40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz: Erfahrungen und Perspektiven Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Stöckli 13.4187 vom 12. Dezember 2013 vom 19. November 2014

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren In Erfüllung des Postulats Stöckli vom 12. Dezember 2013 (13.4187 «40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz: Erfahrungen und Perspektiven») unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

19. November 2014

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Didier Burkhalter Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2014-2519

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Übersicht Am 28. November 2014 jährt sich zum vierzigsten Mal die Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Schweiz. Im Laufe der vier Jahrzehnte ist die Konvention zum festen Bestandteil der schweizerischen Rechtsordnung geworden. Sie hat Gesetzgebung und Praxis in vielfältiger Weise beeinflusst. Gleichzeitig haben sich nicht nur der Katalog der geschützten Rechte, sondern auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und das Kontrollverfahren vor den EMRK-Organen weiterentwickelt.

Der Bundesrat legt diesen Bericht in Erfüllung des Postulats Stöckli vom 12. Dezember 2013 (13.4187 «40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz: Erfahrungen und Perspektiven») vor. Das Postulat hat folgenden Wortlaut: «Der Bundesrat wird beauftragt, rechtzeitig zum 40-jährigen Jubiläum einen substanziellen Bericht über die Erfahrungen und Perspektiven für die Schweiz hinsichtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Kontrollmechanismen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu erstellen.

Dabei sind insbesondere zu behandeln: 1.

die Umstände des Beitrittes der Schweiz zur EMRK und der Genehmigung der Zusatzprotokolle; dabei ist auch darüber zu berichten, ob die EMRK nachträglich einem obligatorischen Referendum unterstellt werden sollte;

2.

der Einfluss und die Bedeutung der EMRK ­ insbesondere deren Weiterentwicklung und der Entscheide des EGMR ­ auf die schweizerische Gesellschaft und Politik, auf die Rechtsetzung und Rechtsprechung in den Kantonen und dem Bund sowie auf die Lehre und Forschung;

3.

die Auswirkungen des Beitrittes der Schweiz und deren Einfluss auf die EMRK und den EGMR.

4.

Wie müsste vorgegangen werden, um diesen Vertrag zu kündigen? Welches wären die Folgen? Könnte die Schweiz einen Wiederbeitritt mit Vorbehalten anstreben?

5.

Welches sind die Zukunftsperspektiven des Verhältnisses der Schweiz zur EMRK und dem EGMR und deren Organen? Welche materiellen und strukturellen Veränderungen sind vorzunehmen?»

Der Bericht folgt im Grossen und Ganzen der durch das Postulat vorgegebenen Struktur und gliedert sich in sieben materielle Teile: ­

eine Einführung, in der die wesentlichen Merkmale der EMRK und des Strassburger Kontrollverfahrens in Erinnerung gerufen werden;

­

Ausführungen zu den Umständen des Beitritts der Schweiz im Jahr 1974;

358

­

einen Überblick über seither eingetretene, für unser Land relevante Entwicklungen, mit Ausführungen u.a. zu den Änderungs- und Zusatzprotokollen zur Konvention, dem Rückzug von Vorbehalten, zu parlamentarischen Vorstössen sowie zur Entwicklung der Beschwerdezahlen und -erledigungen;

­

eine Analyse der Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die schweizerische Rechtsordnung sowie eine Zusammenstellung der Kritik, die v.a. in letzter Zeit gegen «Strassburg» vorgebracht wird;

­

Hinweise zur Frage, inwieweit die EMRK und der Gerichtshof durch die Schweiz beeinflusst worden sind;

­

Hinweise zur Frage der Kündigung der EMRK;

­

Bilanz und Zukunftsperspektiven.

Die EMRK, die Rechtsprechung des EGMR und die Effizienz des EMRK-Kontrollverfahrens haben für den Bundesrat seit jeher eine hohe Priorität: Aus innerstaatlicher Optik, weil die Konvention auch in der Schweiz den Rechtsstaat gestärkt und gefestigt hat; aus aussenpolitscher Sicht, weil ein Abseitsstehen von diesem wichtigsten der Vertragswerke des internationalen Menschenrechtsschutzes der Schweiz schlecht anstünde. Das hat der Bundesrat bereits vor mehr als 40 Jahren unterstrichen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die EMRK bildet den zentralen Baustein einer europäischen Grundwertegemeinschaft, zu deren Werten sich die Schweiz seit jeher bekennt und die Teil ihrer Verfassungstradition sind. Sie trägt ferner als europäisches Instrument der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zur Stabilität der die Schweiz umgebenden Staats- und Rechtsordnungen bei, was für unser Land von grösstem Interesse ist. Vor diesem Hintergrund ist eine Kündigung der EMRK aus der Sicht des Bundesrates keine Option.

Das Bekenntnis zur Konvention hindert nicht daran, die Rechtsprechung des EGMR weiterhin kritisch zu hinterfragen, die Bedeutung der Subsidiarität als für das gute Funktionieren und die Akzeptanz des Gerichtshofs zentrales Prinzips hervorzuheben und sich, wie bis anhin, für kurz- und langfristig effiziente Reformen des Kontrollsystems einzusetzen. Soweit die aktuelle Kritik damit zusammenhängt, dass gewisse Volksinitiativen der letzten Jahre potenzielle Konflikte mit der EMRK sichtbar gemacht haben, ist der Bundesrat weiterhin bestrebt, diese Problematik einer sachgerechten und politisch mehrheitsfähigen Lösung zuzuführen.

359

Inhaltsverzeichnis Übersicht

358

1

Einleitung 1.1 Postulat und Begründung 1.2 Inhalt und Gliederung des Berichts

362 362 363

2

Die EMRK und ihr Kontrollmechanismus 2.1 Das System bei seiner Einführung im Jahr 1950 2.2 Die Entwicklung des Kontrollmechanismus 2.3 Erweiterung des Katalogs der Rechte und Freiheiten durch Zusatzprotokolle 2.4 Die Merkmale des Konventionssystems

364 364 365

Die Umstände des Beitritts der Schweiz 3.1 Positive Grundstimmung und verfassungsrechtliche Hürden 3.2 Vorbehalte und Auslegende Erklärungen 3.3 Anerkennung des Individualbeschwerderechts und der Gerichtsbarkeit des EGMR 3.4 Frage des Referendums

371 371 372

Entwicklungen seit dem Beitritt 4.1 Änderungs- und Zusatzprotokolle 4.2 Rückzug von Vorbehalten und Auslegenden Erklärungen 4.2.1 Vorbehalt zu Artikel 5 EMRK 4.2.2 Vorbehalte zu Artikel 6 Absatz 1 EMRK 4.2.3 Auslegende Erklärung zu Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Garantie eines fairen Prozesses) 4.2.4 Auslegende Erklärung zu Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben c und e EMRK (Unentgeltlichkeit des Beistands eines amtlichen Verteidigers und eines Dolmetschers) 4.2.5 Vorbehalt zu Artikel 5 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK (Gleichheit der Ehegatten in Bezug auf Familienname, Bürgerrecht und Übergangsbestimmungen des Ehegüterrechts) 4.3 Parlamentarische Vorstösse 4.4 Entwicklung der Beschwerdezahlen und Erledigungen 4.4.1 Im Allgemeinen 4.4.2 Für die Schweiz

375 375 375 375 376

Bedeutung und Einfluss der EMRK 5.1 Im Allgemeinen 5.2 Für die Schweiz 5.2.1 Statistik 5.2.2 Rezeption der Konvention in der Schweiz 5.2.3 Die wichtigsten Bereiche der Beeinflussung

383 383 385 385 385 389

3

4

5

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360

Umsetzung der Urteile durch Bund und Kantone Exkurs: Die Bedeutung der EMRK in der Diskussion über das Verhältnis Völkerrecht und Landesrecht Kritik an der Rechtsprechung des EGMR 5.2.4 5.2.5

5.3

393 396 398

6

Einfluss der Schweiz auf die EMRK und den EGMR 6.1 Personelles 6.2 Inhaltliches 6.2.1 Rechtsprechung 6.2.2 Reform der Institutionen

400 400 401 401 402

7

Kündigung 7.1 Grundsätzliche Möglichkeit von Kündigung und Wiederbeitritt 7.2 Kündigung und Mitgliedschaft im Europarat 7.3 Weitergeltung völkerrechtlicher Verpflichtungen trotz Kündigung 7.4 Kündigung und Wiederbeitritt mit neuem Vorbehalt 7.5 Kompetenz zur Kündigung und obligatorisches Referendum beim Wiederbeitritt

403 403 403

Bilanz und Zukunftsperspektiven 8.1 Kleiner Anfang ­ Rasche Entwicklung 8.2 Kritische Stimmen 8.3 Kündigung ist keine Option 8.4 Kontinuierlicher Reformprozess 8.5 Geplanter Beitritt der EU zur EMRK 8.6 Verhältnis Völkerrecht ­ Landesrecht

407 407 408 410 411 411 412

8

Anhänge: 1 Staaten mit hohen Beschwerdezahlen 2 Entwicklung der Beschwerdezahlen 1959­2013 3 Zahl der Beschwerden, die einem Spruchkörper zugewiesen wurden 4 Vom Gerichtshof gefällte Urteile nach Jahren 5 Vom Gerichtshof gefällte Urteile nach Ländern 6 Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde 7 Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde, im Jahr 2013 8 Verletzungen nach Artikel und Staat 9 Statistik des Bundesamts für Justiz

404 405 406

413 414 415 416 417 418 419 420 422

361

Bericht 1

Einleitung

1.1

Postulat und Begründung

Am 12. Dezember 2013 reichte Ständerat Stöckli ein Postulat ein mit folgendem Wortlaut: «Der Bundesrat wird beauftragt, rechtzeitig zum 40-jährigen Jubiläum einen substanziellen Bericht über die Erfahrungen und Perspektiven für die Schweiz hinsichtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Kontrollmechanismen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu erstellen.

Dabei sind insbesondere zu behandeln: 1.

die Umstände des Beitrittes der Schweiz zur EMRK und der Genehmigung der Zusatzprotokolle; dabei ist auch darüber zu berichten, ob die EMRK nachträglich einem obligatorischen Referendum unterstellt werden sollte;

2.

der Einfluss und die Bedeutung der EMRK ­ insbesondere deren Weiterentwicklung und der Entscheide des EGMR ­ auf die schweizerische Gesellschaft und Politik, auf die Rechtsetzung und Rechtsprechung in den Kantonen und dem Bund sowie auf die Lehre und Forschung;

3.

die Auswirkungen des Beitrittes der Schweiz und deren Einfluss auf die EMRK und den EGMR.

4.

Wie müsste vorgegangen werden, um diesen Vertrag zu kündigen? Welches wären die Folgen? Könnte die Schweiz einen Wiederbeitritt mit Vorbehalten anstreben?

5.

Welches sind die Zukunftsperspektiven des Verhältnisses der Schweiz zur EMRK und dem EGMR und deren Organen? Welche materiellen und strukturellen Veränderungen sind vorzunehmen?»

Zur Begründung wird ausgeführt: «Seit November 1974 ist die EMRK auch für die Schweiz verbindlich. Dieser Vertrag hat unsere Rechtsordnung stark geprägt. Eine umfassende Analyse und Würdigung ist für das 40-jährige Beitrittsjubiläum angebracht.

Zudem werden in letzter Zeit diese EMRK und deren Kontrollmechanismus gerade im Zusammenhang mit eidgenössischen Volksinitiativen insgesamt und teilweise die Rechtsprechung des EGMR in Frage gestellt. Auch diese Tatsache ist in einem Bericht aufzunehmen.

Ein Hauptaugenmerk ist auf die Zukunftsperspektiven dieser EMRK und ihrer Organe zu richten.» Der Bundesrat beantragte am 12. Februar 2014 Annahme des Postulats ohne eine Begründung.

362

1.2

Inhalt und Gliederung des Berichts

Wie in anderen Vertragsstaaten hat die Konvention vom 4. November 19501 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Konvention) auch in der Schweiz im Verlauf der letzten Jahrzehnte eine herausragende Bedeutung erlangt. Die Konvention und die auf ihrer Grundlage entwickelte Praxis der Strassburger Kontrollorgane, insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Gerichtshof), haben auch in unserem Land den Rechtsalltag auf vielfältige Art nachhaltig beeinflusst.

Es ist nicht Aufgabe des vorliegenden Berichts, diese Entwicklung in allen Einzelheiten nachzuzeichnen und zu analysieren. Gegenstand des Berichts sind vielmehr die grossen Linien, welche die Entwicklung geprägt haben und welche die Situation, wie sie sich heute präsentiert, erklären. Der Bericht verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits soll versucht werden, Bilanz zu ziehen nach 40-jähriger Zugehörigkeit zu diesem Vertragswerk, andererseits sollen, wiederum in Umsetzung des Postulats, Zukunftsperspektiven skizziert werden.

Der Bericht gliedert sich in acht Teile: Nach dieser Einführung (Ziff. 1) und Ausführungen zu den wesentlichen Merkmalen der EMRK und des Strassburger Kontrollverfahrens (Ziff. 2) behandelt Ziffer 3 die Umstände des Beitritts der Schweiz im Jahr 1974. Es folgt ein Überblick über seither eingetretene, für unser Land relevante Entwicklungen (Ziff. 4). Dieser Teil enthält Ausführungen insbesondere zu den Änderungs- und Zusatzprotokollen zur Konvention, dem Rückzug von Vorbehalten, zu parlamentarischen Vorstössen sowie zur Entwicklung der Beschwerdezahlen und -erledigungen. Ziffer 5 behandelt Bedeutung für und Einfluss auf die schweizerische Rechtsordnung und zeigt die Kritik auf, die v. a. in letzter Zeit gegen «Strassburg» vorgebracht wird. In Umsetzung des entsprechenden Teils des Postulats widmet sich Ziffer 6 der Frage, inwieweit die EMRK und der Gerichtshof durch die Schweiz beeinflusst worden sind. Ziffer 7 enthält Ausführungen zur Kündigung der Konvention. Ziffer 8 zieht Bilanz und handelt von den Zukunftsperspektiven.

Der Bericht enthält die folgenden Anhänge: Anhang 1: Staaten mit hohen Beschwerdezahlen Anhang 2: Entwicklung der Beschwerdezahlen 1959­2013 Anhang 3: Zahl der Beschwerden, die einem Spruchkörper zugewiesen
wurden Anhang 4: Vom Gerichtshof gefällte Urteile nach Jahren Anhang 5: Vom Gerichtshof gefällte Urteile nach Ländern Anhang 6: Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde Anhang 7: Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde, im Jahr 2013 Anhang 8: Verletzungen nach Artikel und Staat Anhang 9: Statistik des Bundesamts für Justiz über gegen die Schweiz gerichtete Beschwerden und ihre Erledigung 1

SR 0.101

363

2

Die EMRK und ihr Kontrollmechanismus

2.1

Das System bei seiner Einführung im Jahr 1950

Die EMRK wurde am 4. November 1950 in Rom verabschiedet. Das damals von den Vertragsstaaten verfolgte Ziel wird in der Präambel umschrieben. Sie bekräftigten darin namentlich ihren «tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden». Die Vertragspartner beschrieben sich als einen Verbund «europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen». Ihr Ziel war es, mit der Konvention «die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung [der Menschenrechte] aufgeführter Rechte zu unternehmen».

Laut Artikel 1 der Konvention verpflichten sich die Parteien, bestimmte Grundrechte und Grundfreiheiten der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu wahren und zu schützen. Mit dieser Bestimmung nimmt die Konvention gleich zu Beginn Bezug auf das für das Strassburger Kontrollsystem zentrale Prinzip der Subsidiarität.

Nach diesem Prinzip sind in erster Linie die Vertragsparteien für die wirksame Anwendung der Konvention auf nationaler Ebene und gegebenenfalls für die Umsetzung in innerstaatliches Recht verantwortlich; der Gerichtshof kann und soll nur subsidiär eingreifen. Das Subsidiaritätsprinzip kommt auch in weiteren Bestimmungen der Konvention zum Ausdruck: Artikel 13 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, ein wirksames, innerstaatliches Rechtsmittel vorzusehen, mit dem die Verletzung von Konventionsgarantien geltend gemacht werden kann. Gewissermassen als Gegenstück zu diesem Recht auf wirksame Beschwerde stellt Artikel 35 Absatz 1 die Verpflichtung seitens der Beschwerdeführer auf, vorgängig zu einer Beschwerde an den Gerichtshof den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen, andernfalls die Beschwerde für unzulässig erklärt würde. Mit Inkrafttreten von Protokoll Nr. 15 wird das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich in der Präambel der Konvention verankert werden.2 Zu den in den Artikeln 2­14 EMRK gewährleisteten Rechten überwiegend materiellrechtlicher Natur
gehören das Recht auf Leben (Art. 2), das Folterverbot (Art. 3), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 4), der Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 7), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), die Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 10), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11) und das Recht auf Eheschliessung (Art. 12). Dazu kommen als verfahrensrechtliche Gewährleistungen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren in straf- und zivilrechtlichen Angelegenheiten (Art. 6) und das Recht auf eine wirksame innerstaatliche Beschwerde bei behaupteten Verletzungen von Konventionsgarantien (Art. 13).

Sowohl materiell- als auch verfahrensrechtliche Garantien umfasst das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK); auch können sich aus materiellrechtlichen Bestimmungen prozessuale Teilgehalte ableiten. Artikel 14 EMRK wiederum statu2

364

Zu Protokoll Nr. 15 nachstehend Ziff. 2.2; zum Subsidiaritätsprinzip auch unten Ziff. 2.4, 4.3 (Ip 13.3779), 5.1, 5.3 und 8.2.

iert ein Diskriminierungsverbot, welches für den gesamten Katalog der gewährleisteten Rechte gilt (Akzessorietät).

Die Konvention kennt zwei Arten von Beschwerden: die Staatenbeschwerde (Art. 33) und die Individualbeschwerde (Art. 34). Im ursprünglichen Kontrollsystem waren beide Beschwerden bei der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte einzureichen. Erklärte die Kommission eine Beschwerde für zulässig, erstellte sie einen Bericht, in dem sie sich zur Frage äusserte, ob die Konvention verletzt wurde. An den Gerichtshof gelangen konnten ursprünglich nur die Kommission selbst oder ggf. der beteiligte Vertragsstaat, nicht aber der Beschwerdeführer.

Wurde der Gerichtshof nicht angerufen, ging der Kommissionsbericht an das Ministerkomitee, das formell über die Frage der Konventionsverletzung zu entscheiden hatte.

Während die Staatenbeschwerde von allen Vertragsparteien anerkannt werden musste, war bei Individualbeschwerden die Anerkennung der Zuständigkeit der Kommission fakultativ. Das Gleiche galt für die Anerkennung der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs, der nur von der Kommission und dem beteiligten Vertragsstaat angerufen werden konnte.3

2.2

Die Entwicklung des Kontrollmechanismus

Der Kontrollmechanismus der Konvention hat sich seit seiner Einführung stark gewandelt. Auch nach der Ratifikation der Konvention durch die Schweiz am 28. November 1974 hat sich der Mechanismus weiterentwickelt, dies namentlich aufgrund der Zunahme der Vertragsstaaten von 19 im Jahr 1975 auf 21 im Jahr 1990, 31 im Jahr 1995, 41 im Jahr 2000 und 47 im Jahr 2014.

Das Protokoll Nr. 8 vom 19. März 19854 bezweckte, die strukturelle Flexibilität und Effizienz des Kontrollmechanismus zu verbessern.5 Es trat am 1. Januar 1990 nach der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten in Kraft. Mit dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 19906 wurde die Stellung des Beschwerdeführers im Verfahren gestärkt. Von nun an konnten die Staaten optional auch einem Beschwerdeführer, dessen Beschwerde Gegenstand eines Berichts der Kommission war, das Recht einräumen, den Gerichtshof anzurufen. Diese Möglichkeit war zuvor nur bestimmten Vertragsstaaten und der Kommission vorbehalten. Ziel des Protokolls Nr. 10 vom 25. März 19927 war es, die Mehrheiten zu ändern, die im Ministerkomitee erforderlich waren, um Entscheide in Angelegenheiten zu fällen, die nicht vor den Gerichtshof gebracht wurden. Das Protokoll Nr. 10 ist allerdings nie in Kraft getreten, da es vor seiner Inkraftsetzung durch das Protokoll Nr. 11 vom 11. Mai 19948 ersetzt wurde. Dieses sah für das Ministerkomitee bei Entscheiden über eine Konventionsverletzung keine Funktion mehr vor.

3 4 5 6 7 8

Vgl. aArt. 25 und 46 der Konvention, BBl 1974 I 1080 f. und 1085.

AS 1989 2371 Erläuternder Bericht, Ziff. 2 f. (conventions.coe.int > Gesamtverzeichnis > Nr. 118 > Erläuternder Bericht).

AS 1995 3950. Die Schweiz hat das Protokoll Nr. 9 am 11. April 1995, d. h. nach dessen Inkrafttreten am 1. Oktober 1994, ratifiziert.

Sammlung der Europäischen Verträge (SEV) Nr. 146 (conventions.coe.int > Gesamtverzeichnis).

SR 0.101.09

365

Mit dem Protokoll Nr. 11 wurden die Kommission und der Gerichtshof, beides nicht vollamtliche Organe, zu einem ständigen Gerichtshof zusammengefasst, der über die Zulässigkeit und über die Begründetheit einer Beschwerde zu befinden hat. Ausserdem wurden die Bestimmungen über die Gutachtenszuständigkeit des Gerichtshofs in den Konventionstext integriert, und es wurde bestimmt, dass alle Vertragsparteien das Recht auf Individualbeschwerde vor dem neuen Gerichtshof anzuerkennen haben. Es wurde vorgesehen, dass der neue Gerichtshof in erster Linie in Kammerbesetzung tagt, wobei unter gewissen Umständen die Möglichkeit bestehen soll, eine erneute Anhörung vor einem anderen Spruchkörper des Gerichtshofs, der «Grossen Kammer», zu verlangen. Die Rolle des Ministerkomitees wurde auf die Überwachung des Vollzugs der Gerichtsurteile beschränkt.

Diese Entwicklung wurde letztlich namentlich dadurch ermöglicht, dass im Laufe der Zeit praktisch alle Vertragsstaaten die fakultativen Komponenten des Kontrollmechanismus akzeptiert hatten: 1987 hatten sie alle das Recht zur Individualbeschwerde vor der Kommission angenommen, 1990 hatten alle die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkannt.

Das Protokoll Nr. 11 war auch eine erste Antwort auf die Erweiterungswelle beim Europarat und die steigende Anzahl von Vertragsstaaten der Konvention nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion im Jahr 1991 und dem Zerfall Ex-Jugoslawiens. Dies gilt umso mehr, als seit 1990 eine rasche Ratifikation der Konvention und ihrer Protokolle eine Beitrittsbedingung für sämtliche neuen Mitgliedstaaten des Europarates ist. Als das Protokoll Nr. 11 1994 verabschiedet wurde, war die Arbeitsbelastung, die bereits Mitte der achtziger Jahre zu Besorgnis Anlass gegeben hatte, im Zuge der Erweiterung zu einem wahren Problem geworden. Deshalb sollte mit dem Protokoll ein Kontrollmechanismus geschaffen werden, der zufriedenstellend funktionieren kann, dessen Kosten selbst mit vierzig Mitgliedstaaten im Rahmen bleiben und mit dem die Autorität und die Qualität der Rechtsprechung auch in Zukunft erhalten werden kann.9 Bereits beim Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 gab es die Befürchtung, dass der mit der Erweiterung einhergehenden exponentiellen Zunahme der Arbeitslast des Gerichtshofs mit diesem Instrument
allein nicht wirkungsvoll begegnet werden kann.

Deshalb verabschiedeten die Vertragsstaaten an einer Ministerkonferenz in Rom im Jahr 2000 eine Reihe von Resolutionen und eine Erklärung, in welcher sie die politische Unterstützung für das System der Konvention bekräftigten und sich für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den anstehenden Herausforderungen aussprachen.

Die entsprechenden Arbeiten führten schliesslich zum Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai 200410 sowie zu verschiedenen nicht verbindlichen Instrumenten des Ministerkomi-

9 10

366

Erläuternder Bericht, Ziff. 23 (conventions.coe.int > Gesamtverzeichnis > Nr. 155 > Erläuternder Bericht).

SR 0.101.094

tees, wovon die meisten eine bessere innerstaatliche Umsetzung der Konvention bezwecken.11 Mit dem Protokoll Nr. 14 wurde der im Protokoll Nr. 11 vorgesehene Kontrollmechanismus weiterentwickelt. Für Entscheide in offensichtlich unzulässigen Verfahren wurde die Einzelrichterbesetzung vorgesehen; Ausschüsse mit drei Richtern wurden für Wiederholungsfälle für zuständig erklärt; ein weiteres Zulassungskriterium wurde eingeführt, wonach der Beschwerdeführer einen «erheblichen Nachteil» erlitten haben muss, und der Gerichtshof wurde ermächtigt, die Verkleinerung der Kammern von sieben auf fünf Richter zu beantragen.12 Als Änderungsprotokoll zur Konvention trat das Protokoll Nr. 14 erst am 1. Juni 2010 in Kraft, nachdem Russland als letzter Staat am 18. Februar 2010 die Ratifikationsurkunde hinterlegt hatte.

Sehr früh und unabhängig von allfälligen Auswirkungen der erheblichen Verzögerung beim Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 gab es Zweifel, ob das Problem der Überlastung des Gerichtshofs durch dieses Protokoll auch wirklich gelöst werden kann. Deshalb beauftragten die Staats- und Regierungschefs des Europarates an ihrem dritten Gipfel, der vom 16.­17. Mai 2005 in Warschau stattfand, einen Weisenrat mit der Prüfung der Frage, wie der Kontrollmechanismus der EMRK langfristig effizient gestaltet werden kann, und wie sich das Protokoll Nr. 14 sowie weitere im Mai 2004 gefasste Beschlüsse bisher ausgewirkt haben. Der Rat sollte Vorschläge unterbreiten, die über diese Massnahmen hinausgehen, der Grundphilosophie der Konvention aber Rechnung tragen. Im November 2006 legte der Weisenrat dem Ministerkomitee seinen Bericht vor.

