10.431 Parlamentarische Initiative Komatrinker sollen Aufenthalte im Spital und in Ausnüchterungszellen selber bezahlen Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 17. April 2015

Sehr geehrter Herr Präsident, Sehr geehrte Damen und Herren, Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes vom 18. März 19941 über die Krankenversicherung. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

17. April 2015

Im Namen der Kommission Der Präsident: Guy Parmelin

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SR 832.10

2015-1253

4115

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Am 19. März 2010 reichte Nationalrat Toni Bortoluzzi (SVP, ZH) im Nationalrat die parlamentarische Initiative «Komatrinker sollen Aufenthalte im Spital und in Ausnüchterungszellen selber bezahlen» (10.431) ein. Sie fordert eine Reform des Bundesgesetzes vom 18. März 19942 über die Krankenversicherung (KVG) und allenfalls weiterer Gesetze, so dass die medizinische Notversorgung, welche aufgrund von exzessivem Alkohol- und Drogenmissbrauch notwendig wird, durch die Verursacher oder ihre gesetzlichen Vertreter in vollem Umfang abgegolten werden muss. Die parlamentarische Initative verlangt zudem, dass die Verursacher respektive ihre gesetzlichen Vertreter die Kosten des Aufenthalts in einer Ausnüchterungszelle selber tragen müssen.

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) prüfte die parlamentarische Iniative anlässlich der Sitzungen vom 18. Februar 2011 und 13. Mai 2011 und beschloss, ihr mit 14 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge zu geben. Die ständerätliche Schwesterkommission (SGK-S) stimmte diesem Entscheid der SGK-N an der Sitzung vom 24. Januar 2012 mit 7 zu 2 Stimmen zu.

An ihrer Sitzung vom 29. Februar 2012 beaufragte die SGK-N ihre Subkommission «KVG»3 mit der Erarbeitung einer Vorlage zur Umsetzung der parlamentarischen Initative. Die Subkommission ihrerseits zog Sachverständige des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) bei. In einer ersten Sitzung vom 2. Juli 2012 entschied sie, breite Anhörungen zu den Anliegen der Initiative durchzuführen. In der Folge hörte die Subkomission am 10. Oktober 2012 Vertreter von Spitälern, insbesondere der Notfallaufnahmen, der Eidgenössischen Kommission für Alkoholfragen, der städtischen Gesundheitsdienste und des Polizeidepartementes der Stadt Zürich sowie von Sucht Schweiz an. Zudem nahm sie verschiedene Grundlagenberichte der Verwaltung zur Kenntnis, die sie vorgängig in Auftrag gegeben hatte.

An ihrer Sitzung vom 27. Februar 2013 einigte sich die Subkommission auf einen Vorentwurf zuhanden der SGK-N, der sich auf den übermässigen Alkoholkonsum beschränkt.

Am 15. August 2013 lehnte es die Kommission mit 13 zu 11 Stimmen ab, die Massnahmen nur in Form eines Pilotprojektes einzuführen und trat mit 14 zu 9 Stimmen bei 1 Enthaltung auf den Vorentwurf der Subkommssion ein.

Am 24. Oktober 2013 bereinigte die SGK-N den
Vorentwurf ihrer Subkommission und stimmte ihm in der Gesamtabstimmung mit 16 zu 8 Stimmen zu; sie beauftragte das Kommissionssekretariat in Zusammenarbeit mit der Verwaltung mit der Ausarbeitung des erläuternden Berichts. Gleichzeitig beschloss sie ein Kommissionspostulat (13.4007) zur Frage der Kostendeckung von Ausnüchterungszellen.

Schliesslich beschloss die Kommission am 27. Juni 2014 ohne Gegenstimme, das Vernehmlassungsverfahren zu dieser Vorlage zu eröffnen. Die Vernehmlassung dauerte bis am 31. Oktober 2014. An ihrer Sitzung vom 17. April 2015 diskutierte 2 3

SR 832.10 Humbel, Bortoluzzi, Carobbio Guscetti, Cassis, Fehr Jacqueline, Frehner, Gilli, Moret, Schmid-Federer, Stahl, Steiert

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die SGK-N die Vernehmlassungsergebnisse4 und entschied mit 13 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung, den Erlassentwurf zusammen mit diesem Bericht unverändert an den Nationalrat zu überweisen und an den Bundesrat zur Stellungnahme.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Ausgangslage und Zielsetzungen

Als Konsumgut sind alkoholische Getränke fester Bestandteil der Essens- und Trinkkultur und des gesellschaftlichen Lebens in der Schweiz. Dementsprechend trinkt der Grossteil der Bevölkerung Alkohol (vgl. Ziff. 2.2.1). Die überwiegende Mehrheit pflegt einen verantwortungsvollen Umgang mit alkoholischen Getränken, bei dem der Genuss im Vordergrund steht. Es gibt allerdings einen Teil der Bevölkerung, der einen nicht nur aus gesundheitlicher, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht problematischen Konsum an den Tag legt.

Von problematischem Alkoholkonsum wird dann gesprochen, wenn durch das Konsumieren von Alkohol die eigene Gesundheit oder diejenige anderer Personen gefährdet wird und entsprechende Schäden in Kauf genommen oder verursacht werden. Grundsätzlich betrifft dieser problematische Alkoholkonsum alle Alterskategorien.

In den letzten Jahren wurde vor allem das Phänomen des sogenannten Koma- bzw.

Rauschtrinkens in der Öffentlichkeit kontrovers thematisiert. Dabei handelt es sich um den Konsum einer grossen Menge Alkohol bei einer Gelegenheit und innnerhalb eines kurzen Zeitraums (vgl. Ziff. 2.2.2). Gegenüber solchen Alkoholexzessen, die auf Jugendliche oder junge Erwachsene einen besonderen Reiz ausüben und dementsprechend verbreitet sind, zeigte sich ein breites Unbehagen. Letzteres hängt nicht zuletzt mit den negativen Begleiterscheinungen solcher Trinkgelage zusammen, die sich oftmals im öffentlichen Raum manifestieren. Konkret sind hier etwa Lärmemissionen, Littering oder Pöbeleien und Raufereien zu nennen, welche in der öffentlichen Diskussionen um das Thema Rauschtrinken unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen genannt werden und für Unverständnis sorgen.

Mit übermässigem Alkoholkonsum gehen gesundheitliche Beeinträchtigungen einher, wobei das Rauschtrinken als besonders riskantes Konsumverhalten gilt.

Zudem reagieren junge Menschen gesundheitlich stärker auf den Konsum von Alkohol als Erwachsene, befinden sich ihre Organe noch in der Entwicklung und reagieren deshalb empfindlicher auf Alkohol5.

In der Folge wurde das Rauschtrinken auch Thema verschiedener parlamentarischer Vorstösse (vgl. inbesondere die Motionen Stahl 07.3202 und Humbel 08.3201).

Mit der vorliegenden Revision des KVG werden diese Forderungen und andere aufgenommen. Damit sollen Rauschtrinker für ihren
problematischen Umgang mit Alkohol finanziell in die Pflicht genommen werden. Die medizinischen Leistungen, die aufgrund von übermässigem Alkoholkonsum anfallen, sollen durch die Verur4

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Vgl. den Bericht vom 17. April 2015 über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens sowie die einzelnen Stellungnahmen: www.parlament.ch/d/dokumentation/berichte/ vernehmlassungen/10-431/Seiten/default.aspx Vgl. Botschaft zur Totalrevision des Alkoholgesetzes vom 25. Januar 2012 (BBl 2012 1339)

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sacher in vollem Umfang bezahlt werden. Die Kommission erhofft sich davon primär eine Stärkung der Eigenverantwortung. Im besten Fall hat die Vorlage auch einen allgemein präventiven Effekt hinsichtlich eines verantwortungsvollen Umgangs mit Alkohol.

