserhalb Europas (Israel, Südafrika, Südkorea) ­ an Bedeutung gewonnen.

Zwar entspricht das schweizerische Recht dem Inhalt des Dritten und des Vierten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen im Wesentlichen.

Die vereinfachte Auslieferung sowie der Verzicht auf die Spezialität, wie sie im Dritten Zusatzprotokoll enthalten sind, stellen für die Schweiz keine Neuheit dar.

Das IRSG kennt entsprechende Regelungen bereits in den Artikeln 54 und 38 Absatz 2. Auch in einem Staatsvertrag mit Frankreich finden sich derartige Bestimmungen.13 Die Neuerungen in den Artikeln 1­5 des Vierten Zusatzprotokolls entsprechen ebenfalls der in der Schweiz herrschenden Rechtslage und Praxis. Die ergänzende Bestimmung in Artikel 6 des Vierten Zusatzprotokolls über die Kommunikationskanäle und -mittel orientiert sich an Bestimmungen in anderen internationalen Instrumenten des Europarats, welche die Schweiz im Bereich der Rechtshilfe ratifiziert hat.

13

Abkommen vom 10. Febr. 2003 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Regierung der Französischen Republik über das vereinfachte Auslieferungsverfahren und über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dez. 1957, SR 0.353.934.92

3968

Dennoch bringen die beiden Zusatzprotokolle für die Schweiz einen Mehrwert.

Beim Dritten Zusatzprotokoll liegt er in der Reziprozität der Verpflichtung. Die Schweiz kann in Zukunft bei Auslieferungen von Vertragsstaaten ebenfalls von einem vereinfachten Verfahren profitieren, wie sie es im umgekehrten Fall diesen (und weiteren) Staaten bereits im Rahmen der Regelung im IRSG anbietet, wenn sie Auslieferungsstaat ist. Das Verfahren bei Auslieferungen an die Schweiz dürfte dadurch in gewissen Fällen beschleunigt werden, was die Auslieferungshaft verkürzen kann und damit eine raschere materielle Beurteilung der Vorwürfe ermöglicht, die dem Ersuchen zugrunde liegen. Der Mehrwert des Vierten Zusatzprotokolls liegt in der zu erwartenden generellen Vereinfachung der Zusammenarbeit bei Auslieferungsverfahren. Die Anpassung der Verjährungsregel an die internationale Entwicklung, die Straffung einzelner Verfahrensschritte, die Präzisierung der Spezialitätsregel sowie die Möglichkeit des Einsatzes moderner Kommunikationsmittel und -wege dürften sich positiv auf die Verfahren auswirken.

Neben den praktischen Vorteilen, die mit einem Beitritt der Schweiz zu den beiden Zusatzprotokollen verbunden sind, drängt sich deren Ratifizierung auch aus staatspolitischen Gründen auf. Die Schweiz hat die Erarbeitung des Dritten und des Vierten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen mitgetragen und schweizerische Expertinnen und Experten haben die Instrumente massgeblich mitgestaltet. Der Beitritt ist nun der politische Folgeschritt.

1.5

Vernehmlassung

Grundsätzlich ist gemäss Artikel 3 Absatz 1 des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 200514 bei völkerrechtlichen Verträgen, die dem Referendum unterliegen, eine Vernehmlassung durchzuführen. Artikel 3 Absatz 1bis dieses Gesetzes erlaubt jedoch unter anderem dann den Verzicht auf ein Vernehmlassungsverfahren, wenn ein Vorhaben vorwiegend das Verfahren von Bundesbehörden betrifft. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erwägungen, insbesondere der Tatsache, dass das IRSG den Inhalt der Zusatzprotokolle bereits weitgehend enthält, liegt der eindeutige Schwerpunkt des vorliegenden Vorhabens im verfahrensrechtlichen Bereich. Es handelt sich bei den Zusatzprotokollen zudem um politisch eindeutig akzeptierte Instrumente ohne wesentlichen neuen Inhalt. Es wurde demnach im vorliegenden Fall auf die Durchführung einer Vernehmlassung verzichtet.

14

SR 172.061

3969

2

Erläuterungen sowie mögliche Vorbehalte und Erklärungen zu einzelnen Artikeln

2.1

Drittes Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen

Art. 1

Verpflichtung zur Auslieferung im vereinfachten Verfahren

Dieser Artikel enthält die zentrale Neuerung des Dritten Zusatzprotokolls.15 Die Vertragsparteien verpflichten sich, einander zur Auslieferung gesuchte Personen im vereinfachten Verfahren auszuliefern, sofern diese Personen und die ersuchte Vertragspartei hierzu ihre Zustimmung gegeben haben. Im Wesentlichen führt diese Bestimmung zu einem Auslieferungsverfahren, wie es Artikel 54 IRSG für Auslieferungen von der Schweiz an das Ausland schon ermöglicht, sofern die strafrechtlich verfolgte Person zustimmt.

