Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 6. November 2014 Stellungnahme des Bundesrates vom 22. April 2015

Sehr geehrter Herr Kommissionspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 6. November 20141 betreffend den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen nehmen wir nach Artikel 158 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

22. April 2015

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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BBl 2015 793

2015-0839

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Der Bundesrat wurde von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) eingeladen, zu ihrem Bericht vom 4. April 20142 Stellung zu nehmen. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme zu den neun im Bericht festgehaltenen Empfehlungen am 13. August 2014 verabschiedet3 und der GPK-N übermittelt.

Die GPK-N hat gestützt auf diese Stellungnahme am 6. November 2014 einen zweiten Bericht veröffentlicht4 und den Bundesrat eingeladen, bis am 5. Februar 2015 dazu Stellung zu nehmen. Die GPK-N hat die Frist auf Antrag hin bis zum 6. Mai 2015 verlängert.

Die GPK-N stellte fest, dass von den insgesamt neun Empfehlungen mit den getroffenen Massnahmen zwei Empfehlungen5 angemessen Rechnung getragen wird. Drei Empfehlungen6 wurden in ein Postulat7 umgewandelt.

Die GPK-N hat den Bundesrat weiter eingeladen, zu den übrigen vier Empfehlungen8 eine Stellungnahme abzugeben.

Im Vordergrund der Empfehlungen 1, 4, 7 und 9 stehen zwei Themenkomplexe: Erstens verfügen die für die Umsetzung des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA)9 beziehungsweise des EFTA-Übereinkommens (Anhang K)10 zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden nach Ansicht der GPK-N nicht über die notwendigen Informationen, um im Einzelfall das Aufenthaltsrecht für EU-/EFTA-Bürgerinnen und -Bürger einschränken zu können. Als zweiter Themenkomplex ist die Frage nach der Verfügbarkeit von Daten für statistische Auswertungen und für die Ausübung der Aufsichtsfunktion des Bunds über die Kantone zu nennen.

Gegenwärtig laufen die Arbeiten zur Umsetzung der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» und damit des neuen Artikels 121a der Bundesverfassung. Die Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmung kann Auswirkungen auf die vorliegenden Empfehlungen der GPK-N haben. Derzeit läuft das Vernehmlassungsverfahren, das bis zum 28. Mai 2015 dauern wird.11 Die nachfolgenden Ausführungen sind auch in diesem Lichte zu betrachten.

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BBl 2014 8201 BBl 2014 8277 BBl 2015 793 Empfehlungen 2 und 8.

Empfehlungen 3, 5 und 6.

Postulat 14.4005 «Klärung der Ursachen für die Unterschiede beim kantonalen Vollzug des Abkommens über die Personenfreizügigkeit» vom 6. November 2014.

Empfehlungen 1, 4, 7 und 9.

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, SR 0.142.112.681.

Übereinkommen vom 4. Januar 1960 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), SR 0.632.31. Für die EFTA-Staatsangehörigen ist das EFTAÜbereinkommen die Rechtsgrundlage für die Personenfreizügigkeit. Wird in der Folge das FZA genannt, ist das EFTA-Übereinkommen mitgemeint.

www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Laufende Vernehmlassungen > Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement.

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Stellungnahme des Bundesrates Empfehlung 1

Lohnentwicklung und Sozialleistungsbezugsquoten beobachten

Der Bundesrat wird aufgefordert, die Entwicklung der Sozialleistungsbezugsquoten, des durchschnittlichen Lohnniveaus und der Tiefstlöhne der Bereiche, die von der Zuwanderung besonders betroffen sind, genau zu beobachten.

Zudem wird der Bundesrat dazu eingeladen, zur Frage, welche Massnahmen er gedenkt zu treffen, damit mit den erwirtschafteten Löhnen die Lebenshaltungskosten in der Schweiz gedeckt werden können, der GPK-N Bericht zu erstatten.

In ihrem Bericht vom 6. November 2014 beurteilt die GPK-N die vorhandenen Instrumente als nicht ausreichend, um die Entwicklung des durchschnittlichen Lohnniveaus, der Tiefstlöhne und der Sozialleistungsbezugsquoten zu verfolgen.

