zu 08.432 Parlamentarische Initiative Die Schweiz muss ihre Kinder anerkennen Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 30. Oktober 2014 Stellungnahme des Bundesrates vom 21. Januar 2015

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 30. Oktober 20141 betreffend die parlamentarische Initiative Marra 08.432 «Die Schweiz muss ihre Kinder anerkennen» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

21. Januar 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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BBl 2015 769

2015-0023

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Nationalrätin Ada Marra (S, VD) hat am 9. Juni 2008 die von 49 Ratsmitgliedern mitunterzeichnete parlamentarische Initiative «Die Schweiz muss ihre Kinder anerkennen» eingereicht. Die Initiantin verlangt, dass Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation in der Schweiz künftig auf Antrag der Eltern oder der betroffenen Person selbst erleichtert eingebürgert werden.

Am 24. Oktober 2008 gab die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) der parlamentarischen Initiative Folge, und am 15. Januar 2009 folgte ihr die Schwesterkommission (SPK-S). Auf Antrag der SPK-N hat das Büro des Nationalrates eine Subkommission mit der Umsetzung der parlamentarischen Initiative betraut. Am 10. September 2009 verabschiedete die Subkommission ihren Vorentwurf zur Änderung der Bundesverfassung2 (BV) und des Bürgerrechtsgesetzes sowie ihren Berichtsentwurf zuhanden der Plenarkommission. Am 5. November 2009 stimmte die Plenarkommission der Vorlage zu und schickte diese bis am 15.

Februar 2010 in die Vernehmlassung.

In der Vernehmlassung ist das Grundanliegen des Vorentwurfs ­ ein Anspruch der dritten Ausländergeneration auf erleichterte Einbürgerung unter bestimmten Voraussetzungen ­ mehrheitlich auf Zustimmung gestossen. Begrüsst wurde insbesondere, dass der Entwurf im Gegensatz zu der in einer Volksabstimmung im Jahr 2004 abgelehnten Vorlage (01.076; BBl 2002 1911) bei einer Geburt in der Schweiz keinen automatischen Bürgerrechtserwerb vorsieht. Ebenfalls begrüsst wurde, dass mit den vorgeschlagenen Änderungen die Einbürgerung der dritten Ausländergeneration schweizweit einheitlich geregelt werden soll.

Teilweise wurde kritisiert, dass die formellen Voraussetzungen für eine erleichterte Einbürgerung schwierig zu überprüfen seien und dass der Integration zu wenig Bedeutung beigemessen werde. Einige Vernehmlassungsteilnehmer lehnten den Vorentwurf ab, weil er ihrer Auffassung nach den Willen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht respektiert. Drei ähnliche Vorlagen seien bereits in Volksabstimmungen abgelehnt worden. Zudem sehe das geltende Bürgerrechtsgesetz mit der Doppelzählung der Aufenthaltsdauer zwischen dem 10. und 20. Altersjahr bereits eine genügende Einbürgerungserleichterung für junge Ausländerinnen und Ausländer vor.

Die SPK-N nahm an ihrer Sitzung vom 15. April 2010 Kenntnis vom
Vernehmlassungsergebnis und beschloss, die Vorlage zu überarbeiten. Die Subkommission nahm in der Folge am 24. Juni 2010 Änderungen am Gesetzes- und Berichtsentwurf vor.

Die SPK-N hat die weitere Behandlung der parlamentarischen Initiative Marra im Zuge der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes (11.022) mehrmals verschoben.

Nachdem die eidgenössischen Räte dem revidierten Bürgerrechtsgesetz am 20. Juni 2014 zugestimmt haben (BBl 2014 5133) und die Referendumsfrist ungenutzt abgelaufen ist, hat die SPK-N an ihrer Sitzung vom 30. Oktober 2014 die Anträge ihrer 2

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Subkommission angenommen und den Verfassungs- sowie Gesetzesentwurf zuhanden des Rates verabschiedet.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat unterstützt das Grundanliegen der parlamentarischen Initiative Marra und die von der SPK-N beantragte Verfassungs- und Gesetzesrevision. Die Kommission präsentiert eine Vorlage, die jungen Ausländerinnen und Ausländern der dritten Generation unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf das Schweizer Bürgerrecht gewährt.

In den vergangenen Jahrzehnten haben der Bundesrat und das Parlament versucht, Einbürgerungeserleichterungen für junge Ausländerinnen und Ausländer auf Bundesebene einzuführen. Mit Ausnahme der Bestimmung von Artikel 38 Absatz 3 BV über die Erleichterung der Einbürgerung staatenloser Kinder sind in den Jahren 1983, 1994 und 2004 drei Verfassungsvorlagen gescheitert, die Einbürgerungserleichterungen für junge, in der Schweiz aufgewachsene Ausländerinnen und Ausländer vorsahen. Die letzte Vorlage (01.076; BBl 2002 1911) sah nebst Änderungen des Bürgerrechtsgesetzes eine Revision der Bundesverfassung vor. Damit sollte die Grundlage für die erleichterte Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation (Art. 38 Abs. 2 und 2bis E-BV) sowie für den automatischen Bürgerrechtserwerb durch Geburt in der Schweiz von Ausländerinnen und Ausländern der dritten und nachfolgenden Generationen (Art. 38 Abs. 1 E-BV) geschaffen werden. Mit der Ablehnung der Verfassungsvorlagen am 26. September 20043 durch Volk und Stände scheiterte die Einführung eines ius soli in das schweizerische Bürgerrechtssystem.