Art. 2

Einleitung des Verfahrens

Absatz 1 dieses Artikels legt fest, wie das Verfahren der vereinfachten Auslieferung nach dem Dritten Zusatzprotokoll in Gang gesetzt werden kann. Dabei statuiert er, dass bei der vereinfachten Auslieferung die Vorlage eines formellen Auslieferungsersuchens grundsätzlich nicht mehr nötig sei. Zu diesem Grundsatz kann ein Vorbehalt angebracht werden. Staaten können Absatz 2 ganz oder teilweise für unanwendbar erklären und damit in einzelnen oder allen Fällen ein formelles Auslieferungsersuchen verlangen. Da sich die Schweiz vom Dritten Zusatzprotokoll unter anderem eine Entformalisierung der Auslieferungsverfahren in denjenigen Staaten erhofft, die bisher ­ anders als die Schweiz in Artikel 54 IRSG16 ­ eine vereinfachte Auslieferung mit Zustimmung der strafrechtlich verfolgten Person nicht kannten, kann auf einen entsprechenden Vorbehalt verzichtet werden.

Art. 3

Pflicht zur Unterrichtung der Person

Dieser Artikel stellt sicher, dass die strafrechtlich verfolgte Person unverzüglich über die Gründe für ihre Verhaftung sowie über die Möglichkeit der Anwendung des vereinfachten Auslieferungsverfahrens nach dem Dritten Zusatzprotokoll informiert wird.17 Art. 4

Zustimmung zur Auslieferung

Dieser Artikel regelt in den Absätzen 1­4 die formellen Erfordernisse für eine gültige Erklärung der Zustimmung der strafrechtlich verfolgten Person zur vereinfachten Auslieferung und deren Widerruf. Gemäss Absatz 5 ist es den Vertragsparteien möglich, u. a. bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu erklären, die Zustimmung zur Auslieferung sowie der Verzicht auf den Spezialitätsschutz könnten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt widerrufen werden. Artikel 54 Absatz 2 IRSG hält für das schweizerische Auslieferungsverfahren fest, die strafrechtlich verfolgte Person könne ihre Zustimmung widerrufen, solange das Bundesamt für Justiz seine 15 16 17

Vgl. Explanatory Report AP III, para. 19.

Die Schweiz benötigt schon bisher kein formelles Auslieferungsersuchen des Auslands für die Bewilligung einer vereinfachten Auslieferung nach Art. 54 IRSG.

Vgl. Explanatory Report AP III, para. 29 f.

3970

Übergabe nicht bewilligt habe. Diese Widerrufsmöglichkeit wird in der Schweiz aus grundrechtlicher Perspektive für notwendig erachtet. Die Freiheitsrechte und Verfahrensgarantien der Bundesverfassung18 (BV) verlangen, dass eine strafrechtlich verfolgte Person ihre Zustimmung bis zum Zeitpunkt der Bewilligung der Übergabe zurückziehen und damit ins ordentliche Auslieferungsverfahren zurückkehren kann, wo ihre Rechte vollumfänglich geschützt sind.19 Ebenfalls ist zu beachten, dass gemäss schweizerischer Rechtslage die Zustimmung zur Auslieferung nicht automatisch einen Verzicht auf den Spezialitätsschutz beinhaltet. Vielmehr ist nach Artikel 54 Absatz 3 IRSG der ersuchende Staat darauf hinzuweisen, dass bei der vereinfachten Auslieferung nach Artikel 54 IRSG der Spezialitätsschutz grundsätzlich weiter besteht.20 Der Bundesrat wird deshalb bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde gestützt auf Artikel 17 Absatz 3 des Dritten Zusatzprotokolls eine entsprechende Erklärung abgeben.