Angesichts der kontinuierlichen Verschlechterung der Lage forderte der Präsident des Gerichtshofs 2009 eine weitere hochrangige Konferenz. Diese fand 2010 in Interlaken statt.13 Dieser Konferenz folgte eine in Izmir im Jahr 2011 und eine weitere in Brighton im Jahr 2012.14 Die operativen Entscheide, die infolge der Konferenz in Brighton getroffen wurden, führten schliesslich zum Protokoll Nr. 15

11

12

13 14

Siehe Erklärung des Ministerkomitees zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf nationaler und europäischer Ebene (vom Ministerkomitee angenommen am 12. Mai 2004), in welcher namentlich Bezug genommen wird auf die Empfehlungen Nr. R (2000) 2 über die Überprüfung oder Wiederaufnahme bestimmter Verfahren auf innerstaatlicher Ebene im Anschluss an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Rec(2002)13 über die Veröffentlichung und die Verbreitung des Wortlauts der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Mitgliedstaaten, Rec(2004)4 über die Europäische Menschenrechtskonvention in der Hochschulbildung und Berufsbildung, Rec(2004)5 über die Überprüfung der Vereinbarkeit von Gesetzesentwürfen, geltenden Gesetzen und Verwaltungspraktiken mit den in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen, Rec(2004)6 über die Verbesserung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe sowie auf die Resolutionen Res(2002)59 bezüglich der Praxis im Bereich der gütlichen Einigung und Res(2004)3 über die Urteile, die ein zugrunde liegendes strukturelles Problem aufzeigen (coe.int > droits de l'homme > efficacité du système de la Convention des droits de l'homme (CEDH) aux niveaux national et européen > textes adoptés).

Ferner wurde die Amtszeit der Richter von sechs Jahren mit der Möglichkeit einer Wiederwahl auf neun Jahre ohne Möglichkeit der Wiederwahl geändert, dem Kommissar für Menschenrechte des Europarats wurde ermöglicht, an den Verfahren als Drittbeteiligter aufzutreten, und es wurde eine Rechtsgrundlage für einen Beitritt der Europäischen Union zur Konvention geschaffen.

www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Menschenrechte > Europäische Menschenrechtskonvention > Ministerkonferenz vom 18./19. Februar 2010.

www.coe.int/brighton

367

vom 24. Juni 201315 und zum Protokoll Nr. 16 vom 21. Oktober 201316. Das Protokoll Nr. 15 enthält Bestimmungen über das Subsidiaritätsprinzip, die Zulässigkeitsvoraussetzungen, die Frist für die Einreichung einer Individualbeschwerde, das Verfahren zur Abgabe einer Rechtssache einer Kammer an die Grosse Kammer und über die Altersgrenze für Richter. Das Protokoll Nr. 16, ein Zusatzprotokoll, verleiht dem Gerichtshof die Kompetenz, auf Ersuchen nationaler Gerichte Gutachten abzugeben. Diese beiden Protokolle sind bisher nicht in Kraft getreten.17

2.3

Erweiterung des Katalogs der Rechte und Freiheiten durch Zusatzprotokolle

Anpassungen erfuhr im Lauf der Zeit auch der Katalog der Rechte und Freiheiten der EMRK.

Bevor die Schweiz 1974 die EMRK ratifizierte, hatten die Vertragsparteien die Konventionsgarantien mit zwei Zusatzprotokollen ergänzt. Das Protokoll Nr. 1 vom 20. März 1952 gewährleistet die Eigentumsgarantie, ein Recht auf Bildung sowie das Recht auf freie Wahlen.18 Das Protokoll Nr. 4 vom 16. September 1963 erweitert die Konventionsrechte um das Verbot des Schuldverhafts, verschiedene Garantien für ausländische Personen sowie um das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger.19 Die Schweiz hat die Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 nicht ratifiziert.20 Von den 1980er-Jahren an folgten vier weitere Zusatzprotokolle, von denen die Schweiz die drei erstgenannten ratifiziert hat: Die Protokolle Nr. 6 vom 28. April 198321 und Nr. 13 vom 3. Mai 200222 erweitern das Recht auf Leben um ein umfassendes Verbot der Todesstrafe. Das Protokoll Nr. 7 vom 22. November 198423 enthält verfahrensrechtliche Garantien im Bereich des Ausländerrechts, die Garantie der Gleichbehandlung der Eheleute und drei Gewährleistungen im Bereich des Strafverfahrensrechts (Recht auf einen doppelten Instanzenzug, Recht auf Entschädigung im Falle eines Justizirrtums, Grundsatz des ne bis in idem). Das Protokoll Nr. 12 vom 4. November 2000 statuiert ein allgemeines Diskriminierungsverbot, es ergänzt insofern das akzessorische Diskriminierungsverbot des Artikels 14 EMRK.

Die Tragweite und die Folgen seiner Umsetzung für die schweizerische Rechtsordnung sind angesichts der vergleichsweise spärlichen Rechtsprechung des EGMR

15 16 17

18 19 20 21 22 23

368

SEV-Nr. 213 (conventions.coe.int > Gesamtverzeichnis).

SEV-Nr. 214 (conventions.coe.int > Gesamtverzeichnis).

Der Bundesrat beabsichtigt, das Protokoll Nr. 15, das vom 13. August bis zum 13. November 2014 in der Vernehmlassung war, der Bundesversammlung demnächst zur Genehmigung vorzulegen. In Bezug auf das Zusatzprotokoll Nr. 16 ist das weitere Vorgehen offen.

SEV no 9 (conventions.coe.int > liste complète). Das Protokoll Nr. 1 ist am 18. Mai 1954 völkerrechtlich in Kraft getreten.

SEV no 46 (conventions.coe.int > liste complète). Das Protokoll Nr. 4 ist am 2. Mai 1968 völkerrechtlich in Kraft getreten.

Zu den Gründen vgl. Zehnter Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarates, BBl 2013 2145, 2156 f. und 2158.

SR 0.101.06 SR 0.101.093 SR 0.101.07

noch schwer abzuschätzen, weshalb der Bundesrat sich wiederholt dafür ausgesprochen hat, mit der Unterzeichnung und der Ratifizierung zuzuwarten.24

2.4

Die Merkmale des Konventionssystems

Artikel 1 der Konvention legt fest, dass es in erster Linie Aufgabe der Vertragsparteien ist, die Rechte, welche allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen durch die Konvention zugesichert werden, zu achten und zu schützen. Durch diese Verpflichtung unterscheidet sich die Konvention von Menschenrechtsinstrumenten rein deklaratorischer Natur. Auch wird so bereits an dieser Stelle das Subsidiaritätsprinzip verankert. Ausserdem sollten die Vertragsstaaten zur umfassenden und wirksamen Umsetzung der Konvention auf innerstaatlicher Ebene insofern der gesamten Rechtsprechung des Gerichtshofs ­ einschliesslich der Urteile gegen andere Vertragsstaaten ­ Rechnung tragen, als dessen Urteile massgebend sind für die Auslegung und Anwendung der in der Konvention verankerten Rechte (Art. 32 EMRK).

Gemäss Artikel 13 der Konvention müssen die Vertragsstaaten jeder Person, welche die Verletzung ihrer geschützten Rechte behauptet, die Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde gewähren. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung ausführlich erläutert, wie dieses Beschwerderecht gestaltet sein muss und hat auch mit gewissen Rechten einhergehende «positive Verpflichtungen» definiert. Dabei hat er auf die Verfahrensgarantien hingewiesen, die eingehalten werden müssen, um einen wirksamen Schutz des Beschwerderechts zu gewährleisten.

Der Gerichtshof zählt heute gleich viele Richterinnen und Richter wie Vertragsparteien (Art. 20 EMRK). Die Richterinnen und Richter werden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die sich aus Delegationen der nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, für jeden Vertragsstaat aus einer Liste von drei Personen gewählt, die vom Vertragsstaat vorgeschlagen werden (Art. 22 EMRK). Sie müssen hohes sittliches Ansehen geniessen, über die erforderlichen Qualifikationen und die nötige Erfahrung verfügen, dem Gerichtshof in ihrer persönlichen Eigenschaft angehören und dürfen keine Tätigkeiten ausüben, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Unparteilichkeit oder mit den Erfordernissen der Vollzeitbeschäftigung in diesem Amt unvereinbar sind (Art. 21 EMRK). Im Jahr 2010 wurde ein unabhängiges Expertengremium beauftragt, zuhanden der Vertragsstaaten Stellung zu nehmen zur Frage, ob die Kandidatinnen und Kandidaten für das Richteramt diese Kriterien erfüllen.25 Das
Konventionssystem sieht neben der erwähnten Individualbeschwerde weitere Rechtmittel und Garantien für den Zugang zum Kontrollmechanismus vor. Wie bereits erwähnt, kann auch jeder Vertragsstaat den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung durch einen anderen Vertragsstaat anrufen (Art. 33 EMRK, Staatenbeschwerde). Bei Individual- wie bei Staatenbeschwerdeverfahren können die Beschwerdeführer den Gerichtshof ersuchen, die vorläufigen Massnahmen zu 24 25

Vgl. Zehnter Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarates (Anm. 20 hiervor), BBl 2013 2160.

Resolution CM/Res(2010)26 sur la création d'un Panel consultatif d'experts sur les candidats à l'élection de juges à la Cour européenne des droits de l'homme (coe.int > organisation > Comité des ministres > textes adoptés > toutes les résolutions).

369

bezeichnen, die der betroffene Staat zu treffen hat (Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs)26. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist eine solche Bezeichnung verbindlich. Gemäss Artikel 36 der Konvention können sich Dritte in vor dem Gerichtshof hängige Verfahren einschalten. Je nach Situation besteht diese Möglichkeit von Amts wegen, auf Einladung des Präsidenten des Gerichtshofs oder nachdem dieser ein entsprechendes Gesuch gutgeheissen hat.

Der Gerichtshof kann sich nur mit Angelegenheiten befassen, welche die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Konvention erfüllen, namentlich die Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel und die Einhaltung der Beschwerdefrist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Durch die Voraussetzung, dass alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sein müssen, wird die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verstärkt, da die nationalen Behörden die Möglichkeit und die Pflicht haben, die Beschwerde zu prüfen und selber darüber zu befinden, bevor sie vor den Gerichtshof kommt. Laut Artikel 35 Absatz 3 der Konvention erklärt der Gerichtshof eine Individualeschwerde für unzulässig, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist; damit wird dem Grundsatz de minimis non curat praetor Rechnung getragen.

Individualbeschwerden können nur von Personen eingereicht werden, die behaupten, ihre Rechte seien verletzt worden (Art. 34 EMRK); eine actio popularis ist in der Konvention nicht vorgesehen.

In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof eine Reihe von Grundprinzipien für die Anwendung der Konvention entwickelt. Die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten müssen praktisch und wirksam, nicht theoretisch oder illusorisch sein; Einschränkungen, Vorbehalte oder andere erlaubte Begrenzungen dieser Rechte und Freiheiten dürfen nicht deren Wesen verändern. Jede zulässige Beeinträchtigung oder Einschränkung eines Rechts muss verhältnismässig sein. Die nationalen Behörden können bei der Beurteilung, ob eine Beeinträchtigung oder eine Einschränkung verhältnismässig ist, über einen Ermessungsspielraum verfügen. Das Ausmass dieses Spielraums hängt von den Umständen des Falles ab und unterliegt der Kontrolle des Gerichtshofs.27 Der Gerichtshof verfügt auch über weitere Mechanismen zur
Streitbeilegung. Gelangen die Parteien unter Achtung der durch die Konvention garantierten Rechte zu einer gütlichen Einigung, so kann der Gerichthof die Rechtssache in seinem Register streichen (Art. 39 EMRK). Die Umsetzung der gütlichen Einigung wird durch das Ministerkomitee überwacht (Art. 39 Abs. 4 EMRK).28 Stellt der Gerichtshof eine Konventionsverletzung fest, so kann er verschiedene Massnahmen anordnen. Diese Massnahmen haben zum Ziel, dem Opfer eine Wiedergutmachung zu verschaffen und/oder die Fortsetzung oder Wiederholung der 26 27 28

370

SR 0.101.2 Siehe dazu auch die Ausführungen unter Ziff. 5.3 und Ziff. 8 betreffend die Kritik an der dynamisch-evolutiven Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof.

Lehnt ein Beschwerdeführer den Vorschlag einer gütlichen Einigung ab, so kann der beklagte Staat eine einseitige Erklärung abgeben, in der er die Konventionsverletzung anerkennt und sich verpflichtet, eine angemessene Wiedergutmachung zu leisten und gegebenenfalls die notwendigen Abhilfemassnahmen zu treffen. Darauf kann der Gerichtshof die Rechtssache in seinem Register streichen (Art. 62A der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Die Umsetzung der einseitigen Erklärung wird, selbst wenn sie Abhilfemassnahmen enthält, die umfassendere Auswirkungen haben können, nicht durch das Ministerkomitee überwacht.

Verletzung zu verhindern. Ermöglicht das innerstaatliche Recht des beklagten Staates nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof dem Opfer eine gerechte Entschädigung zu (Art. 41 EMRK). Heute befindet der Gerichtshof in der Regel in einem einzigen Urteil über den Inhalt einer Beschwerde und die gerechte Entschädigung. Der Gerichtshof kann einem beklagten Staat auch andere individuelle oder allgemeine Massnahmen vorschreiben, die dieser gestützt auf Artikel 46 EMRK umsetzen muss. Im Rahmen des Piloturteil-Verfahrens, das der Gerichtshof entwickelt hat, um strukturellen und systembedingten Problemen zu begegnen, kann die Behandlung gleichartiger Beschwerden nach der im Piloturteil erfolgten Feststellung einer Konventionsverletzung zurückgestellt werden, um dem beklagten Staat zu ermöglichen, eine Massnahme genereller Natur (Abhilfe) zu treffen, die eine hinreichende Wiedergutmachung verschafft und auf diese Weise die Beurteilung der zurückgestellten gleichartigen Beschwerden überflüssig macht.

Die Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das Urteil des Gerichtshofs zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Dies beinhaltet gegebenenfalls die Entrichtung einer zugesprochenen gerechten Entschädigung und die Umsetzung weiterer individueller oder allgemeiner Massnahmen, mit denen die Folgen der Verletzung beseitigt werden oder deren Wiederholung verhindert wird. Der Vollzug der Urteile wird durch das Ministerkomitee überwacht, das gewisse Fragen dem Gerichtshof vorlegen kann (Art. 46 Abs. 2­5 EMRK).

3

Die Umstände des Beitritts der Schweiz

3.1

Positive Grundstimmung und verfassungsrechtliche Hürden

Die Schweiz ratifizierte die EMRK 1974 als eines der letzten Länder Westeuropas.

Hintergrund waren nicht Desinteresse oder Abneigung gegenüber dem internationalen Menschenrechtsschutz. Die Schweiz trat dem Europarat 1963 bei. Erst von diesem Zeitpunkt an wurde die Frage der Ratifikation der EMRK aktuell. Nachdem der Nationalrat 1966 das Postulat Eggenberger überwiesen hatte, legte der Bundesrat der Bundesversammlung 1968 einen umfassenden Bericht über die EMRK vor.29 Der Bericht ist geprägt von einer positiven Grundstimmung gegenüber der EMRK.

Aus Sicht des Bundesrates war die Ratifikation der EMRK nicht nur eine logische Folge des Beitritts zum Europarat. Der Beitritt würde vielmehr eine Form der europäischen Integration unterstützen, die der Bundesrat immer befürwortet habe; der Beitritt sei vor allem Ausdruck des Willens der Schweiz, an der Entwicklung eines wichtigen Bereichs des Völkerrechts mitzuwirken. Der Bundesrat identifizierte auch positive Auswirkungen einer Ratifikation auf die schweizerische Rechtsordnung, insbesondere im Bereich der Grundrechte. Grosse verfassungsrechtliche Hürden waren für den Bundesrat die konfessionellen Ausnahmeartikel (Art. 51 und 52

29

Bericht des Bundesrates vom 9. Dez. 1968 an die Bundesversammlung über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 1968 II 1057.

371

aBV)30 und der Ausschluss der Frauen vom Stimm- und Wahlrecht im Bund und in den meisten Kantonen. Insbesondere bei letzterem vertrat der Bundesrat dezidiert die Auffassung, dass vor der Ratifikation die Bundesverfassung zu revidieren sei.31 Der Nationalrat stimmte 1969 dem Bericht des Bundesrates zu, wohingegen der Ständerat diesen lediglich zur Kenntnis nahm. Die Gründe für die mehrheitliche Ablehnung des Berichts im Ständerat waren mehrschichtig. Teilweise wurde vorgebracht, die Grundrechte seien in der Schweiz ausreichend geschützt. Andere Stimmen lehnten es ab, dass sich mit der Europäischen Kommission für Menschenrechte eine ausländische Instanz in schweizerische Streitsachen einmischen könne. Eine dritte Gruppe wiederum begründete ihre Ablehnung damit, dass zunächst das Stimm- und Wahlrecht für Frauen eingeführt werden solle.

Am 7. Februar 1971 stimmten Volk und Stände der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen auf Bundesebene zu. 1972 unterbreitete der Bundesrat der Bundesversammlung einen Ergänzungsbericht über die EMRK.32 Darin hob er auch die angelaufenen Arbeiten zur Beseitigung der konfessionellen Ausnahmeartikel hervor.33 Die eidgenössischen Räte stimmten nunmehr der bundesrätlichen Absicht zur Unterzeichnung der EMRK zu, welche die Schweiz schliesslich am 21. Dezember 1972 unterzeichnete.

Mit ihrer Zustimmung zur Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel beseitigten Volk- und Stände am 20. Mai 1973 auch die zweite verfassungsrechtliche Hürde für die Ratifikation der EMRK. Der Bundesrat unterbreitete im Folgejahr der Bundesversammlung die Botschaft über die Genehmigung der EMRK.34

3.2

Vorbehalte und auslegende Erklärungen

Gestützt auf seine Analyse der innerstaatlichen Rechtslage beantragte der Bundesrat, anlässlich der Ratifikation drei Vorbehalte und zwei auslegende Erklärungen abzugeben: a)

30

31 32

33 34

372

Vorbehalte ­ zu Artikel 5 EMRK betreffend die kantonalen Gesetze über die administrative Versorgung und die Unterbringung von Kindern und Mündeln in einer Anstalt; ­ zu Artikel 6 Absatz 1 in dem Sinn, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung nicht anwendbar ist auf Verfahren, die nach kantonalem Recht vor einer Verwaltungsbehörde stattfinden;

Bericht EMRK (Anm. 29), BBl 1968 II 1116. Art. 51 der früheren Bundesverfassung verbot Mitgliedern des Jesuitenordens jegliche Tätigkeit in Kirche und Schule; Art. 52 sah ein Verbot der Einrichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster vor.

Bericht EMRK (Anm. 29), BBl 1968 II 1128.

Ergänzungsbericht des Bundesrates vom 23. Febr. 1972 an die Bundesversammlung über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BBl 1972 I 989 ff.)

Ergänzungsbericht EMRK (Anm. 32), BBl 1972 I 995.

Botschaft des Bundesrats vom 4. März 1974 über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 1974 I 1035 ff.

­

b)

3.3

zu Artikel 6 Absatz 1 in dem Sinn, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit der Urteilsverkündung nicht gilt, soweit kantonale Gesetze über den Zivil- und den Strafprozess vorsehen, dass das Urteil nicht an einer öffentlichen Verhandlung eröffnet, sondern den Parteien schriftlich mitgeteilt wird.

auslegende Erklärungen ­ zu Artikel 6 Absatz 1 EMRK, wonach die Bestimmung nur das Recht auf eine letztinstanzliche gerichtliche Prüfung einräumt; ­ zu Artikel 6 Absatz 3 Buchstaben c und e, wonach die Garantie der Unentgeltlichkeit des Beistands eines amtlichen Verteidigers und eines Dolmetschers die begünstigte Person nicht endgültig davon befreit, die entsprechenden Kosten zu bezahlen.

Anerkennung des Individualbeschwerderechts und der Gerichtsbarkeit des EGMR

Im ursprünglichen Kontrollsystem waren sowohl das Individualbeschwerderecht vor der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte als auch die Gerichtsbarkeit des EGMR fakultativer Natur. Ein Staat konnte also die EMRK ratifizieren, ohne sich dem Kontrollsystem zu unterwerfen. Das galt von Beginn an nicht für die Schweiz. In seiner Botschaft über die Genehmigung der EMRK ersuchte der Bundesrat gleichzeitig auch um die Ermächtigung, die Zuständigkeit der damaligen Kommission zur Behandlung von Individualbeschwerden sowie die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anzuerkennen.35

3.4

Frage des Referendums

Schliesslich befasste sich der Bundesrat einlässlich mit der Frage des Referendums.36 Nach der damals geltenden Verfassungsregelung (Art. 89 Abs. 4 aBV) unterstanden dem fakultativen Staatsvertragsreferendum Staatsverträge mit dem Ausland, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen wurden. Diese Bestimmung wurde in der Praxis immer so ausgelegt, dass Verträge nicht referendumspflichtig waren, wenn sie vor Ablauf von 15 Jahren gekündigt werden konnten. Das war (und ist) bei der EMRK der Fall: Die Vertragsstaaten können die Konvention fünf Jahre nach dem Inkrafttreten unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten kündigen (aArt. 65 Abs. 1 EMRK). Die Durchführung eines obligatorischen Referendums analog dem Freihandelsabkommen mit den (damaligen) Europäischen Gemeinschaften, d. h. ohne ausdrückliche Verfassungsgrundlage, verwarf der Bundesrat, weil weder die materiellen Garantien der EMRK noch der internationale Kontrollmechanismus tiefgreifende Änderungen der Struktur unserer Einrichtungen mit sich brächten. Die Frage des Referendums führte auch in der Bundesversammlung zu einer intensiven Debatte. Die Durchführung eines obligatorischen Referendums lehnte der Ständerat mit 27 gegen 4 Stimmen, der Nationalrat mit 64 gegen 27 Stimmen ab. Im Nationalrat scheiterte auch ein Eventu35 36

Botschaft EMRK (Anm. 34), BBl 1974 I 1051 ff., 1069 f.

Botschaft EMRK (Anm. 34), BBl 1974 I 1061 ff.

373

alantrag auf Unterstellung des Genehmigungsbeschlusses unter das fakultative Referendum, mit 65 gegen 36 Stimmen.37 Am 3. Oktober 1974 genehmigte die Bundesversammlung die Konvention antragsgemäss, und am 28. November 1974 hinterlegte die Schweiz die Ratifikationsurkunde.

Im Zusammenhang mit dem Referendum wirft das vorliegende Postulat Stöckli auch die Frage eines nachträglichen Referendums über die EMRK auf. Aus der Regelung der Bundesverfassung (Art. 140 f. BV) folgt grundsätzlich, dass obligatorische und fakultative Referenden vor dem Inkrafttreten des betreffenden Erlasses durchzuführen sind. Ein nachträgliches Referendum ist nur in zwei Fällen vorgesehen: für dringliche Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt; diese sind innert eines Jahres nach Annahme durch die Bundesversammlung Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten (Art. 140 Abs. 1 Bst. c BV). Ein nachträgliches (fakultatives) Referendum findet auch bei dringlichen Bundesgesetzen mit Verfassungsgrundlage statt (Art. 141 Abs. 1 Bst. b und Art. 165 Abs. 2 BV). Insofern erscheint es als fraglich, ob die Durchführung eines nachträglichen Referendums über den Beitritt zur EMRK oder über den Verbleib der Schweiz im Europarat ohne ausdrückliche Grundlage in der Bundesverfassung überhaupt zulässig ist.

Unabhängig davon verweist der Bundesrat darauf, dass die materiellen Garantien der EMRK und der Zusatzprotokolle im Rahmen der Nachführung der Bundesverfassung in die heutige Bundesverfassung übernommen worden sind.38 Insofern haben sie zumindest indirekt eine demokratische Legitimation durch Volk und Stände erhalten. Die gegenwärtige Kritik an der EMRK zielt darüber hinaus der Sache nach auch auf den EGMR, mithin auf den Kontrollmechanismus der EMRK. Dessen heutige Ausgestaltung geht im Wesentlichen zurück auf die grundlegende Reform durch die Protokolle Nr. 11 und Nr. 14 (vgl. Ziff. 2.2 hiervor). Zwar wurde die Genehmigung des Protokolls Nr. 11 gemäss der damals gültigen Regelung der Bundesverfassung nicht dem Referendum unterstellt.39 Demgegenüber unterstand die Genehmigung des Protokolls Nr. 14 aufgrund der geänderten Verfassungslage dem Referendum.40 Weitere Änderungen, die schwergewichtig den Kontrollmechanismus betreffen, sind Gegenstand von Protokoll Nr. 15, dessen Genehmigung
der Bundesrat rasch möglichst zu beantragen beabsichtigt; auch hier sind nach Auffassung des Bundesrates die Voraussetzungen erfüllt für die Unterstellung unter das fakultative Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung. Die EMRK verfügt nach dem Gesagten über eine starke, auch direktdemokratische Legitimation. Insofern erscheint es auch aus heutiger Sicht nicht angezeigt, den Beitritt zur EMRK einem nachträglichen Referendum zu unterstellen.41

37 38 39 40 41

374

AB 1974 S 387 ff., 1974 N 1495 ff. und 1502 f.

Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1, 137 ff.; unten Ziff. 5.2.2.

AS 1998 2992 AS 2009 3065 Zur Frage Kündigung mit anschliessendem (referendumspflichtigen) Wiederbeitritt vgl. unten Ziff. 7.4.

4

Entwicklungen seit dem Beitritt

4.1

Änderungs- und Zusatzprotokolle

Im Laufe der Jahre wurde die EMRK durch verschiedene Zusatzprotokolle (Protokolle Nr. 1, 4, 6, 7, 9, 12 und 13) und Änderungsprotokolle (Protokolle Nr. 8, 10, 11 und 14) ergänzt. Diese haben es erlaubt, den Katalog der geschützten Rechte zu erweitern (Zusatzprotokolle), sowie die Organisation und das Verfahren vor dem Gerichtshof anzupassen (Änderungsprotokolle).42

4.2

Rückzug von Vorbehalten und auslegenden Erklärungen

Anlässlich der Ratifikation der EMRK hatte die Schweiz verschiedene Vorbehalte und auslegende Erklärungen abgegeben, mit denen der Anwendungsbereich bestimmter Konventionsgarantien punktuell eingeschränkt wurde (vgl. Ziff. 3.2 hiervor).