2.2

Aktuelle Situation

2.2.1

Alkoholkonsum in der Schweiz

In der Schweiz wird regelmässig Alkohol getrunken. Auf der Basis der Daten des Suchtmonitorings Schweiz6 lässt sich das folgende Bild zeichnen: die Ergebnisse des Jahres 2012 zeigen, dass in der Bevölkerung ab 15 Jahren neun von zehn Personen zumindest gelegentlich Alkohol trinken (88.3 %). Etwa eine von zehn Personen berichtet einen täglichen Konsum (10.3 %), 45.3 % trinken mehrmals pro Woche und ein Drittel trinkt seltener als wöchentlich (32.5 %). Rund eine von zehn Personen trinkt nicht mehr bzw. hat in ihrem Leben noch nie getrunken (11.8 %).

Gemäss den Befragungen des Monitorings trinken Männer generell mehr Alkhohol als Frauen (92.4 % bzw. 84.3 %) und erstere trinken auch häufiger täglich (14.4 % bzw. 6.5 %); der tägliche Konsum ist im Vergleich zum Vorjahr leicht angestiegen.

Mit zunehmendem Alter nimmt der tägliche Konsum zu, von 1.0 Prozent bei den 15bis 19-Jährigen auf 26.4 Prozent bei Personen ab 75 Jahren. Täglicher Konsum ist in der italienischsprachigen Schweiz (21.8 %) weiter verbreitet als in der deutsch(8.1 %) und französischsprachigen Schweiz (15.4 %), jedoch liegen auch die Abstinenzraten höher (21.1 % bzw. 9.7 % deutsch- und 16.3 % französischsprachige Schweiz).

In der Altersgruppe der 15­24-Jährigen wird am wenigsten täglich getrunken. Dafür wird in dieser Altersgruppe an denjenigen Tagen, an denen Alkohol konsumiert wird, eher risikoreich getrunken. Die 2010 durchgeführte repräsentative Schülerbefragung HBSC7 zeigt, dass Alkohol unter Jugendlichen verbreitet ist: Fast jeder zweite 15-Jährige Junge und jedes dritte gleichaltrige Mädchen trinkt mindestens monatlich Alkohol. Rund ein Viertel (27 %) der 15-jährigen Jungen konsumieren wöchentlich Alkohol. Bei den gleichaltrigen Mädchen beträgt der Anteil 13 Prozent.

Von den befragten 11-jährigen Jugendlichen haben etwa 20 Prozent Erfahrungen mit Alkohol gemacht, bei den 15-Jährigen liegt dieser Anteil bei 72 Prozent. Gemäss

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7

Das Suchtmonitoring Schweiz ist ein epidemiologisches Überwachungssystem, das vom BAG in Auftrag gegeben wurde. Sein Zweck ist das Zusammentragen und die Verbreitung von Informationen über das Verhalten der in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung in Bezug auf psychoaktive Substanzen (Tabak, Alkohol, illegale Drogen, Medikamente) sowie den damit verbundenen Risiken (Abhängigkeit, gesundheitliche Schäden, psychosoziale Probleme). Seit Anfang 2011 werden jährlich 11 000 in der Schweiz wohnhafte Personen (ab 15 Jahren) zu den Themen Alkohol, Tabak, illegale Drogen und Medikamente befragt. (www.suchtmonitoring.ch) Die Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) Studie ist eine Untersuchung von Schülerinnen und Schülern von 11 bis 15 Jahren. Sie wird unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO - Regional Office for Europe) durchgeführt und findet alle vier Jahre statt. Die Schweiz nimmt seit 1986, vertreten durch Sucht Schweiz (ehemals Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme), an der Untersuchung teil. (www.hbsc.ch)

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dieser Befragung berichteten zwei Prozent der 11-Jährigen und 20 Prozent der 15-Jährigen einen wöchentlichen Konsum8.

Auf Basis des Suchtmonitorings von 2012 kann generell gesagt werden, dass am Wochenende mehr Alkohol getrunken wird als unter der Woche; dies gilt für beide Geschlechter, alle Sprachregionen und alle Altergruppen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass jüngere Peronen hauptsächlich am Wochenende trinken und wenn sie trinken, dann trinken sie viel Alkohol. Mit zunehmendem Alter wird der Konsum regelmässiger, dafür wird jeweils weniger konsumiert.

2.2.2

Rauschtrinken

Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) können bezüglich Alkoholkonsum verschiedene Risikogruppen unterscheiden werden. Beim risikoreichen Konsum von Alkohol ist grundsätzlich zwischen chronisch risikoreichem Konsum und episodisch risikoreichem Konsum (sogenanntes Rauschtrinken) zu unterscheiden. Rauschtrinken steht für den übermässigen Alkoholkonsum bei einzelnen Gelegenheiten, der zu körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen führt. Nach internationalen Richtlinien gilt der Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken bei einer Gelegenheit bei Männern und vier alkoholischen Getränken oder mehr bei Frauen als Indikator für Rauschtrinken9.

Während bei der älteren Bevölkerung eher das chronisch risikoreiche Trinken im Vordergrund steht, dominiert bei der jungen Bevölkerung die Form des Rauschtrinkens: 28 Prozent der 15- bis 19-Jährigen und 42 Prozent der 20- bis 24-Jährigen trinken sich gemäss den Resultaten des Suchtmonitorings Schweiz von 2012 mindestens ein Mal im Monat in den Rausch. Das Rauschtrinken hat im Vergleich zum Vorjahr leicht zugenommen10.

Auch insgesamt hat der risikoreiche Alkoholkonsum sowohl bei Frauen als auch bei Männern 2012 im Vergleich zu 2011 zugenommen, dies wurde insbesondere in den jüngeren Altersgruppen (15­19 Jahre und 20­24 Jahre) beobachtet und ist vorrangig auf die Zunahme im Rauschtrinken zurückzuführen11. Das Rauschtrinken ist aber auch bei den bis 34-Jährigen noch stark verbreitet (32 % mindestens monatlich, 15 % mindestens wöchentlich), erst in der Altersgruppe ab 35 Jahren sinkt der Anteil auf rund 18 % mindestens monatlich.

Dass übermässiger Alkoholkonsum unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet ist, zeigte die bereits erwähnte Schülerbefragung HBSC aus dem Jahr 2010: Danach gefragt, wie oft sie schon betrunken waren, gaben drei Prozent der 11-, 13 Prozent der 13- und 40 Prozent der 15-Jährigen an, schon mindestens einmal

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Windlin, B., Kuntsche, E. & Delgrande Jordan, M. (2011). Konsum psychoaktiver Substanzen Jugendlicher in der Schweiz ­ Zeitliche Entwicklungen und aktueller Stand. Resultate der internationalen Studie «Health Behaviour in School-aged Children» (HBSC) (Forschungsbericht Nr. 58, revidierte und aktualisierte Fassung). Lausanne: Sucht Info Schweiz Gmel G., Kuendig H., Notari L., Gmel C., Flury R. (2013). Suchtmonitoring Schweiz Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen in der Schweiz im Jahr 2012. Sucht Schweiz, Lausanne, S. 15 Ebenda, S. 16 Ebenda, S. 19

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im Leben betrunken gewesen zu sein; 24 Prozent der befragten 15-Jährigen waren schon mehrmals betrunken12.

Die Schweizerische Gesundheitsbefragung 201213 des Bundes kommt zu ähnlichen Resultaten: insgesamt 11 Prozent der Bevölkerung trinken sich mindestens einmal monatlich einen Rausch an. Rauschtrinken ist gemäss dieser Befragung mehrheitlich ein Männerphänomen: 15 Prozent der Männer tun dies monatlich und zwei Prozent wöchentlich (gegenüber 5 % und 1 % bei den Frauen). Das vermehrte Rauschtrinken ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet: sieben Prozent der 15- bis 24-jährigen Männer machen dies wöchentlich und weitere 28 Prozent monatlich14.

Nebst gesundheitlichem und gesellschaftlichem Schaden verursachen Rauschtrinker auch Kosten für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP), wenn sie aufgrund ihrer Alkoholexzesse medizinisch versorgt werden müssen. Diese Gesundheitskosten werden heute durch die Versichertengemeinschaft getragen. Damit strapazieren Rauschtrinker das in der OKP geltende Versicherungsprinzip und die Solidarität der Versichertengemeinschaft.