Art. 5

Verzicht auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität

Der Grundsatz der Spezialität statuiert, dass der Ausgelieferte wegen einer anderen, vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Auslieferung zugrunde liegt, grundsätzlich weder verfolgt, abgeurteilt, zur Vollstreckung einer Strafe oder sichernden Massnahme in Haft gehalten noch einer sonstigen Beschränkung seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden darf.21 Gemäss Buchstabe b können die Vertragsparteien erklären, der Spezialitätsschutz nach Artikel 14 des Übereinkommens entfalle, wenn die strafrechtlich verfolgte Person ihre Zustimmung zur Auslieferung gebe und ausdrücklich auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität verzichte. Auch das schweizerische Auslieferungsrecht kennt die Möglichkeit eines Verzichts auf den Spezialitätsschutz. Dieser ist in Artikel 38 Absatz 2 Buchstabe a IRSG enthalten. Demnach entfällt der Spezialitätsschutz, wenn die strafrechtlich verfolgte Person ausdrücklich darauf verzichtet. Der Bundesrat wird deshalb bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde gestützt auf Artikel 17 Absatz 3 des Dritten Zusatzprotokolls eine entsprechende Erklärung nach Artikel 5 Buchstabe b abgeben.

Art. 6

Mitteilung im Fall einer vorläufigen Verhaftung

Dieser Artikel zielt im Wesentlichen drauf ab, die Fristen zum Stellen eines Auslieferungsersuchens nach Artikel 12 oder eines Ersuchens um vorläufige Auslieferungshaft nach Artikel 16 des Übereinkommens wahren zu können, falls eine nach Artikel 2 des Dritten Zusatzprotokolls vorläufig verhaftete Person ihrer Auslieferung nicht zustimmt. Die ersuchte Vertragspartei hat demnach die ersuchende Vertragspartei so bald wie möglich, spätestens aber zehn Tage nach der Verhaftung der strafrechtlich verfolgten Person, darüber zu informieren, ob diese Person ihre Zustimmung zur Auslieferung erteilt hat. Ebenfalls muss sie der ersuchenden Vertragspartei rechtzeitig mitteilen, wenn sie sich in Ausnahmefällen trotz Zustimmung 18 19 20 21

SR 101 Die Schweiz ist mit einer derartigen Auffassung nicht alleine, vgl. Explanatory Report AP III, para. 38.

Vgl. dazu die Anmerkungen in der Botschaft zur IRSG-Revision 1997, BBl 1995 III 1, hier 21.

Dies die Definition gemäss Art. 14 Ziff. 1 EAUe; die Formulierung von Art. 38 Abs. 1 Bst. a IRSG ist inhaltlich deckungsgleich.

3971

der betroffenen Person gegen die Anwendung des vereinfachten Verfahrens entscheidet.22 Art. 7

Mitteilung der Entscheidung

Dieser Artikel führt eine weitere Massnahme zur Beschleunigung des Verfahrens ein. Wenn eine strafrechtlich verfolgte Person der vereinfachten Auslieferung zustimmt, muss die ersuchte Vertragspartei innert 20 Tagen ab dem Zeitpunkt der Zustimmung über die Auslieferung entschieden und den Entscheid der ersuchenden Vertragspartei mitgeteilt haben.

Art. 8

Kommunikationsmittel

Dieser Artikel soll als Grundlage für die elektronische Übermittlung von Mitteilungen zum Zweck des Dritten Zusatzprotokolls dienen.23 Diese Bestimmung ist nicht verpflichtend. Die ersuchte Vertragspartei kann jederzeit das Originaldokument oder eine beglaubigte Kopie der Auslieferungsakten verlangen. Ob und gemäss welchen Modalitäten namentlich formelle Auslieferungsersuchen zwischen Mitgliedstaaten elektronisch übermittelt werden können, hängt massgeblich davon ab, ob sich die betreffenden Staaten über die Sicherheitsanforderungen einigen können. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die E-Extradition-Initiative von INTERPOL zu erwähnen, mittels welcher die Organisation darauf abzielt, den Staaten ein Werkzeug zur sicheren und authentifizierbaren Übermittlung elektronischer Auslieferungsunterlagen zur Verfügung zu stellen.24 Art. 9

Übergabe der auszuliefernden Person

Gemäss diesem Artikel ist eine Person so bald wie möglich und vorzugsweise innerhalb von zehn Tagen nach Mitteilung der Entscheidung über die Auslieferung zu übergeben.25 Dies ist eine gegenüber dem Übereinkommen neue Frist, sieht das Übereinkommen doch bloss vor, dass der ersuchte Staat den ersuchenden Staat über seinen Auslieferungsentscheid in Kenntnis zu setzen sowie Ort und Zeit für die Übergabe festzusetzen hat, ohne aber entsprechende Fristen zu nennen.26 Gemäss bisheriger schweizerischer Praxis kann die Frist von zehn Tagen bei Auslieferungen an das Ausland ohne Weiteres eingehalten werden.27 Bei Auslieferungen vom Ausland an die Schweiz kann in einigen Fällen eine Beschleunigung der Übergabe erhofft werden.