Die Vorbehalte und auslegenden Erklärungen zu den Artikeln 5 und 6 EMRK haben bereits seit einiger Zeit ihre Daseinsberechtigung verloren, sei dies infolge von Änderungen des innerstaatlichen Rechts (vgl. Ziff. 4.2.1 hiernach) oder weil sie durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichts für ungültig erklärt worden sind (vgl. unten Ziff. 4.2.2­4.2.4).

Der Vorbehalt der Schweiz zu Artikel 5 des Protokolls Nr. 7 hat formell zwar noch Bestand, der Gerichtshof hat ihm aber jegliche Bedeutung abgesprochen (vgl.

Ziff. 4.2.5).

4.2.1

Vorbehalt zu Artikel 5 EMRK

Die am 1. Januar 1982 in Kraft getretene Änderung des ZGB (Fürsorgerische Freiheitsentziehung) führte im Zivilrecht eine abschliessende Regelung über die fürsorgerische Freiheitsentziehung ein, welche mit den Bestimmungen der EMRK im Einklang stand und die Voraussetzungen dafür schuf, dass der Vorbehalt zu Artikel 5 EMRK auf den 1. Januar 1982 zurückgezogen werden konnte.43

42 43

Detailliertere Ausführungen zu diesen Protokollen finden sich in den Ziffern 2.2 und 2.3 hiervor.

Rückzug vom 26. Jan. 1982 (conventions.coe.int >Recherches >Réserves et Déclarations). Vgl. auch Botschaft vom 17. Aug. 1977 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fürsorgerische Freiheitsentziehung) und den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 1977 III 1 ff.; O. Jacot-Guillarmod, Intérêt de la jurisprudence des organes de la CEDH pour la mise en oeuvre du nouveau droit suisse de la privation de liberté à fins d'assistance, ZVW 36/1981, S. 44 ff.

375

4.2.2

Vorbehalte zu Artikel 6 Absatz 1 EMRK

Vorbehalt betreffend Öffentlichkeit der Verhandlungen Der Gerichtshof hat diesen Vorbehalt in seinem Urteil Weber gegen die Schweiz vom 22. Mai 199044 für ungültig erklärt, mit der Begründung, die von aArtikel 64 Absatz 2 EMRK (heute: Art. 57 Abs. 2 EMRK) geforderte «kurze Inhaltsangabe» der vorbehaltenen Gesetze fehle.45 Dieser Vorbehalt wurde, wie sämtliche Vorbehalte und auslegenden Erklärungen zu Artikel 6 EMRK, am 29. August 2000 formell zurückgezogen.46 Vorbehalt betreffend Öffentlichkeit der Urteilsverkündung Der dem Urteil Weber zu Grunde liegende Sachverhalt betraf nur die Garantie der Öffentlichkeit der Verhandlungen, nicht auch die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung. Die Schweiz hat die beiden thematisch eng verwandten Teile des Vorbehalts jedoch immer als Einheit verstanden, und so wurden sie vom Gerichtshof auch behandelt. Nach Auffassung der Schweiz war deshalb der zweite Teil des Vorbehalts vom Urteil des Gerichtshofs in Sachen Weber miterfasst und damit ungültig.47 Der Vorbehalt wurde am 29. August 2000 formell zurückgezogen.48

4.2.3

Auslegende Erklärung zu Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Garantie eines fairen Prozesses)

Mit Urteil vom 29. April 1988 i. S. Belilos gegen die Schweiz49 hat der Gerichtshof die ursprüngliche auslegende Erklärung des Bundesrates zu Artikel 6 Absatz l EMRK als eigentlichen Vorbehalt qualifiziert und für unwirksam erklärt. Die Erklärung sei, so der Gerichtshof, nicht genügend klar formuliert und falle daher unter das in aArtikel 64 Absatz l EMRK (heute: Art. 57 Abs. 1 EMRK) verankerte Verbot allgemeiner Vorbehalte. Ausserdem fehle auch hier die von aArtikel 64 Absatz 2 EMRK (heute: Art. 57 Abs. 2 EMRK) verlangte kurze Inhaltsangabe der vorbehaltenen Bestimmungen. Da das Urteil nur den strafrechtlichen Teil der Erklärung betraf, hat der Bundesrat diese neu formuliert, um deren zivilrechtlichen Teil aufrechtzuerhalten, und die Neuformulierung an den Generalsekretär des Europarates weitergeleitet. Ausserdem wurde eine Liste der vorbehaltenen eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen nachgereicht. Diese neue auslegende Erklärung wurde jedoch vom Bundesgericht mit Urteil vom 17. Dezember 199250 für unwirksam erklärt, da sie im Grunde einen nachträglichen und damit nach aArtikel 64 Absatz 1

44 45

46 47 48 49 50

376

Série A, vol. 177.

Botschaft vom 24. März 1999 zum Bundesbeschluss über den Rückzug der Vorbehalte und Auslegenden Erklärungen der Schweiz zu Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, BBl 1999 3658, 3662.

Rückzug vom 24. Aug. 2000 (conventions.coe.int > Recherches > Réserves et Déclarations). Vgl. auch AS 2002 1142.

Botschaft Rückzug Vorbehalte und Auslegende Erklärungen (Anm. 45), BBl 1999 3662.

Vgl. Anm. 46.

Série A, vol. 132 BGE 118 Ia 473, 487 Erw. 7 c) cc)

EMRK (heute: Art. 57 Abs. 1 EMRK) unzulässigen Vorbehalt darstelle.51 Sie wurde am 29. August 2000 formell zurückgezogen.52

4.2.4

Auslegende Erklärung zu Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben c und e EMRK (Unentgeltlichkeit des Beistands eines amtlichen Verteidigers und eines Dolmetschers)

Unentgeltlichkeit des Beistands eines Dolmetschers Schon in seinem Urteil Luedicke, Belkacem und Koç gegen Deutschland vom 28. November 197853 stellte der Gerichtshof klar, dass Absatz 3 Buchstabe e die endgültige Befreiung von Dolmetscherkosten meint. Die von der Schweiz abgegebene auslegende Erklärung betreffend Dolmetscherkosten erwies sich damit als echter Vorbehalt. Angesichts der Erwägungen des Gerichtshofs in den Urteilen Weber (oben Ziff. 4.2.2) und Belilos (oben Ziff. 4.2.3) zu den Voraussetzungen eines gültigen Vorbehalts war davon auszugehen, dass die Gültigkeit eines solchen Vorbehalts ebenfalls am Erfordernis einer «kurzen Inhaltsangabe» scheitern würde.

Nach Auffassung des Bundesrates genügte die auslegende Erklärung (Vorbehalt) betreffend die nicht endgültige Befreiung von Dolmetscherkosten den Anforderungen von aArtikel 64 EMRK (heute: Art. 57 EMRK) nicht, weshalb sie zurückzuziehen war.54 Sie wurde am 29. August 2000 formell zurückgezogen.55 Unentgeltlichkeit des Beistandes eines amtlichen Verteidigers Auch wenn sich das Urteil Luedicke, Belkacem und Koç nicht direkt mit der Frage zu befassen hatte, lässt sich aus den Erwägungen ableiten, dass Absatz 3 Buchstabe c, anders als Buchstabe e, nicht die endgültige Befreiung von den Kosten eines amtlichen Verteidigers meint. Diese Auslegung entspricht auch der Auffassung der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte. Für die von der Schweiz abgegebene auslegende Erklärung bedeutete dies, dass sie überflüssig war, soweit es um die Rückforderung der Kosten der amtlichen Verteidigung geht. Abgesehen davon unterlag die Gültigkeit der auslegenden Erklärung natürlich auch den hiervor geäusserten ernsthaften Zweifeln zur Unentgeltlichkeit des Beistands eines Dolmetschers. Nach Auffassung des Bundesrats war die Erklärung zur nicht endgültigen Befreiung von den Kosten der amtlichen Verteidigung nicht mehr nötig, weshalb sie zurückzuziehen war.56 Formell zurückgezogen wurde sie am 29. August 2000.57

51 52 53 54 55 56 57

Botschaft Rückzug Vorbehalte und Auslegende Erklärungen (Anm. 45), BBl 1999 3663.

Vgl. Anm. 46.

Série A, vol. 29.

Botschaft Rückzug Vorbehalte und Auslegende Erklärungen (Anm. 45), BBl 1999 3663.

Vgl. Anm. 46.

Botschaft Rückzug Vorbehalte und Auslegende Erklärungen (Anm. 45), BBl 1999 3663.

Vgl. Anm. 46.

377

4.2.5

Vorbehalt zu Artikel 5 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK (Gleichheit der Ehegatten in Bezug auf Familienname, Bürgerrecht und Übergangsbestimmungen des Ehegüterrechts)

In seinem Urteil vom 22. Februar 1994 in Sachen Burghartz gegen die Schweiz58 stellte der Gerichtshof fest, der Familienname berühre den Anwendungsbereich von Artikel 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) und könne demzufolge auch unter Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 8 EMRK geprüft werden. Artikel 5 des Protokolls Nr. 7 dürfe, so der Gerichtshof weiter, weder den Anwendungsbereich der Artikel 8 und 14 EMRK beschränken noch diesen Bestimmungen als lex specialis vorgehen. Mit dieser Argumentation hat der Gerichtshof dem schweizerischen Vorbehalt zu Artikel 5 des Protokolls Nr. 7 im konkreten Fall die Wirksamkeit versagt. Die Gültigkeit des Vorbehaltes hingegen wurde bis heute nicht in Frage gestellt. Mit Rücksicht auf gewisse, vom Vorbehalt ebenfalls erfasste und möglicherweise noch aktuelle Übergangsbestimmungen des Ehegüterrechts59 wurde der Vorbehalt auch anlässlich der Revision des ZGB betreffend Name und Bürgerrecht der Eheleute60 nicht zurückgezogen.

4.3

Parlamentarische Vorstösse

Seit der Ratifikation durch die Schweiz bildete die EMRK Gegenstand zahlreicher politischer Auseinandersetzungen. Mehrere hundert Parlamentsgeschäfte verweisen entweder im Text oder im Titel auf die EMRK oder den Gerichtshof.

In den letzten Jahren hat sich die politische Debatte um die EMRK in der Schweiz, wie auch in anderen Staaten, intensiviert. Überdies ist eine Häufung von Parlamentsgeschäften, die das Verhältnis zwischen dem Landesrecht und der EMRK oder dem Völkerrecht im Allgemeinen hinterfragen, festzustellen.61 Von den in den letzten Jahren eingereichten Parlamentsgeschäften seien genannt: ­

13.4187 ­ Postulat Stöckli, «40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz. Erfahrungen und Perspektiven», am 12.12.2013 im Ständerat eingereicht, vom Bundesrat angenommen.

­

13.4174 ­ Interpellation Keller, «Fremdes Recht vor Schweizer Recht?», am 12.12.2013 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Fragen in Bezug auf die Statistiken zu den Beschwerden und hinsichtlich des Verfahrens zur Verweisung an die Grosse Kammer.

­

13.3890 ­ Motion Markwalder, «40 Jahre Ratifikation der EMRK», am 26.09.2013 im Nationalrat eingereicht (im Plenum noch nicht behandelt): Auftrag an den Bundesrat, das 40-Jahr-Jubiläum der Ratifikation der EMRK durch die Schweiz gebührend zu feiern und geeignete Massnahmen zu

58 59 60 61

378

Série A, vol. 280.

Art. 9, 9a, 9c, 9d, 9e, 10 und 10a SchlT ZGB AS 2012 2569; BBl 2009 7573 und 7581 Übersicht bei W. Kälin/S. Schlegel, Schweizer Recht bricht Völkerrecht, Szenarien eines Konfliktes mit dem Europarat im Falle eines beanspruchten Vorranges des Landesrechts vor der EMRK, April 2014, S. 7 ff., publiziert auf www.skmr.ch.

ergreifen, um die Bedeutung der EMRK zu vermitteln. Im Nationalrat bekämpft; Diskussion verschoben.

­

13.3805 ­ Postulat FDP-Liberale Fraktion, «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht», am 25.09.2013 im Nationalrat eingereicht (überwiesen): Einführung des obligatorischen Referendums für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter; Rangordnung völkerrechtlicher Normen nach ihrer demokratischen Legitimation. Bundesrat: Das geltende Verfassungsrecht ermöglicht bereits, «Staatsverträge mit verfassungsmässigem Charakter» dem obligatorischen Referendum zu unterstellen; die Vertragsparteien können sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um sich einer Verpflichtung aus dem Vertrag zu entziehen; innerhalb dieses Rahmens besteht die Möglichkeit zu prüfen, inwiefern völkerrechtliche Normen hierarchisiert werden könnten (Hierarchisierung, die allerdings nur innerstaatliche Geltung hätte).

­

13.3779 ­ Interpellation FDP-Liberale Fraktion, «Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte soll sich auf seine Hauptaufgaben konzentrieren», am 24.09.2013 im Nationalrat eingereicht (erledigt): verschiedene Fragen in Bezug auf die Notwendigkeit einer Reform des Gerichtshofs und die Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips. Bundesrat: Ein Teil der erwähnten Massnahmen ist mit Inkrafttreten von Protokoll Nr. 14 zur EMRK und der Genehmigung von Protokoll Nr. 15 bereits umgesetzt oder in Vorbereitung; Idee, ein Annahmeverfahren einzuführen, bereits diskutiert: nicht mehrheitsfähig.

­

13.3237 ­ Interpellation Brunner, «Kündigung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten», am 22.03.2013 im Nationalrat eingereicht (im Plenum noch nicht behandelt): Fragen bezüglich der Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der Ratifikation der EMRK ohne Volksentscheid, des Einflusses der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die Gesetze und die Rechtsprechung in der Schweiz und der Vor- bzw.

Nachteile einer Kündigung der EMRK. Bundesrat: Kündigung der EMRK kommt aus politischen und juristischen Gründen nicht in Frage.

­

13.3075 ­ Interpellation Gilli, «Europarat. Ratifizierung des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten», am 13.03.2013 im Nationalrat eingereicht (erledigt).

­

13.1039 Anfrage Gross, «Die Schweiz und die Ratifikation des 1. EMRKZusatzprotokolls und der Sozialcharta», am 19.06.2013 im Nationalrat eingereicht (erledigt): verschiedene Fragen in Zusammenhang mit der Ratifikation des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK. Bundesrat: Ratifikation angesichts der rechtlichen Probleme im Moment nicht in Erwägung gezogen; Fragen der Vereinbarkeit mit dem Landesrecht, welche eine Ratifikation des ersten Zusatzprotokolls aufwerfen könnte, im Wesentlichen verbunden mit Artikel 1, der das Eigentum schützt: Schwierigkeit beim Geltungsbereich, den der Gerichtshof auf Sozialleistungen ausgedehnt hat; ebenfalls mögliche Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Anwendung von Artikel 3, der das Recht auf freie und geheime Wahlen garantiert; die Ratifikation würde die Schweiz wegen der unüblich hohen Zahl von Vorbehalten, welche angebracht werden müssten, vor Probleme stellen.

379

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13.1037 ­ Anfrage Gross, «Die Schweiz und die Rechtsprechung des EGMR», am 19.06.2013 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Statistische Daten, Behandlungsdauer von Beschwerden gegen die Schweiz in Strassburg, finanzielle und personelle Unterstützung des Gerichtshofs, Entsendung von Schweizer Juristinnen und Juristen an den Gerichtshof, zu grosser Ermessensspielraum des Gerichtshofs. Detaillierte Antwort des Bundesrates, insbesondere statistische Angaben.

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12.435 ­ Parlamentarische Initiative SVP, «Kein Eingriff in die gerichtliche Eigenständigkeit der Schweiz», am 29.05.2012 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Streichung des Artikel 122 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG) soweit er die Verletzung der EMRK als Revisionsgrund vorsieht. Der Nationalrat hat entschieden, der Initiative keine Folge zu geben.

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12.3523 ­ Interpellation Freysinger, «Verfahrensdauer beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg», am 14.06.2012 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Statistiken der Beschwerden, Stärkung des Filtermechanismus des Gerichtshofs, um die Verfahrensdauer zu verkürzen. Bundesrat: Der Gerichtshof erhält wesentlich mehr neue Beschwerden als erledigt werden können; die daraus resultierende Verlängerung der Behandlungsfrist betrifft kleine wie grosse Mitgliedstaaten in gleicher Weise; die Mitgliedstaaten und der Gerichtshof haben zahlreiche Massnahme getroffen, um ein Gleichgewicht zu schaffen (Protokoll Nr. 11 zur EMRK; Protokoll Nr. 14 zur EMRK; vom Ministerkomitee verabschiedete Empfehlungen zur verbesserten Umsetzung der EMRK auf innerstaatlicher Ebene; interne Massnahmen des Gerichtshofs; Reformbestrebungen, wie sie namentlich mit den Konferenzen von Interlaken im Februar 2010 und zuletzt Brighton im April 2012 eingeleitet worden sind); Erhebung der Verfahrensdauer in Schweizer Fällen über die letzten zehn Jahre nicht möglich: der Gerichtshof erklärt rund 98 % aller Beschwerden gegen die Schweiz für unzulässig, ohne dass sie der Schweiz zur Stellungnahme zugestellt worden wären, und der Gerichtshof vernichtet die Akten abgeschlossener Verfahren nach einem Jahr; gemäss Gerichtshof sollte es möglich sein, bis Ende 2015 die Zahl der hängigen Beschwerden auf ein vertretbares Mass abzubauen.

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11.4174 ­ Interpellation Mörgeli, «Perversion der Menschenrechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte», am 23.12.2011 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Fragen in Zusammenhang mit dem Urteil des Gerichtshofs vom 11. Oktober 2011 Association Rhino gegen die Schweiz (Nr. 48848/07), auf welche der Bundesrat geantwortet hat: Verweisung des Urteils Association Rhino gegen die Schweiz an die Grosse Kammer beantragt; es kann notwendig sein, die der Verletzung der EMRK zugrunde liegende Rechtsnorm zu ändern, oder es kann genügen, einen Verwaltungsakt aufzuheben; ein Urteil des Gerichtshofes kann auch die Revision eines Bundesgerichtsurteils rechtfertigen; in den seltenen Fällen, in denen ein Bundesgesetz infolge eines Urteils des Gerichtshofes geändert wird, geschieht die Änderung im üblichen Gesetzgebungsverfahren; der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers kann deshalb eingeschränkt sein, aber er ist nicht aufgehoben.

380

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11.3468 ­ Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates, «Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten», am 19.05.2011 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Auftrag an den Bundesrat, gestützt auf seinen Zusatzbericht vom 30. März 2011 zum Bericht über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht eine Vorlage für die Bundesversammlung zu erarbeiten.

­

09.5615 ­ Frage Wobmann, «Vorbehalt des Minarett-Bauverbots in der EMRK», am 07.12.2009 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Möglichkeit eines Vorbehalts zur EMRK bezüglich des Baus von Minaretten, sodass der Gerichtshof die Schweiz nicht verurteilen könnte, falls eine Beschwerde gegen das Bauverbot für Minaretten eingereicht würde. Bundesrat: Vorbehalte müssen bei der Unterzeichnung oder bei der Ratifikation angebracht werden; die Kündigung der EMRK ist keine Option.

­

09.5611 ­ Frage Prelicz-Huber, «Minarett-Verbot. EMRK-Abklärung durch den Bundesrat», am 07.12.2009 im Nationalrat eingereicht (erledigt): Abklärung der Vereinbarkeit dieses Verbots mit der durch die EMRK garantierten Religionsfreiheit nach Annahme der Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten». Bundesrat: Frage bereits im Rahmen der Botschaft zu dieser Initiative abgeklärt, Initiative verstösst gegen verschiedene durch das Völkerrecht garantierte Menschenrechte, unter anderem gegen die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK); wahrscheinlich, dass der Gerichtshof im Fall einer Beschwerde in einem Anwendungsfall eine Verletzung der EMRK (insbesondere Art. 9) feststellt.

4.4

Entwicklung der Beschwerdezahlen und Erledigungen

4.4.1

Im Allgemeinen

Von 1959 bis Ende 2013 wurden 644 35762 Beschwerden einem Spruchkörper zugewiesen. Von diesen Beschwerden wurden 22 764, d. h. rund 4 %, mit einem Urteil des Gerichtshofs abgeschlossen und 518 63063 für unzulässig erklärt oder aus dem Register gestrichen (vgl. Anhang 2). Die Beschwerden betrafen zur Hauptsache Russland (16,8 %), Italien (14,4 %), die Ukraine (13,3 %), Serbien (11,3 %) und die Türkei (11 %) (vgl. Anhang 1).

Zwischen 2000 und 2004 hat der Gerichtshof pro Jahr zwischen 695 und 888 Urteile gefällt. Im Jahr 2005 waren es 1105 Urteile, zwischen 2006 und 2010 im Durchschnitt ca. 1500 Urteile (1625 im Jahr 2009). In den Folgejahren sind die Zahlen auf 1157 (2011), 1093 (2012) und 916 (2013) zurückgegangen (vgl. Anhänge 3 und 4).

Fast die Hälfte der vom Gerichtshof gefällten Urteile betrifft fünf Staaten: die Türkei (2994), Italien (2268), Russland (1475), Polen (1042) und Rumänien (1026) (vgl.

Anhang 5).

62 63

Einschliesslich der bei der ehemaligen Europäischen Kommission für Menschenrechte eingereichten Beschwerden (bis zum Inkrafttreten von Protokoll Nr. 11 im Jahr 1998).

Einschliesslich der Unzulässigkeitsentscheide der ehemaligen Europäischen Kommission für Menschenrechte (bis im Jahr 1998).

381

In den Fällen, die zu einem Urteil geführt haben, hat der Gerichtshof in rund 83 % mindestens eine Verletzung der EMRK festgestellt und den beklagten Staat verurteilt.64 In rund 6 % der Fälle stellte der Gerichtshof fest, dass die EMRK nicht verletzt worden ist, und rund 8 % der Fälle wurden durch eine gütliche Einigung oder die Streichung aus dem Register abgeschlossen.65 Was den Gegenstand der Verletzungen betrifft, hat der Gerichtshof zwischen 1959 und 2013 in mehr als 43 % der Fälle eine Verletzung von Artikel 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) festgestellt. Etwa 13 % der Fälle betrafen eine Verletzung der EMRK in Bezug auf das Recht auf Leben oder das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 2 und 3 EMRK) (vgl. Anhang 6). Verletzungen der Art. 2 und 3 machten allein im Jahr 2013 mehr als 24 % der festgestellten Verletzungen aus (vgl. Anhang 7).66

4.4.2

Für die Schweiz

Von 1974 bis Ende 2013 wurden 5940 Beschwerden gegen die Schweiz registriert (bzw. gemäss der neuen Terminologie: einem gerichtlichen Spruchkörper zugewiesen).67 Mehr als die Hälfte dieser Beschwerden ­ 3533 ­ wurden zwischen 2002 und 2013 eingereicht: 2002: 214; 2003: 162; 2004: 203; 2005: 232; 2006: 277; 2007: 236; 2008: 261; 2009: 471; 2010: 368; 2011: 358; 2012: 326; 2013: 445 (vgl. Statistik des Bundesamtes für Justiz, Anhang 9).68 Im Jahr 2013 wurden 445 Beschwerden einem der Spruchkörper zugewiesen, das heisst 0,55 pro 10 000 Einwohner (der Durchschnitt der zugewiesenen Beschwerden pro 10 000 Einwohner betrug für alle Vertragsstaaten 0.80 im Jahr 2013).

Von den 5940 Beschwerden, welche zwischen 1974 und Ende 2013 einem Spruchkörper zugewiesen wurden, wurden 5516, das heisst ungefähr 93 %, für unzulässig erklärt oder aus dem Register gestrichen (vgl. Cour européenne des droits de l'homme, Aperçu 1959­2013 CEDH, février 2014, S. 8, Anhang 2).

Bis Ende 2013 fällten der Gerichtshof und das Ministerkomitee69 insgesamt 152 endgültige Urteile/Entscheide in Schweizer Fällen (Ministerkomitee: 27 Entscheide; Gerichtshof: 125 Urteile; darin nicht enthalten sind zwei Fälle, die noch vor der Grossen Kammer hängig sind). In 93 Fällen stellte das Ministerkomitee oder der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK fest (Ministerkomitee: 11; Gerichtshof: 82; vgl. Statistik des Bundesamtes für Justiz, Anhang 9). 13 Fälle wurden durch eine gütliche Einigung abgeschlossen, 17 Fälle wurden infolge fehlenden Interesses des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung aus dem Register gestrichen, 6 Fälle wurden aufgrund der Beilegung des Streites aus dem Register gestrichen, 3 Fälle 64 65 66 67

68

69

382

Vgl. Anhang 8.

Vgl. Anhang 8.

Was die Verletzungen zwischen 1959 und 2013 nach Artikel und nach Staat betrifft, vgl.Anhang 8 sowie Ziffer 4.4.2 nachfolgend.

Die Zahl entspricht der Summe der Zahlen, die in den jährlichen Statistiken des Gerichtshofs aufgeführt sind. Sie weicht um 10 Beschwerden von der in Anhang 2 publizierten Gesamtstatistik für die Jahre 1959­2013 ab, die 5950 Beschwerden ausweist.

Siehe auch die Antwort des Bundesrates auf die Interpellation 13.4174 Keller Peter vom 12.12.2013, «Fremdes Recht vor Schweizer Recht?», welche vorläufige Zahlen aufführt, inklusive Beschwerden, die später nicht einem der Spruchkörper zugewiesen wurden.

Bis zum Inkrafttreten von Protokoll Nr. 11 ebenfalls zuständig, siehe oben Ziffer 2.1.

wurden infolge Rückzugs der Beschwerde aus dem Register gestrichen und 6 weitere Fälle wurden aus anderen Gründen aus dem Register gestrichen.

Der Vergleich der Zahl der zwischen 1974 und 2013 gegen die Schweiz registrierten Beschwerden (5940) und der Zahl der in diesem Zeitraum gutgeheissenden Beschwerden (93) zeigt, dass bisher weniger als 1,6 % der Schweizer Beschwerdefälle vor dem Gerichtshof zu einer Verurteilung führten.