Der Bundesrat soll insbesondere die Möglichkeit einer Datenverknüpfung, wie sie die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) vorgenommen hat, prüfen.

Zudem fordert die GPK-N den Bundesrat auf, die Einführung von zusätzlichen Massnahmen in den Bereichen Tiefstlöhne und ausländische Working-Poor zu prüfen beziehungsweise zu begründen, weshalb er für die Personengruppe der ausländischen Working-Poor keine spezifischen Massnahmen ergreifen will.

Der Bundesrat schätzt die vorhandenen Instrumente (Bericht zu den flankierenden Massnahmen, Bericht des Observatoriums zum FZA, tripartite Kommissionen auf Stufe Kanton und Bund zur Beobachtung von Fokusbranchen) nach wie vor als grundsätzlich geeignet und ausreichend ein.

Der Observatoriumsbericht fasst jährlich sämtliche Erkenntnisse zusammen, die über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt gewonnen werden konnten. Der Bund hat in der Vergangenheit auch verschiedene Studien in Auftrag gegeben, um besondere Aspekte der Personenfreizügigkeit und ihre Auswirkungen vertieft zu untersuchen, etwa die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Löhne, mögliche Verdrängungseffekte auf dem Arbeitsmarkt oder die Motive der Zuwanderung. Die Ergebnisse aller Studien zum Thema ­ beispielsweise auch der Studie, welche die PVK in Auftrag geben hatte12, oder der Studien von Forschungsinstituten wie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich ­ werden im Observatoriumsbericht jeweils ebenfalls rezipiert und diskutiert. Der Bundesrat erachtet diese jährliche Berichterstattung weiterhin als sinnvoll.

Der Bundesrat teilt die Ansicht der GPK-N, dass verschiedene Fragen, wie in der
Vergangenheit, periodisch vertieft abgeklärt werden sollten. Einige Fragestellungen rechtfertigen auch ein regelmässiges Monitoring. Die Häufigkeit und Tiefe solcher Analysen richtet sich einerseits nach dem Ausmass der Problemlage und andererseits nach der Verfügbarkeit geeigneter Datengrundlagen. Der Observatoriumsbericht bietet nach wie vor eine geeignete Grundlage, um entsprechenden Analysebedarf zu ermitteln. Die Thematik der sogenannten Tieflöhne wurde im Zuge der Diskussion um die Mindestlohninitiative allgemein und ausführlich behandelt, unter 12

Evaluation zum Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen, Bericht der PVK vom 6. November 2013 zuhanden der GPK-N, BBl 2014 8221.

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anderem im Rahmen eines Berichtes an die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates (WAK-S).13 Der Bundesrat stellt für 2015 im Rahmen seiner Stellungnahme zum Postulat Meier-Schatz 12.4058 «Situation in Tieflohnbranchen bezüglich Einstiegs- und Mindestlöhnen» eine Aktualisierung dieses Berichtes in Aussicht.

Die von der GPK-N genannten Themen der Entwicklung des durchschnittlichen Lohnniveaus, der Lohnverteilung (z. B. Tiefstlöhne) und der Sozialleistungsbezugsquoten sollen im Observatoriumsbericht weiterhin regelmässig behandelt werden.

Der Einführung von weitergehenden statistischen Analysen mittels einer periodischen Datenverknüpfung zur Erfassung der Entwicklung des durchschnittlichen Lohnniveaus, der Tiefstlöhne und der Sozialleistungsbezugsquoten steht der Bundesrat grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Verschiedene Datengrundlagen können durch Verknüpfungen mit Registerdaten zum Ausländerbereich verbessert werden. Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, sollen die Arbeiten jedoch nach Möglichkeit im Rahmen eines bereits bestehenden Gefässes (bspw. Observatorium zum FZA) erfolgen. Die Analysen sollen durch vertiefende Studien punktuell ergänzt werden, sobald entsprechende Datengrundlagen vorliegen.