2.2.3

Situation in den Spitälern

Während das Suchtmonitoring Schweiz und die Schülerbefragung HBSC Auskunft über die aktuelle Entwicklungen beim Rauschtrinken geben, erlaubt die medizinische Statistik der Krankenhäuser15 Aussagen über die Anzahl Personen, die aufgrund einer Alkohol-Intoxikation in einem Schweizer Spital versorgt werden mussten.

Gemäss einer Studie16 von Sucht Schweiz vom März 2013, welche die medizinische Statistik der Krankenhäuser analysiert, wurden im Jahr 2010 rund 1 200 Jugendliche und junge Erwachsene in der Altersgruppe zwischen 10 und 23 Jahren wegen einer Alkohol-Intoxikation stationär in einem Schweizer Spital behandelt. Insgesamt wurden 2010 rund 27 000 Personen wegen einer alkoholbezogenen Diagnose in einem Spital behandelt, darunter auch 314 zehn- bis 15-Jährige. Pro Woche wurden

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16

Windlin, B., Kuntsche, E. & Delgrande Jordan, M. (2011), S. 3 Die Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) ist Bestandteil des statistischen Mehrjahresprogramms des Bundes und findet alle fünf Jahre statt. Befragt wird die ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in Privathaushalten. Erhoben werden insbesondere der Gesundheitszustand und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen. (www.bfs.admin.ch) Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012, Übersicht, BFS, Neuenburg 2013, S. 20 f.

(Alkoholkonsum). Hier gilt es zu berücksichtigen, dass diese Befragung eine leicht andere Definition des Rauschtrinkens verwendet als das Suchtmonitoring Schweiz. Rauschtrinken ist hier definiert als Konsum von sechs oder mehr Gläsern eines alkoholischen Standardgetränks bei einer Gelegenheit (unabhängig vom Geschlecht).

Die Medizinische Statistik der Krankenhäuser erfasst jedes Jahr die anfallenden Daten aller Hospitalisierungen in den Schweizerischen Krankenhäusern. Diese Erhebung wird von jedem Krankenhaus bzw. von jeder Klinik durchgeführt. Das Bundesamt für Statistik (BFS) erhebt sowohl soziodemographische Informationen der Patientinnen und Patienten wie Alter, Geschlecht, Wohnregion als auch administrative Daten wie Versicherungsart oder Aufenthaltsort vor der Hospitalisierung und medizinische Informationen wie Diagnosen und Behandlungen. (www.bfs.admin.ch) Wicki, M. (2013): Hospitalisierungen aufgrund von Alkohol-Intoxikation oder Alkoholabhängigkeit bei Jugendlichen und Erwachsenen ­ Eine Analyse der Schweizersichen «Medizinischen Statistik der Krankenhäuser» 2001­2010 (Forschungsbericht Nr. 62), Lausanne: Sucht Schweiz.

4120

2010 durchschnittlich 34 Jugendliche und junge Erwachsene (zehn- bis 23-Jährige) aufgrund einer alkoholbezogenen Diagnose hospitalisiert17.

Weiter zeigt diese Studie, dass in der Altersgruppe der zehn- bis 23-Jährigen die Spitaleinweisungen wegen einer Alkoholvergiftung im Jahr 2010 um 73 Prozent über dem Niveau von 2003 lagen. Im 2009 und 2010 gingen die Werte leicht zurück und erreichten das Niveau von 2007. Gemäss der Studie bleiben sie aber insgesamt besorgniserregend hoch, zumal bei übermässigem Alkolkonsum neben Vergiftungserscheinungen wie Gedächtnislücken, starker Übelkeit bis hin zu Kreislaufstörungen und Koma auch ein deutlich erhöhtes Risiko für Unfälle und Verletzungen sowie aggressives Verhalten besteht.

2.2.4

Aufenthalt in Ausnüchterungszellen

Die Stadt Zürich begegnet dem Phänomen des übermässigen Alkoholkonsums und seiner Begleiterscheinung mit der Einrichtung einer Zentralen Ausnüchterungsstelle (ZAS), die gemeinsam von der Stadtpolizei Zürich und den städtischen Gesundheitsdiensten als Pilotversuch betrieben wird. Die Zielsetzung der ZAS besteht darin, berauschte Personen, die im öffentlichen Raum sich selbst und/oder Dritte ­ Menschen, Tiere, Sachen ­ gefährden, in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen, medizinisch zu überwachen und betreut ausnüchtern zu lassen. Damit sollen unter anderem die Notaufnahme der Spitäler entlastet werden.

Die direkt verursachten Sicherheitskosten werden gestützt auf die kantonale Polizeigesetzgebung als Pauschalgebühr auf die Klienten überwälzt (je nach Länge des Aufenthalts in der ZAS beträgt diese bis zu 600 Fr.). Die medizinischen Leistungen hingegen werden den Krankenversicherern der eingewiesenen Personen nach KVG in Rechnung gestellt. Dafür wurde mit den Krankenversicherern eine Pauschale je Aufenthalt vereinbart.

Die in Ausnüchterungszellen18 erbrachten Leistungen zählen grundsätzlich nicht zu den vom KVG anerkannten Leistungen. Die Frage, wer für diese Kosten aufkommt, ist im kantonalen Recht geregelt und folglich nicht Gegenstand dieser Vorlage19.

2.3

Die beantragte Neuregelung

2.3.1

Grundsätze

Es wird angenommen, dass Personen, die so viel Alkohol konsumieren, dass sie deswegen eine medizinische Behandlung benötigen, diese selber verschuldet haben.

Deshalb sollen sie ihre Behandlungskosten auch selber bezahlen, damit diese nicht solidarisch von der Versichertengemeinschaft getragen werden müssen. Die Vorlage strebt eine Stärkung der Eigenverantwortung an. Personen, die übermässig Alkohol konsumieren, sollen durch die Aussicht, dass sie oder ihre gesetzliche Vertretung für 17 18

19

Ebenda, S. X (Zusammenfassung).

Auch im Oberwallis gibt es Erfahrungen mit Ausnüchterungszellen; vgl. dazu den Bericht im «Walliserbote» vom 21.05.2013 (www.1815.ch/wallis/aktuell/ ausnuechterungszellen-in-eyholz-bewaehren-sich-103390.html; abgerufen am 21.2.2014) Vgl. dazu das Kommissionspostulat der SGK-N «Evaluation der Kostendeckung von Ausnüchterungszellen» (13.4007)

4121

die Behandlungskosten dieses Konsums aufkommen müssen, im besten Fall davon abgehalten werden.

Ein zweiter wichtiger Grundsatz betrifft die rechtliche Unterscheidung zwischen Verschulden und Krankheit. Bei Personen, deren übermässiger Konsum auf eine Alkoholabhängigkeit zurückzuführen ist, aufgrund der sie seit mindestens 6 Monaten in ärztlicher Behandlung stehen, wird angenommen, dass sie kein Verschulden am übermässigen Alkoholkonsum trifft. Deshalb sollen sie weiterhin zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung behandelt werden können.

Schliesslich soll der Aufwand zur Umsetzung der neuen Regelung gering sein. Dies betrifft namentlich die Rechnungsstellung und deren Überprüfung.

2.3.2

Geprüfte Umsetzungsmöglichkeiten

Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 200020 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) regelt die Frage der Kürzung oder Verweigerung von Geldleistungen in bestimmten Fällen (Art. 21 ATSG). Bei den Heilbehandlungen und der Krankenpflege, die gemäss KVG übernommen werden, handelt sich jedoch um Sachleistungen (Art. 14 ATSG); sie können daher gestützt auf das ATSG nicht gekürzt werden. Eine entsprechende Änderung des ATSG erscheint als unverhältnismässig.

Auch eine Umsetzung analog den bestehenden Regelungen des Bundesgesetzes vom 20. März 198121 über die Unfallversicherung (UVG) wurde nicht weiterverfolgt.