Was die Anträge um Verweisung an die Grosse Kammer betrifft, wurden bis Ende 2013 in Schweizer Fällen 17 Verweisungsanträge gestellt (9 durch die Schweizer Regierung und 8 durch die beschwerdeführende Partei). Angenommen wurden 5 Verweisungsanträge, abgelehnt deren 9; drei Gesuche waren Ende 2013 noch hängig. Die Grosse Kammer bestätigte das Urteil der Kammer in 2 Fällen, in 2 Fällen hob sie es auf und 1 Fall ist hängig.70 Die Übersicht in Anhang 8 dieses Berichts informiert über den Gegenstand der Verletzungen der EMRK nach Artikel und Staat. Daraus geht hervor, dass die Schweiz im Vergleich mit anderen Staaten wenige Verurteilungen wegen schwerwiegender Verletzungen der EMRK betreffend die Artikel 2 (Recht auf Leben; 1 Verletzung betreffend den verfahrensrechtlichen Gehalt) und 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, 1 Verletzung betreffend den verfahrensrechtlichen Gehalt, 1 Verletzung betreffend den materiellrechtlichen Gehalt) zu verantworten hatte.71 Im Vergleich mit anderen Staaten hatte die Schweiz auch wenige Verurteilungen (7 Verletzungen) wegen überlanger Verfahrensdauer (Art. 6 EMRK) zu verzeichnen. Zahlreicher sind dagegen die im Zusammenhang mit Artikel 5 EMRK (12), Artikel 6 EMRK (28 [andere als überlange Verfahrensdauer]), Artikel 8 EMRK (21) und Artikel 10 EMRK (13) festgestellten Verletzungen.

Abschliessend ist festzustellen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer der Beschwerden, welche der Schweiz zugestellt wurden, bis zum endgültigen Urteil des Gerichtshofs 4,69 Jahre betrug. Die Unzulässigkeitsentscheide wurden im Durchschnitt nach 3,5 Jahren gefällt. Die Zahlen der letzten fünf Jahre zeigen einen leichten Rückgang der Verfahrensdauer (4,55 bzw. 3,35 Jahre).

5

Bedeutung und Einfluss der EMRK

5.1

Im Allgemeinen

Die EMRK ist 1953 in Kraft getreten, damals für zehn Staaten, heute sind es 47. Der Gerichtshof fällte sein erstes Urteil im Jahr 1960; bis heute sind ca. 17 000 Urteile ergangen; zählt man die frühere Spruchpraxis des Ministerkomitees dazu, kommt man auf ca. 23 000 Entscheidungen.72 Die Entscheidungen betreffen die unterschiedlichsten Rechtsgebiete und Rechtsverhältnisse, öffentlich-rechtlicher ebenso wie straf- und zivilrechtlicher Natur. In ca. 80 % dieser Urteile wurden Verletzungen der EMRK festgestellt.

70 71 72

Für weitere Einzelheiten siehe die Liste der Urteile, Anhang 9.

Siehe auch G. Malinverni, La Suisse devant la Cour Européenne des droits de l'homme, in «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2012/2, www.richterzeitung.ch.

S. Anhang 2.

383

Wie früher ausgeführt (oben Ziff. 2), sind die Entscheidungen der Strassburger Organe für den beteiligten Staat verbindlich; das Ministerkomitee überwacht die Umsetzung durch die innerstaatlichen Behörden (Art. 46 Abs. 1 und 2 EMRK). Die Gerichtsbarkeit des EGMR ist seit 1998 für alle Vertragsstaaten der EMRK obligatorisch. Verbindlichkeit der Urteile und obligatorische Unterstellung machen die besondere Ausprägung des EMRK-Kontrollverfahrens aus. Sie unterscheiden dieses Verfahren von den anderen internationalen Kontrollsystemen im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes73 und sind wesentlicher Teil der Erklärung der «Erfolgsgeschichte EMRK». Ohne Übertreibung wird die Konvention als das «bis heute am weitesten entwickelte überstaatliche Menschenrechtsschutzsystem der Welt» bezeichnet.74 Die Garantien der Konvention sind ­ wie bei menschenrechtlichen und grundrechtlichen Gewährleistungen üblich ­ abstrakt formuliert und konkretisierungsbedürftig.

Inhalt und Bedeutung der Konvention lassen sich deshalb nur beschränkt direkt aus ihrem Wortlaut ableiten. Ungleich wichtiger ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Darauf ist bereits anlässlich der Genehmigungsdebatte im Parlament hingewiesen worden.75 Zentrale Grundsätze wie das Subsidiaritätsprinzip, das Verständnis der Konvention als «lebendiges Instrument» oder die Anerkennung positiver Verpflichtungen der Vertragsstaaten wurden im Lauf der Jahrzehnte konkretisiert oder überhaupt erst entwickelt. Als Ergebnis der Entwicklung kann man festhalten, dass die EMRK heute primär nicht mehr als multilateraler Vertrag wahrgenommen wird, der Verpflichtungen unter den Vertragsstaaten regelt; im Vordergrund steht vielmehr das Recht des Einzelnen, gegen diese Staaten Beschwerde zu erheben. Die Konvention ist gewissermassen ein Vertrag zugunsten Dritter, nämlich derer, die eine Verletzung ihrer Menschenrechte durch einen der Vertragspartner ­ in der Regel der eigene Staat ­ geltend machen. In seinen Wirkungen ist der Schutz der Menschenrechte durch die EMRK damit dem Schutz der Grundrechte durch die nationalen Verfassungen vergleichbar. In diesem Sinn kommt der Konvention eine verfassungsähnliche Funktion zu76; der Gerichtshof selbst spricht in seinen Urteilen von der Konvention als einem «instrument constitutionnel de l'ordre public européen»77.
Der quasi verfassungsgerichtliche Charakter der Strassburger Rechtsprechung ist für diejenigen Staaten von besonderer Bedeutung, die keine oder keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit kennen. Hier ist der Grundrechtsschutz durch die EMRK ausgebaut worden. Darauf hatte der Bundesrat bereits in seiner Botschaft über die EMRK hingewiesen.78 In der Lehre wird in diesem Zusammenhang bemerkt, bei der Verabschiedung der Konvention sei «die im Grunde revolutionäre Wirkung» wohl nicht vorhergesehen worden, dass der Beitritt zur EMRK künftig im konkreten 73

74 75 76

77 78

384

Einzig die Amerikanische Menschenrechtskonvention kennt ein Individualbeschwerdeverfahren (Art. 44), das indes lediglich mittelbar an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte führt.

F.C. Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Kommentar, München 2012, Einleitung, N 1.

Ständerat Peter Hefti als Kommissionssprecher (AB S 1974 379).

Z.B. T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte ­ Ideale, Instrumente, Institutionen, Zürich, St. Gallen, Baden-Baden 2010, S. 234; J.P. Müller, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa, ZSR 124 (2005) II S. 9, 14 («Funktion eines eigentlichen Grundrechtsgerichts»).

Z.B. Urteil Neulinger und Shuruk (Grosse Kammer), vom 6. Juli 2010, Ziff. 133.

Botschaft EMRK (Anm. 34), BBl 1974 I 1053 f.; vgl. auch Bericht EMRK (Anm. 29), BBl 1968 II 1072.

Einzelfall eine Überprüfung von Gesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten ermöglicht, auch in den Staaten, in denen eine solche Prüfung nach innerstaatlichem Recht nicht vorgesehen ist.79

5.2

Für die Schweiz

5.2.1

Statistik

Wie unter Ziffer 4.4.2 ausgeführt, sind seit der Ratifikation im Jahr 1974 und bis Ende 2013 insgesamt 5940 gegen die Schweiz gerichtete Beschwerden registriert worden. Die Zahl der tatsächlich eingereichten Beschwerden dürfte auch für die Schweiz noch höher liegen: Gewisse Eingaben werden von der Kanzlei erledigt, ohne einem der Spruchkörper des Gerichtshofs vorgelegt zu werden.80 Von den 5940 registrierten Beschwerden wurde bis Ende 2013 nur ein kleiner Teil, knapp 3 %, ganz oder teilweise für zulässig erklärt. In 93 der für zulässig erklärten Beschwerden wurden eine oder mehrere Verletzungen festgestellt; das entspricht einem Verhältnis von knapp 1,6 % aller registrierten Beschwerden.

Die Zahlen machen deutlich, dass der gelegentlich erweckte Eindruck, Verurteilungen der Schweiz seien sehr häufig, keine objektive Grundlage hat. Vielmehr wurde der ganz überwiegende Teil der Beschwerden für unzulässig erklärt oder sonst wie aus dem Register gestrichen.

5.2.2

Rezeption der Konvention in der Schweiz

Artikel 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, die Garantien der EMRK «allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen» zuzusichern. Diese Garantien gelten heute ohne Ausnahme als direkt anwendbar (justiziabel), sie sind in der Schweiz wie schweizerisches Recht anwendbar und binden die Behörden aller Gewalten, also auch Parlament, Regierung und Verwaltung, auf allen Ebenen des Bundesstaates (Monismus).

Die Rolle des Bundesgerichts Bei der Rezeption der EMRK in der schweizerischen Rechtsordnung kam dem Bundesgericht eine besondere Rolle zu. Bereits kurz nach Inkrafttreten der Konvention hat es im Urteil Diskont- und Handelsbank81 festgehalten, die Garantien der EMRK hätten «ihrer Natur nach einen verfassungsrechtlichen Inhalt». Es hat sie damit in prozessualer Hinsicht auf die gleiche Stufe gestellt wie die verfassungsmässigen Rechte. Für die kantonalen Behörden hatte dies zur Folge, dass bei der Rüge, ein Erlass oder eine Verfügung verletze ein verfassungsmässiges Recht, immer auch (oder ausschliesslich) die Rüge einer EMRK-Verletzung erhoben werden konnte.

79 80

81

J. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Kehl 2009, Einführung N 13, mit Hinweis auf die Situation im Vereinigten Königreich und in Frankreich.

Das gilt insbesondere für Fälle, in denen der Beschwerdeführer der Aufforderung, zusätzliche Unterlagen oder Informationen zu liefern, nicht oder nur unzureichend nachgekommen ist. Im Jahr 2013 wurden insgesamt 13 600 Beschwerden auf diese Art administrativ erledigt (Zahlen für die einzelnen Staaten sind nicht ausgewiesen).

Urteil vom 19.3.1975, BGE 101 Ia 67, E. 2c.

385

Zu erwähnen ist weiter die Rechtsprechung zu Artikel 190 BV (früher Art. 113 Abs. 3 BV), wonach das Bundesgericht (und die anderen rechtsanwendenden Behörden) an das Völkerrecht und an die Bundesgesetze gebunden ist. Das Bundesgericht ist bemüht, allfällige Konflikte durch konventionskonforme Auslegung zu vermeiden. Auch folgt aus dem in Artikel 190 BV verankerten Anwendungsgebot kein Prüfungsverbot; das Bundesgericht hat vielmehr wiederholt auf Unvereinbarkeiten einer gesetzlichen Regelung mit verfassungs- oder konventionsrechtlichen Garantien hingewiesen.82 Eine Relativierung erfährt das Gebot der Anwendung von Bundesgesetzen auch noch in anderer Hinsicht: Zum einen lässt das Bundesgericht den Vorrang späterer Bundesgesetze gegenüber dem Völkerrecht dann nicht gelten, wenn es um internationale Verpflichtungen menschenrechtlicher Natur geht (sog.

«PKK-Rechtsprechung»).83 Zum anderen kann die in Artikel 122 BGG (früher Art. 139a OG) vorgesehene Revision dazu führen, dass die vom Gerichtshof in seinem Urteil als verletzt angesehene EMRK-Garantie schliesslich doch zur Anwendung kommt, obwohl eine bundesrechtliche Vorschrift dem entgegensteht.84 Der Prozess der Rezeption ist in vielen Publikationen beschrieben. In diesem Zusammenhang wird häufig von der «Erfolgsgeschichte von Strassburg» gesprochen, sei es generell85, sei es spezifisch mit Blick auf die Umsetzung der EMRK in der Schweiz.86 Andere Publikationen zeichnen eine Entwicklung nach, in der das Bundesgericht dem neuen Vertrag zunächst zwar nur mit Zurückhaltung gegenübertrat, sich dann aber in einer zweiten Phase, ab Mitte der 1980er-Jahre, nach den ersten Verurteilungen der Schweiz, intensiver mit der Konvention beschäftigte, um schliesslich, in einer dritten Phase, ab Ende der 1980er-Jahre, die Konvention umfassend zu berücksichtigen und anzuwenden.87 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang bereits ein Hinweis auf die quantitative Zunahme der bundesgerichtlichen Urteile, welche auf die Konvention Bezug nehmen. Nimmt man beispielsweise die Sachregister (früher: General-Register) der publizierten Urteile des 82 83

84

85 86

87

386

Z.B. BGE 129 II 249, 263, E. 5.4; 125 II 417, 424, E. 4c; 118 Ib 277, 280 f., E. 3.

BGE 125 II 417, 424, E. 4d; Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202, 4320; Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 in Erfüllung des Postulats 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. Okt. 2007 und des Postulats 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 20. Nov. 2008, BBl 2010 2263; Zusatzbericht des Bundesrats vom 30. März 2011 zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2011 3613, 3653 ff; EGMR, Unzulässigkeitsentscheid Ouardiri (Minarettverbot) vom 28. Juni 2011. Vgl. auch D. Thurnherr, The Reception Process in Austria and Switzerland, in : H. Keller/A. Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights ­ The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford/New York, 2008, S. 311, 334 f.

H. Aemisegger, Zur Umsetzung der EMRK durch das Bundesgericht, in: S. Breitenmoser/ B. Ehrenzeller (Hrsg.), Die EMRK und die Schweiz, St. Gallen 2010, S. 50, 56 ff.; zur Revision vgl. auch unten Ziff. 5.2.4.

G. Steinmann, Der Schweizer Praktiker vis-à-vis von EMRK und EGMR, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Die EMRK und die Schweiz, St. Gallen 2010, S. 243.

H. Aemisegger (Anm. 84), S. 47; vgl. auch M.E. Villiger, Handbuch EMRK, 2. Aufl.

Zürich 1999, N 84: «Den Behörden kann seither [seit der Ratifikation] attestiert werden, dass sie in der Regel sowohl präventiv als auch reaktiv angemessen auf die EMRK reagiert haben.» Vgl. M. Hottelier/HP. Mock/M. Puéchavy, La Suisse devant la Cour européenne des droits de l'homme, 2e édition, Zurich 2011, S. 38 ff.; M. Hottelier, La réception de la CEDH dans les cantons, in: La Convention européenne des droits de l'homme et les cantons, Journée BENEFRI de droit européen de l'Institut de droit européen, Genève, Zurich, Bâle 2014, S. 46 ff.; A. Haefliger/F. Schürmann, Die EMRK und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 1999, S. 437 ff.

Bundesgerichts als Massstab, zeigt sich, dass im General-Register der Jahre 1975­ 1984 (BGE Bände 101­110), also für die ersten 10 Jahre nach der Ratifikation, die Urteile unter dem Titel «EMRK» auf ca. 7 Seiten Platz fanden. Im folgenden Jahrzehnt (1985­1994, BGE Bände 111­120) waren es bereits 20, für 1995­2004 (BGE Bände 121­130) dann 32 Seiten. Das letzte publizierte Register, das die zwischen 2005 und 2013 publizierten Entscheide (BGE Bände 131­139) umfasst, führt die EMRK-Entscheide auf 24 Seiten auf. Die Zunahme ist umso beachtlicher, als jeweils nur ein kleiner Teil der bundesgerichtlichen Entscheide in der Amtlichen Sammlung publiziert wird, darunter nicht solche, die lediglich eine bestehende Praxis bestätigen. Etwa im gleichen Verhältnis ist im Übrigen auch die Zahl der Urteile gewachsen, die in den Registern zu den Grundrechten der Bundesverfassung aufgeführt sind. Dass es sich dabei häufig um die gleichen Urteile handelt, welche auch unter dem Titel EMRK figurieren, zeigt die Verflechtung der verfassungsmässigen Grund- und der konventionsrechtlichen Menschenrechte und ihre gegenseitige Befruchtung. Bundesrichter Aemisegger wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Bundesgericht die Garantien der EMRK in seine Rechtsprechung zu den (früher auch ungeschriebenen) Grundrechten der Verfassung mit einbezogen hat.

«Dadurch erhielten sie grosse Durchschlagskraft und beeinflussten Rechtssetzung und Rechtsanwendung stark. Die EMRK-Normen wurden entweder richtungsweisend bei der Auslegung innerstaatlichen Verfassungsrechts berücksichtigt oder direkt als Urteilsgrundlage beigezogen.»88 Mark E. Villiger, seit 2006 Richter am EGMR, bescheinigte dem Bundesgericht, dass es im europäischen Vergleich in der Berücksichtigung der EMRK und der Strassburger Rechtsprechung eine Spitzenstellung einnehme.89 Neben den beiden oben beschriebenen Urteilen des Bundesgerichts zur verfahrensmässigen Gleichstellung der EMRK mit den Grundrechten der Bundesverfassung bzw. zum grundsätzlichen Vorrang der EMRK auch vor späteren Bundesgesetzen90 liessen sich zahlreiche weitere Grundsatzentscheide aufführen, die den Stellenwert veranschaulichen, welcher der Konvention in der innerstaatlichen Rechtsordnung zukommt. Dazu gehören auch solche, in denen das Bundesgericht die Konformität einer gesetzlichen (kantonalen)
Regelung als solcher, also im Rahmen der sog.

abstrakten Normenkontrolle geprüft hat, eine Kontrollmöglichkeit, über welche der EGMR nicht verfügt. Zu erwähnen sind (konkrete und abstrakte Normenkontrolle):

88 89 90

­

BGE 109 Ia 273 (Vest): Ein genereller Ausschluss der nachträglichen Benachrichtigung einer Telefonüberwachung verletzt Artikel 13 EMRK (abstrakte Normenkontrolle);

­

BGE 109 Ib 183 (Reneja-Dittli): Zulassung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht bei behaupteter Verletzung von Artikel 8 EMRK im Fall der Nichterneuerung einer Aufenthaltsbewilligung (Praxisänderung);

­

BGE 112 Ia 290 (S.): Personalunion von Untersuchungsrichter und Strafrichter verletzt Artikel 6 EMRK (Praxisänderung, gestützt auf ein Urteil des EGMR in einem gleichgelagerten, belgischen Fall);

H. Aemisegger (Anm. 84), S. 46.

M.E.Villiger (Anm. 86), N 84, m.H.

Anm. 81 und 83.

387

­

BGE 114 Ia 50 (G. und B.): Personalunion von Überweisungsrichter und Strafrichter im Kanton ZH; Grundsatzentscheid zur Vorbefassung des Sachrichters (Art. 6 Abs. 1 EMRK); daran anschliessend z.B. BGE 114 Ia 143 ff, Berner Strafmandatsfall;

­

BGE 114 Ia 84 (S.): Replikrecht im Haftprüfungsverfahren; der Anspruch auf Replik besteht unabhängig davon, ob die Vernehmlassung der Behörde neue Elemente enthält (Art. 5 Abs. 4 EMRK) (Praxisänderung);

­

BGE 124 II 480 (Erben P.): Nichtanwendbarkeit einer EMRK-widrigen Bestimmung des Bundessteuerrechts;

­

BGE 118 Ia 64 (Minelli): Verordnung über die Bezirksgefängnisse ZH; Grund- und menschenrechtliche Anforderungen an die Haftbedingungen im Strafvollzug (Art. 6, 8, 10 und 14 EMRK) (abstrakte Normenkontrolle);

­

BGE 118 Ia 473 (F. und R.): Ungültigkeit der revidierten auslegenden Erklärung des Bundesrates zu Art. 6 EMRK;

­

BGE 131 I 455 (X.): Anspruch auf wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung bei vertretbarer Rüge einer Verletzung von Artikel 3 EMRK; Anerkennung des prozessualen Teilgehalts materieller Garantien der EMRK.

Nachführung der Bundesverfassung Einen eindrücklichen Beleg für die Rezeption der EMRK im schweizerischen Recht bilden die Vorarbeiten zum Erlass der geltenden Bundesverfassung. In der Verfassung von 1874 war nur ein kleiner Teil der Grundrechte ausdrücklich aufgeführt; die Mehrzahl der Rechte hatte namentlich über die Rechtsprechung des Bundesgerichts und seine Anerkennung ungeschriebener Grundrechte, aber auch über internationale Verträge und die Rechtsprechung der Organe dieser Verträge (insbesondere des EGMR) Eingang in die schweizerische Rechtsordnung gefunden. Mit der Nachführung der Verfassung sollten diese Garantien in einem Katalog von Grundrechten zusammengeführt werden.91 Die Übernahme von Regelungen aus internationalen Menschenrechtskonventionen wurde dabei auf die Bestimmungen und Interpretationen beschränkt, die sich im schweizerischen Recht und in der schweizerischen Praxis durchgesetzt hatten.

Bevorzugt behandelt wurde die EMRK. Der Bundesrat begründete dies damit, dass sich die Entscheide der Konventionsorgane ähnlich wie verfassungsgerichtliche Urteile auswirkten.92 Eine umfassende Darstellung des Einflusses der EMRK auf die Bundesverfassung würde den Rahmen dieses Berichts sprengen. Nachfolgend werden deshalb einzelne Bestimmungen hervorgehoben, bei denen dieser Einfluss besonders deutlich geworden ist: ­

91 92

388

Gemäss Artikel 13 BV hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privatund Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihres Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs. Dieser Wortlaut ist eng an die entsprechende Bestimmung der EMRK (Art. 8 Abs. 1) angelehnt. In der Botschaft des Bundesrates wurde denn auch festgehalten, dass die Garantien materiell weitgehend übereinVgl. Botschaft neue Bundesverfassung (Anm. 38), BBl 1997 I 1; H. Koller, Die Nachführung der Bundesverfassung, AJP 1995, S. 980 ff.

Vgl. Botschaft neue Bundesverfassung (Anm. 38), BBl 1997 I 116 f.

stimmen; in Bezug auf die Bedeutung des Begriffs «Familienleben» verweist die Botschaft auf die Praxis der Konventionsorgane.93 ­

Artikel 31 BV regelt die Voraussetzungen des Freiheitsentzugs und die Rechte der betroffenen Personen, insbesondere das Recht auf gerichtliche Überprüfung des Freiheitsentzugs und den Anspruch von Untersuchungsgefangenen auf ein Urteil innert angemessener Frist. Der Einfluss der entsprechenden Bestimmung der EMRK (Art. 5) ist in Struktur, Sprache und Inhalt der Regelung deutlich erkennbar. Die enge Anlehnung an die Konvention wird in der Botschaft bestätigt.94

­

Die nachgeführte Bundesverfassung enthält verschiedene Rechtsschutz- und Verfahrensgarantien (Art. 29, 29a, 30 und 32 BV). Für all diese Bestimmungen bildete die EMRK ­ insb. Artikel 6, Recht auf ein faires Verfahren ­ eine wichtige Grundlage.

­

Die Rechte angeschuldigter Personen im Strafverfahren entsprechen im Wesentlichen den Garantien der Konvention (Art. 6 Abs. 2 und 3; Art. 2 7. ZP EMRK). Ausdrücklich gewährleistet werden die Unschuldsvermutung, das Recht, über die erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden, und der Anspruch auf ein Rechtsmittel. Artikel 32 BV enthält zudem eine allgemeine Formulierung: «[Die angeschuldigte Person] muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen». Laut der Botschaft umfasst diese Umschreibung die Rechte der Konvention, welche die Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt.95

5.2.3

Die wichtigsten Bereiche der Beeinflussung

Anhang 9 dieses Berichts enthält eine vollständige Liste der Entscheidungen96, die das Ministerkomitee und der Gerichtshof in den Schweizer Beschwerdefällen gefällt haben, jeweils mit Hinweis darauf, ob eine Verletzung der EMRK festgestellt wurde.

Im vorliegenden Kapitel werden die wichtigsten Bereiche aufgeführt, in denen eine Beeinflussung stattgefunden hat. Gegenstand des anschliessenden Kapitels wird die Frage sein, wie Bund und Kantone einschlägige Strassburger Entscheidungen umgesetzt haben.

93 94 95

96

Vgl. Botschaft neue Bundesverfassung (Anm. 38), BBl 1997 I 152 f.

Vgl. Botschaft neue Bundesverfassung (Anm. 38), BBl 1997 I 185 f.

Recht auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung; Recht, sich selbst zu verteidigen, einen Wahlverteidiger zu bestellen oder gegebenenfalls einen Offizialverteidiger zu erhalten; Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen; Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher (vgl. Botschaft neue Bundesverfassung [Anm. 38], BBl 1997 I 187).

Der Begriff «Entscheidungen» umfasst die Resolutionen des Ministerkomitees (i.S. von aArt. 54 EMRK) und die Urteile des Gerichtshofs, beides ist zugänglich unter hudoc.echr.coe.int. Dort einsehbar auch die Berichte der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte, die Grundlage der Resolutionen des Ministerkomitees bildeten.

389

Anpassungen vor und unmittelbar nach dem Beitritt Zunächst sind die beiden Verfassungsrevisionen in Erinnerung zu rufen, die mit der Absicht des Bundesrates, die Konvention zu ratifizieren, in engem Zusammenhang standen. Das betrifft die konfessionellen Ausnahmeartikel der früheren Bundesverfassung ­ sie standen im Widerspruch zu Artikel 9 EMRK (Glaubens- und Gewissenfreiheit) ­ und den Ausschluss der Frauen vom Stimm- und Wahlrecht, den der Bundesrat als «mit dem Geist und wohl auch dem Wortlaut des Artikels 3 des Zusatzprotokolls unvereinbar»97 ansah. Nach den Volksabstimmungen von 1971 (Frauenstimmrecht) bzw. 1973 (Ausnahmeartikel) waren beide Hindernisse aus dem Weg geräumt. Sie waren der Hauptgrund dafür, dass die Schweiz, die 1963 dem Europarat beigetreten war, die Konvention erst mehr als 10 Jahre später ratifizierte.