Der Vollzug der flankierenden Massnahmen ist Gegenstand einer eigenen, ebenfalls jährlichen Berichterstattung. Auch an dieser wird der Bundesrat festhalten.

Die Datengrundlagen, die den erwähnten Berichterstattungen zu Grunde liegen, können in verschiedenen Punkten sinnvoll ergänzt werden.

Im Bereich der Leistungsbezugsdaten der sozialen Sicherung (Sozialhilfe, Invalidenversicherung, Arbeitslosenversicherung) kann die bestehende Datengrundlage der drei Bereiche (SHIVALV) durch eine Verknüpfung mit Informationen zur ausländischen Bevölkerung aus dem Zentralen Migrationsinformationssystem (ZEMIS) erweitert werden. Dies ermöglicht ein regelmässiges Monitoring des Leistungsbezugs der im Rahmen des FZA oder anderweitig zugewanderten Bevölkerung im Vergleich zur ansässigen Bevölkerung. Analysen in der Art, wie sie im PVK-Bericht erstellt wurden, könnten damit einfacher durchgeführt werden. Wichtige Schlüsselgrössen könnten in ein jährliches Monitoring beispielsweise im Observatoriumsbericht aufgenommen werden. Eine Datenverknüpfung von Statistikdaten mit Registerdaten ist für statistische
Zwecke und zur Bearbeitung von Forschungsfragen gestützt auf das Bundesstatistikgesetz vom 9. Oktober 199214 möglich.

Die wichtigste Datengrundlage zur Analyse der Lohnverhältnisse in der Schweiz bildet die sogenannte Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik, die seit 1994 alle zwei Jahre durchgeführt wird. Auf dieser Grundlage wurden die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Lohnentwicklung bis und mit 2010 untersucht. Der genaue Zuwanderungszeitpunkt und das Herkunftsland der Lohnempfängerinnen und -empfänger wurden in dieser Datenquelle bisher nicht erfasst. Eine Unterscheidung von Personen nach Zuwanderungszeitpunkt war jedoch näherungsweise über die Art der Aufenthaltsbewilligung möglich.

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«Tieflöhne in der Schweiz und Alternativen zur Mindestlohn-Initiative im Bereich der Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen und für den Erlass von Normalarbeitsverträgen», Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft z. H. der WAK-S, August 2013, www.seco.admin.ch > Dokumentation > Publikationen und Formulare > Studien und Berichte > Arbeit.

SR 431.01

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Mit der Erhebung 2012, deren Datensatz seit Anfang 2015 für Analysen zur Verfügung steht, wurde neu die AHV-Nummer erfragt. Gestützt auf das Bundesstatistikgesetz ist es auch hier grundsätzlich möglich, die Daten mit Registerdaten aus dem Migrationsbereich zu verknüpfen und damit Informationen über das Herkunftsland oder den Zuwanderungszeitpunkt zu gewinnen. Auf der Grundlage solcher Daten können beispielsweise Lohnunterschiede zwischen ansässigen und zugewanderten Arbeitskräften näher untersucht werden. Nach einigen Jahren ­ wenn mehrere Jahrgänge der Lohnstrukturerhebung mit AHV-Nummer verfügbar werden ­ lassen sich auch Lohn-entwicklungen von zugewanderten Personen analysieren. Nach Auffassung des Bundesrates sollten die Daten aus der Lohnstrukturerhebung im Hinblick auf entsprechende Analysen durch Registerdaten aus dem ZEMIS ergänzt werden.

Neben den von der PVK aufgebrachten Fragen gibt es weitere Forschungsfragen im Themenkreis Migration und Arbeitsmarkt, die durch Datenverknüpfungen besser untersucht werden könnten. Ein Beispiel betrifft etwa die Frage, wie sich Erwerbsverläufe von zugewanderten Personen sowie Grenzgängerinnen und Grenzgängern von Erwerbsverläufen ansässiger Personen unterscheiden. Der Bundesrat erachtet es als wichtig, dass die bestehenden Registerdaten im Sinne des Bundesstatistikgesetzes auch für solche Fragestellungen genutzt werden können.