Das UVG erlaubt gewisse Leistungen zu kürzen oder sogar auszuschliessen, wenn der Unfall absichtlich oder grob fahrlässig verursacht wurde. Kein Anspruch auf Versicherungsleistungen besteht insbesondere, wenn die versicherte Person den Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt hat (Art. 37 Abs. 1 UVG). Wenn die versicherte Person den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat, werden in der Versicherung der Nichtberufsunfälle die Taggelder, die während der ersten zwei Jahre nach dem Unfall ausgerichtet werden, gekürzt (Art. 37 Abs. 2 UVG). Bei Grobfahrlässigkeit können also nur die Geldleistungen (Renten, Taggelder) gekürzt werden; für die Kürzung von Sachleistungen, wozu auch die Heilbehandlung gehört, gibt es keine gesetzliche Grundlage.

2.3.3

Revision des KVG

2.3.3.1

Erhebung einer Kostenbeteiligung

Für die Umsetzung bietet sich deshalb eine Revision des KVG an. Grundsätzlich wäre die Umsetzung über den Weg der Nichtpflichtleistungen möglich. Der Bundesrat kann die von Ärztinnen und Ärzten erbrachten Leistungen bezeichnen, deren Kosten nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen von der OKP übernommen werden (Art. 33 Abs. 1 KVG). Die Schwierigkeit bestünde jedoch darin, die betroffenen Leistungen festzulegen: Die bei übermässigem Alkoholkonsum erforderlichen Leistungen sind keine spezifischen, klar abgrenzbaren Leistungen. So kann 20 21

SR 830.1 SR 832.20

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zum Beispiel eine Infusion oder eine Magenspülung bei verschiedenen Diagnosen angeordnet werden. Zudem werden bei Alkohol-Intoxikationen häufig mehrere Diagnosen gestellt (z. B. auch Körperverletzungen nach Unfall, Schlägerei).

Deshalb drängt sich eine Lösung mittels der Erhebung einer neuen Form der Kostenbeteiligung (Art. 64a0 KVG) auf. Die medizinische Behandlungskosten, die aufgrund von übermässigem Alkoholkonsum anfallen, sollen durch die Verursacher in vollem Umfang selber bezahlt werden.

Um der Zielsetzung einer Erhöhung der Eigenverantwortung zu entsprechen, soll die neue Kostenbeteiligung zusätzlich zu den übrigen Kostenbeteiligungen (Jahresfranchise, Selbstbehalt und Spitalkostenbeitrag) erhoben werden.

Die KVG-Änderung sieht hingegen vor, dass die neue Kostenbeteiligung nicht erhoben wird, wenn die versicherte Person nachweisen kann, dass sie kein Verschulden am übermässigen Alkoholkonsum traf oder dass sie unabhängig vom übermässigen Alkoholkonsum einer Behandlung bedurfte.

2.3.3.2

Evaluation und Befristung

Damit nachvollziehbar ist, wie sich die neue Regelung auf das Verhalten der versicherten Personen sowie der Leistungserbringer auswirkt, soll der Bundesrat beauftragt werden, deren Wirkung zu evaluieren. Er teilt dem Parlament das Ergebnis dieser Untersuchung spätestens ein Jahr vor Ablauf der Bestimmungen mit.

Es ist vorgesehen, die neue Regelung in den Schlussbestimmungen auf fünf Jahre ab Inkraftreten zu befristen. Das Parlament soll folglich vor Ablauf der Bestimmungen über alle relevanten Informationen betreffend die Auswirkungen der Regelung verfügen, um auf dieser Basis die weiteren Entscheidungen treffen zu können.

2.4

Minderheitsanträge

2.4.1

Nichteintreten

Eine Minderheit (Schmid-Federer, Fehr Jacqueline, Fridez, Heim, Hess Lorenz, Ingold, John-Calame, Rossini, Schenker Silvia, van Singer, Steiert) beantragt, auf die Vorlage nicht einzutreten. Dies aus verschiedenen Gründen.

Mit der Umsetzung der Initiative würde ein eigentlicher Paradigmenwechsel in der obligatorischen Krankversicherung (OKP) eingeleitet, mit dem das Verschuldungsprinzip eingeführt und das Solidaritätsprinzip abgeschafft würde. Heute hat demgegenüber jede kranke Person ­ unabhängig vom Grund der Erkrankung ­ das Recht auf eine Abgeltung der Heilungskosten durch die OKP, abgesehen einmal von Franchise und Selbstbehalt. Es sei nicht haltbar, dass dies für eine kleine Gruppe von so genannten Komatrinkern, vor allem Jugendliche, nicht mehr gelten soll. Man müsste sich in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen, weshalb nicht übergewichtige Personen, Raucher und Raucherinnen oder Alkohol- oder andere Süchtige zur Kasse geben werden sollen, da diese weitaus grössere Kosten in Milliardenhöhe für die Krankenversicherung verursachen. Die Vorlage verletzte in klarer Weise das Gleichbehandlungsprinzip. So würde beispielsweise regelmässiger Alko-

4123

holkonsum gegenüber Einzelexzessen privilegiert behandelt. Auch kennen die umliegenden Länder keine Kostenbelastung, wie sie die Initiative fordert.

Die Umsetzung einer solchen Revision wäre mit grossen praktischen Problemen verbunden. Wie soll ein Arzt oder eine Ärztin auf der Notfalleinrichtung beurteilen, ob ein eingelieferter «Komatrinker» bereits seit sechs Monaten in ärztlicher Behandlung ist? Was ist, wenn ein solcher Komatrinker sich wegen Alkoholismus erst seit 3 Monaten ärztlich behandeln lässt? Es würden hier neue Ungerechtigkeiten geschaffen, seriöse Einzelabklärungen wären unverhältnismässig aufwendig und neue Bürokratien würden geschaffen. Allenfalls käme es auch zu längeren und teuren rechtlichen Prozeduren, wenn sich die Betroffenen wehren. Zum Beispiel, wenn sie bestreiten, dass eine ärztliche Behandlung überhaupt nötig gewesen sei.

Aus Sicht der Prävention bestünde auch die Gefahr, dass sich «Komatrinker» wegen der drohenden Kosten gar nicht oder zu spät behandeln liessen. Die gesundheitlichen Folgekosten wären dann u.U. viel höher.

Schliesslich sei überhaupt nicht nachgewiesen, dass die von der Initiative verlangte Massnahme einen positiven präventiven Effekt habe. Sie würde aber ­ wie gezeigt ­ zahlreiche neue Probleme schaffen. Die sonst gesunden Komatrinker würden ohnehin einen massgeblichen Teil der Kosten der Notfalleinrichtung über die Franchise und den Selbstbehalt bereits heute begleichen.

2.4.2

Pilotversuch

Eine Minderheit (Fehr Jacqueline, Carobbio Guscetti, Heim, Rossini, Schenker Silvia, van Singer, Steiert, Streiff) plädiert lediglich für einen Pilotversuch.

Angesichts der vielen Vorbehalte, die die Minderheit Schmid-Federer ins Feld führt, wäre es sinnvoller, vor der definitiven Umsetzung der parlamentarische Initiative eine Versuchsphase einzuschalten, in der verschiedene Fragen, insbesondere auch diejenige über die Umsetzbarkeit, konkret geklärt werden könnten. Die Pilotphase bzw. das Pilotprojekt müsste fachlich begleitet und evaluiert werden. Anschliessend könnte definitiv über eine Weiterführung oder einen Abbruch entschieden werden.

Ein solches Vorgehen rechtfertige sich insbesondere, weil mit der Initiative ein eigentlicher Richtungswechsel in der sozialen Krankenversicherung eingeläutet würde, ohne dass bereits konkrete Erfahrungen zur Verfügung stehen.

3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.1

Bundesgesetz über die Krankenversicherung

Art. 64a0 Abs. 1 Die Leistungen, die nach übermässigem Alkoholkonsum erbracht werden, sollen versicherungspflichtig bleiben. Es soll jedoch eine neue Form der Kostenbeteiligung geschaffen werden.