Nicht rechtzeitig angepasst werden konnte dagegen die Gesetzgebung über die administrative Versorgung. Sie stand teilweise im Widerspruch zu den verfahrensrechtlichen Garantien von Artikel 5 EMRK, weshalb der Bundesrat hier einen Vorbehalt anbrachte. Wie oben beschrieben98, konnte dieser von Anfang an als vorübergehend gedachte Vorbehalt im Zuge der Einführung der Bestimmungen über den fürsorgerischen Freiheitsentzug im ZGB (aArt. 397a und ff.) per 1. Januar 1982 zurückgezogen werden.

Verfahrensrechtliche Garantien Die ersten Entscheidungen in Schweizer Fällen betrafen verfahrensrechtliche Garantien, also primär die Artikel 5, 6 und 13 EMRK. Diese nehmen auch in der Folge und bis heute einen wichtigen Platz in der Strassburger Rechtsprechung ein. Auch für das Bundesgericht standen vorerst diese formellen Garantien im Vordergrund.99 Die wohl bedeutendsten Bereiche, in denen die höchstrichterliche Rechtsprechung die Rechtsordnung beeinflusst hat, sind die folgenden: ­

97 98 99

390

Der Ausbau der gerichtlichen Kontrolle für straf- und zivilrechtliche Streitigkeiten, bedingt durch die Auslegung der Begriffe «strafrechtliche Anklage» und «zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» in Artikel 6 Absatz 1 EMRK. Die autonome Auslegung dieser Begriffe durch den Gerichtshof hat im Bereich des Strafrechts dazu geführt, dass Widerhandlungen im Bagatellbereich, die vorher nicht als «Kriminalunrecht» angesehen wurden und keiner gerichtlichen Prüfung unterstanden, als «strafrechtlich» i.S.

von Artikel 6 EMRK qualifiziert wurden. Praktisch von ungleich grösserer Bedeutung war der Umstand, dass mit der autonomen Auslegung zahlreiche Streitigkeiten des öffentlichen Rechts (Bau- und Planungsrecht, Konzessionen, Berufsausübungsbewilligungen, Sozialversicherungsrecht, Beamtenrecht etc.) als «zivilrechtlich» i. S. von Artikel 6 EMRK angesehen wurden, mit der Folge, dass in all diesen Fällen der Rechtsweg an ein Gericht geöffnet werden musste. Eine solche Rechtsweggarantie ist heute in Artikel 29a BV enthalten.

Bericht EMRK (Anm. 29), BBl 1968 II 1128.

Oben Ziff. 4.2.1.

G. Steinmann (Anm. 85), S. 245 f.

­

Das Strafprozessrecht: In diesen Bereich hat die konventionsrechtliche Rechtsprechung besonders intensiv eingewirkt. Das Bundesgericht «hatte keine Mühe, die EMRK-Garantien auf das zersplitterte kantonale Prozessrecht anzuwenden.»100 Regelungen betreffend die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten, Zwangsmassnahmen, insbesondere die Untersuchungshaft, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts oder die Auflage von Verfahrenskosten sind wesentlich durch die höchstrichterliche Rechtsprechung aus Strassburg und Lausanne geprägt. In ihrer Gesamtheit hat sie in zentralen Bereichen einheitliche, für alle kantonalen und eidgenössischen Prozessordnungen gültige Standards gesetzt, welche die Vereinheitlichung dieser Ordnungen schliesslich begünstigt haben.101

­

Nicht auf das Strafprozessrecht beschränkt sind die Beschleunigungsgebote.

Die Konvention mahnt die Behörden in verschiedenen Zusammenhängen zur beschleunigten Behandlung: Artikel 5 Absatz 2 EMRK verlangt, dass jede festgenommene Person «in möglichst kurzer Frist» über die Gründe des Freiheitsentzugs orientiert wird; Absatz 3 desselben Artikels gibt Personen in Untersuchungshaft einen Anspruch auf «unverzügliche» Vorführung vor einen Haftrichter; derselbe Absatz begrenzt die zulässige Dauer der Untersuchungshaft; Absatz 4, der wie Absatz 2 wiederum für alle Motive des Freiheitsentzugs gilt (also auch etwa die fürsorgerische Unterbringung oder die ausländerrechtliche Haft), verlangt, dass die Gerichte über Haftentlassungsgesuche «innerhalb kurzer Frist» entscheiden. Das in der Strassburger Praxis wichtigste Beschleunigungsgebot ist in Artikel 6 Absatz 1 enthalten: Die Gerichte haben über strafrechtliche Anklagen und zivilrechtliche Streitigkeiten «innerhalb angemessener Frist» zu befinden. Auch wenn die EMRK hier, dank der ausgebauten Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Anspruch auf rechtliches Gehör, für die Schweiz nichts prinzipiell Neues gebracht hat, lässt sich doch sagen, dass die Praxis des EGMR auch in diesem Bereich zu einer Sensibilisierung der rechtsanwendenden Behörden geführt hat. Jedenfalls sind Verurteilungen der Schweiz wegen Verletzung eines Beschleunigungsgebots vergleichsweise selten geblieben.102

­

Von der früheren bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör nicht geschützt war der Anspruch auf ein unbedingtes Replikrecht.

Das Bundesgericht hatte ein solches Recht gestützt auf Artikel 4 aBV nur anerkannt, wenn die fragliche Eingabe, zu der die Partei replizieren wollte, wesentliche neue Elemente enthielt. Der EGMR leitet aus Artikel 6 EMRK dagegen einen unbedingten Anspruch ab ­ das Vertrauen der Rechtssuchenden in die Justiz verlange die Gewissheit, von allen dem Gericht zugestellten Eingaben Kenntnis zu erhalten, und die Möglichkeit, sich zu diesen Einga-

100 101

G. Steinmann (Anm. 85), S. 247 f.

Vgl. Botschaft vom 21. Dez. 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, 1096 f., 1385 f.

102 Vgl. zu Art. 5 Abs. 3 Urteil Kaiser (2007) (betr. Vorführung). Zu Art. 5 Abs. 4: Urteile M.B und G.B. (2000), Fuchser (2006), Jusic (2010). Zu Art. 6: Urteile Zimmermann und Steiner (1983), Kiefer (2000), Müller (2002), Munari (2005), Mc Hugo (2006), Werz (2009), Roduit (2013). Keine Verletzung dagegen in den Urteilen W. (1993) und Shabani (2009) (beide Art. 5 Abs. 3, Dauer der Untersuchungshaft).

391

ben äussern zu können. Zahlreiche Verurteilungen der Schweiz betrafen dieses Replikrecht.103 ­

Eine bedeutende Entwicklung in der Rechtsprechung des EGMR stellen die sog. positiven Verpflichtungen der Vertragsstaaten dar, welche der Gerichtshof aus den ­ grundsätzlich als Abwehrrechte konzipierten ­ Garantien der EMRK ableitet. An dieser Stelle zu erwähnen sind die positiven Verpflichtungen verfahrensrechtlicher Art; sie nehmen in der Strassburger Praxis mittlerweile einen breiten Raum ein.104 Immer häufiger stellt der Gerichtshof Verletzungen fest, weil die Behörden Vorwürfe einer Konventionsverletzung, welche mit vertretbaren Gründen vorgebracht wurden, nicht mit der nötigen Sorgfalt abklärten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom «prozessualen Teilgehalt» materieller EMRK-Garantien.105 Verurteilungen der Schweiz bilden auch in diesem Bereich zwar die Ausnahme106; gleichwohl verdient diese bedeutende Erweiterung des Schutzbereichs materieller Garantien hier Erwähnung. Das Bundesgericht hat sich, wie früher erwähnt, die Strassburger Praxis zu Eigen gemacht.107

Materiellrechtliche Garantien Zu den materiellen EMRK-Garantien zählen neben dem Recht auf Leben (Art. 2), dem Folterverbot (Art. 3) und dem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 Abs. 1) u. a. auch der Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), die Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 10), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11), das Recht auf Ehe (Art. 12) sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 14). Eingriffe der Behörden in solche Rechte sind nur zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, einen legitimen Zweck verfolgen und verhältnismässig sind. Verurteilungen der Schweiz wegen Verletzung eines dieser Rechte machen gut ein Drittel aller festgestellten Verletzungen aus. Teilweise geht es dabei auch um Rechtsverhältnisse zivil- oder strafrechtlicher Natur. Zu den wichtigsten Bereichen gehören die folgenden: ­

103

104 105 106

107

108 109

392

Ausländerrecht: Im Vordergrund stehen Fälle, in denen eine ausländische Person wegen strafrechtlicher Verurteilung das Land verlassen muss108, sowie Streitigkeiten betreffend Nichterteilung oder Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung im Rahmen der Familienzusammenführung109.

Vgl. die Urteile Nideröst-Huber (1997), F.R. (2001), Ziegler (2002), Contardi (2005), Spang (2005), Ressegatti (2006), Kessler (2007), Werz (2009), Schaller-Bossert (2010), Ellès u.a. (2010), Locher (2013). ­ In drei jüngeren Urteile wird eine Verletzung dagegen verneint: Urteile Joos (2012), Wyssenbach (2013) und Schmid (2014).

Vgl. Statistik im Anhang 8.

A. Haefliger/F. Schürmann (Anm. 87), S. 58.

Urteile Scavuzzo-Hager u.a. (2006): ungenügende Abklärung der Umstände des Todes einer Person nach polizeilicher Intervention (Art. 2 EMRK); Dembele (2013): ungenügende Abklärung des Vorwurfs der Misshandlung durch die Polizei (Art. 3 EMRK).

BGE 131 I 455 (Regeste): «Wer in vertretbarer Weise behauptet, von einem Polizeibeamten erniedrigend behandelt worden zu sein, hat Anspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung.» Z.B. Urteile Boultif (2001), Emre (2008 und 2011), Udeh (2013), M.P.E.V. (2014).

Z.B. Urteile Mengesha Kimpfe, Agraw (beide 2010), Hasanbasic (2013), Polidario (2013).

­

Personen- und Familienrecht: Hier hat die Strassburger Rechtsprechung Einfluss genommen auf das Namensrecht der Ehegatten110 und das Adoptionsrecht111.

­

Steuerrecht: In diesem Bereich hat die Rechtsprechung über die verfahrensrechtlichen Garantien112 hinaus auch im materiellen Recht Korrekturen nötig gemacht. Die wichtigste betrifft die im früheren Bundesrecht und in gewissen kantonalen Rechten bekannte Regelung, wonach die Erben bei Steuerhinterziehung durch den Erblasser nicht nur für den hinterzogenen Betrag, sondern auch für die Busse hafteten, welche der Erblasser hätte bezahlen müssen, wenn die Hinterziehung noch zu seinen Lebzeiten geahndet worden wäre.113

­

Ganz unterschiedliche Rechtsbereiche waren betroffen von Urteilen, in denen der EGMR eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit feststellte.

Die Urteile machen deutlich, dass der Strassburger Gerichtshof den Schutzbereich dieser Garantie weiter fasst als die innerstaatliche Praxis. Die Urteile haben Einfluss auf die Auslegung unterschiedlichster Normen des Bundesund des kantonalen Rechts, z.B. des Strafgesetzbuches114, der Gesetzgebung über Radio und Fernsehen115, der Gesetzgebung über den unlauteren Wettbewerb116, des Polizeirechts117 oder kantonaler Bestimmungen über die Ordnung in Gefängnissen118.

5.2.4

Umsetzung der Urteile durch Bund und Kantone

Nach Artikel 46 EMRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Urteile des Gerichtshofs zu befolgen (Abs. 1). Das Ministerkomitee des Europarats kontrolliert in jedem Einzelfall, ob die Staaten dieser Verpflichtung nachgekommen sind (Abs. 2).

Das Strassburger Kontrollverfahren ist erst mit der sog. Schlussresolution abgeschlossen; in dieser bestätigt das Ministerkomitee, dass der beteiligte Staat alle Verpflichtungen aus dem Urteil umgesetzt hat.

Die Verpflichtungen können individueller oder genereller Natur sein. Zur ersteren gehören nicht nur die Zahlung der dem Beschwerdeführer vom Gerichtshof zugesprochenen Entschädigung, sondern unter Umständen auch weitere Massnahmen zugunsten des Beschwerdeführers, wie beispielweise die Erteilung der von den innerstaatlichen Behörden verweigerten Bewilligung (zum Aufenthalt, zur Berufsausübung, zur Tragung eines bestimmten Namens etc.). Bei den Massnahmen genereller Natur stehen die Änderung einer bestehenden Praxis durch die rechtsanwen-

110 111 112 113 114 115

Urteile Burghartz (1994) und Losonci Rose und Rose (2010).

Urteil Emonet u.a. (2007).

Urteile J.B. (2001) und Chambaz (2012).

Urteile A.P., M.P., T.P. sowie E.L., R.L., J.O.-L. (beide 1997).

Z.B. Urteil Dammann (2006), Perinçek (2013, hängig vor der Grossen Kammer).

Z.B. Urteile Autronic (1990), Verein gegen Tierfabriken (2001 und 2009), Monnat (2006).

116 Urteil Hertel (1998).

117 Urteil Gsell (2009).

118 Urteil SRG (2012).

393

denden Behörden oder, soweit eine solche Anpassung nicht möglich ist, die Änderung des dieser Praxis zugrundeliegenden Gesetzes im Vordergrund.119 Die folgenden Ausführungen betreffen, im Zusammenhang mit den individuellen Massnahmen, die Revision bundesgerichtlicher Urteile. Die generellen Massnahmen werden insoweit behandelt, als sie Änderungen in der eidgenössischen oder kantonalen Gesetzgebung zum Gegenstand hatten.

Revision bundesgerichtlicher Urteile Den Urteilen des Gerichtshofs kommt keine kassatorische Wirkung zu; das ihnen zugrundeliegende letztinstanzliche innerstaatliche Urteil wird also nicht aufgehoben, sondern hat rechtlich weiterhin Bestand. Soweit nicht andere, pragmatische Wege eine effiziente Umsetzung des Urteils erlauben (indem z.B. die Bewilligung erteilt wird120), kann mit dem innerstaatlichen Rechtsmittel der Revision die Rechtskraft des innerstaatlichen Entscheids aufgehoben und die Sache im Lichte des Strassburger Urteils neu entschieden werden. Die Schweiz gehörte zu den Vertragsstaaten der EMRK, welche diese Möglichkeit der Revision bereits früh und umfassend eingeführt haben.121 Bis Ende 2013 hatte sich das Bundesgericht mit 25 Gesuchen zu befassen. 15 Gesuche wurden gutgeheissen, unter anderem in den Fällen Schuler-Zgraggen122, Erben P.123, Hertel124, VgT Verein gegen Tierfabriken125, Schlumpf126, Neulinger und Shuruk127. Das Bundesgericht hat zudem zwei Urteile publiziert, in denen das Gesuch abgelehnt wurde.128 Zur Behandlung des im Nachgang zum Urteil Kopp eingereichten Revisionsgesuchs war der Bundesrat zuständig (aArt. 66 Abs. 1 VwVG), der es mit Entscheid vom 19. Mai 1999 ablehnte.129 Die Beispiele zeigen, dass die Revision ein geeignetes Mittel ist, den Urteilen des EGMR im Einzelfall Nachachtung zu verschaffen. Einer parlamentarischen Initiative, welche die Streichung von Artikel 122 BGG verlangte130, wurde vom Nationalrat keine Folge gegeben.

Gesetzesänderungen: Auf Bundesebene Von den insgesamt 93 Entscheidungen, in denen die Strassburger Kontrollorgane eine Verletzung festgestellt haben (Stand Ende 2013), haben nur wenige unmittelbar zu einer Anpassung des Bundesrechts geführt. In manchen Fällen wurden die fraglichen Bestimmungen unabhängig vom Strassburger Verfahren im selben Zeitraum 119

120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

394

Vgl. A. Scheidegger, La surveillance de l'exécution des arrêts de la Cour européenne des droits de l'homme et ses implications pratiques, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Die EMRK und die Schweiz, St. Gallen 2010, S. 295 ff.

Für ein Beispiel vgl. Bundesgerichtsurteil 2A.363/2001 vom 6. November 2001.

Vgl. Art. 139a aOG, aArt. 66 VwVG, Art. 229 und aArt. 278bis aBStP; vgl. Botschaft des Bundesrates, BBl 1985 II 737, 860 ff.; 1991 II 465, 508 ff. Heute Art. 122 BGG.

BGE 120 V 150 BGE 124 II 480 BGE 125 III 185 BGE 136 I 158 BGE 137 I 86 BGE 137 III 332 Stürm I und II, BGE 123 I 283 und 329.

VPB 63.86 12.435, Parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion, «Kein Eingriff in die gerichtliche Eigenständigkeit der Schweiz».

revidiert; das Urteil des Gerichtshofs hat dann gewissermassen die eingeleitete Entwicklung bestätigt. Rechtsänderungen auf Bundesebene wurden insbesondere in folgenden Bereichen vorgenommen: ­

Beschwerde an ein Gericht bei Sanktionen im Militärstrafprozessrecht (Resolutionen des Ministerkomitees im Anschluss an die Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Sachen Eggs131 und Santschi132);

­

Befristete Ernennung zusätzlicher Ersatzrichter am Bundesgericht, um eine zeitgerechte Erledigung der Verfahren zu gewährleisten (Urteil Zimmermann und Steiner133);

­

Telefonabhörung: Neuregelung der Zuständigkeit für die Aussortierung von Inhalten, die unter das Berufsgeheimnis fallen (Urteil Kopp134);

­

Aufhebung der Sperrfrist, während welcher der schuldige Partner im Falle einer Scheidung wegen Ehebruchs nicht wieder heiraten durfte (Urteil F.135);

­

Keine Übertragung von Bussen des Steuerstrafrechts auf die Erben des Steuerpflichtigen (Urteil A.P., M.P. und T.P.136);

­

Gleichbehandlung der Ehegatten in Bezug auf das Namensrecht (Urteile Burghartz137 und Losonci Rose und Rose138);

­

Anspruch, trotz Dienstuntauglichkeit Militärdienst zu leisten und keine Ersatzabgabe leisten zu müssen (Urteil Glor139);

­

Verlängerung der Verjährungsfrist bei Personenschäden (Urteil Howald Moor u.a.140 betr. Asbestopfer; Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen).

Gesetzesänderungen: Auf kantonaler Ebene In gut einem Drittel der insgesamt 93 Entscheidungen, in denen die Strassburger Kontrollorgane bis Ende 2013 Verletzungen der EMRK festgestellt haben, lag der Ursprung der Verletzung in der kantonalen Gesetzgebung oder Praxis. Dabei stand mit Abstand das frühere kantonale Strafverfahrensrecht im Vordergrund; insgesamt 21 Urteile betrafen diesen Bereich. In anderen Urteilen ging es um Fragen aus den Bereichen Steuerstrafrecht, Strafvollzug, Datenschutz, Pressefreiheit, oder es ging um Verfahrensverletzungen in Zivil- oder Verwaltungsverfahren.141 In einzelnen dieser Fälle bedingte eine effiziente Umsetzung des Urteils die Änderung der gesetzlichen Grundlage. Das geschah etwa im Zusammenhang mit den Entscheidungen in folgenden Bereichen:

131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141

Bericht der Kommission vom 4. März 1978.

Bericht der Kommission vom 13. Okt. 1981.

Urteil vom 13. Juli 1983.

Urteil vom 25. März 1998.

Urteil vom 18. Dez. 1987.

Urteil vom 29. Aug. 1997.

Urteil vom 22. Febr. 1994.

Urteil vom 9. Nov. 2010.

Urteil vom 30. April 2009.

Urteil vom 11. März 2014.

Vgl. F. Schürmann, Die Kantone und die Umsetzung der Urteile des EGMR: Die Sicht des Bundes, in: S. Besson/E.M. Belser (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Kantone, Zürich 2014, S. 161 ff.

395

­

Haftrichter nach Artikel 5 Absatz 3 EMRK; Änderung der früheren StPO/BS bzw. StPO/SO (Bericht der Kommission i.S. Plumey bzw. Urteil des EGMR i.S. H.B.142);

­

Gerichtliche Überprüfung von Straffällen; Änderung des Waadtländer Gesetzes sur les sentences municipales (Urteil des EGMR i.S. Belilos143);

­

Öffentlichkeit des Strafverfahrens; Änderung der StPO/VD (Urteil i.S.

Weber144);

­

Verquickung richterlicher und anwaltlicher Tätigkeit; Änderung des Verwaltungsrechtspflegegesetzes/ZH (Urteil i.S. Wettstein145);

­

Fehlende gesetzliche Grundlage für Eingriff in die Pressefreiheit durch Verweigerung der Durchfahrt an das WEF; Erlass der einschlägigen Bestimmungen in der Polizeigesetzgebung des Kantons GR (Urteil i.S. Gsell146).

5.2.5

Exkurs: Die Bedeutung der EMRK in der Diskussion über das Verhältnis Völkerrecht und Landesrecht

In den letzten Jahren haben Volk und Stände wiederholt Volksinitiativen angenommen, die mit Bestimmungen des Völkerrechts, insbesondere der EMRK nur schwer oder nicht vereinbar sind147: ­

Bei der Initiative für die lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewalttäter (angenommen am 8. Februar 2004), konnten schliesslich Umsetzungsbestimmungen erlassen werden, die mit der Konvention als vereinbar betrachtet wurden.148

­

In seiner Botschaft zur Initiative gegen den Bau von Minaretten (angenommen am 29. Nov. 2009) hat der Bundesrat festgehalten, die neue Bestimmung verletze die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK). Der neue Artikel 72 Absatz 3 BV, der den Bau von Minaretten verbietet, bedarf keiner gesetzlichen Ausführungsbestimmungen. Derzeit ist unklar, wie sich der Widerspruch zur Konvention in einem konkreten Anwendungsfall auswirken würde.149

142 143 144 145 146 147

Bericht vom 8. April 1997; Urteil des EGMR vom 5. April 2001.

Urteil vom 29. April 1988.

Urteil vom 22. Mai 1990.

Urteil vom 21. Dez. 2000.

Urteil vom 8. Okt. 2009.

Volksinitiativen können wegen Verstosses gegen das Völkerrecht nur dann ungültig erklärt werden, wenn ein Widerspruch zu «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» vorliegt (vgl. Art. 139 Abs. 3 BV). Gemäss Praxis der Bundesbehörden fallen auch die notstandsfesten Garantien der EMRK (Art. 15 Abs. 2 EMRK) unter den Begriff der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Hingegen ist eine Volksinitiative bei blossem Verstoss gegen die übrigen ­ nicht notstandsfesten ­ Garantien der EMRK gültig zu erklären (vgl. Zusatzbericht Völkerrecht und Landesrecht (Anm. 83), BBl 2011 3625 ff).

148 Schweizerisches Strafgesetzbuch (Lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter), Änderung vom 21. Dez. 2007, AS 2008 2961.

149 Zwei unmittelbar nach der Abstimmung beim EGMR eingereichte Beschwerden wurden mangels Opfereigenschaft der Beschwerdeführer (die nicht geltend gemacht hatten, ein Baugesuch sei abgelehnt worden oder sie hätten ein solches eingereicht) für unzulässig erklärt, vgl. Unzulässigkeitsentscheide Ouardiri und Ligue des Musulmans de Suisse et autres, vom 28. Juni 2011.

396

­

Am 28. November 2010 haben Volk und Stände die Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer angenommen. Die bisherige Ausschaffungspraxis der Migrationsbehörden ist wesentlich auch von der Rechtsprechung des Gerichtshofs beeinflusst. Die Ausschaffungsinitiative verlangt die Ausweisung von Ausländerinnen und Ausländer, welche wegen bestimmter Straftaten verurteilt wurden oder missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben. Der von den neuen Verfassungsbestimmungen anvisierte Ausweisungsautomatismus steht im Konflikt mit dem Anspruch auf Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK).150 Noch bevor der Bundesrat am 26. Juni 2013 die Botschaft über die Umsetzung der Initiative verabschiedet hatte151, wurde Ende Dezember 2012 eine zusätzliche Initiative eingereicht, welche Vorgaben für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative festlegt (sogenannte «Durchsetzungsinitiative»). Sie bezweckt insbesondere, den Vorrang landesrechtlicher Bestimmungen über die Ausschaffung straffälliger Ausländer gegenüber den nicht zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts ­ also insbesondere Artikel 8 EMRK ­ zu verankern.152 Der Bundesrat hingegen beantragt dem Parlament, bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative einen vermittelnden Weg einzuschlagen, der ausgehend von den neuen Verfassungsbestimmungen auch den Menschenrechtsgarantien Rechnung trägt.153

Die genannten Volksinitiativen haben ein Spannungsverhältnis zwischen dem Initiativrecht und dem Völkerrecht deutlich gemacht; die Frage des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht hat damit in der politischen und öffentlichen Diskussion an Bedeutung gewonnen. Diese Auseinandersetzungen wurden teilweise mit Kritik an den Befugnissen des Gerichtshofs und an einzelnen Urteilen aus Strassburg verbunden (vgl. hiernach Ziff. 5.3). In Umsetzung zweier Motionen154 schlug der Bundesrat konkrete Massnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten vor; diese wurden jedoch in der Vernehmlassung kritisch aufgenommen und sollen deshalb nach Auffassung des Bundesrats nicht weiterverfolgt werden.155 Parlament und Bundesrat sind aber weiterhin bestrebt, sachgerechte und politisch mehrheitsfähige Lösungen zu entwickeln.

150

151

152

153 154 155

Botschaft vom 24. Juni 2009 zur Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)» und zur Änderung des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer, BBl 2009 5097.

Botschaft vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Umsetzung von Art. 121 Abs. 3­6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer), BBl 2013 5975.

Die Initiative enthält weiter eine enge Definition des zwingenden Völkerrechts. Der Bundesrat beantragte deshalb dem Parlament, die Initiative in Bezug auf die Definition des zwingenden Völkerrechts für teilungültig zu erklären (Botschaft vom 20. Nov. 2013 zur Volksinitiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer [Durchsetzungsinitiative]», BBl 2013 9459).

Botschaft Umsetzung von Art. 121 Abs. 3­6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer (Anm. 151), BBl 2013 5975.