22 23 24 25 26

27

Vgl. Explanatory Report AP III, para. 48 ff.

Vgl. die Erläuterungen zu Art. 6 des Vierten Zusatzprotokolls (unten Ziff. 2.2), der ebenfalls diesem Zweck dient.

Vgl. dazu die Medieninformationen auf der Website von INTERPOL, www.interpol.int > News and Media > Events > 2013 > 2nd Working Group Meeting, e-Extradition-Initiative Die Frist von zehn Tagen ist dabei bloss als Richtschnur zu sehen, vgl. Explanatory Report AP III, para. 60.

Vgl. Art. 18 Abs. 1 und 3 EAUe. Fristen setzt das Übereinkommen bloss hinsichtlich der Übernahme der strafrechtlich verfolgten Person durch den ersuchenden Staat. Gemäss Art. 18 Abs. 4 EAUe ist die strafrechtlich verfolgte Person grundsätzlich innerhalb von 15 Tagen, in jedem Fall aber innerhalb von 30 Tagen nach dem festgesetzten Zeitpunkt zu übernehmen.

Die vorgesehene Frist von zehn Tagen ist bereits in Art. 61 IRSG verankert.

3972

Art. 10

Zustimmung nach Ablauf der in Artikel 6 vorgesehenen Frist

Dieser Artikel legt das Vorgehen fest für den Fall, dass eine Person die Zustimmung zum vereinfachten Auslieferungsverfahren nicht fristgerecht nach der vorläufigen Festnahme abgibt und das formelle Auslieferungsersuchen noch aussteht. Die verspätete Zustimmung soll in diesem Fall kein Hinderungsgrund für ein vereinfachtes Verfahren sein. Stimmt eine Person nach Ablauf der zehntägigen Frist von Artikel 6 ihrer Auslieferung zu, so wendet die ersuchte Vertragspartei das vereinfachte Verfahren nach dem Dritten Zusatzprotokoll dennoch an, solange ihr noch kein formelles Auslieferungsersuchen nach Artikel 12 des Übereinkommens zugegangen ist.

Art. 11

Durchlieferung

Der Begriff der Durchlieferung bezeichnet den Transit einer strafrechtlich verfolgten Person durch das Hoheitsgebiet einer Vertragspartei zum Zwecke der Auslieferung dieser Person von einer anderen Vertragspartei an eine dritte Vertragspartei. Auch für ein Durchlieferungsersuchen sind grundsätzlich nur noch die Informationen zu übermitteln, die für das vereinfachte Auslieferungsverfahren nach Artikel 2 Absatz 1 des Dritten Zusatzprotokolls verlangt werden. Die um Durchlieferung ersuchte Vertragspartei kann allerdings um ergänzende Informationen ersuchen, wenn ihr die erhaltenen Angaben für ihre Entscheidung nicht genügen.

Art. 12­19 In diesen Artikeln enthält das Dritte Zusatzprotokoll die üblichen Schlussbestimmungen zum Verhältnis zum Übereinkommen und zu anderen internationalen Übereinkünften, zur gütlichen Einigung, zu Unterzeichnung und Inkrafttreten, zum Beitritt, zum räumlichen Geltungsbereich, zu Erklärungen und Vorbehalten,28 zur Kündigung und zu Notifikationen.

2.2

Viertes Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen

Art. 1

Verjährung

Absatz 1 bestimmt, dass die Verjährung nur noch dann ein Auslieferungshindernis ist, wenn die Tat nach dem Recht der ersuchenden Vertragspartei verjährt ist, und modifiziert damit Artikel 10 des Übereinkommens. Gemäss Absatz 2 kann eine Auslieferung grundsätzlich nicht mit dem Argument abgelehnt werden, die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung sei nach dem Recht der ersuchten Partei verjährt.

Das Vierte Zusatzprotokoll vollzieht damit Entwicklungen im multilateralen wie im bilateralen Auslieferungsrecht vieler Staaten nach.29

28

29

Gemäss Art. 17 Abs. 2 lässt das Dritte Zusatzprotokoll nur zu Art. 2 Abs. 1 einen Vorbehalt zu. Erklärungen sind gemäss Art. 4 Abs. 5 und Art. 5 möglich. Erläuterungen dazu finden sich direkt bei den jeweiligen Artikeln.

Vgl. Explanatory Report AP IV, para. 9, wo insb. auf Art. 8 des Übereinkommens vom 23. Okt. 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Abl. C 313 vom 23.10.1996, S. 11) Bezug genommen wird.