Das Bundesstatistikgesetz liefert in Artikel 14a eine geeignete gesetzliche Grundlage zur Verknüpfung von Daten zu statistischen Zwecken. Wichtig ist dabei, dass die Daten nicht direkt im Vollzug ­ beispielsweise bei der Überprüfung von Lohnund Arbeitsbedingungen ­ verwendet werden und dass insbesondere keine Unternehmen oder Personen direkt identifiziert werden können. Solche Datenverwendungen sind durch das Bundesstatistikgesetz nicht abgedeckt. Die Verwendung von Registerdaten zu Vollzugszwecken erfordert eine besondere gesetzliche Grundlage.

Im Bericht der PVK vom 6. November 2013 zuhanden der GPK-N wird festgehalten, dass die Ergebnisse des Observatoriumsberichtes als wichtigste Grundlage für die öffentliche Kommunikation der Bundesbehörden über die Vor- und Nachteile des FZA ­ trotz fehlender Datenverknüpfung ­ von der Studie der PVK weitgehend bestätigt wurden. Der Mehrwert einer grundlegenden Neuausrichtung der statistischen
Auswertungen ist daher aus Sicht des Bundesrates nicht zwingend gegeben.

Zusätzliche Abklärungen und weitergehende Analysen im Rahmen des Observatoriums, beispielsweise durch eine Datenverknüpfung, setzen aus Sicht des Bundesrates auch einen zusätzlichen, permanenten Ressourceneinsatz voraus. Deshalb wäre die Einführung umfassender Analysen mit einem personellen Mehraufwand verbunden, der im Kontext der gegenwärtigen finanz- und personalpolitischen Situation betrachtet werden muss.

Die GPK-N streicht zudem die Bedeutung der Working-Poor-Problematik im Zusammenhang mit der Zuwanderung heraus.

Die Problematiken der Tiefstlöhne und der Working-Poor können nicht gleich behandelt werden. Im ersten Fall steht ein individuelles Erwerbseinkommen im Vordergrund, im zweiten Fall das Gesamteinkommen (bspw. Erwerbseinkommen, Sozialtansfers, private Transfers, Vermögenseinkünfte) aller Mitglieder des Haushaltes. Ein tiefes Lohnniveau kann grundsätzlich dazu führen, dass das Haushaltseinkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt.

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Gemäss Studie der PVK lag der Anteil an Personen, die aus den EU-17-/EFTAStaaten15 im Rahmen des FZA zugewandert waren und im Jahr 2010 erwerbstätig und gleichzeitig auf Sozialhilfe angewiesen waren, bei 0,6 %. Bei Schweizerinnen und Schweizern lag diese Quote bei 1,0 %, bei EU-17-/EFTA-Staatsangehörigen, die vor dem Inkrafttreten des FZA zugewandert waren, bei 0,8 %. Leicht darüber lag die Quote mit 1,1 % für Personen, die aus einem südlichen EU-Land in die Schweiz zugewandert waren. Aufgrund der insgesamt kleinen Anteile gestaltet sich eine Früherkennung dieses Problems, das sehr unterschiedliche Ursachen haben kann, als schwierig. Der Bundesrat unterstützt aber das Anliegen, die Entwicklung des Phänomens im Sinne der GPK-N durch Analyse von verknüpften Daten aufmerksam zu verfolgen.

Ein Grund dafür, dass Zuwanderinnen und Zuwanderer aus Südeuropa gegenüber Schweizerinnen und Schweizern leicht stärker von der Working-Poor-Problematik betroffen sind, dürfte darin liegen, dass sie viel häufiger in Branchen mit eher tiefen Löhnen und teilweise erhöhtem Arbeitslosenrisiko tätig sind. Allerdings ist der Lohn nur ein Risikofaktor unter vielen. Daneben spielt etwa die Familiensituation (bspw.

eine Trennung oder die Zahl betreuungspflichtiger Kinder) eine wichtige Rolle.

Auch ein verringertes Arbeitspensum etwa durch Teilzeitarbeit oder durch einen Stellenverlust der Partnerin oder des Partners kann zu einer Sozialabhängigkeit bei teilweiser Erwerbstätigkeit führen.