Motion 11.3751 der SPK-S und Motion 11.3468 der SPK-N.

Bericht des Bundesrates vom 19. Febr. 2014 zur Abschreibung der Motionen 11.3468 und 11.3751 der beiden Staatspolitischen Kommissionen über Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten, BBl 2014 2337.

397

5.3

Kritik an der Rechtsprechung des EGMR

Kritik an der Strassburger Rechtsprechung hat es immer gegeben, in der Schweiz156 und auch in anderen Vertragsstaaten der EMRK. Sie kommt vereinzelt und mit Zurückhaltung auch in Erwägungen bundesgerichtlicher Urteile zum Ausdruck157; etwas verbreiteter ist sie in der Literatur und, vor allem in jüngerer Zeit, in den Medien. Vermehrt melden sich aber auch Stimmen aus der Politik und der Zivilgesellschaft zu Wort, welche die Bedeutung und Verdienste der Konvention für die Schweiz hervorheben.158 Der EGMR legt die Konvention dynamisch-evolutiv und die in ihr verwendeten Rechtsbegriffe autonom aus, d. h. unabhängig von ihrer Bedeutung im nationalen Recht. Letzteres hat insbesondere zu einer bedeutenden Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Artikel 6 EMRK geführt, eine Entwicklung, die auch in der Schweiz kritisch begleitet wurde.159 Der dynamisch-evolutive Ansatz und das damit verbundene Verständnis der Konvention als «instrument vivant» haben dazu geführt, dass im Lauf der Zeit neue Rechtsstreitigkeiten, auch solche, die innerstaatlich primär als strafrechtliche, zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Streitigkeiten behandelt wurden, in Strassburg unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten neu geprüft wurden.160 Beispiele liefern Urteile des EGMR wie in den Fällen Stoll (2007) betreffend Auslegung von Artikel 293 StGB im Lichte von Artikel 10 EMRK161, Emonet u.a. (2007) betreffend Auslegung der adoptionsrechtlichen Bestimmungen des ZGB im Lichte von Artikel 8 EMRK162, oder Glor (2009) betreffend Auslegung der Bestimmungen über den Militärpflichtersatz im Lichte der Artikel 8 und 14 EMRK163.

Der EGMR verfolgt in seinen Urteilen einen einzelfallbezogenen Ansatz; Verletzungen werden einzelfallbezogen begründet, sodass Rückschlüsse auf andere, ähnlich (aber nicht gleich) gelagerte Fälle nur beschränkt möglich sind. Neben der Einbusse an Rechtssicherheit wird auch der Umstand kritisiert, dass auf diese Weise Entscheidungen des Gesetzgebers einzelfallweise umgestossen werden können.164

156 157

158

159 160

161 162 163 164

398

Nachweise bis 1999 bei M.E. Villiger (Anm. 86), S. 33 ff.

Vgl. etwa BGE 114 Ia 84, 88; 120 Ia 43, 46; 133 I 33, 43; 137 I 86. Vgl. auch NZZ vom 2.11.2013, «Wir widersprechen Strassburg durchaus» (Interview mit Bundesrichter A. Zünd).

Vgl. etwa foraus (Forum für Aussenpolitik), Die Schweiz braucht die EMRK ­ die EMRK braucht die Schweiz. Zum Wert des internationalen Menschenrechtsschutzes für die Schweiz, Diskussionspapier, 2. Aufl. 2011, www.foraus.ch; vgl. auch die Dokumentation des Vereins «Unser Recht», www. unser-recht.ch.

Nachweise bei A. Haefliger/F. Schürmann (Anm. 87), S. 452 f.

Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. etwa B. Pfiffner/S. Bollinger, Ausweitung konventionsgeschützter Rechte durch den EGMR und Probleme der innerstaatlichen Umsetzung, Jusletter, 21. November 2011; H. Seiler, Einfluss des europäischen Rechts und der europäischen Rechtsprechung auf die schweizerische Rechtspflege, ZBJV 150 (2014) S. 265, 310 ff. Vgl. auch J.P. Müller, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa, ZSR 124 (2005) II, S. 9, 16.

Vorentscheid des Bundesgerichts in BGE 126 IV 236; Regeste: «Die Pressefreiheit rechtfertigt tatbestandsmässiges Verhalten nicht.» Vorentscheid des Bundesgerichts in BGE 129 III 656. E. 5.3.1: Art. 8 EMRK gibt kein Recht, eine Form der Adoption zu verlangen, die im Gesetz nicht vorgesehen ist.

Vorentscheid in BGE 2A.590/2003 (mangels entsprechender Rügen keine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Konvention).

H. Seiler (Anm. 160), S. 354 ff.

Im Zusammenhang mit den vom EGMR anerkannten positiven Verpflichtungen der Vertragsstaaten, zum Schutz der Konventionsgarantien tätig zu werden, wird die Frage aufgeworfen, ob für diese Erweiterung des Schutzbereichs überhaupt eine genügende Legitimation bestehe.165 Breiter abgestützt ist die Kritik, der Gerichtshof urteile häufig wie eine mit umfassender Kognition ausgestattete Rechtsmittelinstanz (sog. Vierte Instanz ­ Rechtsprechung) und stelle bei der Überprüfung sein Ermessen an die Stelle desjenigen der innerstaatlichen Gerichte. Unter anderem diese Kritik hat auch Eingang gefunden in die politischen Erklärungen, welche an den Reformkonferenzen von Interlaken (2010), Izmir (2001) und Brighton (2012) verabschiedet wurden.166 Eine weitere Kritik, wie die vorstehende das Verhältnis des EGMR zu den innerstaatlichen Höchstgerichten betreffend, ist prozessualer Natur. Sie liegt darin begründet, dass der Gerichtshof bisweilen auch Rügen prüft, welche das nationale Gericht mangels Beachtung von im innerstaatlichen Recht aufgestellten Formvorschriften (z. B. dem Rügeprinzip nach Art. 106 BGG) nicht zu prüfen hatte.167 Im Anschluss an zwei jüngere Urteile168 wurde auf die Problematik hingewiesen, die darin besteht, dass der Gerichtshof sein Urteil auch (und im konkreten Fall in erster Linie) auf neue Sachverhaltselemente abstützt, die sich erst nach dem letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheid ereignet haben.169 Das wirft nicht nur Fragen im Zusammenhang mit der Revision des in Strassburg kritisierten Urteils auf, sondern steht auch in gewissem Konflikt mit dem Subsidiaritätsprinzip.

Auch einzelne Urteile des Gerichtshofs waren immer wieder Gegenstand der Kritik.

Im Zusammenhang mit dem Urteil in Sachen Belilos (1988) wurde gar die Option der Kündigung der Konvention erörtert (dazu unten Ziff. 7). In der Folge wurden Urteile kritisiert wie Burghartz (1994) betreffend Namensrecht der Ehegatten170, Emonet u. a. (2007) betreffend Adoption im Konkubinatsverhältnis171, die Rechtsprechung zum unbedingten Replikrecht172, Urteile wie Association Rhino (2011) betreffend Auflösung eines rechtswidrigen Vereins173 oder Gross (2013) betreffend Sterbehilfe174. Auf besonderes, vorab mediales und politisches Interesse stossen Urteile in ausländerrechtlichen Fällen. Hier geht es meist um den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens; Gegenstand der Prüfung ist die Verweige165 166 167 168 169

170 171 172

173 174

H. Seiler (Anm. 160), S. 311 f; B. Pfiffner/S. Bollinger (Anm. 160), S. 7 f.; BGE 137 I 86, 100.

Vgl. z.B. Interlaken, Aktionsplan E., Ziff. 9 a und b.

Vgl. H. Aemisegger (Anm. 84), S. 45, 68 ff.

Urteile Udeh gegen die Schweiz vom 16. April 2013 und Hasanbasic gegen die Schweiz vom 11. Juni 2013.

H. Seiler (Anm. 160), S. 323; kritisch auch BGE 139 I 325. Grundlegend zur Sachverhaltsfeststellung durch den Gerichtshof vgl. S. Schürer, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Tatsacheninstanz. Zur Bedeutung divergierender Sachverhaltsfeststellungen durch den EGMR am Beispiel einiger Schweizer Fälle, EuGRZ 2014, S. 512 ff.

H. Hausheer, Der Fall Burghartz ­ oder: Vom bisweilen garstigen Geschäft der richterlichen Rechtsharmonisierung in internationalen Verhältnissen, EuGRZ 1995, S. 579 ff.

F. Schürmann, Adoption im Konkubinatsverhältnis ­ Zum Urteil des EGMR in Sachen Emonet u.a. gegen die Schweiz vom 13. Dezember 2007, ZBJV 144 (2008), S. 262 ff.

P. Goldschmid, Auf dem Weg zum endlosen Schriftenwechsel? Zum jüngsten die Schweiz betreffenden Urteil des EGMR zum Thema Gewährung des rechtlichen Gehörs, ZBJV 138 (2002), S. 281 ff.

M. Schubarth, Donnerschlag aus Strassburg, Weltwoche Ausgabe 40/2011.

M. Schubarth, Völkerrechtlicher Rasenmäher, Weltwoche Ausgabe 10/2014.

399

rung oder Nichtverlängerung ausländerrechtlicher Bewilligungen. Nach vereinzelten früheren Urteilen (Gül [1996] betreffend Familienzusammenführung, keine Verletzung; Boultif [2001] betreffend Nichtverlängerung nach Straffälligkeit, Verletzung) hat ihre Zahl in letzter Zeit zugenommen: Seit 2012 hat der EGMR zehn einschlägige Beschwerden beurteilt, vier davon wurden gutgeheissen (Udeh [2013], betreffend Ausweisung nach Straffälligkeit; Hasanbasic [2013], Polidario [2013] und M.P.E.V.

[2014], alle betreffend Familienzusammenführung); die anderen sechs wurden abgewiesen (Kissiwa Koffi [2012] und Shala [2012], beide betreffend Ausweisung nach Straffälligkeit; Berisha [2013], Familienzusammenführung; Vasquez [2013], Palanci [2013] und Ukaj [2014], alle betreffend Ausweisung nach Straffälligkeit).

Dass die Kritik in letzter Zeit lauter geworden ist, hängt aber auch mit der seit einigen Jahren intensiv geführten Diskussion über das Verhältnis der EMRK zu Volksinitiativen zusammen. Gewisse Initiativen der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass ihre Umsetzung im konkreten Anwendungsfall zu Konflikten mit der EMRK und letztlich zu Verurteilungen durch den EGMR führen könnte.175

6

Einfluss der Schweiz auf die EMRK und den EGMR

So wie die EMRK und die Rechtsprechung des Gerichtshofs die schweizerische Rechtsordnung beeinflusst haben, hat umgekehrt auch die Schweiz das Strassburger Kontrollverfahren mitgeprägt.

6.1

Personelles

Wie jeder Vertragsstaat hat auch die Schweiz das Recht, im Gerichtshof einen Richter oder eine Richterin zu stellen. Das Gleiche galt für die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte, welche mit Protokoll Nr. 11 zur EMRK zugunsten des neuen, vollamtlichen Gerichtshofs aufgehoben wurde. Im vorliegenden Zusammenhang verdient Erwähnung, dass Kommission und Gerichtshof während vieler Jahre vom jeweiligen Schweizer Mitglied präsidiert wurden.176 Eine weitere Besonderheit hängt damit zusammen, dass die Richterinnen und Richter nicht die Staatsangehörigkeit des Staates besitzen müssen, für den sie gewählt werden. Das Fürstentum Liechtenstein ist seit 1998 durch Schweizer Juristen vertreten177, mit der Folge, dass in der aktuellen Zusammensetzung des Gerichtshofs zwei Mitglieder schweizerischer Nationalität amten.

175

Oben Ziff. 5.2.5 sowie Bericht Verhältnis Völkerrecht und Landesrecht (Anm. 83), BBl 2010 2263; Zusatzbericht Völkerrecht und Landesrecht (Anm. 83), BBl 2011 3613; vgl. auch BGE 139 I 16.

176 Für die Kommission: Stefan Trechsel (1995­1999); für den Gerichtshof: Luzius Wildhaber (1999­2007).

177 Lucius Caflisch (1998­2006); Mark E. Villiger (seit 2006).

400

6.2

Inhaltliches

Im Zusammenhang mit der inhaltlichen Beeinflussung der Konvention und des Gerichtshofs sind einerseits gewisse Urteile zu nennen, andererseits die Reform des Kontrollverfahrens.

6.2.1

Rechtsprechung

Von den bis Ende 2013 gefällten ca. 17 000 Urteilen (nur Gerichtshof) betreffen nur 127 die Schweiz178, also nicht einmal 1 %. Gleichwohl kann man festhalten, dass verschiedene Urteile für die Entwicklung der Rechtsprechung grosse Bedeutung erlangt haben und in der Folge immer wieder herangezogen wurden. Das gilt namentlich für folgende Urteile: ­

Minelli (1983): Grundsatzurteil zur Zulässigkeit der Auflage von Verfahrenskosten trotz Einstellung des Strafverfahrens;

­

Belilos (1988): Umschreibung der Voraussetzungen, die an die Gültigkeit von Vorbehalten zur EMRK zu stellen sind;

­

W. (1993): Grundsatzurteil zur Dauer der Untersuchungshaft;

­

Gül (1996): Grundsatzurteil zur Abwägung des Rechts auf Achtung des Familienlebens und dem Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Begrenzung der Einreisebewilligungen im Bereich des Familiennachzugs);

­

Balmer-Schafroth u.a. (1997): Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 EMRK auf Verfahren zur Bewilligung von Kernkraftwerken;

­

Boultif (2001): Grundsatzurteil zur Abwägung des Rechts auf Achtung des Familienlebens und dem Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Ausweisung straffälliger ausländischer Personen). Die in diesem Urteil zur Abwägung entwickelten Kriterien fanden in der Folge als die sog.

«Boultif-Kriterien» Eingang in die Praxis.

Hervorzuheben ist weiter, dass die Schweiz eine vergleichsweise hohe Anzahl von Fällen aufzuweisen hat, die von der Grossen Kammer des Gerichtshofs beurteilt werden.179 Dieser Spruchkörper beschäftigt sich nur mit Beschwerden, die eine «schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung» der Konvention oder «eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung» aufwerfen (Art. 43 Abs. 2 EMRK). Als Beispiele seien genannt:

178 179

­

Stoll (2007): Vertraulichkeit im diplomatischen Verkehr; Vereinbarkeit einer Verurteilung eines Journalisten wegen Verletzung von Artikel 293 StGB mit Artikel 10 EMRK (Meinungs- und Pressefreiheit);

­

VgT Verein gegen Tierfabriken Nr. 2 (2009): Abgrenzung der Kompetenz des Gerichtshofs zur Beurteilung (neuer) Beschwerden (Art. 19 und 32 EMRK) und der Kompetenz des Ministerkomitees, den Vollzug früherer Urteile (hier: VgT Nr. 1 [2001]) zu überwachen (Art. 46 Abs. 2 EMRK);

Vgl. Anhang 9.

Vgl. G. Malinverni (Anm. 71); zu den Zahlen vgl. oben Ziff. 4.4.2.

401

­

Neulinger und Shuruk (2010): Anspruch auf Schutz des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK und Verpflichtungen aus dem Haager Übereinkommen über internationale Kindsentführungen;

­

Tarakhel: Überstellung von Asylbewerbern nach Italien gestützt auf Dublin II;

­

Gross (Urteil der Kammer von 2013; Urteil der Grossen Kammer vom 30. September 2014): Sterbehilfe; Qualität der gesetzlichen Grundlage;

­

Al Dulimi und Montana Management Inc. (Urteil der Kammer von 2013, vor der Grossen Kammer hängig): Verhältnis der Verpflichtungen aus Artikel 6 EMRK (Zugang zum Gericht) einerseits und Resolutionen des UN-Sicherheitsrats andererseits.

6.2.2

Reform der Institutionen

Gründe und Gegenstand der Reformen, die das ursprünglich in der EMRK vorgesehene Kontrollsystem im Laufe der Jahrzehnte erfahren hat, wurden bereits oben unter Ziffer 2.2. beschrieben. An dieser Stelle ist der Hinweis auf die Rolle zu ergänzen, welche die Schweiz in diesem Prozess gespielt hat.

Die erste grosse Reformphase wurde mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 abgeschlossen; seither amtet in Strassburg der neue, vollamtliche Gerichtshof, die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte wurde aufgehoben. Die Idee einer solchen «Fusion» der beiden Organe wurde auf politischer Ebene erstmals von der Schweiz 1985 in Wien an der Europäischen Ministerkonferenz über Menschenrechte vorgestellt.180 Die Reform konnte schliesslich 1998 in Kraft treten.

Die zweite Phase war mit Protokoll Nr. 14 abgeschlossen, das weitere wichtige Massnahmen zur Entlastung des Gerichtshofs vorsah. Auch bei der Vorbereitung dieses Änderungsprotokolls hat die Schweiz, zusammen mit anderen Staaten, eine führende Rolle gespielt.181 Das Protokoll Nr. 14 konnte 2010 in Kraft treten, nachdem mit Russland der letzte der damals 46 Vertragsstaaten der Konvention ratifiziert hatte.

Die Ratifizierung durch Russland erfolgte an der Interlakener Ministerkonferenz über die Zukunft des Gerichtshofs. Bereits darin lag ein politisch bedeutender Erfolg der Konferenz, nachdem Russland das Inkrafttreten des Protokolls lange Zeit blockiert hatte. Die Konferenz leitete zugleich die dritte grosse Reformphase ein, in deren Rahmen auf der Grundlage konkreter Aktionspläne über kurz-, mittel- und langfristige Reformmassnahmen diskutiert wird. Nachfolgekonferenzen fanden 2011 180

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 23. Nov. 1994 über die Genehmigung des Protokolls Nr. 11 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 11. Mai 1994 betreffend Umgestaltung der in dieser Konvention vorgesehenen Kontrollmechanismen (Europäisches Übereinkommen Nr. 155), BBl 1995 I 999; O. Jacot-Guillarmod (Hrsg.), La fusion de la Commission et de la Cour Européennes des Droits de l'Homme, 2e Séminaire de droit international et de droit européen de l'Université de Neuchâtel, Kehl, Strassburg, Arlington 1987.

181 Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 4. März 2005 über die Genehmigung des Protokolls Nr. 14 vom 13. Mai 2004 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention, BBl 2005 2119.

402

in Izmir und 2012 in Brighton statt; eine weitere wird im Frühjahr 2015 in Brüssel stattfinden.

7

Kündigung

7.1

Grundsätzliche Möglichkeit von Kündigung und Wiederbeitritt

Nach Artikel 58 kann die Konvention frühestens fünf Jahre nach dem Beitritt und unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten gekündigt werden (Abs. 1). Der Vertragsstaat bleibt verantwortlich für Handlungen, welche er vor dem Wirksamwerden der Kündigung vorgenommen hat (Abs. 2).

Die Kündigung der EMRK umfasst zwingend auch die Kündigung sämtlicher Zusatzprotokolle; umgekehrt wird die Kündigung nur eines (oder mehrerer oder aller) Zusatzprotokolle überwiegend als zulässig erachtet.182 Eine Kündigung steht einem späteren Wiederbeitritt nicht entgegen, ohne dass dies der Zustimmung der anderen Vertragsstaaten bedürfte. Auch ein späterer Wiederbeitritt mit (neuen) Vorbehalten erscheint nicht per se als ausgeschlossen (s. aber unten Ziff. 7.4).

In der Praxis der EMRK gab es bisher nur einen Anwendungsfall: Griechenland hatte die Konvention unter dem Militärregime 1969 gekündigt, sie dann aber 1974 (vorbehaltslos) wieder ratifiziert.

In der Schweiz war die Frage einer Kündigung der EMRK bislang einmal aktuell.

Im Urteil Belilos gegen die Schweiz von 1988 qualifizierte der Gerichtshof eine von der Schweiz angebrachte auslegende Erklärung als Vorbehalt und sah diesen als ungültig an (vgl. Ziff. 4.2.3). Im Ständerat wurde in der Folge ein Postulat eingereicht, in dem der Bundesrat eingeladen wurde, «gegebenenfalls die vorsorgliche Kündigung der EMRK in die Wege zu leiten». Der Ständerat lehnte die Überweisung des Postulats nur knapp mit 16:15 Stimmen, mit Stichentscheid des Präsidenten, ab. Die Debatten im Rat lassen jedoch erkennen, dass auch die Parlamentarier, die den Vorstoss befürworteten, nicht eine eigentliche Kündigung der Konvention in Betracht zogen; ihre Unterstützung bezog sich auf eine Art Moratorium zur Regelung der Situation, die mit dem Wegfall des Vorbehalts entstanden war.183

7.2

Kündigung und Mitgliedschaft im Europarat

Nach Artikel 59 Absatz 1 EMRK liegt die EMRK für die Mitglieder des Europarates zur Unterzeichnung auf. Konsequenterweise bestimmt Artikel 58 Absatz 3 EMRK, dass das Ende der Mitgliedschaft eines EMRK-Vertragsstaats im Europarat der Kündigung der Konvention gleichgestellt ist.

Eine ausdrückliche Regelung der umgekehrten Konstellation fehlt, sodass davon auszugehen ist, dass eine Kündigung der EMRK nicht ohne weiteres das Ende der Mitgliedschaft im Europarat zur Folge hat. Allerdings besteht unter den Europarats182

Botschaft des Bundesrates vom 7. Mai 1986 über die Genehmigung der Protokolle Nr. 6, 7 und 8 zur EMRK, BBl 1986 II 589, 594; Karpenstein/Mayer (Anm. 74), N 8 zu Art. 59.

183 AB S 1988 554 ff.; A. Haefliger/F. Schürmann (Anm. 87), S. 47; H. Aemisegger (Anm.

84), S. 47.

403

staaten Konsens darüber, dass die EMRK und ihre Zusatzprotokolle zum Kern der Wertegemeinschaft des Europarats gehören. Eine Kündigung würde deshalb in Konflikt geraten mit Artikel 3 der Satzung des Europarats, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, für jede seiner Jurisdiktion unterliegende Person die Teilhabe an den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Diese Einschätzung wird bestätigt durch den Umstand, dass von den Staaten, die seit Beginn der Neunzigerjahre dem Europarat beigetreten sind, jeweils die verbindliche Zusage abverlangt wurde, gleichzeitig mit dem Beitritt die Konvention und die wichtigsten ihrer Zusatzprotokolle zu unterzeichnen und innerhalb eines Jahres zu ratifizieren.184 Die gelegentlich geäusserte Annahme, eine Kündigung der EMRK bliebe ohne schwerwiegende Konsequenzen, erscheint unter diesen Umständen verfehlt. Es wäre im Gegenteil mit Reaktionen seitens der anderen Vertragsstaaten zu rechnen, der kündigende Staat könnte unter Druck gesetzt werden, den Europarat zu verlassen; als ultima ratio sieht Artikel 8 der Satzung des Europarates zudem für den Fall eines schweren Verstosses gegen Artikel 3 der Satzung auch die Möglichkeit eines Ausschlusses vor.185 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der betreffende Staat im Fall eines Neubeitritts zum Europarat wiederum die Verpflichtung eingehen müsste, die Konvention und ihre wichtigsten Zusatzprotokolle zu ratifizieren. Zu letzteren gehören auch die Protokolle Nr. 1, 4 und 12, welche heute für die Schweiz nicht gelten.

In seiner Antwort auf die Interpellation Brunner186 hat der Bundesrat die Auffassung bekräftigt, dass «eine Kündigung der EMRK aus politischen und juristischen Gründen nicht infrage [kommt]. Auf internationaler Ebene hätte eine Kündigung gravierende Nachteile für die politische Glaubwürdigkeit unseres Landes zur Folge. Die Kündigung würde zwingend das Ausscheiden aus dem Europarat bedingen, zu dessen menschenrechtlichen und demokratischen Grundwerten sich die Schweiz bekannt hat ­ wobei sie dieses Jahr auch die 50-jährige Mitgliedschaft beim Europarat begeht.» Eine Kündigung der Konvention wäre jedoch nicht nur ein negatives Signal für die übrigen Mitgliedstaaten des Europarates, welches die Verbindlichkeit der EMRK in Frage stellen würde. Auch aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner
unseres Landes wären die Konsequenzen gravierend: Zwar würden die Menschenrechte in der Schweiz auch im Falle einer Kündigung der Konvention weitestgehend eingehalten, weil das schweizerische Recht meist deckungsgleich mit der EMRK ist. Dennoch würde sich die Schweiz von der Rechtsfortentwicklung des EGMR abkoppeln, und es bliebe acht Millionen Menschen in der Schweiz der Zugang zu einer zentralen Einrichtung des internationalen Menschenrechtsschutzsystems zur Geltendmachung ihrer Menschenrechte inskünftig verwehrt.

7.3

Weitergeltung völkerrechtlicher Verpflichtungen trotz Kündigung

In seiner Antwort auf die Interpellation Brunner hat der Bundesrat zudem daran erinnert, dass auch bei einer Kündigung der EMRK der Grundrechtskatalog der Bundesverfassung sowie andere völkerrechtliche Verpflichtungen in Kraft bleiben 184 185 186

404

Karpenstein/Mayer (Anm. 74), N 7 zu Art. 59.

Vgl. auch W. Kälin/S. Schlegel (Anm. 61), S. 22 ff., publiziert auf www.skmr.ch.

Interpellation 13.3237 vom 23.12.2011. Kündigung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

würden, deren Inhalt mit den Garantien der Konvention weitgehend deckungsgleich ist. Damit sind insbesondere die Garantien des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte angesprochen, der für die Schweiz 1992 in Kraft getreten ist.187 Anders als die EMRK sieht der Pakt keine Möglichkeit der Kündigung vor, sodass dessen Kündbarkeit nach den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention188 zu beurteilen ist. Artikel 56 Absatz 1 dieser Konvention lässt bei Fehlen einer ausdrücklichen Kündigungsregelung im Vertrag die Kündigung nur zu, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien diese Möglichkeit zulassen wollten, oder wenn sich ein Recht auf Kündigung aus der Natur des Vertrags ergibt. Weder die eine noch die andere Voraussetzung wird für den Pakt als erfüllt angesehen, sodass die Kündbarkeit dieses Instruments, das wie erwähnt weitgehend gleiche Garantien wie die EMRK enthält, allgemein verneint wird.189 Eine Kündigung der EMRK hätte ausserdem keinen Einfluss auf die Weitergeltung der Garantien, die zum Völkergewohnheitsrecht gezählt werden können.190

7.4

Kündigung und Wiederbeitritt mit neuem Vorbehalt

Wie erwähnt (s. Ziff. 7.1) lässt die EMRK, jeweils unter gewissen Voraussetzungen, sowohl die Kündigung (Art. 58) als auch den Beitritt mit Vorbehalten (Art. 57) zu.