3973

Gegen die Regelung der Absätze 1 und 2 ist allerdings ein Vorbehalt möglich.

Gemäss Absatz 3 Buchstabe a kann einerseits ein genereller Vorbehalt hinsichtlich aller Delikte, für die der ersuchte Staat selbst Strafhoheit hat, angebracht werden.

Sofern ein Staat eine Tat also grundsätzlich auch selbst beurteilen könnte, die Tat nach seinem Recht jedoch verjährt ist, kann er das Argument der Verjährung sodann auch einem ausländischen Auslieferungsersuchen entgegenstellen. Andererseits kann nach Absatz 3 Buchstabe b auch ein Vorbehalt angebracht werden, falls das nationale Recht des ersuchten Staates die Auslieferung explizit verbietet, wenn bei ihm die Verfolgungs- oder Vollstreckungsverjährung eingetreten ist.

In der Schweiz sieht Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c IRSG für den Fall, dass die Strafverfolgung oder -vollstreckung in der Schweiz wegen absoluter Verjährung ausgeschlossen wäre, ein solches Auslieferungshindernis vor. Grundsätzlich liegt damit ein entsprechender Vorbehalt zu Artikel 1 des Vierten Zusatzprotokolls nahe.

Allerdings hat die Schweiz eine zu Artikel 1 Absatz 2 analoge Bestimmung bereits im Zusatzvertrag mit Deutschland zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen30 vereinbart, und eine zu Artikel 1 Absatz 1 analoge Bestimmung findet sich im Auslieferungsvertrag mit den USA31. Vor diesem Hintergrund scheint eine Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten des Vierten Zusatzprotokolls angezeigt. Da gemäss Artikel 1 Absatz 1 IRSG internationale Vereinbarungen (sowie andere Gesetze) dem IRSG vorgehen, sind vertragliche Abreden, die Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c IRSG widersprechen, mit Blick auf die schweizerische Gesetzessystematik unproblematisch. Auf einen Vorbehalt gemäss Artikel 1 Absatz 3 kann demnach verzichtet werden.

Art. 2

Ersuchen und Unterlagen

Dieser Artikel bringt in Absatz 1 gegenüber der bisherigen Regelung32 die Neuerung, dass die Auslieferungsersuchen nicht mehr notwendigerweise auf diplomatischem Weg oder über die Justizministerien übermittelt werden müssen. Die Vertragsparteien können mittels Erklärung eine andere Behörde bezeichnen, die zum Stellen und Empfangen von Auslieferungsersuchen zuständig ist.33 Geben die Staaten keine anderslautende Erklärung ab, so sind die Justizministerien zuständig. Die neue Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass in einzelnen Vertragsparteien nicht das Justizministerium ein Auslieferungsersuchen stellt oder entgegennimmt, sondern eine andere Behörde ­ beispielsweise die Generalstaatsanwaltschaft. Überdies bestimmt Absatz 2, dass Artikel 5 des Zweiten Zusatzprotokolls zwischen den Vertragsparteien des Vierten Zusatzprotokolls keine Anwendung findet. Der diplomatische Übermittlungsweg wird damit ausgeschlossen. Die Übermittlung von

30

31

32 33

Vertrag vom 13. Nov. 1969 zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dez. 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung, SR 0.353.913.61, vgl. insb. dessen Art. IV Abs. 1.

Auslieferungsvertrag vom 14. Nov. 1990 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika, SR 0.353.933.6, vgl. insb. dessen Art. 5.

Enthalten einerseits in Art. 12 Abs. 1 EAUe (diplomatischer Weg) bzw. in Art. 5 des Zweiten Zusatzprotokolls zum EAUe (zwischen den Justizministerien).

Es soll auf die innerstaatliche Organisation Rücksicht genommen und diejenige Stelle jedes Staates bezeichnet werden können, die für das Stellen und Empfangen von Auslieferungsersuchen zuständig ist, vgl. Explanatory Report AP IV, para. 20.