Personen, die übermässig Alkohol konsumieren, benötigen oft nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund anderer Diagnosen eine Behandlung (z. B. wegen einer Körperverletzung nach einem Verkehrsunfall oder einer Schlägerei). Wenn die 4124

Kostenbeteiligung nur auf den Kosten derjenigen Leistungen erhoben würde, die der Behandlung der Alkoholintoxikation dienen, müssten die Leistungen auf die verschiedenen Diagnosen aufgeteilt werden, was zu einem unnötigen Aufwand für die Leistungserbringer führen würde. Dabei kann es Leistungen geben, die mehreren Diagnosen zugeordnet werden können. Bei stationären Behandlungen werden zudem in der Regel Fallpauschalen erhoben.

Solche Kostenaufteilungen sind schwierig vorzunehmen und im Nachhinein, beispielsweise im Rahmen einer Beschwerde, ist es sehr aufwendig nachzuweisen, dass die Kosten richtig aufgeteilt wurden. Deshalb sollen alle Leistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nachdem der übermässige Alkoholkonsum festgestellt wurde, erbracht werden, der neuen Form der Kostenbeteiligung unterstellt werden.

Für den Versicherer genügt der Nachweis, dass die versicherte Person übermässig Alkohol konsumiert hat und dass die Leistung im festgelegten Zeitraum erbracht wurde. Er braucht nicht zu prüfen, ob der Behandlungsbedarf ganz oder nur teilweise durch den Alkoholkonsum bedingt ist. Allerdings kann die versicherte Person den Nachweis erbringen, dass der natürliche oder der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem übermässigen Alkoholkonsum und dem Behandlungsbedarf unterbrochen wurden (siehe unten Abs. 3 Bst b).

Wenn der Gesundheitsschaden, der im entscheidenden Zeitraum behandelt wird, auf andere Ursachen als nur auf den Alkoholkonsum zurückzuführen ist, können teure Leistungen anfallen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einer aufwändigen Operation nach einem Verkehrsunfall oder nach einer Schlägerei. Da die betroffenen Versicherten für die von ihnen mitverursachten Behandlungskosten aufkommen sollen, wird kein jährlicher Höchstbetrag vorgesehen.

Art. 64a0 Abs. 2 Die neue Kostenbeteiligung soll 100 Prozent betragen. Da sie 100 Prozent beträgt und der Begriff «Beteiligung» ausschliesst, dass die versicherte Person mehr als die anfallenden Kosten bezahlen muss, können die übrigen Kostenbeteiligungen auf diesen Leistungen nicht erhoben werden. Die neue Kostenbeteiligung schliesst die übrigen Kostenbeteiligungen nach Artikel 64 (Franchise, Selbstbehalt und Spitalkostenbeitrag) somit aus. Sie wird zudem weder an die Jahresfranchise noch an den Höchstbetrag des Selbstbehaltes (Art. 64
Abs. 3 KVG und Art. 103 Abs. 2 KVV) angerechnet.

Art. 64a0 Abs. 3 Grundsätzlich wird die neue Kostenbeteiligung erhoben, sobald der übermässige Alkoholkonsum festgestellt wurde. Davon werden jedoch zwei Ausnahmen zugelassen: Bst. a.

Die Kostenbeteiligung soll nicht erhoben werden, wenn die versicherte Person nachweisen kann, dass sie kein Verschulden am übermässigen Alkoholkonsum traf.

Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sie genötigt wurde, zu trinken. Diese Regelung lehnt sich an Artikel 54 Absatz 2 Obligationenrecht an. Diese Bestimmung befreit Personen, die nachweisen, dass sie ohne Verschulden vorübergehend urteilsunfähig geworden sind, von der Schadenshaftung.

4125

Absatz 4 regelt zudem einen besonderen Fall der Verschuldenslosigkeit.

Bst. b.

Die Kostenbeteiligung soll auch nicht erhoben werden, wenn die versicherte Person nachweisen kann, dass die Leistung unabhängig vom übermässigen Alkoholkonsum erbracht werden musste. Dies ist der Fall, wenn kein natürlicher oder kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem übermässigen Alkoholkonsum und der Behandlung vorliegt.

Ein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen einem bestimmten Ereignis und einem Schaden liegt vor, wenn dieses Ereignis nicht weggedacht werden kann, ohne dass gleichzeitig der Schaden entfiele. Der natürliche Kausalzusammenhang fehlt, wenn eine Person auch ohne übermässigen Alkoholkonsum behandlungsbedürftig geworden wäre (z. B. wegen einer vorbestehenden Erkrankung).

Ein adäquater Kausalzusammenhang liegt vor, wenn der übermässige Alkoholkonsum nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Gesundheitsschaden von der Art des eingetretenen herbeizuführen, wenn der Eintritt des Gesundheitsschadens also durch den übermässigen Alkoholkonsum als allgemein begünstigt erscheint. Wenn zum Beispiel eine Person nach übermässigem Alkoholkonsum beschliesst, nicht mit dem Auto nach Hause zu fahren, in ihrem am Strassenrand parkierten Auto einschläft und später vom Auto eines Dritten angefahren und verletzt wird, ist die natürliche Kausalität gegeben, nicht jedoch die adäquate.

Art. 64a0 Abs. 4 Ergänzend zu Absatz 3 Buchstabe a soll angenommen werden, dass eine Person, die seit mindestens sechs Monaten wegen Alkoholabhängigkeit in ärztlicher Behandlung steht, kein Verschulden am übermässigen Alkoholkonsum trifft.

Damit sollen Versicherte, die alkoholabhängig sind und die sich seit mindestens sechs Monaten bemühen, sich mit einer ärztlichen Behandlung aus dieser Abhängigkeit zu lösen, von der Kostenbeteiligung ausgenommen werden. Die ärztliche Behandlung muss die Alkoholabhängigkeit betreffen. Sie lässt sich mit wenig Aufwand von der behandelnden Ärztin oder vom behandelnden Arzt bestätigen. Mit dieser Regelung soll vermieden werden, dass der Versicherer oder der Leistungserbringer abklären muss, ob eine krankheitsbedingte Alkoholabhängigkeit vorliegt. Allerdings kann damit nicht sichergestellt werden, dass alle Abhängigen von der Kostenbeteiligung
befreit werden, zumal viele seit weniger als sechs Monaten oder überhaupt nicht in ärztlicher Behandlung sind.

Minderheit (Steiert, Carobbio Guscetti, Fehr Jacqueline, Gilli, Heim, Lohr, Rossini, Schenker Silvia, van Singer, Streiff) Der Vorschlag der Mehrheit führt zu komplexen Verfahren und grossen praktischen Problemen. Eine etwas offenere Formulierung ohne feste Fristen, die näher am praktischen Alltag ist, ergibt einen besseren Beurteilungsrahmen und auch mehr Spielraum für den Bundesrat bei der Umsetzung. Die Formulierung trägt zudem dem Umstand Rechnung, dass Alkoholexzesse auch Ausdruck psychischer Probleme sein können, bei Jugendlichen beispielsweise Adolesezenzkrisen. Zudem sollten Diagnosen grundsätzlich nicht in ein Gesetz geschrieben werden.

4126

Art. 64a0 Abs. 5 Der Bundesrat wird ermächtigt, den Zeitraum nach übermässigem Alkoholkonsum und die Kriterien für einen übermässigen Alkoholkonsum festzulegen. Er wird somit den Anfang und das Ende dieses Zeitraumes bestimmen. Der Anfang des Zeitraumes könnte auf den Behandlungsbeginn oder auf den Zeitpunkt, in dem der Alkoholkonsum festgestellt wird, gelegt werden. Das Ende des Zeitraums könnte nach einer bestimmten Dauer (z. B. eine Anzahl Stunden nach dem Anfangszeitpunkt) festgelegt werden. Der Bundesrat könnte diesen Zeitraum zum Beispiel auf 24 Stunden nach Feststellung des übermässigen Alkoholkonsums festlegen. Eine versicherte Person, bei der um 23 Uhr festgestellt wird, dass sie übermässig Alkohol konsumiert hat, müsste damit eine Kostenbeteiligung von 100 Prozent auf allen Leistungen, die bis um 23 Uhr des folgenden Tages erbracht werden, bezahlen, es sei denn, sie könne einen Entlastungsnachweis erbringen.