Der Bundesrat bleibt damit der Ansicht, dass die gleichen Massnahmen, die auf die Schweizer Bevölkerung gerichtet sind, auch den Zuwanderinnen und Zuwanderern in ähnlichen Situationen zugutekommen.

Bezogen auf die Löhne sind die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU das relevante Instrument. Sie schützen Erwerbstätige vor der missbräuchlichen Unterschreitung der in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen. Mit seinem Bericht vom 2. Juli 201416 im Rahmen der Nachkontrolle informierte der Bundesrat die GPK-N ausführlich über die Umsetzung der Verbesserungsmassnahmen im Bereich der flankierenden Massnahmen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass den Vollzugsorganen des Entsendegesetzes vom 8. Oktober 199917 mit den flankierenden Massnahmen ein wirksames Instrumentarium zur Verfügung steht,
im Rahmen dessen missbräuchliche Lohnund Arbeitsbedingungen effizient bekämpft werden können und das Risiko für Erwerbsarmut von zugewanderten Arbeitskräften begrenzt werden kann. Vor allem das angesprochene Thema der sehr tiefen Löhne wird durch die flankierenden Massnahmen gezielt adressiert. Schädliche Nebenwirkungen auf die Beschäftigung ­ wie sie etwa mit einem nationalen Mindestlohn zu befürchten wären ­ können mit flankierenden Massnahmen eher vermieden werden. Solche Nebenwirkungen wären im Hinblick auf die Armutsbekämpfung nämlich kontraproduktiv.

Im Rahmen der Umsetzungsarbeiten zum neuen Verfassungsartikel 121a soll die Einhaltung von üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen ebenfalls durchgesetzt werden, sodass für die Arbeitnehmenden ein äquivalentes Schutzniveau bei den 15

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EU-17-Staaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, Vereinigtes Königreich, Zypern.

Nicht veröffentlichter Bericht des Bundesrates vom 2. Juli 2014 auf das Schreiben der GPK-N «Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkung ­ Nachkontrolle» vom 4. April 2014.

SR 823.20

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Lohn- und Arbeitsbedingungen erreicht wird. Gemäss Vernehmlassungsentwurf vom 11. Februar 2015 sollen bei der Zulassung zum schweizerischen Arbeitsmarkt die Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie der Inländervorrang im Bewilligungsverfahren geprüft werden.

Die Bekämpfung der Armut und der Armut mit Erwerbstätigkeit (Working-Poor) muss aus Sicht des Bundesrates weiterhin gesamtheitlich erfolgen. Die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten leistet einen Beitrag zur Bekämpfung der Armut, und zwar auch dann, wenn die Erwerbstätigkeit zur Deckung des Lebensunterhalts nicht in jedem Einzelfall ausreicht. Zu bedenken ist auch, dass viele Haushalte nur vorübergehend auf Sozialhilfe angewiesen sind und dass eine Erwerbsarbeit häufig einen Ausstieg aus der Armut ermöglicht. Wie bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Arbeitslosenversicherung oder bei den Integrationsmassnahmen im Rahmen der Invalidenversicherung sind die Kantone und Gemeinden aufgefordert, auch in der Sozialhilfe eine Integration in den Arbeitsmarkt anzustreben.

Das FZA bietet ebenfalls gewisse Spielräume, um zu verhindern, dass neu zugewanderte Personen in der Schweiz von Sozialhilfe abhängig werden. Diese Spielräume werden durch den Bundesrat genutzt.

Empfehlung 4

Notwendige Grundlagen für Informationszugang schaffen

Der Bundesrat wird aufgefordert, zu prüfen, wie die kantonalen Vollzugsbehörden an die für die Steuerung der FZA-Zuwanderung notwendigen Informationen gelangen, namentlich über die Änderung des Aufenthaltszwecks und über eine Aufnahme oder Aufgabe einer Erwerbstätigkeit, ohne die Regelung des Personenfreizügigkeitsabkommens zu verletzen.

