Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen über Probleme bei der Gesamterneuerungswahl des Nationalrates vom 24. Oktober 1999 vom 29. März 2000

Sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte Am 24. Oktober 1999 haben die Gesamterneuerungswahlen zum Nationalrat für die 46. Legislatur grösstenteils in geordneten Bahnen stattgefunden. Vereinzelt sind jedoch auch Pannen aufgetreten. Der Nationalrat hat diesbezüglich bei der Erwahrung der Wahlresultate am 6. Dezember 1999 durch die Berichterstatter des provisorischen Büros seinen Bedenken Ausdruck gegeben und den Bundesrat ausdrücklich eingeladen, die Kantone auf die Bedeutung wohlgeordneter Organisation des Wahlablaufs hinzuweisen (AB 1999 N 2371f). Dem dient dieses Kreisschreiben.

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Zu Art. 5-8, Art. 33, Art. 34 und Art. 38 Abs. 1 Bst. b BPR: Mängel in der Organisation von Druck und Verteilung des Wahlmaterials

11 Sachverhalte 111 Erstellung von Wahlzetteln nurmehr unter kantonalbehördlicher Federführung Das Bundesrecht lässt einzig amtliche Wahlzettel (Art. 5 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Bst. b des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte [BPR, SR 161.1]) zu. Sie sind von den Kantonen ohne Vordruck und für alle kandidierenden Listen mit Vordruck zu erstellen (Art. 33 Abs. 1 BPR).

Einzelne Kantone haben den Druck der amtlichen Wahlzettel bisher in Uebereinstimmung mit einer kantonalwahlrechtlichen Tradition (jede Partei hat bei sämtlichen Wahlen aller Stufen jeweils Wahlzettel einer gesonderten, stets gleichbleibenden Farbe) den Parteien überlassen und ihnen die Druckkosten vergütet, wobei jeweils die Kontrolle samt der Erteilung des Gut zum Druck einer kantonalen Instanz vorbehalten war. 1999 erwirkte eine Liste aufgrund des Ausgangs der innerparteilichen Vor-Auswahl bei ihrer Druckerei nach Erteilung des amtlichen Gut zum Druck der Kantonsverwaltung eine Umstellung der Reihenfolge zweier Kandidaturen auf ihrem Wahlzettel, und dies, ohne die Kantonsverwaltung darüber zu informieren.

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112 Verspätete postalische Zustellung des Wahlmaterials In einigen Quartieren einer Grossstadt waren die Wahlunterlagen zehn Tage vor dem 24. Oktober 1999 entgegen den klaren gesetzlichen Vorgaben (Art.

33 Abs. 2 BPR) noch nicht bei sämtlichen Stimmberechtigten eingetroffen.

Die Post war von der ihr am 27. September 1999 übergebenen Masse der Unterlagen überrollt worden, zumal vor den Wahlen noch sehr viel Werbematerial zu verteilen war.

113 Fehlerhafte Verpackung des Wahlmaterials durch Schulklassen In einer Gemeinde wurden Schulklassen mit der Verpackung des Wahlmaterials betraut. Anstelle sorgfältigen individuellen Abpackens musste hinterher festgestellt werden, dass zuweilen mehrere verschiedene Stimmausweise an eine einzige Person versandt worden waren, derweil andere Stimmberechtigte kein Material erhielten.

114 Verteilung fehlerhafter Wahlzettelsätze In zwei Kantonen wurden zufolge eines Versehens in der Druckerei anfangs Oktober teilweise fehlerhafte Wahlzettelsätze verteilt. In einem Kanton wurde die Rückseite der Wahlzettel zweier Listen zum Teil mit einer anderen Liste bedruckt, derweil andere Listen teilweise fehlten oder unbedruckt blieben.

115 Vermeidung jeder Privilegierung beim Auflegen der Wahlzettel im Isoloir Aus einer Gemeinde war eine Beschwerde zu registrieren, wonach im Isoloir nicht die Wahlzettel aller kandidierenden Gruppierungen gleich gut sichtbar platziert waren.