Die Frage, ob auch eine Kündigung mit späterem Wiederbeitritt unter Anbringung neuer Vorbehalte zulässig ist, wurde vom Gerichtshof bisher noch nicht entschieden.

Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage im Zusammenhang mit der revidierten auslegenden Erklärung der Schweiz zu Artikel 6 EMRK befasst. Es hat die Zulässigkeit für den Fall in Frage gestellt, dass die Kündigung einzig deshalb erfolgt, um die Konvention sofort wieder mit einem neuen Vorbehalt zu ratifizieren.191 Ein solches Vorgehen könnte, so das Bundesgericht, dem Geist der Konvention widersprechen, da diese nur die Möglichkeit vorsehe, die völkerrechtliche Bindung mit der Zeit durch Rückzug von Vorbehalten zu verstärken, aber nicht die Möglichkeit, die Wirksamkeit einzelner Bestimmungen der EMRK nachträglich ausser Kraft zu setzen. Ein solches Vorgehen müsste zudem «wohl auch als rechtsmissbräuchlich angesehen werden». Die Auffassung wird in der Lehre geteilt, mit dem Hinweis, dass das Kontrollsystem der EMRK andernfalls aus den Angeln gehoben werden könnte, weil jeder Staat, dem ein Urteil des Gerichtshofs missfällt, die EMRK kündigen, einen Vorbehalt zum Urteil anbringen und die Konvention dann gleich wieder

187 188 189

SR 0.103.2 SR 0.111 Botschaft des Bundesrates vom 30. Jan. 1991 betreffend den Beitritt der Schweiz zu den beiden internationalen Menschenrechtspakten von 1966 und zu einer Änderung des Bundesrechtspflegegesetzes, BBl 1991 I 1189, 1208; W. Kälin/J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 3. Aufl., Basel 2013, S. 159; M. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, 2nd ed., Kehl, Strassburg, Arlington 2005, Introduction N 32 ff. ; vgl.

auch Menschenrechtsauschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 26 (1997), Ziff. 2 und 3.

190 Karpenstein/Mayer (Anm. 74), N 2 zu Art. 58. Näher zu Begriff und Inhalt des Völkergewohnheitsrechts W. Kälin/J. Künzli (Anm. 189), S. 76 ff.

191 BGE 118 Ia 473, 487, Erw. 7 c) cc)

405

ratifizieren könnte. Es sei kaum ein Zufall, dass sich bisher noch kein Vertragsstaat auf einen derart fragwürdigen Weg begeben hat.192 Der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs dürfte allerdings umso schwächer werden, je loser die Verbindung zwischen dem Motiv der Kündigung und dem Inhalt des neuen Vorbehalts und je mehr Zeit zwischen der Kündigung und dem Wiederbeitritt verstrichen ist. Es erscheint mit anderen Worten nicht von vornherein unzulässig, dass ein Staat die Konvention kündigt (ohne die Absicht, anschliessend wieder mit neuen Vorbehalten zu ratifizieren), dann aber Jahre später, unter veränderten Bedingungen, den Wiederbeitritt erwägt, unter Anbringung derjenigen Vorbehalte, die sich dannzumal, im Licht der Anforderungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der innerstaatlichen Rechtsordnung, als notwendig erweisen.

Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang weiter, dass es kaum möglich sein dürfte, einen rechtsgültigen Vorbehalt zu formulieren, der den damit verfolgten Interessen gerecht wird. Vorbehalte können gemäss Artikel 57 EMRK nur in Bezug auf einzelne Bestimmungen der Konvention angebracht werden, soweit ein bereits geltendes Gesetz mit der Bestimmung nicht vereinbar ist. Nicht zulässig sind Vorbehalte allgemeiner Art oder solche, die sich auf künftige Regelungen beziehen. Über die Gültigkeit eines Vorbehalts entscheidet der Gerichtshof. Es ist somit etwa nicht denkbar, einen Vorbehalt anzubringen, mit dem die Möglichkeit abgesichert würde, mit der Konvention unvereinbare Verfassungsbestimmungen zu erlassen und anzuwenden.193

7.5

Kompetenz zur Kündigung und obligatorisches Referendum beim Wiederbeitritt

In ihrem Gutachten vom 14. Juni 2006 betreffend die «Zuständigkeit der Verwaltungseinheiten für den Abschluss und die Auflösung internationaler Vereinbarungen.

Recht und Praxis in der Schweiz»194 gehen die Direktion für Völkerrecht und das Bundesamt für Justiz gestützt auf Artikel 184 Absatz 1 BV von der grundsätzlichen Zuständigkeit des Bundesrates zur Kündigung internationaler Verträge aus. Gleichzeitig wird festgehalten, dies schliesse die Genehmigung der Kündigung durch das Parlament und auch deren Unterstellung unter das Referendum nicht aus. Ein solches Verfahren für die Vertragsauflösung komme jedoch nur in Betracht, wenn es bereits beim Vertragsabschluss vorgesehen war oder wenn es sich um besonders wichtige Verträge handelt (unter Anführung der EMRK als Beispiel).

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil von 2011, das allerdings keine Kündigung, sondern die Nichtweiterführung eines formell bereits nicht mehr anwendbaren völkerrechtlichen Vertrags betraf, ausgeführt, eine solche Nichtweiterführung durch einseitigen Akt des Bundesrates ohne Mitwirkung der Bundesver-

192

L. Wildhaber, Rund um Belilos. Die schweizerischen Vorbehalte und auslegenden Erklärungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Verlaufe der Zeit und im Lichte der Rechtsprechung, FS Batliner (1993), S. 323, 335; vgl. auch Karpenstein/Mayer (Anm. 74), N 4 zu Art. 58, m.w.H.

193 Vgl. W. Kälin/S. Schlegel (Anm. 61), S. 39 f.

194 Mitteilung der Direktion für Völkerrecht des EDA und des Bundesamtes für Justiz des EJPD vom 14. Juni 2006, VPB 70.69.

406

sammlung sei nicht ausdrücklich geregelt und mit Blick auf Artikel 166 Absatz 1 BV «jedenfalls problematisch und in der Lehre umstritten.»195 Die EMRK enthält umfassende Bestimmungen über die Menschenrechte und Grundfreiheiten des Einzelnen, vergleichbar dem Grundrechtskatalog der Bundesverfassung. Die Konvention hat im Laufe der Jahrzehnte die innerstaatliche Rechtsordnung stark beeinflusst. Unabhängig davon, wie man diese Entwicklung bewertet, scheint eine Kündigung der EMRK ohne Einbezug des Parlaments heute nicht mehr denkbar. Was den Umfang dieses Einbezugs betrifft, so sollte gemäss einem Teil der Lehre das Parlament bei einer Kündigung von solcher Tragweite nicht nur informiert oder konsultiert, sondern es sollte ihm die Möglichkeit gegeben werden, sich diesbezüglich für einen referendumspflichtigen Bundesbeschluss zu entscheiden, da es sich um eine Kündigung von ausserordentlicher politischer Tragweite handelt.196 Was die Frage eines allfälligen Wiederbeitritts zur EMRK anbelangt, so geht die Praxis der Bundesbehörden im Einklang mit der Lehre davon aus, dass ein Staatsvertrag ­ neben dem in Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV erwähnten Fall ­ auch dann zwingend der Zustimmung von Volk und Ständen bedarf, wenn ihm eine Bedeutung beigemessen werden muss, die ihn auf die Stufe der Bundesverfassung hebt («Staatsverträge mit verfassungsmässigem Charakter»). Dementsprechend ist davon auszugehen, dass ein allfälliger Wiederbeitritt zur EMRK dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum unterliegen würde.

8

Bilanz und Zukunftsperspektiven

8.1

Kleiner Anfang ­ rasche Entwicklung

Unser Land hat die Konvention 1974, nach Überwindung verschiedener verfassungsrechtlicher Hürden, in einer positiven Grundhaltung und in der Überzeugung ratifiziert, «dass die Schweiz es sich schuldig ist, an der bedeutsamen Entwicklung teilzunehmen, die zum Ziel hat, den Schutz der Menschenrechte zu internationalisieren».197 Unter Hinweis auf einen früheren Bericht hielt der Bundesrat damals weiter fest, «der Aufgabe, die individuellen Grundfreiheiten zu sichern und zu entwickeln, komme höchste Bedeutung zu. Es handle sich dabei um eine Konstante der rechtspolitischen Bestrebungen, an die zu halten wir uns immer bemüht haben, um die Achtung vor dem Recht zu gewährleisten. In jenem Bericht fügten wir hinzu, es müsse alles unternommen werden, um den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu erleichtern. Es besteht kein Zweifel darüber, dass diese Konvention, wenn sie einmal ein fester Bestandteil unserer Rechtsordnung ist, positive Auswirkungen auf die Erhaltung und Entwicklung unserer rechtsstaatlichen Institutionen haben wird. Dieser Einfluss auf unsere Gesetzgebung besteht jetzt schon direkt oder indirekt; er trägt zur Verstärkung der individuellen Freiheiten und ihrer rechtlichen Garantien bei.»198 Was die aussenpolitische Dimension betrifft, 195 196

Urteil vom 7. März 2011, C-4828/2010, Erw. 4.4.5.

N. Blum/V. Naegeli/A. Peters, Die verfassungsmässigen Beteiligungsrechte der Bundesversammlung und des Stimmvolks an der Kündigung völkerrechtlicher Verträge, ZBl 114/2013, S. 527 ff., 543, m.w.H.

197 Ergänzungsbericht EMRK (Anm. 32), BBl 1972 I 997.

198 Wie vorstehende Anmerkung, S. 997, mit Hinweis auf den Bericht des Bundesrates vom 28. April 1971 über den Vollzug der Richtlinien für die Regierungspolitik in der Legislaturperiode 1967­1971 (BBl 1971 I 863).

407

unterstrich der Bundesrat u. a, mit einem Beiseitestehen würde die Schweiz «Gefahr laufen, vor allem im Ausland nicht mehr verstanden zu werden. Zudem denken wir, dass es für die Schweiz wichtig ist, in Strassburg ihre Stimme zur Geltung bringen zu können, wo sich jetzt eine umfangreiche Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte entwickelt.» Die hier angesprochene Entwicklung einer umfangreichen Rechtsprechung hat in der Folge in einem Ausmass stattgefunden, das niemand vorausgesehen hat. Basierend auf einem für alle Vertragsstaaten verbindlichen Kontrollmechanismus, hat die vielzitierte «Erfolgsgeschichte EMRK» die Konvention zu einem festen Bestandteil vieler europäischer Rechtsordnungen werden lassen. Sie hat auf europäischer Ebene den Rechtsstaat entscheidend gestärkt und ausgebaut. Die Rechtsprechung der früheren Kommission und des Gerichtshofs hat, wie es der ehemalige Präsident Rolv Ryssdal formuliert hat, «eine eigentliche öffentliche Ordnung der freien Demokratien Europas» geschaffen. Der Gerichtshof selbst erkennt der Konvention heute die Stellung eines «instrument constitutionnel de l'ordre public européen» zu.

Auch im schweizerischen Rechtsleben hat die Konvention im Lauf der Jahrzehnte einen festen Platz eingenommen. Eine kaum noch überschaubare Zahl von Fachpublikationen setzt sich mit ihr auseinander; grund- und menschenrechtliche Fragestellungen werden regelmässig unter verfassungs- und konventionsrechtlichen Gesichtspunkten erörtert. Die Konvention ist Massstab für die gesetzgebenden wie für die rechtsanwendenden Behörden, allen voran die Gerichte in Bund und Kantonen.

Die Strassburger Praxis hat v. a. die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den (lange Zeit teilweise ungeschriebenen) Grundrechten mitgeprägt und den Grundrechtskatalog der geltenden Bundesverfassung beeinflusst. Auch wenn gemessen an der Zahl der gegen die Schweiz erhobenen Beschwerden die Zahl der Verurteilungen sehr gering geblieben ist ­ nur etwa 1,6 % aller Beschwerden wurden gutgeheissen ­, haben gewisse Urteile des Gerichtshofs auch Anpassungen in der Gesetzgebung von Bund und Kantonen notwendig gemacht; bei anderen erfolgte eine Anpassung der Praxis der rechtsanwendenden Behörden. Auch wenn solche Änderungen und Anpassungen zum Teil längere Zeit in Anspruch genommen haben, kann festgehalten
werden, dass die betroffenen Behörden die Strassburger Entscheide so umgesetzt haben, dass das Ministerkomitee ­ ihm obliegt die Überwachung des Urteilsvollzugs ­ die Verfahren definitiv abschliessen konnte.

8.2

Kritische Stimmen

Gewiss wurden nicht alle Urteile mit Applaus aufgenommen. Das war und ist in der Schweiz nicht anders als in anderen Vertragsstaaten der EMRK. Auffällig ist allerdings, dass sich die Einschätzung im Lauf der Jahre ändern kann. Urteile, die wie in den Fällen Belilos (Anspruch auf gerichtliche Überprüfung), Burghartz (Namensrecht der Eheleute) oder Jutta Huber (Unparteilichkeit des haftanordnenden Bezirksanwalts) seinerzeit kontrovers aufgenommen wurden, haben heute unbestrittenen rechtsstaatlichen Verbesserungen zum Durchbruch verholfen. In allen Fällen erfolgte die Änderung des innerstaatlichen Rechts (Art. 29a BV; Art. 160 ZGB bzw.

Art. 18 StPO) letztlich nicht, weil «Strassburg» das so verlangt, sondern in der Überzeugung, eine in der Sache vernünftige Lösung getroffen zu haben.

Gleichwohl ist die anhaltende Kritik an der Rechtsprechung des EGMR ernst zu nehmen. Im Vordergrund stehen die dynamisch-evolutive Auslegung der Konven408

tion sowie der Vorwurf, der Gerichtshof urteile häufig wie eine Rechtsmittelinstanz mit freier Kognition («Vierte Instanz»), indem er Urteile innerstaatlicher Gerichte korrigiere, welche ihrerseits eine Konventionsverletzung nach sorgfältiger Prüfung verneint hatten. Dass die Kritik gerade in der Schweiz in letzter Zeit lauter geworden ist, dürfte zusätzlich damit zusammenhängen, dass verschiedene angenommene Volksinitiativen bewusst gemacht haben, dass es in einem konkreten Anwendungsfall zu Spannungen mit der EMRK kommen könnte.

Auch die Kritik an einer zu dynamischen Weiterentwicklung der Konventionsgarantien ist nicht neu. Schon in frühen Publikationen wurde unter Hinweis auf den grundlegenden Charakter der in der Konvention verbrieften Rechte und Freiheiten und auf das Risiko, diese Garantien könnten letztlich geschwächt werden, zur Zurückhaltung gemahnt.199 Dieses Risiko ist im Auge zu behalten. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass der Auslegung von Grundrechtsgarantien immer eine gewisse Dynamik inhärent ist und auch sein muss, will sie gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen und diese menschenrechtlich absichern. Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung in diesem Sinn immer eine «dynamisch-evolutive» war, insbesondere was die Konkretisierung von Artikel 4 aBV (formelle und materielle Rechtsverweigerung) und die Anerkennung ungeschriebener Grundrechte betrifft. In Bezug auf die Strassburger Praxis ist das Bild im Übrigen nicht einheitlich. Es gibt Urteile, in denen der Gerichtshof Zurückhaltung an den Tag gelegt hat, wo es um nationale Werte und Traditionen ging.200 In anderen Bereichen finden sich Urteile, in denen, teilweise auf der Grundlage der Annahme positiver Verpflichtungen, aus der EMRK neue Ansprüche abgeleitet wurden.201 Auf einer anderen Ebene liegt die Kritik an der Vierten-Instanz-Rechtsprechung.

Häufig geht es dabei um Fälle, in denen die «Notwendigkeit eines Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft» zu bewerten ist, also v. a. um die Artikel 8 (Privatund Familienleben, insbesondere im Bereich Ausländerrecht) und 10 (Meinungsfreiheit). Der EMRK-Kontrollmechanismus beruht auf dem Prinzip der Subsidiarität. Es ist Aufgabe der Vertragsstaaten, die EMRK innerstaatlich anzuwenden; die Prüfung, ob dies im
Einzelfall geschehen ist, obliegt in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten. Der Gerichtshof in Strassburg kann und soll nur subsidiär zum Zuge kommen. Subsidiarität heisst aber auch, dass der Gerichtshof in dem Umfang, wie die Vertragsstaaten ihrer Verpflichtung zur Umsetzung und Anwendung der Konvention nachkommen, seine Kontrolle zurücknehmen kann. Das tut er in einer grossen Zahl von Beschwerden, wenn er sich vergewissert hat, dass die nationalen Instanzen den Fall mit der nötigen Sorgfalt und im Lichte der Vorgaben der Strassburger Rechtsprechung geprüft haben. Solche (nicht näher begründeten und nicht 199

Vgl. D. Thürer, EMRK und schweizerisches Verwaltungsverfahren, ZBl 87 (1996), S. 264 f.; C. Vautier, L'application de la CEDH et ses conséquences pratiques, JdT 1992 IV, Droit pénal no 5, S. 130; U. Zimmerli, Europäische Menschenrechtskonvention und schweizerische Verwaltungsrechtspflege, in: Thürer/Weber/Zäch (Hrsg.), Aktuelle Fragen zur EMRK, Zürich 1995, S. 66. Vgl. auch J.A. Frowein/W. Peukert (Anm. 79), Einführung N 12; L. Wildhaber, «Mehr Menschenrechtsschutz ist nicht immer besser», NZZ vom 8. Sept. 2014.

200 Vgl. etwa die Fälle Lautsi (2011) betreffend Kruzifix in italienischen Schulen; S.A.S.

(2014) betreffend Burkaverbot in Frankreich; Dahlab (2001) betreffend Verbot für eine Lehrerin einer Genfer Primarschule, im Unterricht das islamische Kopftuch zu tragen.

201 Vgl. etwa Glor (2009) betreffend Pflicht zur Leistung von Militärpflichtersatz für dienstuntauglichen Diabetiker; Schlumpf (2009) betreffend Weigerung der Krankenkasse, die Kosten einer Operation zu übernehmen.

409

publizierten) Entscheidungen gehören zur grossen Zahl der Beschwerden, welche wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt werden. Das Postulat nach kohärenter und konsequenter Anwendung dieser Praxis hat auch in den politischen Erklärungen Ausdruck gefunden, die an den Ministerkonferenzen von Interlaken, Izmir und Brighton verabschiedet worden sind.202

8.3

Kündigung ist keine Option

Mit dem Postulat nach konsequenter und kohärenter Handhabung des Subsidiaritätsprinzips ist bereits eine erste Zukunftsperspektive angesprochen. Eine andere betrifft die in jüngster Zeit wieder thematisierte Frage einer Kündigung. In seiner Antwort auf die Interpellation Brunner203 hat sich der Bundesrat gegen diese Option ausgesprochen; sie komme aus politischen und rechtlichen Gründen nicht in Frage. Der Beitritt vor 40 Jahren hat den Rechtsstaat Schweiz mitgestaltet und insgesamt gestärkt; die Konvention hat die gerichtliche Praxis ebenso beeinflusst wie den Katalog der Grundrechte der heutigen Bundesverfassung. Auch wenn nicht alle Strassburger Urteile gleichermassen überzeugen können, ist der Bundesrat der Auffassung, dass die «Sicht von aussen» auch für die Zukunft ein wichtiges Anliegen bleibt. Die Aussensicht macht es möglich, eine aus interner Optik bewährte, aber vielleicht auch eingefahrene Praxis der rechtsanwendenden Behörden in Frage zu stellen. Zudem erlaubt sie dem Gerichtshof, sich zu Grundsatzfragen zu äussern, an deren Klärung ein gemeinsames Interesse der Vertragsstaaten besteht. Dass die Prüfung durch den Gerichtshof nur in den wenigsten Fällen zur Feststellung einer Konventionsverletzung führt, belegen im Übrigen die Zahlen, wie sie allgemein in den Anhängen 2 und 8 und speziell für die Schweiz oben unter Ziffer 5.2.1 und in Anhang 9 wiedergegeben sind. Diese Tatsache, zusammen mit dem Umstand, dass verschiedene Verurteilungen der Schweiz zu Änderungen in Gesetzgebung und Praxis geführt haben, die heute allgemein als richtig akzeptiert sind, legt einen gelasseneren Umgang mit «Strassburg» nahe.

Eine Kündigung wäre zudem von erheblicher aussenpolitischer Tragweite. Ein einseitiges Abseitsstehen der Schweiz hätte gravierende Folgen. Einerseits wäre damit eine unkalkulierbare aussenpolitische Isolierung verbunden, indem sich die Schweiz just gegen jene Werte aussprechen würde, welche von der gesamten europäischen Grundwertegemeinschaft und der Schweiz selbst seit jeher geteilt werden.

Andererseits würde eine Kündigung dem System zum Schutz der Menschenrechte des Europarates einen erheblichen Schaden zufügen: Die Konvention und der Gerichtshof können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn sie gesamteuropäisch legitimiert sind. Das hat der Bundesrat bereits in den eingangs dieses
Kapitels zitierten Berichten unterstrichen; die Einschätzung ist heute so aktuell und zutreffend wie damals.

Die Schweiz hat historisch immer eine Pionierrolle gespielt bei der Entwicklung der Menschenrechte, und sie trägt schon aufgrund ihres grossen aussenpolitischen 202

Vgl. z.B. Erklärung von Interlaken, Teil E, Ziff. 9: «La Conférence, prenant acte du partage des responsabilités entre les Etats parties et la Cour, invite la Cour à: a. éviter de réexaminer des questions de fait ou du droit interne qui ont été examiné et décidées par les autorités nationales, en accord avec sa jurisprudence selon laquelle elle n'est pas un tribunal de quatrième instance; b. appliquer de façon uniforme et rigoureuse les critères concernant la recevabilité et sa compétence et à tenir pleinement compte de son rôle subsidiaire dans l'interprétation et l'application de la Convention».

203 Vgl. oben Ziff. 5.3.

410

Engagements zugunsten der Menschenrechte eine besondere Verantwortung. Ein Austritt aus der Konvention würde der Glaubwürdigkeit und dem Ruf der Schweiz empfindlichen Schaden zufügen.

8.4

Kontinuierlicher Reformprozess

In den vergangenen Jahren wurden, unter massgeblicher Mitwirkung der Schweiz, wichtige Reformen des ursprünglichen Kontrollsystems realisiert. Die Reformbemühungen müssen weitergehen; sie sollen langfristig das gute Funktionieren des Gerichtshofs und die Qualität seiner Rechtsprechung sichern. So unterschiedlich die Ursachen der Überlastung des Gerichtshofs sind, so unterschiedlich müssen auch die Massnahmen zu ihrer Behebung sein. Besonderes Augenmerk verdient das Problem, dass der Gerichtshof nach wie vor mit zahlreichen Beschwerden befasst wird, die ihren Ursprung in systemischen Mängeln in gewissen Mitgliedstaaten haben. Teilweise geht es dabei um grobe Menschenrechtsverletzungen, immer aber um Mängel, die trotz einschlägiger Urteile des Gerichtshofs noch nicht behoben worden sind.

Die rasche und vollständige Umsetzung der Urteile durch die Vertragsstaaten wird denn auch ein zentrales Thema der Ministerkonferenz sein, die auf Einladung der belgischen Regierung im Frühjahr 2015 stattfinden wird. Auch andere Schwächen des geltenden Kontrollsystems verdienen weiterhin Aufmerksamkeit. Dazu gehört der Umstand, dass der Gerichtshof angesichts der grossen Zahl von Beschwerden nicht in der Lage ist, die jährlich Zehntausenden von Unzulässigkeitsentscheiden zu begründen. Gleiches gilt für die Entscheidungen des Filterausschusses, Gesuche um Neubeurteilungen durch die Grosse Kammer anzunehmen oder abzulehnen, ein Mangel, der für Beschwerdeführer und beteiligte Regierung gleichermassen unbefriedigend ist.

Die Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs haben sich im Lauf der Jahrzehnte wesentlich weiterentwickelt. Auch das Kontrollverfahren hat bereits wichtige Änderungen erfahren. Die Zahl der Vertragsstaaten hat sich seit Inkrafttreten der Konvention mehr als vervierfacht; noch in viel grösserem Umfang hat die Zahl der Beschwerden zugenommen. Was die laufenden Diskussionen über die langfristige Reform betrifft, begrüsst der Bundesrat das gewählte Konzept einer offenen Diskussion (thinking out of the box): diskutiert werden sollen nicht nur Verbesserungen, welche auf der Grundlage des bestehenden Kontrollsystems noch erzielt werden können, sondern auch neue Vorschläge, welche zu grundlegenden Änderungen dieses Systems führen könnten. Ziel muss es in jedem Fall bleiben, den Menschenrechtsschutz
in Europa zu stärken, die Autorität des Gerichtshofs zu wahren und dessen Funktionsfähigkeit langfristig sicherzustellen. Wie bis anhin wird sich die Schweiz auch an den laufenden und an allen weiteren Reformdiskussionen aktiv und konstruktiv beteiligen.

8.5

Geplanter Beitritt der EU zur EMRK

Zur Schilderung der Zukunftsperspektiven gehört auch der Hinweis auf den geplanten Beitritt der EU zur EMRK. Der Beitritt, der sowohl im Vertrag von Lissabon als auch im Protokoll Nr. 14 zur EMRK vorgesehen ist, wird von Seiten der EU wie des Europarates als wichtiger Schritt in der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes in 411

Europa angesehen. Ein Entwurf einer Beitrittsvereinbarung wurde durch die EU (vertreten durch die Kommission) auf der einen und die 47 Vertragsstaaten der EMRK auf der anderen Seite ausgehandelt; er liegt derzeit beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, der sich über die Vereinbarkeit mit dem Recht der EU aussprechen wird. Der Bundesrat begrüsst das Vorhaben. Der Beitritt kann eine Stärkung des individuellen Rechtsschutzes bewirken; gleichzeitig liegt er im Interesse einer kohärenten Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes in Europa durch die Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs. Die Schweiz hat in den Verhandlungen eine aktive und kritische Rolle gespielt und wird dies auch in allfälligen künftigen Verhandlungen tun. Dabei setzt sie sich dafür ein, dass der Beitritt nicht zu wesentlichen Änderungen im heutigen Kontrollmechanismus und zu Gewichtsverschiebungen zulasten der Nicht-EU-Staaten führt.