3974

Ersuchen richtet sich im Anwendungsbereich des vorliegenden Protokolls einzig nach dessen Artikel 2 und insbesondere dessen Artikel 6.34 Art. 3

Grundsatz der Spezialität

Das Vierte Zusatzprotokoll modifiziert den Spezialitätsvorbehalt, wie er in Artikel 14 des Übereinkommens enthalten ist, im Zusammenhang mit Ersuchen um Ausdehnung der Strafverfolgung auf andere, vor der Auslieferung verübte Straftaten (sog. Nachtragsersuchen). In seinem Artikel 3 werden in Absatz 1 vor allem Fristen eingeführt oder gestrafft, mit dem Ziel, rascher Klarheit zu haben, ob der Spezialitätsgrundsatz allenfalls durchbrochen werden und im Staat, in den die Person ausgeliefert worden ist, eine Strafuntersuchung wegen weiterer Taten gegen diese Person voranschreiten kann. In Absatz 2 Buchstabe a wird zudem festgehalten, dass es der Spezialitätsgrundsatz nicht verbietet, gegen eine ausgelieferte Person in der ersuchenden Vertragspartei Ermittlungsmassnahmen zu treffen, sofern diese die persönliche Freiheit dieser Person nicht beschränken.35 Von besonderem Interesse ist Absatz 3 dieser Bestimmung. Er wurde in das Protokoll aufgenommen, um in gewissen Fallkonstellationen Lücken bei der Strafverfolgung zu vermeiden. Gemäss diesem Absatz kann eine Vertragspartei erklären, es einer ersuchenden Vertragspartei zu erlauben, den Grundsatz der Spezialität zu durchbrechen und die Freiheit einer strafrechtlich verfolgten Person zu beschränken.

Voraussetzung dafür ist Reziprozität: Die betreffende Vertragspartei muss die gleichlautende Erklärung ebenfalls abgegeben haben. Darüber hinaus muss die ersuchende Partei zeitgleich mit der Anordnung des Freiheitsentzugs gegen die strafrechtlich verfolgte Person oder später ein Nachtragsersuchen nach Absatz 1 Buchstabe a an die ersuchte Vertragspartei stellen, und diese wiederum muss dessen Eingang bestätigt haben. Hinter dieser Regelung verbirgt sich folgende Konstellation: Ein Staat hat um die Auslieferung einer Person zur Durchführung der Strafverfolgung wegen eines bestimmten Delikts ersucht. Diese Person ist übergeben und eine Strafuntersuchung gegen sie ist durchgeführt worden. Dabei hat sich der ursprüngliche Tatverdacht nicht erhärtet, jedoch sind im Laufe der Untersuchung Beweismittel zum Vorschein gekommen, die eine Verwicklung der betroffenen Person in ein anderes, sogar noch schwereres Delikt nahelegen. Ohne entsprechende Durchbrechung des Spezialitätsgrundsatzes müsste nun die betroffene Person aus der Haft entlassen werden, bevor der ersuchte
Staat seine Zustimmung zur Ausdehnung der Strafuntersuchung auf diesen neuen Tatbestand geben konnte. Damit könnte sich die strafrechtlich verfolgte Person einem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen. Dieses Risiko wird durch die Bestimmung in Absatz 3 eliminiert: Die Person kann in Haft gehalten werden, wenn die ersuchende Partei unmittelbar ein Nachtragsersuchen betreffend den neuen Tatbestand stellt. Diese Regelung ist für die Schweiz kein Neuland. Der Zusatzvertrag mit Österreich zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen36 enthält bereits eine analoge Bestimmung. Die Vertreter der Schweiz im Europarat haben sich denn auch explizit für die Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung ins Vierte Zusatzprotokoll eingesetzt.

34 35 36

Vgl. Explanatory Report AP IV, para. 22 f.

Vgl. Explanatory Report AP IV, para. 31.

Vertrag vom 13. Juni 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dez. 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung, SR 0.353.916.31, vgl. insb. dessen Art. VII.

3975

Vor diesem Hintergrund plant der Bundesrat, bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde des Vierten Zusatzprotokolls eine entsprechende Erklärung gemäss Artikel 3 Absatz 3 abzugeben.

Absatz 4 schliesslich bestätigt die bisherige Regelung in Artikel 14 Absatz 3 des Übereinkommens, wonach eine ausgelieferte Person, wenn die ihr zur Last gelegte Handlung während des Verfahrens rechtlich anders gewürdigt wird, nur insoweit strafrechtlich verfolgt oder abgeurteilt werden darf, als die Tatbestandsmerkmale der rechtlich neu gewürdigten strafbaren Handlung die Auslieferung ebenfalls gestatten würden.