Da der Bundesrat die Voraussetzungen zur Feststellung eines übermässigen Alkoholkonsums festlegen soll, muss er zuerst bestimmen, wann ein Alkoholkonsum als übermässig gilt. Dazu kann er ­ analog zum Strassenverkehrsrecht ­ einen bestimmten Blutalkoholgehalt festlegen, ab dem der Konsum unabhängig von der individuellen Alkoholverträglichkeit und den konkreten Auswirkungen als übermässig betrachtet wird. Zudem muss der Bundesrat bestimmen, mit welchen Methoden der Alkoholkonsum festgestellt wird (vgl. Art. 55 Abs. 6 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 195822; Verordnung der Bundesversammlung vom 21. März 200323 über Blutalkoholwerte im Strassenverkehr; Art. 10­12 Strassenverkehrskontrollverordnung vom 28. März 200724; Verordnung des EJPD vom 5. Oktober 201025 über Messmittel zur Bestimmung des Alkoholgehaltes und der Alkoholmenge).

Art. 64a0 Abs. 6 Da offen ist, wie sich die neue Regelung auf das Verhalten der Versicherten und der Leistungserbringer sowie auf die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und der Leistungserbringer auswirken wird, soll der Bundesrat die Wirkung der neuen Kostenbeteiligung untersuchen.

Da die neue Regelung auf fünf Jahre ab Inkrafttreten befristet werden soll, soll der Bundesrat dem Parlament das Ergebnis seiner Untersuchung spätestens ein Jahr vor Ablauf dieser Frist mitteilen. Damit soll das Parlament über umfassende Informationen
zu den Auswirkungen der neuen Regelung verfügen, um vor deren Ablauf über deren Weiterführung, Änderung oder Aufhebung befinden zu können.

Schlussbestimmungen Da die vorgeschlagene Kostenbeteiligung neu ist und deren medizinische, soziale und finanzielle Auswirkungen offen sind, wird dieser Gesetzesentwurf auf fünf Jahre befristet.

22 23 24 25

SR 741.01 SR 741.13 SR 741.013 SR 941.210.2

4127

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

4.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Die finanziellen Auswirkungen der vorgeschlagenen Regelung lassen sich nicht schätzen. Es gibt zwar Studien zu alkoholbezogenen Diagnosen, diese äussern sich jedoch nicht zu den Kosten. Zudem können die Leistungen bei einer Alkoholintoxikation je nach Haupt- und Nebendiagnosen sehr unterschiedlich ausfallen. Die Diagnose Alkoholintoxikation ist häufig mit anderen Diagnosen, insbesondere Alkoholabhängigkeit, verbunden. Um die Kosten einer Behandlung zu ermitteln, müsste somit zuerst bestimmt werden, welche Leistungen betrachtet werden. Zudem gibt die neue Bestimmung dem Bundesrat die Zuständigkeit, wesentliche Elemente der neuen Kostenbeteiligung festzulegen. Dadurch ist deren Ausgestaltung so offen, dass deren Umfang nicht geschätzt werden kann.

4.1.2

Personelle Auswirkungen

Auch bezüglich der personellen Auswirkungen sind keine Schätzungen möglich.

4.2

Vollzugstauglichkeit

Die neue Regelung stellt grundsätzlich auf den übermässigen Alkoholkonsum und auf die Leistungen, die während eines bestimmten Zeitraums nach dem übermässigen Konsum erbracht werden, ab. Dies soll den Vollzug vereinfachen. Aufgrund der Erfahrungen mit der Unfallversicherung ist jedoch davon auszugehen, dass das Erfordernis eines Kausalzusammenhanges in Absatz 3 Buchstabe b zu umstrittenen Gerichtsfällen führen wird.

Damit der Versicherer die Kostenbeteiligung beim Versicherten erheben kann, müssen die der Kostenbeteiligung unterliegenden Leistungen tarif- und/oder abrechnungstechnisch ausgeschieden werden können. Die Versicherer und Leistungserbringer werden in Bezug auf die Rechnungsstellung klären müssen, ob in den Rechnungsformularen zusätzliche Informationen eingebaut werden können (z. B. zusätzlicher Code beim Behandlungsgrund), sodass bereits mit der Rechnung die Ausscheidung der Leistungen erfolgt. Weiter werden sie eingehend zu prüfen haben, ob an den bestehenden Tarifstrukturen (TARMED und SwissDRG) gewisse Anpassungen (z. B. neue spezifische Leistungspositionen) für die Abrechnung dieser Leistungen notwendig sind.

4128

5

Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union und des Europarates

5.1

Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union

Im Kapitel 5 wird untersucht, in welchem Verhältnis die vorgeschlagene Neuregelung im schweizerischen Recht mit allfälligen internationalen Verpflichtungen der Schweiz steht.

Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union26 (EUV) überträgt der Gemeinschaft die Aufgabe, ein hohes Mass an sozialem Schutz zu fördern. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist in Artikel 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union27 (AEUV) geregelt. Das Freizügigkeitsprinzip verlangt eine Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, wie dies in Artikel 48 AEUV festgelegt ist. Das Gemeinschaftsrecht bezweckt keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Mitgliedstaaten können die Ausgestaltung, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten sowie die Organisation ihrer Systeme der sozialen Sicherheit weiterhin bestimmen. Die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit wird durch die Verordnung (EWR) Nr. 1408/7128 und durch die entsprechende Durchführungsverordnung Nr. 574/72 geregelt29.

Seit dem Inkrafttreten des Abkommens vom 21. Juni 199930 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen) am 1. Juni 2002 ist die Schweiz grundsätzlich Teil des multilateralen Koordinationssystems. Es gilt in diesem Zusammenhang aber die Begrenzungen gemäss Abschnitt A von Anhang II des Freizügigkeitsabkommens zu beachten.

Die Empfehlung vom 27. Juli 199231 über die Annäherung der Ziele und der Politiken im Bereich des sozialen Schutzes forderte die Mitgliedstaaten auf, für die rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Personen den Zugang zur notwendigen Gesundheitsversorgung sowie zu den Krankheitsvorsorgemassnahmen zu ermöglichen.

26 27 28

29

30 31

ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 13 ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 47 Verordnung (EWR) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl L 149 vom 5.7.1971, S. 2 Verordnung (EWR) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWR) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl L 74 vom 27.3.1972, S. 1 kodifiziert in Verordnung (EG) Nr. 118/97; ABl L 28 vom 30.1.1997, S. 1 zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 859/2003, ABl L 124 vom 20.5.2003, S. 1. neu kodifiziert in: Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.

SR 0.142.112.681 ABl Nr. L 245 vom 26.8.1992, S. 49

4129

5.2

Vereinbarkeit mit dem Recht des Europarates

Die Schweiz hat die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 196432 ratifiziert. Sie hat jedoch Teil II über die ärztliche Betreuung nicht angenommen. Jeder Staat, der den aus Teil II der Ordnung hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen will, ist verpflichtet, den geschützten Personen medizinische Versorgung bei Krankheit ohne Rücksicht auf ihre Ursache zu gewährleisten. Der Leistungsempfänger kann zur Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten medizinischen Versorgung verpflichtet werden. Zudem kann die Dauer der erbrachten Leistungen für die einzelnen Fälle auf 26 Wochen beschränkt werden.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit wird durch ein Protokoll, das höhere Normen festlegt, ergänzt. Die Schweiz hat das Protokoll zur Ordnung der Sozialen Sicherheit nicht ratifiziert.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit (revidiert) vom 6. November 1990 ist ein von der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit zu unterscheidendes Abkommen, sie ersetzt jene nicht. Durch die (revidierte) Ordnung werden die Normen der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit erweitert, namentlich durch die Ausdehnung des persönlichen Anwendungsgebietes, durch die Gewährung von neuen Leistungen sowie durch die Erhöhung des Betrags für Sachleistungen. Parallel dazu wird eine grössere Flexibilität eingeführt, indem die Ratifizierungsbedingungen erleichtert und die Normen so formuliert wurden, dass den einzelstaatlichen Regelungen bestmöglich Rechnung getragen wird. Die (revidierte) Ordnung ist noch von keinem Staat ratifiziert worden und deshalb noch nicht in Kraft getreten.