12 Probleme 121 Die skizzierte Doppelspurigkeit bei der Herstellung der Wahlzettel kann nicht mehr toleriert werden, weil sie die korrekte Ermittlung der Wahlergebnisse akut und massiv gefährden kann, etwa wenn die Kantonsverwaltung die von der Liste für das amtliche Gut zum Druck vorgelegte Reihenfolge auch bereits auf den amtlichen Wahlausmittlungsformularen drucken und allen Gemeinden verteilen liess und die EDV-Programme bereits mit der veralteten Kandidatenreihenfolge ausfüllte und Bund und Distriktsverwaltungen zustellte.

122 Der enorme Arbeitsanfall hat bei der Post "auch wegen des abgebauten Personalbestandes" teilweise zu Verzögerungen bei der Auslieferung geführt.

Nach der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung gelten Ueberlastung oder Personalmangel aber nicht als Entschuldigung, denn der Staat hat die nötigen materiellen Mittel bereitzustellen, die sein normales Funktionieren
ermöglichen. Die Aufsichtsbehörde ist unabhängig von einer allfälligen Beschwerde von Amtes wegen zum Eingreifen verpflichtet und darf es nicht bei der blossen Feststellung des Missstandes bewenden lassen, sondern hat 2358

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für dessen Behebung zu sorgen (BGE 107 Ib 165, 107 III 6f, 103 V 198, 101 Ia 244f; VPB 52.52, 44.21; ZBl 80 [1979] 476).

123 Wenn Schulklassen mit der Verpackung des Wahlmaterials betraut werden, so hat die Gemeindeverwaltung die nötigen Kontrollen sicherzustellen.

124 Die Begründung, dass bei vielen kandidierenden Listen nicht mehr alle sichtbar im Isoloir obenauf liegen können und dass daher nur die bisher im Nationalrat vertretenen Parteien für einen solchen Platz in Frage kamen, überzeugt wahlrechtlich nicht.

13 Anordnungen Wir ersuchen Sie im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, den Artikeln 5-8, 33 und 34 BPR Nachachtung zu verschaffen und folgendes sicherzustellen: 131 Sämtliche Wahlzettel sind inskünftig im Einklang mit Artikel 33 Absatz 1 BPR durch die Kantonsverwaltung erstellen zu lassen. Dies braucht die Weiterverwendung des Systems der je nach Partei spezifischfarbigen Wahlzettel keineswegs auszuschliessen.

132 Zumal für sehr bevölkerungsreiche Gemeinden müssen die Kantone die Liefer- und Zustellfristen mit der Post absprechen lassen.

133 Die Kantone müssen sicherstellen, dass Gemeinden, welche Aufgaben im Zusammenhang mit Nationalratswahlen auslagern oder an welche Organe auch immer übertragen, die ihnen überbundene Verantwortung wahrnehmen und zumindest durch geeignete und wirksame Kontrollen sicherstellen, dass die Wahlen korrekt abgewickelt werden.

134 Notfalls müssen einzelne Kantone den Wahlanmeldetermin und den Druck der Wahlzettelsätze künftig um eine Woche vorziehen, um zu verhindern, dass Wahlzettelsätze fehlerhaft bedruckt und verteilt werden.

135 Von Gemeinden mit engen Platzverhältnissen in den Isoloirs ist zu verlangen, dass sie diese gegebenenfalls mit postfachartigen Gestellen versehen, in denen die Wahlzettel aller kandidierenden Gruppierungen gleich gut sichtbar aufliegen.

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Zu Art. 7 BPR: Betreuung der Gemeindebriefkasten für vorzeitige Stimmabgaben

21 Sachverhalt Eine unbekannte Täterschaft hat aus einem Gemeindebriefkasten 101 briefliche Stimmabgaben entwendet und anonym mit einem Begleitschreiben an drei Nationalratskandidaten und -kandidatinnen zugestellt. Die betroffenen Stimmberechtigten hatten das Wahlmaterial rechtzeitig vor Urnenschluss in

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den Gemeindebriefkasten geworfen. Von dort wurden die Stimmabgaben vor dem Wahlsonntag vom 24. Oktober 1999 entwendet.