Art. 4

Weiterlieferung an einen dritten Staat

Die Anpassungen von Artikel 15 des Übereinkommens bezwecken wie die Änderungen von Artikel 14 des Übereinkommens eine Straffung des Verfahrens. Der neue Absatz 2 führt eine Frist von 90 Tagen ein, innert der die ersuchte Vertragspartei entscheiden muss, ob sie der Weiterlieferung einer von ihr ausgelieferten Person an einen Drittstaat zustimmen kann.37 Art. 5

Durchlieferung

Artikel 5 vereinfacht das in Artikel 21 des Übereinkommens vorgesehene Verfahren hinsichtlich Durchlieferung. Absatz 1 des neuen Artikels bestimmt, dass diese grundsätzlich zu bewilligen ist, sofern der Auslieferung nach dem Recht der ersuchten Vertragspartei keine politische oder rein militärische strafbare Handlung zugrunde liegt. Absatz 2 umschreibt den Inhalt eines Ersuchens um Durchlieferung. Die Absätze 3 und 4 regeln Anwendungsfragen, die sich bei einer Durchlieferung stellen können.

Gemäss Absatz 5 kann gegen diese Bestimmung allerdings der Vorbehalt angebracht werden, dass die Durchlieferung nur unter den für eine Auslieferung massgebenden Bedingungen bewilligt werde. Aus schweizerischer Sicht ist kein Grund für einen derartigen Vorbehalt ersichtlich.

Absatz 6 schliesslich bestätigt die bisherige Regelung in Artikel 21 Absatz 6 des Übereinkommens, wonach die Durchlieferung durch ein Staatsgebiet verboten ist, wenn dort die Grundrechte der ausgelieferten Person gefährdet sein könnten.

Art. 6

Kommunikationswege und -mittel

Die in Artikel 6 vorgesehene Neuerung lehnt sich an Artikel 8 des Dritten Zusatzprotokolls an. Auslieferungsunterlagen können fortan auf elektronischem Wege übersandt werden, solange es der ersuchten Vertragspartei möglich ist, die Echtheit der Unterlagen festzustellen. Originalakten oder beglaubigte Abschriften werden nur noch auf Ersuchen nachgereicht. Artikel 6 hat damit Auswirkungen auf die Kommunikationswege und -mittel im Auslieferungsverfahren und betrifft zahlreiche Artikel des Übereinkommens.38 Mittels elektronischer Übermittlung von Auslieferungsunterlagen kann einerseits eine grössere Sicherheit bei der Fristwahrung erzielt

37 38

Vgl. Explanatory Report AP IV, para. 47.

Im erläuternden Bericht werden etwa die Art. 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19 und 21 EAUe genannt, vgl. Explanatory Report AP IV, para. 54.

3976

und andererseits eine Verringerung des administrativen Aufwands seitens der involvierten Behörden erreicht werden.

Unter welchen Bedingungen künftig die Vertragsstaaten eine elektronische Übermittlung von Auslieferungsersuchen zulassen wollen, ist eng mit der Frage verknüpft, ob die Anforderungen an die Sicherheit in einem konkreten Fall ausreichend sind, insbesondere im Zusammenhang mit der elektronischen Signatur. Vor diesem Hintergrund räumt Absatz 3 einer Vertragspartei das Recht ein, Ersuchen und Unterlagen39 sowie die Zustimmung zum Verzicht auf den Spezialitätsgrundsatz40 im Original anzufordern. Der Bundesrat wird bei der Ratifikation einen entsprechenden Vorbehalt anbringen, da für die Schweiz vorderhand noch unklar ist, wie diesen Sicherheitsbedenken begegnet werden kann. Insbesondere im Zusammenhang mit dem E-Extradition-Werkzeug von INTERPOL41 ist eine Klärung dieser Fragen in Zukunft jedoch denkbar.

Art. 7­15 In diesen Artikeln enthält das Vierte Zusatzprotokoll die üblichen Schlussbestimmungen zum Verhältnis zum Übereinkommen und zu anderen internationalen Übereinkünften, zur gütlichen Einigung, zu Unterzeichnung und Inkrafttreten, zum Beitritt, zum räumlichen Geltungsbereich, zu Erklärungen und Vorbehalten,42 zur Kündigung und zu Notifikationen.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Die beiden Zusatzprotokolle werden auf Bundesebene zu keinen finanziellen Mehrkosten führen. Grössere Einsparungen sind ebenfalls nicht zu erwarten. Allenfalls könnte der Abbau an administrativem Aufwand bei der Auslieferung zu einer Reduktion der durchschnittlichen Dauer der Auslieferungshaft führen, was sich positiv auf die Kosten der Auslieferungsverfahren auswirken könnte.

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredites oder Zahlungsrahmens enthält.

3.1.2

Personelle Auswirkungen

Die Ratifizierung der beiden Zusatzprotokolle hat keine personellen Auswirkungen zur Folge.

39 40 41 42

Gemäss Art. 12 EAUe.

Gemäss Art. 14 Abs. 1 Bst. a EAUe.