Gemäss Artikel 10 Paragraph 2 der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit kann der Leistungsempfänger oder der für ihn Unterhaltspflichtige zur Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten ärztlichen Betreuung verpflichtet werden; die Beteiligung darf jedoch keine zu hohe Belastung verursachen. Die revidierte Ordnung sieht eine analoge Bestimmung vor (Art. 10 Par. 2). Was genau unter einer zu hohen Belastung zu verstehen ist, wird weder in der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit noch in der revidierten Ordnung näherer festgelegt. Die Kontrollorgane verfügen demnach über einen Ermessensspielraum.

Das Protokoll zur Ordnung sieht vor, dass die Beteiligung an den Kosten der bei
Krankheit gewährten ärztlichen Betreuung 25 Prozent nicht übersteigen darf. Ist die Kostenbeteiligung für jeden Fall der Betreuung oder jede Verordnung von Arzneien mit einem einheitlichen Betrag festgesetzt, so darf, gemäss Protokoll, der Gesamtbetrag, der von allen geschützten Personen aufgebracht wird, 25 Prozent der Gesamtkosten für diese Leistung innerhalb einer bestimmten Zeit nicht übersteigen.

Der Revisionsentwurf sieht vor, dass die Versicherten sich zu 100 Prozent an den Kosten der Leistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nach übermässigem Alkoholkonsum erbracht werden, beteiligen. Damit stellt sich die Frage, ob er mit den Normen des Europarats, vereinbar ist.

Wie erwähnt hat die Schweiz die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit von 1964 ratifiziert, deren Teil II über die ärztliche Betreuung jedoch nicht angenom-

32

SR 0.831.104

4130

men. Dieser sieht zudem nur in allgemeiner Form vor, dass die Beteiligung keine zu hohe Belastung verursachen darf.

Lediglich das Protokoll, das die Schweiz nicht ratifiziert hat, spricht von einer Beschränkung auf 25 Prozent. Dabei ist jedoch nicht eindeutig, was die 100 Prozent bildet, auf die sich die 25 Prozent beziehen.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungsmässigkeit

6.1.1

Artikel 117 BV Kranken- und Unfallversicherung

Der Erlassentwurf stützt sich auf Artikel 117 der Bundesverfassung33 (BV), der den Bund ermächtigt, Vorschriften über die Krankenversicherung zu erlassen.

Es stellt sich die Frage, ob eine Regelung, wonach die versicherte Person sich unter bestimmten Voraussetzungen zu 100 Prozent an den Kosten der Leistungen beteiligt, die in einem bestimmten Zeitraum erbracht werden, mit Artikel 117 BV vereinbar ist.

Im System des Tiers garant schuldet die versicherte Person dem Leistungserbringer die Vergütung. Dieses System ist nach Artikel 42 Absätze 1 und 2 KVG für nicht stationäre Behandlungen das übliche System. Eine Kostenbeteiligung von 100 Prozent bedeutet, dass die versicherte Person, unabhängig vom betroffenen Betrag, keinen Rückerstattungsanspruch gegenüber dem Versicherer hat. Sogar wenn die versicherte Person ihren Rückerstattungsanspruch dem Leistungserbringer abtritt (Art. 42 Abs. 1 KVG), erhält der Leistungserbringer keine Vergütung vom Versicherer, da dieser gegenüber der versicherten Person nicht rückerstattungspflichtig ist.

Im System des Tiers garant entspricht eine Kostenbeteiligung von 100 Prozent somit der Nichtvergütung der Leistungen durch den Krankenversicherer.

Im System des Tiers payant schuldet der Versicherer die Vergütung. Dieses System gilt nach Artikel 42 Absatz 2 KVG für stationäre Behandlungen und, falls entsprechende Tarifverträge dies vorsehen, für bestimmte ambulante Behandlungen. Der Versicherer muss dem Leistungserbringer somit die Vergütung (oder im Falle der stationären Behandlung den auf ihn entfallenden Anteil der Vergütung) bezahlen, unabhängig von der Rückerstattung durch die versicherte Person. Ist diese zahlungsfähig, so muss sie bei einer 100-prozentigen Kostenbeteiligung dem Versicherer die gesamte Vergütung, die dieser vorausbezahlt hat, zurückerstatten. Ist die versicherte Person zahlungsunfähig, so erhält der Versicherer einen Verlustschein oder einen gleichwertigen Rechtstitel für seine Forderung. Davon kann er 85 Prozent beim Kanton einfordern, die restlichen 15 Prozent trägt er als Versicherer (Art. 64a Abs. 4 KVG). Allenfalls wird diese Forderung später von der versicherten Person beglichen. Dem Versicherer kommt dabei, ähnlich wie einer Bank, die Rolle eines Finanzintermediärs zu: er vermittelt die von der versicherten Person bezahlte 100prozentige
Kostenbeteiligung an den Leistungserbringer weiter und übernimmt einen Teil des Risikos ihrer Zahlungsunfähigkeit.

Auch wenn zu bezweifeln ist, dass die Beschränkung des Versicherers auf die Rolle eines Finanzintermediärs, der einen Teil des Risikos der Zahlungsunfähigkeit trägt, 33

SR 101

4131

mit dem verfassungsmässigen Begriff der Krankenversicherung vereinbar ist, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass eine Erhöhung der Kostenbeteiligung auf 100 Prozent aus Gründen der administrativen Vereinfachung und wenn sie nur eine beschränkte Anzahl Leistungen betrifft, mit Artikel 117 BV vereinbar sein kann. Dies ist vorliegend der Fall, denn die vorgeschlagene Regelung erspart es den Spitälern, die im System des Tiers payant abrechnen, den Aufwand, zwischen den von der parlamentarischen Initiative betroffenen Leistungen und den übrigen Leistungen zu unterscheiden.

6.1.2

Artikel 8 BV Rechtsgleichheit

6.1.2.1

Grundsatz

Nach Artikel 8 Absatz 1 BV verletzt ein Erlass das Rechtsgleichheitsgebot, wenn er rechtliche Unterscheidungen vorsieht, für die kein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen, wenn also Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Die ungerechtfertigte Gleich- bzw. Ungleichbehandlung muss sich auf eine wesentliche Tatsache beziehen. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen besteht, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze ein weiter Gestaltungsspielraum (BGE 136 I 1, Erw. 4.1, S. 5).

6.1.2.2

Beschränkung auf ein Verhalten

Zuerst stellt sich die Frage, ob eine Regelung, wonach sich die Versicherten nur an Leistungen nach übermässigem Alkoholkonsum, nicht aber an Leistungen nach anderen gesundheitsschädigenden Verhalten beteiligen, mit Artikel 8 BV vereinbar ist.

Eine Unterscheidung kann zuerst aufgrund der Geschwindigkeit getroffen werden, mit welcher sich ein Verhalten auf die Gesundheit auswirkt. Übermässiger Alkoholkonsum und andere gesundheitsschädigende Verhalten (z. B. übermässiges Rauchen, Arbeiten oder Essen) wirken in der Regel erst nach Wochen, Monaten oder Jahren gesundheitsschädigend. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem solchen Verhalten und einem Gesundheitsschaden lässt sich somit schwer nachweisen.

Weitere Faktoren können den Gesundheitsschaden im Lauf der Zeit mitverursachen oder beeinflussen. Der übermässige Alkoholkonsum kann hingegen innerhalb von wenigen Minuten oder Stunden gesundheitsschädigend wirken.