22 Problem Jeder Stimmberechtigte und jede Stimmberechtigte hat einen durch die Verfassung geschützten Anspruch auf ein Abstimmungs- oder Wahlergebnis, das den Willen der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (Art. 34 Abs. 2 BV). Durch die Entwendung der brieflichen Stimmabgaben aus dem Gemeindebriefkasten wurde das Stimmrecht der betroffenen Personen verletzt.

Auch bei der Ermöglichung vorzeitiger Stimmabgabe in einen Gemeindebriefkasten bleibt die Gemeindeverwaltung verantwortlich für die korrekte Abwicklung des Urnengangs. Mangelnde Kapazität des Gemeindebriefkastens kann keine Rechtfertigung sein für Zustände, welche den Diebstahl ausgefüllten und abgegebenen Wahlmaterials ermöglichen .

23 Anordnungen Wir ersuchen Sie im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, den Artikeln 5-8 BPR Nachachtung zu verschaffen und sicherzustellen, dass die Gemeindebriefkasten bei Ermöglichung vorzeitiger Stimmabgabe gross genug konzipiert und ihre Leerung in genügender Frequenz sichergestellt werden, damit kein Diebstahl von Wahl- oder Stimmmaterial möglich wird.

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Zu Art. 21, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 4 BPR: Vermeidung von Mängeln im Wahlanmeldeverfahren

31 Sachverhalte 311 Verhinderung von Doppelkandidaturen Auch bei den Nationalratswahlen 1999 musste die Bundeskanzlei eingreifen, um die den kantonalen Behörden entgangene Doppelkandidatur einer Person auf zwei verschiedenen Listen desselben Kantons zu verhindern.

312 Verzögerungen aufgrund erweiterter Dienstleistungen der Kantonsverwaltung Einzelne Kantonsverwaltungen bieten - besonders bürgerfreundlich - an, die Stimmrechtsbescheinigung Kandidierender und Unterzeichnender der Wahlvorschläge selber bei den Gemeinden einzuholen.

32 Probleme 321 Das Verbot der innerkantonalen Doppelkandidatur ist unabdingbare Voraussetzung des schweizerischen Listenproporzwahlverfahrens: Bleibt eine Doppelkandidatur im Wahlvorschlagsverfahren unentdeckt, so entsteht bei der Ausmittlung der Wahlergebnisse eine ausweglose Situation, wo handschriftlich ausgefüllte Wahlzettel ohne Vordruck mit dem Namen der betreffenden Kandidatur auftauchen: Welcher der beiden - zwangsläufig kon2360

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kurrierenden - Listen müssen die Stimmen dieser Kandidatur als Parteistimmen gutgeschrieben werden? Zumal in grossen Kantonen ist die Kontrolle erst recht beim vorgegebenen Zeitdruck - äusserst schwierig. Dennoch darf nicht auf blosse EDV-Kontrollabgleiche abgestellt werden, wie die zweimal falsche Jahrgangsangabe im zitierten Beispiel beweist.

322 Sinn der bundesrechtlichen Regelung, dass die Kantone einen Wahlanmeldeschlusstermin festlegen (Art. 21 BPR) und dass nur Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag unterzeichnen und/oder kandidieren können (Art. 22 Abs. 2 und Art. 24), ist sicherzustellen, dass an diesem Termin die nötigen Bestätigungen vorliegen. Dies ist deshalb nötig, weil die Bundeskanzlei überkantonale Doppelkandidaturen verhindern muss (Art. 27 Abs. 2 BPR).

Dies ist nur bei gesamtschweizerisch korrekt termingerechtem Zusammenspiel aller kantonalen Abläufe möglich.

33 Anordnungen Wir ersuchen Sie im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, Artikel 27 und Artikel 29 BPR strikte zu beachten und folgendes sicherzustellen: 331 Zusätzlich zu EDV-Kontrollabgleichen sind in jedem Kanton sämtliche Kandidaturen minutiös von "Hand" und "Auge" zu kontrollieren und abzugleichen.