8.6

Verhältnis Völkerrecht ­ Landesrecht

Eine letzte Perspektive betrifft wiederum die nationale Ebene. Wie unter Ziffer 5.2.5 ausgeführt, haben verschiedene Volksinitiativen der jüngeren Vergangenheit potenzielle Konflikte mit der EMRK sichtbar gemacht. Auch wenn bislang noch kein konkreter Anwendungsfall Gegenstand der Beurteilung durch den Gerichtshof war, ist dieser Problematik Beachtung zu schenken. Der Bundesrat ist weiterhin bestrebt, sachgerechte und politisch mehrheitsfähige Lösungen zu entwickeln.

412

Anhang 1

Staaten mit hohen Beschwerdezahlen

(Cour européenne des droits de l'homme, Analyse statistique 2013, janvier 2014, p. 8).

413

Anhang 2

Entwicklung der Beschwerdezahlen 1959*­2013

* Diese Übersicht umfasst auch die vor 1959 von der Europäischen Kommission für Menschenrechte behandelten Fälle.

414

Anhang 3

Zahl der Beschwerden, die einem Spruchkörper zugewiesen wurden3

415

Anhang 4

Vom Gerichtshof gefällte Urteile nach Jahren

(Cour européenne des droits de l'homme, Aperçu 1959­2013 CEDH, février 2014, p. 4)

416

Anhang 5

Vom Gerichtshof seit seinem Bestehen gefällte Urteile nach Ländern

(Cour européenne des droits de l'homme, Aperçu 1959­2013 CEDH, février 2014, p. 3

417

Anhang 6

Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde

(Cour européenne des droits de l'homme, Aperçu 1959­2013 CEDH, février 2014, p. 5)

418

Anhang 7

Gegenstände der Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Verletzung festgestellt wurde, im Jahr 2013

(Cour européenne des droits de l'homme, La CEDH en faits & en chiffres 2013, janvier 2014, p. 7)

419

Anhang 8

420

421

Anhang 9

Statistik des Bundesamts für Justiz über gegen die Schweiz gerichtete Beschwerden und ihre Erledigung (Stand: 31.12.2013) 1. Registrierte, gegen die Schweiz gerichtete Beschwerden Kommission 28.11.1974­31.12.1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1.1.­31.10.1998 Total

500

58

104 107 113 115 123 156 137 137 155 155 1860

Gerichtshof 1.11.1998­31.12.1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Total

22 156 187 162 214 162 203 232 277 236 261 471 368 358 326 445 4080

Total registrierte Beschwerden CH: 5940

422

2. Beschwerden, die mit einem Entscheid des Ministerkomitees endeten204 (fett = mindestens eine Verletzung festgestellt) 1.

Eggs I, 19.10.1979 (Art. 5, Funktion des Oberauditors der Armee als Beschwerdeinstanz in Disziplinarsachen);

2.

Christinet, 29.11.1979 (Art. 5 Abs. 1 Bst. a, Rückversetzung eines bedingt entlassenen Gewohnheitsverbrechers);

3.

Bonnechaux, 27.06.1980 (Art. 5 Abs. 3, Dauer der Untersuchungshaft);

4.

Schertenleib, 01.07.1981 (Art. 6; Dauer eines Strafverfahrens);

5.

Temeltasch, 24.03.1983 (Art. 6 Abs. 3 Bst. e, unentgeltlicher Beizug eines Dolmetschers; Bedeutung der auslegenden Erklärung zu Art. 6);

6.

Santschi u.a., 24.03.1983 (Art. 5, sechs Beschwerden betreffend Funktion des Oberauditors der Armee als Beschwerdeinstanz gegen Disziplinarstrafen);

7.

Kröcher und Möller, 10.11.1983 (Art. 3, Haftbedingungen in der Untersuchungshaft);

8.

Pannetier, 30.05.1986 ( Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Strafverfahrens);

9.

Adler, 26.06.1986 (Art. 6 Abs. 1, Beurteilung einer verwaltungsgerichtlichen Klage durch das Bundesgericht als einziger Gerichtsinstanz);

10.

I. und C., 23.11.1986 (Art. 6 Abs. 2, Kostenauflage bei Einstellung des Strafverfahrens);

11.

J. Müller, 15.05.1992 (Art. 6, Dauer eines Verfahrens vor dem Regierungsrat des Kantons Zürich betreffend Bewilligung zum Vertrieb einer Heilsalbe);

12.

G., 09.03.1993 (Art. 8, Ausweisung eines Ausländers, der mit einer in der Schweiz niedergelassenen Italienerin verheiratet ist);

13.

Bouajila, 14.12.1993 (Art. 3, Haftregime für einen Schwerstkriminellen);

14.

N., 09.11.1993 (Art. 6, Dauer eines Straf- und Verwaltungsverfahrens);

15.

R., 11.09.1995 (Art. 6, Anspruch auf Gericht; Gültigkeit einer Adoption);

16.

M.S. u.a., 13.09.1996 (Art. 6, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rekurskommission für ausländische Entschädigungen; Öffentlichkeit und Dauer des Verfahrens);

17.

B.A. u.a., 17.01.1995 (Art. 6, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rekurskommission für ausländische Entschädigungen; Öffentlichkeit und Dauer des Verfahrens);

18.

R.B., 15.12.1995 (Art. 6, Dauer eines Wirtschaftsstrafverfahrens);

19.

H.B., 13.09.1996 (Art. 6, Steuerhinterziehung; Öffentlichkeit des Verfahrens);

20.

Stürm (1), 29.10.1997 (Art. 8, Korrespondenz im Strafvollzug);

204

Nach dem ursprünglichen, bis 1998 geltenden Kontrollsystem.

423

21.

Stürm (2), 14.01.1998 (Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1, Dauer einer Untersuchungshaft und eines Strafverfahrens);

22.

Psychex, 10.07.1998 (Art. 10 EMRK, Verbreitung von Informationen in einer psychiatrischen Klinik);

23.

C.B., 19.02.1999 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Steuerstrafverfahrens);

24.

W.O., 24.07.2000 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Strafverfahrens);

25.

Plumey, 09.09.1996 (Art. 5 Abs. 3, Haftprüfung gemäss StPO/BS);

26.

D'Amico, 29.05.2000 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Baubewilligungsverfahrens);

27.

P.B., 29.05.2000 (Art. 5 Abs. 4, Internierung in psychiatrischer Klinik gemäss aArt. 43 StGB; Dauer des Verfahrens betreffend Rechtmässigkeit des Freiheitsentzuges).

3. Beschwerden, die mit einem Urteil des Gerichtshofs endeten (fett = mindestens eine Verletzung festgestellt; GK = Grosse Kammer): 1.

Schiesser, 04.12.1976 (Art. 5 Abs. 3, Bezirksanwalt des Kantons Zürich als «gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter»);

2.

Minelli, 25.03. 1983 (Art. 6 Abs. 2, Unschuldsvermutung und Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung);

3.

Zimmermann u. Steiner, 13.07.1983 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines bundesgerichtlichen Verfahrens);

4.

Sutter, 22.02.1984 (Art. 6 Abs. 1, fehlende Öffentlichkeit der Verhandlung und Urteilsverkündung vor dem Militärkassationsgericht);

5.

Sanchez-Reisse, 21.10.1986 (Art. 5 Abs. 3, Dauer und Ausgestaltung eines Auslieferungsverfahrens vor Bundesgericht);

6.

F., 18.12.1987 (Art. 12, Vereinbarkeit des Verbots der Wiederverheiratung gemäss aArt. 150 ZGB mit Art. 12 EMRK);

7.

Belilos, 29.04.1988 (Art. 6 Abs. 1, Recht auf Zugang zu einem Gericht, Übertretungsstrafverfahren, auslegende Erklärung der Schweiz zu Art. 6);

8.

Müller u.a., 24.05.1988 (Art. 10 und aArt. 204 StGB, Meinungsäusserungsfreiheit und künstlerische Meinungsäusserung);

9.

Schönenberger und Durmaz, 20.06.1988 (Art. 8, Nichtweiterleitung eines Briefes des Anwalts an seinen in Untersuchungshaft befindlichen Mandanten);

10.

Schenk, 12.07.1988 (Art. 6 Abs. 1, 2 und Art. 8, Verwertung illegal erlangter Beweismittel);

11.

Groppera Radio, 28.03.1990 (Art. 10, Verbot der Einspeisung eines in Italien stationierten Radiosenders in schweizerische Kabelnetze);

12.

Weber, 22.05.1990 (Art. 6 Abs. 1, Öffentlichkeit des Verfahrens; Prozessbusse für eine Pressekonferenz über eine als geheim angesehene Strafuntersuchung; Vorbehalt der Schweiz zu Art. 6);

424

13.

Autronic, 22.05.1990 (Art. 10, Verweigerung einer Bewilligung zur Inbetriebnahme einer Parabolspiegelantenne);

14.

Huber, 23.10.1990 (Art. 5 Abs. 3, Bezirksanwalt des Kantons Zürich als Haftrichter und Ankläger in einer Person);

15.

Quaranta, 24.05.1991 (Art. 6 Abs. 3 Bst. c, Offizialverteidigung im Strafverfahren);

16.

S., 28.11.1991 (Art. 6 Abs. 3 Bst. c, Überwachung des Verteidigerverkehrs in der Untersuchungshaft);

17.

Lüdi, 15.06.1992 (Art. 8, Art. 6, Einsatz eines V-Mannes in einem Strafverfahren wegen Betäubungsmitteldelikten);

18.

W., 26.01.1993 (Art. 5 Abs. 3, Dauer der Untersuchungshaft);

19.

Kraska, 19.04.1993 (Art. 6 Abs. 1, faires Verfahren; Bemerkung eines Bundesrichters, er habe nicht die ganze Beschwerdeschrift gründlich lesen können);

20.

Schuler-Zgraggen, 24.06.1993 (Art. 6 Abs. 1, Art. 14, Ansprüche aus Invalidenversicherung; Öffentlichkeit des Verfahrens);

21.

Imbriosca, 24.11.1993 (Art. 6 Abs. 1 und 3, Verteidigungsrechte im Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren; polizeiliche und untersuchungsrichterliche Einvernahmen in Abwesenheit des Verteidigers;

22.

Hurtado, 28.01.1994 (Art. 3, unmenschliche und erniedrigende Behandlung während einer Polizeihaft);

23.

Burghartz, 22.02.1994 (Art. 8 und 14, Familienname: Recht des Ehemannes, seinen Namen dem im Ausland als Familiennamen gewählten Namen der Ehefrau voranzustellen);

24.

Scherer, 25.03.1994 (Art. 10, Verurteilung wegen Verleih von Videos mit pornographischem Inhalt);

25.

Schuler-Zgraggen, 31.01.1995 (aArt. 50: Anspruch auf Verzinsung des Rentenanspruchs im Rahmen der Wiedergutmachung des materiellen Schadens);

26.

Gül, 19.02.1996 (Art. 8, Familienzusammenführung);

27.

Thomann, 10.06.1996 (Art. 6 Abs. 1, Neubeurteilung nach Abwesenheitsverfahren);

28.

Ankerl, 23.10.1996 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit im Zivilprozess; Anhörung der Beteiligten als Auskunftsperson einerseits und Zeuge unter Eid andererseits);

29.

Nideröst-Huber, 18.02.1997 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor Bundesgericht, aArt. 56 OG);

30.

Balmer-Schafroth u.a., 26.08.1997 (Art. 6 Abs. 1, Zugang zum Gericht, Verlängerung der Betriebsbewilligung AKW Mühleberg);

31.

A.P., M.P. und T.P., 29.08.1997 (Art. 6 Abs. 1 und 2, Erbenhaftung für Nach- und Strafsteuern);

32.

E.L., R.L. und J.O.-L., 29.08.1997 (Art. 6 Abs. 1 und 2, Erbenhaftung für Nach- und Strafsteuern); 425

33.

R.M.D., 26.09.1997 (Art. 5 Abs. 4, Anspruch auf gerichtliche Haftüberprüfung in Sammelverfahren);

34.

Camenzind, 16.12.1997 (Art. 8 und 13, Haussuchung im Verwaltungsstrafverfahren);

35.

Kopp, 25.03.1998 (Art. 8 und 13, Telefonabhörung in Anwaltskanzlei);

36.

Schöpfer, 20.05.1998 (Art. 10, Äusserungen gegenüber Presse betr. Inkompetenz der Strafverfolgungsbehörde; schriftliches Verfahren);

37.

Hertel, 25.08.1998 (Art. 10, Meinungsfreiheit und Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG);

38.

Ali, 05.08.1998, (Art. 5 Abs. 1 Bst. f, Internierung gemäss Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) wegen Unmöglichkeit der Ausschaffung);

39.

Oliveira, 30.07.1998 (Art. 4 Protokoll Nr. 7, ne bis in idem);

40.

Amann, 16.02.2000 (Art. 8 und 13, Telefonabhörung, Anfertigung und Aufbewahrung einer Staatsschutz-Fiche);

41.

Kiefer, 28.03.2000 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Sozialversicherungsverfahrens);

42.

Athanassoglou u.a., 06.04.2000 (vormals Greenpeace u.a.) (Art. 6 Abs. 1, Zugang zum Gericht, Verlängerung der Betriebsbewilligung AKW Beznau II);

43.

G.B., 30.11.2000 (Art. 5 Abs. 4, Dauer eines Haftüberprüfungsverfahrens gemäss Bundesgesetzes vom 15. Juni. 1934 über die Bundesstrafrechtspflege; BStP);

44.

M.B., 30.11.2000 (Art. 5 Abs. 4, Dauer eines Haftüberprüfungsverfahrens gemäss BStP);

45.

Wettstein, 21.12.2000 (Art. 6 Abs. 1, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Verwaltungsgerichts; Verquickung anwaltlicher und richterlicher Funktionen);

46.

D.N., 29.03.2001 (Art. 5 Abs. 4, Verfahren betreffend fürsorgerischen Freiheitsentzug; Verquickung sachverständiger und richterlicher Funktionen);

47.

H.B., 05.04.2001 (Art. 5 Abs. 2 und 3, Art. 13, Anspruch auf Information, Haftprüfung gemäss StPO/SO);

48.

J.B., 03.05.2001 (Art. 6 Abs. 1, Beugestrafen im Steuerhinterziehungsverfahren; Recht zu schweigen; ne bis in idem);

49.

Medenica, 4.06.2001 (Art. 6, Abwesenheitsverfahren);

50.

VgT, 28.06.2001 (Art. 10, 13, 14, Weigerung der SRG; einen Werbespot des Beschwerdeführers auszustrahlen);

51.

F.R., 28.06.2001 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor dem Eidgenössischem Versicherungsgericht);

52.

Boultif, 02.08.2001 (Art. 8, Nichterneuerung der Aufenthaltsbewilligung des mit einer Schweizerin verheirateten, straffälligen Beschwerdeführers);

426

53.

Ziegler, 21.02.2002 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor Bundesgericht);

54.

H.M., 26.02.2002 (Art. 5 Abs. 1 Bst. e, Fürsorgerischer Freiheitsentzug und Begriff der «Verwahrlosung»);

55.

Demuth, 05.11.2002 (Art. 10, Abweisung des Gesuchs eines Spartenfernsehsenders);

56.

Müller, 05.11.2002 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Enteignungsverfahrens);

57.

Minjat, 28.10.2003 (Art. 5 Abs. 1 und 4, Fehlende Begründung der Verlängerung der Untersuchungshaft im Kanton Genf);

58.

Linnekogel, 1.3.2005 (Art. 6 Abs. 1, Zugang zu Gericht bei Beschlagnahme und Vernichtung rassistischen Materials);

59.

Contardi, 12.7.2005 (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Einsicht in die Akten der Gegenpartei);

60.

Munari, 12.7.2005 (Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK, Dauer eines Strafverfahrens);

61.

Spang, 11.10.2005 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor dem Eidgenössischem Versicherungsgericht);

62.

Hurter, 15.12.2005 (Art. 6 Abs. 1, zivilrechtliche Natur eines Disziplinarverfahrens gegen einen Rechtsanwalt; Öffentlichkeit der Verhandlung);

63.

Scavuzzo-Hager u.a., 07.02.2006 (Art. 2, 3 und 6, Gewaltanwendung bei Verhaftung mit Todesfolge; Untersuchungspflicht);

64.

Dammann, 25.04.2006 (Art. 10, Bestrafung eines Journalisten wegen Anstiftung zur Amtsgeheimnisverletzung);

65.

Bianchi, 22.06.2006 (Art. 8, Kindesentführung);

66.

Fuchser, 13.07.2006 (Art. 5 Abs. 4, Entlassung aus einer stationären Massnahme; Verfahrensdauer);

67.

Jäggi, 13.7.2006 (Art. 8, Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung);

68.

Ressegatti, 13.7.2006 (Art. 6, Replikrecht, Waffengleichheit);

69.

Mc Hugo, 21.09.2006 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Strafverfahrens);

70.

Monnat, 21.09.2006 (Art. 10, Feststellung einer Konzessionsverletzung durch Télévision Suisse Romande);

71.

Kaiser, 15.03.2007 (Art. 5 Abs. 3 und 5, unverzügliche Vorführung vor den Haftrichter und Haftentschädigungsverfahren);

72.

Kessler, 26.07.2007 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit, Replikrecht);

73.

Weber, 26.07.2007 (Art. 5 Abs. 1, Untersuchungshaft während des Verfahrens auf Umwandlung der ambulanten in eine stationäre Behandlung);

74.

Stoll, 10.12.2007 (Art. 10, Bestrafung eines Journalisten wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (GK; Urteil der Kammer vom 25.04.2006)205;

205

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.

427

75.

Emonet et autres, 13.12.2007 (Art. 8 und 12, Adoption im Konkubinatsverhältnis);

76.

Foglia, 13.12.2007 (Art. 6 Abs. 1 und Art. 10, Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwalt wegen öffentlicher Äusserungen zur Qualität einer Strafuntersuchung);

77.

Hadri-Vionnet, 14.02.2008 (Art. 8, Anspruch der Eltern auf ein schickliches Begräbnis ihrer todgeborenen Kindes);

78.

Meloni, 10.04.2008 (Art. 5 Abs. 1, Ablehnung des Haftentlassungsgesuchs als Grundlage der Fortdauer der Untersuchungshaft);

79.

Emre, 22.05.2008 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person);

80.

Carlson, 06.11.2008 (Art. 8, Kindesentführung);

81.

Schlumpf, 08.01.2009 (Art. 6 und 8, faires Verfahren, Öffentlichkeit der Verhandlung, Kassenpflicht einer Geschlechtsumwandlung)206;

82.

Glor, 30.04.2009 (Art. 4 Abs. 3 Bst. b und 14, Nichtzulassung zum Militärdienst und Militärpflichtersatzabgabe)207;

83.

VgT Verein gegen Tierfabriken(bis), 30.06.2009 (Art. 10, Weigerung, einen TV-Spot auszustrahlen; GK)208;

84.

Gsell, 08.10.2009 (Art. 10, Eingriff in die Berufsausübung eines Journalisten durch Verwehren des Zugangs zum WEF);

85.

Shabani, 05.11.2009 (Art. 5 Abs. 3, Dauer der Untersuchungshaft);

86.

Werz, 17.12.2009 (Art. 6 Abs. 1, Dauer eines Strafverfahrens und Waffengleichheit vor Bundesgericht);

87.

Borer, 10.06.2010 (Art. 5 Abs. 1, Inhaftierung bei Umwandlung von ambulanter Massnahme in Verwahrung);

88.

Schwizgebel, 10.06.2010 (Art. 8 i.V.m. 14, Verweigerung der Einzeladoption auf Grund des Alters der Adoptionswilligen);

89.

Neulinger und Shuruk, 06.07.2010 (Art. 8, Kindesentführung; GK; Urteil der Kammer vom 08.01.2009)209;

90.

Mengesha Kimfe, 29.07.2010 (Art. 8, Familienzusammenführung);

91.

Agraw, 29.07.2010 (Art. 8 Abs. 1, Abweisung eines Asylgesuchs, Ausschaffung nach mehrjährigem Aufenthalt mit Heirat in der Schweiz);

92.

Pedro Ramos, 14.10.2010 (Art. 6 Abs. 1, Recht auf Zugang zu einem Gericht, unentgeltliche Rechtspflege);

93.

Schaller-Bossert, 28.10.2010 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor Regierungsrat und Bundesgericht);

94.

Losonci Rose und Rose, 09.11.2010 (Art. 8 und 14, Namensrecht der Eheleute);

206 207 208 209

428

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

ag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.

Antrag der Beschwerdeführer auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.

95.

Jusic, 02.12.2010 (Art. 5 Abs. 1 Bst. f, Abs. 4 und Abs. 5, Ausschaffungshaft; Dauer des Haftprüfungsverfahrens; Entschädigung für rechtswidrige Haft);

96.

Gezginci, 09.12.2010 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person);

97.

Ellès et autres, 16.12.2010 (Art. 6 Abs. 1, Waffengleichheit vor Bundesgericht);

98.

Haas, 20.01.2011 (Art. 8, Recht auf Suizid);

99.

Tinner Urs und Marco, 26.04.2011 (Art. 5 Abs. 1 Bst. c, 3 und 4, Dauer der Untersuchungshaft; Recht auf richterliche Haftprüfung);

100.

M., 26.04.2011 (Art. 8, Nichtausstellung eines Passes infolge einer RIPOLAusschreibung);

101.

Steulet, 26.04.2011 (Art. 6 Abs. 1, Unbefangenheit / Unparteilichkeit des Bundesgerichts);

102.

Küçük, 17.05.2011 (Art. 8, Kindsentführung);

103.

Adamov, 21.06.2011 (Art. 5 Abs. 1 Bst. f, Begriff und Rechtmässigkeit der Auslieferungshaft)210;

104.

Portmann (II), 11.10.2011 (Art. 3 und 13, Behandlung bei der Verhaftung eines Tatverdächtigen und Recht auf eine wirksame Untersuchung)211;

105.

Association Rhino, 11.10.2011 (Art. 11, Auflösung eines Vereins infolge rechtswidrigen Zwecks)212;

106.

Emre (II), 11.10.2011 (Art. 8 und 46, Ausweisung einer straffälligen Person; Reduktion der Dauer der Einreisesperre im Nachgang zu einem Urteil des EGMR);

107.

Khelili, 18.10.2011 (Art. 8, Datenschutz/Fichierung einer Frau als Prostituierte)213;

108.

Chambaz, 05.04.2012 (Art. 6, Nachsteuer und Steuerhinterziehungsverfahren; Recht zu schweigen);¨

109.

Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft, 21.06.2012 (Art. 10, Verbot, in der Strafanstalt Hindelbank einen Fernsehbeitrag über eine Insassin vorzubereiten);

110.

Mouvement raélien suisse, 13.07.2012, (Art. 10. Verbot eines Plakataushangs; GK; Urteil der Kammer vom 13.01.2011)214;

111.

Nada, 12.09.2012 (Art. 5 Abs. 1 und 4, Art. 8 und Art. 13, Aufnahme in Talibanverordnung; Begriff der Freiheitsentziehung; Eingriff in das Privat-

210 211 212 213 214

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Beschwerdeführerin auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.

429

und Familienleben; Recht auf eine wirksame Beschwerde bei Sanktionen gestützt auf Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats; GK)215; 112.

Joos, 15.11.2012 (Art. 6 Abs. 1, Recht auf Stellungnahme zu Eingaben der Gegenpartei);

113.

Kissiwa Koffi, 15.11.2012 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person);

114.

Shala, 15.11.2012 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person)216;

115.

Pesukic, 06.12.2012 (Art. 6 Abs. 3 Bst. d, Recht auf ein faires Verfahren und anonyme Zeugen);

116.

Udeh, 16.04.2013 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person)217;

117.

Hasanbasic, 11.06.2013 (Art. 8, Ausweisung infolge Sozialhilfeabhängigkeit und Heimataufenthalt)218;

118.

Locher u.a., 30.07.2013 (Art. 6 Abs. 1, Recht auf Stellungnahme zu Eingaben der Gegenpartei);

119.

Berisha, 30.07.2013 (Art. 8, Recht auf Familiennachzug)219;

120.

Polidario, 30.07.2013 (Art. 8, Kindesentführung in die Schweiz, Elterliche Sorge, Besuchsrecht und Aufenthaltstitel)220;

121.

Roduit, 03.01.2013 (Art. 6 Abs. 1, Verfahrensdauer)221;

122.

Dembele, 24.09.2013 (Art. 3, Verbot der unmenschlichen Behandlung und Recht auf eine wirksame Untersuchung behaupteter polizeilicher Übergriffe)222;

123.

Wyssenbach, 22.10.2013 (Art. 6 Abs. 1, Recht auf Stellungnahme zu Eingaben der Gegenpartei);

124.

Bolech, 29.10.2013 (Art. 5 Abs. 1, Freiheitsentziehung, Voraussetzungen der Untersuchungshaft);

125.

Al-Dulimi und Montana Management Inc., 26.11.2013 (Art. 6 Abs. 1 Recht auf Zugang zu einem Gericht bei Massnahmen gestützt auf Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats; vor GK hängig)223;

126.

Vazquez, 26.11.2013 (Art. 8, Ausweisung einer straffälligen Person);

127

Perinçek, 17.12.2013 (Art. 10, Leugnung des Genozids an den Armeniern; vor GK hängig)224.

215 216 217 218 219 220 221 222 223 224

430

Abtretung durch die Kammer an die Grosse Kammer.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag des Beschwerdeführers auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer abgewiesen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.

Antrag der Regierung auf Neubeurteilung durch die Grosse Kammer gutgeheissen.