Die GPK-N begrüsst es, dass der Bundesrat im Rahmen der Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmung prüfen will, ob eine Meldepflicht bei Änderung des Aufenthaltszwecks oder Aufnahme bzw. Aufgabe der Erwerbstätigkeit opportun und zulässig ist. Sie bittet den Bundesrat, dass er sie nach Abschluss seiner Abklärungen über die Ergebnisse der Prüfung informiert.

Der Bundesrat hat am 11. Februar 2015 die Vernehmlassung zur gesetzlichen Umsetzung von Artikel 121a BV und das Verhandlungsmandat zur Anpassung des FZA verabschiedet. Der Vernehmlassungsentwurf enthält die Grundzüge des neuen Zulassungssystems. Eine allfällige Meldepflicht für EU-/EFTA-Staatsangehörige ist nicht Teil des Vernehmlassungsentwurfs. Ausserdem muss das FZA entsprechend dem Verfassungsauftrag angepasst werden, da die Zulassung für EU-Staatsangehörige wie bisher im FZA geregelt wird.

Im Rahmen der weiteren Umsetzungsarbeiten zu Artikel 121a BV wird der Bundesrat die Einführung einer Meldepflicht für EU-/EFTA-Staatsangehörige weiter vertieft prüfen.

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Empfehlung 7

Notwendige Instrumente zur Verfügung stellen

Der Bundesrat wird aufgefordert, zu prüfen, wie sowohl den vollzugsverantwortlichen Behörden als auch dem BFM ein Instrument zur Verfügung gestellt werden kann, das ihnen erlaubt, ihre jeweilige Aufgabe (Vollzug bzw. Aufsicht) zu erfüllen. Dabei sollen die Funktionalität und die tatsächliche Nutzung des ZEMIS überprüft und allenfalls angepasst werden.

Die GPK-N kritisiert in ihrem Bericht vom 6. November 2014, dass der Bundesrat die Empfehlung 7 nicht ausreichend geprüft habe. Weiter weist sie darauf hin, dass die gesetzlichen Grundlagen vorsehen würden, dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) für eine einheitliche Praxis beim kantonalen Vollzug des FZA besorgt sein solle, und dass das SEM über ein Instrument verfügen müsse, das es ihm erlaube, sich selber ein Bild über den Vollzug zu machen und bei Bedarf selber zu agieren. Die GPK-N weist ausserdem darauf hin, dass das ZEMIS gemäss den geltenden gesetzlichen Bestimmungen den Zweck habe, das SEM beim Vollzug zu unterstützen.

Bei einem entsprechenden Ausbau des ZEMIS stellen sich neben technischen Fragen auch rechtliche Fragen des Datenschutzes und der Vereinbarkeit mit dem FZA.

Die konkrete Ausgestaltung des ZEMIS oder eines anderen technischen Instruments der Datenerfassung wird bestimmt von den rechtlichen Rahmenbedingungen, die der Datenschutz und das FZA vorsehen, sowie der Frage, wie die Vollzugs- und Aufsichtsaufgaben der Kantone beziehungsweise des Bundes konkret definiert werden.

In seiner Stellungnahme vom 13. August 2014 hat der Bundesrat unter Berücksichtigung dieser Aspekte dargelegt, weshalb er eine Anpassung des ZEMIS als nicht zielführend erachtet. Aus rein technischer Sicht gibt es verschiedene Möglichkeiten, das ZEMIS anzupassen.

Die umfassendste Variante wäre, eine permanente Datenverknüpfung und -speicherung im ZEMIS vorzusehen, wie sie für den Bericht der PVK bereits einmal durchgeführt wurde, jedoch in personalisierter und nicht in anonymisierter Form.

Alle potenziell aufenthaltsrechtlich relevanten Daten sowie alle erforderlichen Informationen zur Nachverfolgung des Aufenthalts- und Erwerbsverlaufs und des Verlaufs von Sozialleistungsbezügen würden aus unterschiedlichen Informationssystemen verschiedener Bundesstellen mittels der AHV-Nummer ans ZEMIS übermittelt. Den kantonalen Vollzugsbehörden stünden damit
permanent und personalisiert alle notwendigen Informationen zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts und zur Anpassung des im ZEMIS registrierten Aufenthaltszwecks zur Verfügung. Mittels Daten aus dem AHV-Einkommensregister wäre beispielsweise im ZEMIS jederzeit ersichtlich, ob eine Person arbeitet oder nicht.