332 Dafür muss jeder Kanton in der fraglichen Zeit unbedingt auch das nötige Personal bereitstellen.

333 Kantone mit erweitertem Dienstleistungsangebot müssen den Wahlanmeldetermin und den Druck der Wahlzettelsätze notfalls um eine Woche vorziehen. Am Datum des dem Bund verbindlich gemeldeten Wahlanmeldeschlusses müssen die Stimmrechtsbescheinigungen eingeholt sein.

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Zu Art. 23, Art. 25 Abs. 2, Art. 27 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, 3 und 4, Art. 31 Abs. 1bis und Art. 83 BPR: Unzulässigkeit identischer Hauptbezeichnung verschiedener Listen (kein Spielraum für kantonale Lückenfüllung contra legem)

41 Sachverhalt 411 Ausgangslage In einem Kanton wählten zwei konkurrierende Listen den gleichen Hauptnamen, ohne aber ihre Listen miteinander in eine Unterverbindung zu führen. Vom kantonalen Dienst für Wahlen und Abstimmungen im Rahmen der Listenbereinigung zum Entscheid aufgefordert, ihre Listen unterzuverbinden oder den Hauptnamen zu ändern oder hintanzustellen, rekurrierten beide Listen an den Regierungsrat.

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412 Entscheid des Regierungsrats Der Regierungsrat befand, die beiden Beschwerden seien teilweise gutzuheissen und auf die Anordnung einer Aenderung einer oder beider Listennamen sei zu verzichten, auch wenn sie keine Unterlistenverbindung eingingen. Zur Begründung führte der Staatsrat im wesentlichen an, a) Es bestehe ein rechtlich wie politisch motivierter kantonaler Spielraum für die Bewertung des Falles; b) Die Reihenfolge der Listeneinreichung entscheide nicht über den Vorrang in der Listenbezeichnung; c) Die Anpassung des Listennamens könne gerade deshalb nötig sein, um eventuelle Listenverbindungen zu ermöglichen; Artikel 29 Absatz 4 BPR lasse diese Anpassung denn auch explizit zu; d) Auch subsequierende Mängel könnten daher zu beheben sein; e) Treu und Glauben verlangten, beiden Formationen ihren Namen zu belassen, zumal die Rechtsfolge nicht angedroht worden sei; f) Eine Stammlistenbezeichnung ohne Unterlistenverbindung sei unzulässig; g) Eine Entscheidung über die Zuteilung von Zusatzstimmen ungenügend bezeichneter Listen könne allein von den Listen der gleichen Partei verlangt werden, nicht aber von Listen verschiedener Parteien; h) Von Listen gleichen Namens könne keine Unterlistenverbindung verlangt werden; i) Das im Kanton übliche Logo auf dem Wahlzettel unterscheide die beiden Listen teilweise gleichen Namens genügend; j) Die zu erwartenden Zusatzstimmen ungenau bezeichneter Listen könnten vernachlässigt werden.

42 Problem 421 Die Argumentation des Regierungsrats stellte das Ergebnis der Nationalratswahlen vom 24. Oktober 1999 im bereits abgewickelten konkreten Fall zwar nicht in Frage: Auf den Entscheid des Regierungsrats hin hatte die Bundeskanzlei im Sinne einer beweissichernden Sofortmassnahme die Abrechnung über alle ungenau nur mit dem gemeinsamen Hauptnamen der beiden Listen bezeichneten Stimmzettel verlangt. Insgesamt waren lediglich zwei derart ungenau bezeichnete Stimmzettel eingegangen, von denen ein einziger vier infolgedessen nicht als Zusatzstimmen zuordnungsfähige leere Linien enthielt, die demzufolge zu leeren Einzelstimmen umfunktioniert wurden. Diese vier Stimmen haben das reale Wahlergebnis nach keiner Richtung hin beeinflusst.

422 Dennoch ist die Begründung des Regierungsrats für den getroffenen Entscheid in mehrfacher Hinsicht bundesrechtswidrig. Der Nationalrat ist nicht gewillt, eine solche Gesetzesauslegung künftig zu schützen, und verlangt vom Bundesrat ihre Richtigstellung, damit die korrekte Anwendung des

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Bundesgesetzes über die politischen Rechte in künftigen Nationalratswahlen zufolge eines Präzedenzcharakters der Entscheidung nicht unterlaufen wird.