Es gibt jedoch andere vorsätzliche Verhalten, welche die Gesundheit sofort oder sehr rasch beeinträchtigen. Zu denken ist zum Beispiel an eine Überdosis Betäubungsmittel oder an Medikamentenmissbrauch. Ebenso kann das Führen eines Motorfahrzeuges unter Medikamenteneinfluss zu einem höheren Risiko für Unfälle

4132

und damit zu Körperverletzungen führen (siehe die in Art. 16c Abs. 1 Bst. c des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 195834, vorgesehene Sanktion).

Die vorliegende Änderung des KVG beurteilt diese Verhaltensweisen unterschiedlich und schliesst einzig die Behandlungen nach übermässigem Alkoholkonsum von der Kostenübernahme aus. Die erwähnte Studie Wicki (2013) zeigt, dass in der Altersgruppe der bis 23-Jährigen die Spitaleinweisungen wegen einer Alkoholvergiftung in den letzten Jahren ein besorgniserregendes Niveau erreicht haben (siehe Ziff. 2.2.3). Diese Entwicklung der Hospitalisationen infolge von akuten Alkoholvergiftungen kann als sachlicher Grund betrachtet werden, die versicherungsmässigen Folgen dieser Verhaltensweise unterschiedlich zu regeln.

6.1.2.3

Beschränkung auf die Krankenversicherung

Weiter stellt sich die Frage, ob sachliche Gründe bestehen, eine 100-prozentige Kostenbeteiligung, die einer Verweigerung der Kostenübernahme entspricht, nur in der Krankenversicherung vorzusehen. Behandlungen aufgrund eines Unfalles unter Alkoholeinfluss werden im Rahmen des Bundesgesetzes vom 20. März 198135 über die Unfallversicherung (UVG) und des Bundesgesetzes vom 19. Juni 199236 über die Militärversicherung (MVG) weiterhin vergütet. Diese Vergütungen werden von der Vorlage nicht berührt. Da Heilbehandlungen nur subsidiär zulasten der Krankenversicherung gehen (Art. 64 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 200037 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG) und im Hinblick auf das von der Vorlage angestrebte Ziel, ist diese unterschiedliche Behandlung schwierig zu begründen. Der Gesetzgeber verfügt jedoch über einen grossen Gestaltungsspielraum, um den zeitlichen Bedarf, verschiedene Sozialversicherungen zu regeln, zu beurteilen. Er verletzt somit Artikel 8 BV nicht, wenn er eine Frage, die er als vordringlich betrachtet, in einer Sozialversicherung regelt, ohne zugleich die entsprechenden Regelungen der anderen Sozialversicherungen anzupassen.

6.1.2.4

Beschränkung auf eine Sanktion

Ferner stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit auch die Frage, ob eine 100-prozentige Kostenbeteiligung, die unabhängig von der Art der Behandlung und von deren Kosten erhoben wird, nicht Unterscheidungen unterlässt, die aufgrund der Umstände angebracht wären.

Die vollständige Kostenbeteiligung wird durch drei Beschränkungen begrenzt: Zuerst durch eine zeitliche Beschränkung, die vom Bundesrat festzulegen ist (Art. 64a0 Abs. 5). Danach werden Behandlungen ausgeschlossen, die auf einen schuldlosen übermässigen Alkoholkonsum zurückzuführen sind (Art. 64a0 Abs. 3 Bst. a). Zuletzt werden Behandlungen ausgeschlossen, die unabhängig vom übermässigen Alkoholkonsum erforderlich wurden (Art. 64a0 Abs. 3 Bst. b). Die versicherte Person wird die Kosten einer Behandlung nach übermässigem Alkohol34 35 36 37

SR 741.01 SR 832.20 SR 833.1 SR 830.1

4133

konsum somit nur tragen müssen, wenn sie schuldhaft übermässig Alkohol konsumiert hat, wenn die Behandlung in einem natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zu diesem übermässigen Alkoholkonsum steht und wenn die Behandlung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erfolgt.

Die Situation ist vergleichbar mit der vollen zivilrechtlichen Haftung, welche eine Person trägt, die bei vorübergehender Urteilsunfähigkeit, zum Beispiel wegen Alkoholkonsums, einen Dritten schädigt (Art. 41 Obligationenrecht38, OR und Art. 54 Abs. 2 OR). Diese Regelungen beruhen auf dem Gedanken dass Personen, die schuldhaft übermässig Alkohol konsumieren, die Auswirkungen ihrer Handlungen unter Alkoholeinfluss nicht Dritten (der Drittperson bei der zivilrechtlichen Haftung, der Gemeinschaft der Versicherten bei der Krankenversicherung) anlasten sollen.

Indem nicht nach der Art der Behandlung oder nach dem betroffenem Betrag unterschieden wird, wird somit nicht von vornherein eine Ungleichbehandlung geschaffen.

Die Frage, ob Artikel 8 BV eingehalten wird, wird auch von der Art, wie der Bundesrat seine gesetzgeberische Regelungskompetenz nutzt, die ihm Artikel 64a0 Absatz 5 einräumt, und von der Umsetzungen der Einschränkungen von Artikel 64a0 Absatz 3 abhängen.

6.1.3

Artikel 5 BV Verhältnismässigkeit

Die Einführung einer 100-prozentigen Kostenbeteiligung auf nach übermässigem Alkoholkonsum folgende Behandlungen, entspricht einer zeitlich beschränkten Leistungsverweigerung in der Krankenversicherung. Dies entspricht einer Verwaltungssanktion, die mit der Kürzung oder Verweigerung von Leistungen (siehe Art. 21 ATSG, Art. 39 UVG) vergleichbar ist. Auf Verwaltungssanktionen ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit nach Artikel 5 Absatz 2 BV anzuwenden. Das heisst, dass die Sanktion in Bezug auf den angestrebten Zweck verhältnismässig sein muss. Die Vorlage bezweckt, die Versicherten zu veranlassen, von einem Verhalten, das der Krankenversicherung Kosten verursachen kann, nämlich dem übermässigen Alkoholkonsum, abzusehen.

Der Artikel 64a0 Absatz 5 lässt die Intensität der Sanktion verhältnismässig offen, indem er es dem Bundesrat überlässt, sowohl den Alkoholgehalt, der als übermässig gelten soll, als auch den Zeitraum, in dem die 100-prozentige Kostenbeteiligung erhoben werden soll, festzulegen. Im Gegensatz zu anderen Fällen der Leistungsverweigerung erlaubt es Artikel 64a0 Absatz 5 hingegen nicht, die Intensität der Sanktion nach den Besonderheiten des Einzelfalles abzustufen. So kann weder nach der Art der körperlichen Schädigung, noch nach der Art der Behandlung oder deren Kosten, noch nach der Schwere des Verhaltens, insbesondere nach dem Alkoholgehalt, unterschieden werden. Auch wenn als einzige Sanktion eine 100-prozentige Kostenbeteiligung vorgesehen ist, ist eine Umsetzung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit an sich möglich. Die Sanktion wird aber davon abhängen, wie der Bundesrat den Gestaltungsspielraum nutzt, den ihm die Bestimmung einräumt.

38

SR 220

4134

6.2

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Erlassentwurf gibt dem Bundesrat weitgehende Regelungskompetenzen, indem dieser den Zeitraum, in dem die Kostenbeteiligung erhoben wird, und die Voraussetzungen zur Feststellung eines übermässigen Alkoholkonsums festlegen soll. Da die Auswirkungen der neuen Regelung offen sind, soll der Bundesrat die Möglichkeit haben, diese Elemente selber zu bestimmen und allenfalls aufgrund der Erfahrungen anzupassen.

6.3

Erlassform

Dieses Gesetz ergeht in der Form des ordentlichen Bundesgesetzes nach Artikel 164 BV. Es wird jedoch auf fünf Jahre befristet, da dessen Auswirkungen offen sind.

4135

4136