Aus Sicht des Datenschutzes und im Lichte des FZA ist diese Variante jedoch problematisch, und es ist auch fraglich, ob zur Ausübung der Vollzugsaufgaben die Weiterleitung dieser grossen Datenmenge und ihre Speicherung im ZEMIS überhaupt erforderlich und verhältnismässig ist, da ein Teil der übermittelten Daten nicht unmittelbar aufenthaltsrechtlich relevant ist. Selbst wenn dies im Grundsatz datenschutzrechtlich zulässig wäre, müssten noch die notwendigen Grundlagen auf Gesetzesstufe geschaffen werden. Aus technischer Sicht müsste mit Kosten in Millionenhöhe und einem Umsetzungshorizont von mehreren Jahren gerechnet werden.

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Eine weitere Variante bestünde darin, nur diejenigen Informationen automatisch ans ZEMIS zu übermitteln und im ZEMIS zu speichern, die die Migrationsbehörden bereits heute ­ allerdings ausserhalb des ZEMIS ­ erhalten. Dies sind Daten der Behörden der Sozialhilfe, der Arbeitslosenversicherung und künftig auch der Ergänzungsleistungen18. In diesen Fällen ist eine unmittelbare Überprüfung des Aufenthaltsrechts zwingend. Im Gegensatz zur ersten Variante würden keine zusätzlichen Daten zur lückenlosen Nachverfolgung des Aufenthalts-, Erwerbs- und Sozialleistungsbezugsverlaufs übermittelt. Mit der automatisierten Weiterleitung der erwähnten potenziell aufenthaltsrechtlich relevanten Daten ans ZEMIS würde gewährleistet, dass die Meldungen die kantonalen Vollzugsbehörden erreichen und für alle Kantone, aber auch für den Bund zu Aufsichtszwecken, einsehbar sind. Bezüglich des Datenschutzes gelten die gleichen Voraussetzungen wie bei der ersten Variante.

Aufgrund der kleineren Datenmenge und der kleineren Anzahl betroffener Informationssysteme dürften die Kosten leicht tiefer sein als bei der ersten Variante, der zeitliche Umsetzungshorizont wäre aber auch hier mindestens zwei Jahre.

Beide Varianten sind in technischer, finanzieller und zeitlicher Hinsicht ein grosses Vorhaben. Der Bericht der PVK vom 6. November 2013 zuhanden der GPK-N hat gezeigt, dass es nicht viele Fälle sind, in denen das Aufenthaltsrecht aufgrund von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug entzogen werden kann (vgl. Kap. 5.2.2 und 5.3.2 des Berichts). Es stellt sich daher die Kosten-Nutzen-Frage eines ZEMISAusbaus. Diese Frage ist insbesondere auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen finanz- und personalpolitischen Situation zu diskutieren. Weiter ist aus Sicht des Bundesrats ­ abgesehen von der Frage der datenschutzrechtlichen Machbarkeit ­ zu berücksichtigen, dass die Umsetzung der ersten Variante eine grundlegende Neuausrichtung der Vollzugsaufgaben der Kantone bedeuten würde, da eine Verschiebung von einer punktuellen, ereignisbezogenen Überprüfung zu einer permanenten Überprüfung des Aufenthaltsrechts stattfinden würde.

Die GPK-N beauftragt den Bundesrat, drei Empfehlungen betreffend den Vollzug des FZA durch die Kantone im Rahmen des Postulats 14.4005 zu beantworten. Bei der Erarbeitung des Berichts in Beantwortung dieses
Postulats wird der Bundesrat auch untersuchen, ob die Unterschiede im kantonalen Vollzug auf eine mangelhafte Datenlage im ZEMIS zurückzuführen sind, und dabei auch eine Anpassung des ZEMIS prüfen. Der Bundesrat schlägt vor, diese Ergebnisse für einen abschliessenden Entscheid zur Umsetzung der Empfehlung 7 heranzuziehen.