423 Im einzelnen geht es dabei um folgende Punkte: a) Nationalratswahlen sind bundesrechtlich geordnete Wahlen. Kantonales Recht kann nur ergänzend, keineswegs aber korrigierend in Frage kommen (Art. 83 BPR).

b) Artikel 23 BPR verlangt eine deutliche Unterscheidbarkeit aller Listennamen, Artikel 31 Absatz 1bis BPR hingegen einen gemeinsamen Listenhauptnamen für alle miteinander unterverbundenen Listen. Artikel 23 und Artikel 31 Absatz 1bis BPR sind zueinander präzis komplementär.

Sie lassen keine ausfüllungsbedürftige Lücke übrig. Dass die Bezeichnungen der Wahlvorschläge bzw. der Listen zu deren Unterscheidung geeignet sein müssen, so dass keine irrtümlichen Vorstellungen erweckt werden und keine Verwechslungen eintreten, ist verfassungsrechtlich geboten: Das Stimm- und Wahlrecht verschafft den Stimmberechtigten einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass kein Wahlergebnis anerkannt werde, welches nicht ihren freien Willen zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (vgl. ausdrücklich BV Art. 34 Abs. 2; als ungeschriebener Rechtsanspruch in der alten Bundesverfassung, vgl.

BGE 124 I 57, 121 I 190 E. 3a, 12 E. 5b aa, 119 Ia 272 E. 3a und die ständige frühere Praxis).

c) Ratio legis ist die Zulässigkeit einer Unterlistenverbindung nur innerhalb einer und der gleichen Partei. Dies wird durch die Identität des Hauptnamens sichergestellt.

d) Eigenständige Gruppierungen, die sich lediglich für die Nationalratswahlen als verschiedene "Flügel" zu einer "einzigen" "Partei" "zusammenschliessen" wollen, müssen dies vor der Einreichung ihrer Listen durch die Wahl eines gemeinsamen, übergeordneten Listenhauptnamens tun, und dies hat der Gesetzgeber so gewollt (vgl. AB 1993 N 2486f). Für sämtliche übrigen Listen gilt Artikel 23 BPR, wonach jeder Wahlvorschlag eine zu seiner Unterscheidung von anderen Wahlvorschlägen geeignete Bezeichnung tragen muss. Die Aenderung von Listennamen nach Einreichung der Wahlvorschläge ist nurmehr aufgrund entsprechender amtlicher Aufforderung zur Sicherstellung der Unterscheidbarkeit zulässig.

e) Der Kanton prüft die Wahlvorschläge und setzt dem Vertreter der Unterzeichner eine Frist an, innert welcher er Bezeichnungen,
die zu Verwechslungen Anlass geben, ändern kann (Art. 29 Abs. 1 BPR). Der Vertreter und, wenn er verhindert ist, sein Stellvertreter, sind berechtigt und verpflichtet, im Namen der Unterzeichner die zur Beseitigung von Anständen erforderlichen Erklärungen rechtsverbindlich abzugeben (Art.

25 Abs. 2 BPR). Wird ein Mangel nicht fristgemäss behoben, so ist der Wahlvorschlag ungültig (Art. 29 Abs. 3 BPR).

f) Ein knapper Wahlausgang ist nie zum vorneherein auszuschliessen.

Mindestens so sehr wie für Ständeratswahlen gilt dies für Nationalratswahlen im Proporzverfahren, weil sich hier die Stimmen auf verschie2363

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g)

h)

i)

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denste Parteien und Kandidaturen aufteilen können (vgl. etwa BBl 1975 II 2032, 1999 9376).