Vgl. dazu die Ausführungen oben bei Art. 8 des Dritten Zusatzprotokolls.

Gemäss Art. 13 Abs. 3 lässt das Vierte Zusatzprotokoll zu Art. 1 Abs. 4, Art. 5 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 3 Vorbehalte zu. Eine Erklärung ist gemäss Art. 3 Abs. 3 möglich. Erläuterungen dazu finden sich direkt bei den jeweiligen Artikeln.

3977

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Auf die Kantone wird die Ratifizierung des Dritten und Vierten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen keine Konsequenzen haben, dies insbesondere darum, weil die Kosten der Auslieferungshaft durch den Bund und nicht durch die Kantone getragen werden.43 Auf Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete lässt die Ratifizierung der beiden Zusatzprotokolle ebenfalls keine Auswirkungen erwarten.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und andere Auswirkungen

Die Ratifizierung der beiden Zusatzprotokolle durch die Schweiz lässt keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, die Gesellschaft oder die Umwelt sowie auch keine anderen Auswirkungen erwarten.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrates

4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201244 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201245 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

Die Genehmigung und die Ratifizierung der beiden Zusatzprotokolle sind dennoch angezeigt, zumal das Vierte Zusatzprotokoll kurz nach Verabschiedung der Legislaturplanung im Europarat zur Unterschrift aufgelegt worden ist. Die Schweiz setzt sich regelmässig für einen stetigen Ausbau der Europaratsinstrumente auf dem Gebiet der internationalen Strafrechtshilfe ein und hat die vorliegenden Zusatzprotokolle massgeblich mitgestaltet. Deren Ratifikation durch die Schweiz ist demnach ein politisch logischer Schritt.

43 44 45

Vgl. Art. 13 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Febr. 1982 (SR 351.11) sowie Art. 62 IRSG.

BBl 2012 481 BBl 2012 7155

3978

4.2

Verhältnis zu nationalen Strategien des Bundesrates

Gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2012­201546 ist die Weiterentwicklung des Netzes rechtlicher Instrumente im Rahmen insbesondere des Europarates ein wichtiges Ziel der schweizerischen Aussenpolitik. Konkretisiert wird dieses Ziel durch die Strategie Staatsvertragsnetz im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen des EJPD, welche die Ratifizierung der vorliegenden Zusatzprotokolle explizit als prioritäre Geschäfte bezeichnet.47 Ihre Ratifizierung liegt somit im Interesse der Schweiz und trägt zum Erreichen ihrer aussenpolitischen Ziele bei.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 7a Abs. 1 RVOG48) oder es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite handelt (Art. 7a Abs. 2 RVOG).

Im vorliegenden Fall gibt es keine gesetzliche oder völkerrechtliche Grundlage für die Zuständigkeit des Bundesrates. Es handelt sich auch nicht um völkerrechtliche Bestimmungen von beschränkter Tragweite. Die beiden Zusatzprotokolle beinhalten vielmehr materiell-rechtliche Bestimmungen, wenn auch technischer Art, und sie zeitigen damit einen Einfluss auf die Auslieferungsverfahren der Schweiz.

Demnach ist gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV die Bundesversammlung für die Genehmigung des Dritten Zusatzprotokolls vom 10. November 2010 und des Vierten Zusatzprotokolls vom 20. September 2012 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 zuständig.

5.2

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 46

47

48

Aussenpolitische Strategie 2012­2015, Bericht des Bundesrates über die aussenpolitischen Schwerpunkte der Legislatur, März 2012, Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten, S. 9, www.eda.admin.ch > das EDA > Die Umsetzung der Schweizer Aussenpolitik > Aussenpolitische Strategie 2012­2015 Strategie Staatsvertragsnetz im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, 12. April 2013, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, S. 10 (unveröffentlicht, kann beim BJ bezogen werden).

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997, SR 172.010

3979

200249 sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Zwar beinhalten die beiden Zusatzprotokolle primär technische Modernisierungen der bisherigen bewährten Zusammenarbeit gestützt auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen und die ersten beiden Zusatzprotokolle. Sie verankern in der Hauptsache auf internationaler Ebene den Stand des schweizerischen Rechtshilfegesetzes. Dennoch vermögen sie die Vertragsparteien rechtlich zu verpflichten und haben unmittelbare Auswirkungen auf die Rechte und Pflichten von Einzelpersonen.

Sie enthalten demnach wichtige rechtssetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe c BV und müssten im innerstaatlichen Recht in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Dritten Zusatzprotokolls vom 10. November 2010 und des Vierten Zusatzprotokolls vom 20. September 2012 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

49

SR 171.10

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