Das geltende Bürgerrechtsgesetz enthält daher bis heute ­ mit Ausnahme der Doppelzählung der Aufenthaltsdauer zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr ­ keine Einbürgerungserleichterungen für junge, in der Schweiz aufgewachsene Ausländerinnen und Ausländer. Daran ändert auch die Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes nichts, der die eidgenössischen Räte am 20. Juni 2014 zugestimmt haben (11.022; BBl 2011 2825). Diese Revision sieht jedoch vor, dass die Doppelzählung neu zwischen dem 8. und 18. Altersjahr erfolgt; der Mindestaufenthalt muss zudem sechs Jahre betragen (BBl 2014 5133). In der Botschaft vom 4. März 2011 zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes hat der Bundesrat im Hinblick auf die bereits damals hängige parlamentarische Initiative Marra darauf verzichtet, Einbürgerungserleichterungen für junge Ausländerinnen und Ausländer vorzuschlagen (BBl 2011
2846 f.).

Der Bundesrat begrüsst, dass nun mit der Umsetzung der parlamentarischen Initiative Marra die Einbürgerung für junge Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation erleichtert werden soll. Diese sind in der Regel wesentlich besser integriert und intensiver mit der Schweiz verbunden als ihre eingewanderten Grosseltern und Eltern. Die Vorlage der SPK-N ist allerdings restriktiver ausgestaltet als die Vorlage des Bundesrates, die im Jahr 2004 in einer Volksabstimmung knapp gescheitert ist. So sieht sie für die dritte Ausländergeneration keinen automatischen Bürgerrechtserwerb mehr vor bei Geburt in der Schweiz, sondern die Möglichkeit 3

Abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Abstimmungen > Chronologie > 2001­2004 > 29.09.2004.

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zur erleichterten Einbürgerung. Weiter sind die formellen Einbürgerungsvoraussetzungen strenger ausgestaltet.

Den Kantonen steht es heute im Rahmen des geltenden Bürgerrechtsgesetzes frei, in ihrem kantonalen Recht Einbürgerungserleichterungen für Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation vorzusehen. Dies führt in der Praxis zu unterschiedlichen Regelungen, was aus rechtsstaatlicher Sicht nicht unproblematisch ist.

Mit der Vorlage der SPK-N werden die heute unterschiedlich ausgestalteten kantonalen Einbürgerungserleichterungen für die dritte Ausländergeneration abgeschafft und gesamtschweizerisch einheitlich geregelt: Dem Bund wird in Artikel 38 Absatz 1 E-BV die Rechtsetzungsbefugnis verliehen, den Bürgerrechtserwerb durch Geburt in der Schweiz zu regeln; in Absatz 3 Buchstabe a erhält er zusätzlich die Rechtsetzungsbefugnis und den Auftrag, Personen der dritten Ausländergeneration erleichtert einzubürgern. Artikel 38 Absätze 1 und 3 Buchstabe a E-BV verleihen dem Bund damit eine konkurrierende Rechtsetzungsbefugnis für die erleichterte Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern der dritten Generation. Konkretisiert wird diese Rechtsetzungsbefugnis in Artikel 24a E-BüG, der die Voraussetzungen für die erleichterte Einbürgerung der dritten Ausländergeneration abschliessend regelt.

Artikel 38 Absatz 3 Buchstabe a E-BV kommt mit Blick auf die Bestimmung in Absatz 1 eine doppelte Funktion zu. Einerseits schreibt er für die dritte Ausländergeneration Einbürgerungserleichterungen vor; andererseits ermöglicht er diese auch bei im Ausland geborenen Personen, wenngleich der Entwurf des Bürgerrechtsgesetzes (vgl. Art. 24a E-BüG) diese Möglichkeit nicht vorsieht.

Die Gesamtvorlage bezweckt, den Bund zur Regelung der erleichterten Einbürgerung der dritten Ausländergeneration zu ermächtigen. Die Vorlage zur Revision der Bundesverfassung geht indessen noch weiter: Artikel 38 Absatz 1 E-BV erteilt dem Bund die Befugnis, den Bürgerrechtserwerb durch Geburt in der Schweiz zu regeln, und verleiht ihm damit eine konkurrierende Rechtsetzungsbefugnis für die Einbürgerung aller in der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländer.

Da mit der Kommissionsvorlage eine Bundesregelung für die dritte Ausländergeneration eingeführt werden soll (vgl. 24a E-BüG), können Kantone, die heute auch jungen
Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation im Rahmen der ordentlichen Einbürgerung Einbürgerungserleichterungen gewähren, diese auch künftig weiterführen.

Die Vorlage der SPK-N sieht weiter vor, in Artikel 38 Absatz 2 BV den Begriff der «Mindestvorschriften» zu ersetzen durch jenen der «Grundsätze». Bereits die im Jahr 2004 abgelehnte Vorlage enthielt eine solche Anpassung des Verfassungswortlauts. Seit der Annahme der neuen Bundesverfassung ist Artikel 38 Absatz 2 BV in der Doktrin mehrheitlich so ausgelegt worden, dass die Begriffe «Mindestvorschriften» und «Grundsätze» in ähnlicher Weise zu verstehen sind (BBl 1997 I 228 und BBl 2002 1927). Danach berechtigt dieser Artikel dazu, Grundsätze zur ordentlichen Einbürgerung zu erlassen. So hat der Bundesgesetzgeber seit 2003 mehrere einheitliche Vorschriften im Bereich der ordentlichen Einbürgerung geschaffen (z.B.

Beschränkung der Gebühren von Bund, Kantonen und Gemeinden nach dem Kostendeckungsprinzip; Bestimmungen zum Stimmverfahren auf kantonaler und kommunaler Ebene; Harmonisierung der kantonalen und kommunalen Aufenthaltsdauer). Der Bundesrat begrüsst daher im Sinne der Klarheit den Vorschlag der SPK-N.

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