Das ZEMIS kann dem Bund nur als Aufsichtsinstrument über die Kantone dienen, wenn die kantonalen Vollzugsbehörden im ZEMIS festhalten, ob und wie sie auf die potenziell aufenthaltsrechtlich relevanten Meldungen fachfremder Behörden reagieren. Konkret müssten die Vollzugsbehörden konsequent den Stand des Verfahrens zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts und allfällige aufenthaltsbeendende Massnahmen im ZEMIS eintragen. Der Bundesrat ist bisher davon ausgegangen, dass eine derart enge Überwachung des kantonalen Vollzugs nicht der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen im Rahmen des FZA und den föderalistischen Prinzipien entspricht. Er nimmt zur Kenntnis, dass die GPK-N dem Bund eine aktivere Rolle bei der Überprüfung des Vollzugs des FZA durch die Kantone zuweist. Es ist aus Sicht des Bundesrats unbestritten, dass der Bund beziehungsweise das SEM für die Aufsicht des Vollzugs des FZA durch die Kantone zuständig ist. Wie aber auch 18

Vgl. Art. 82 Abs. 5­7 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit, SR 142.201.

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die GPK-N selbst in ihrem Bericht vom 4. April 2014 schreibt, ist der Umfang der Aufsichtspflicht im Gesetz nicht abschliessend definiert. Wenn die Kantone gesetzlich verpflichtet werden, den Stand und die Ergebnisse von Verfahren zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts im ZEMIS einzutragen, könnte der Bund eine aktivere Aufsicht über die Kantone ausüben. Technisch kann dies über einen Ausbau sogenannter Bemerkungscodes, die bereits heute bestehen, oder über die Einführung neuer Datenfelder im ZEMIS sowie entsprechende Weisungen umgesetzt werden.

Die Kosten für die technische Umsetzung dieser Massnahmen werden zurzeit auf mindestens 100 000 Franken geschätzt bei einer Umsetzungsdauer von einem Jahr.

Anpassungen auf Gesetzesebene sind erforderlich, weil einerseits besonders schützenswerte Daten gespeichert würden und andererseits eine gesetzliche Verpflichtung zur Datenerfassung für die Kantone geschaffen werden müsste.

Zusätzlich zu den Kosten für die technischen Anpassungen müssten für eine umfassende Kontrolltätigkeit des Bundes mittels ZEMIS erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen, damit eine regelmässige und flächendeckende Analyse der ZEMIS-Daten beziehungsweise des kantonalen Vollzugs erfolgen könnte.

Empfehlung 9

Ressourcenausstattung der zuständigen Sektion im BFM

Der Bundesrat veranlasst umgehend, dass das Amt bzw. das Departement dafür sorgt, dass die Aufgaben und Ressourcen der zuständigen Sektion in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, damit dieses eine aktive Aufsicht betreiben kann.

Der Bundesrat hat die Frage bezüglich einer genügenden Ressourcenausstattung der Sektion Personenfreizügigkeit des SEM geprüft und er kommt zum Schluss, dass es derzeit zu früh ist, diese Frage abschliessend zu beantworten. Er ist der Ansicht, dass erst der Bericht in Beantwortung des von der GPK-N eingereichten Postulates 14.4005 zu den Fragen des kantonalen Vollzugs abgewartet werden muss. Das Postulat wurde am 11. März 2015 durch den Nationalrat angenommen. Die sich dort stellenden inhaltlichen Fragen zu Umfang und Ausgestaltung der Aufsichtspflicht des Bundes gegenüber den kantonalen Vollzugsorganen müssen aus Sicht des Bundesrates zuerst mit den zuständigen Vertreterinnen und Vertretern der Kantone diskutiert werden. Der Bundesrat schlägt daher vor, dass Empfehlung 9 im Rahmen des Berichts in Erfüllung des Postulates 14.4005 abschliessend geklärt und beantwortet wird.

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