Die Neutralisierung der Zusatzstimmen unzureichend bezeichneter Stimmzettel für eine der beiden konkurrierenden Listen gleichen Hauptnamens zu leeren Stimmen entzog sich schon deshalb der Disposition der beiden Parteien, weil daraus treuwidrig geschädigte Dritte hätten hervorgehen können, denen der Entscheid des Staatsrates gar nicht eröffnet wurde: Wenn in der vorgegebenen Konstellation beide Gruppierungen genügend Stimmen für ein eigenes Mandat errungen hätten, durch den Verzicht auf die Zusatzstimmen unzureichend bezeichneter Stimmen aber bewirkt hätten, dass einem der Listenverbindungspartner die entscheidenden Stimmen für die Erringung eines weiteren Restmandates entzogen worden wären, so wäre dem klar geäusserten Teil des Wählerwillens durch die Umfunktionierung der Zusatzstimmen zu leeren Stimmen mit Sicherheit nicht Genüge getan worden (vgl. Art. 34 Abs. 2 BV). Ein solches Gehabe verletzte auch Treu und Glauben (vgl. Art. 5 Abs. 3 BV) gegenüber den Listenverbindungspartnern.

Ihnen werden die durch die Listenverbindung in Aussicht gestellten eventuell anfallenden Reststimmen entzogen, derweil die beiden konkurrierenden Listen gleichen Hauptnamens sie von ihren Partnern unvermindert erhielten! Auch aus diesem Grund hätte dieses Verhalten vor dem Regierungsrat keinen Rechtsschutz finden dürfen. Zumindest hätte der Regierungsrat den andern Listenverbindungspartnern der beiden konkurrierenden Listen gleichen Hauptnamens als potentiell Berührten und Beschwerten den Entscheid ebenfalls eröffnen müssen.

Der erwähnte Entscheid löst unzulässigerweise die klaren und gewollten Vorgaben der Bundesgesetzgebung für Unterlistenverbindungen auf, die zur Vermeidung dessen dienen, was bei den Beratungen der eidg. Räte befürchtet worden war (vgl. AB 1993 N 2486f). Insbesondere wurde der Sinn präziser Zuordnung einer jeden Stimme im Wahlrecht verkannt: Sinn der klaren gesetzlichen Einschränkung der Unterlistenverbindung ist erhöhte Transparenz. Nur die Identität des Hauptnamens gibt Anrecht auf die Unterlistenverbindung. Sie muss vor Einreichung des Wahlvorschlags gesichert werden. Wird die Unterlistenverbindung nicht eingegangen, so müssen sich die Wahlvorschläge im Sinne von Artikel 23 BPR in der Namensgebung klar
unterscheiden. Logos ersetzen diese Pflicht nicht.

Der Staat kann zwar, wie der Regierungsrat zutreffend schreibt, das Eingehen einer Unterlistenverbindung nicht erzwingen, wohl aber muss er dann - im Gegensatz zur Auffassung des Regierungsrates - die klare Unterscheidung der Wahlvorschläge in ihrem Namen durchsetzen.

Entgegen der Auffassung im erwähnten Entscheid schliesst der verfassungsmässige Anspruch aller Stimmberechtigten darauf, dass kein Wahlergebnis anerkannt werde, welches nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht wiedergibt, jegliche Stimmen aus, deren Berücksichtigung der Staat der Disposition von Parteien anheimstellen könnte. Wie bedeutsam dies ist, zeigt der gesetz-

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geberische Entscheid, innerkantonale Doppelkandidaturen zu verunmöglichen (Art. 27 Abs. 1 BPR, vgl. Ziff. 311 und 321 hiervor).

43 Anordnungen Der Nationalrat ist künftig nicht mehr gewillt, vorinstanzliche Entscheide zu Wahlangelegenheiten zu schützen, welche bundeswahlrechtliche Normen derart gründlich missdeuten. Wir ersuchen Sie daher im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, Artikel 23 und Artikel 31 Absatz 1bis BPR strikte Nachachtung zu verschaffen und bei der Bereinigung der Wahlvorschläge folgendes zu beachten: 431 Wollen verschiedene Gruppierungen oder Parteien eine identische Hauptbezeichnung verwenden, so müssen sie eine Stammliste bezeichnen. Eine Entscheidung über die Zuteilung von Zusatzstimmen ungenügend bezeichneter Listen ist insbesondere auch von Listen verschiedener Parteien zu verlangen.

432 Keine einzige Zusatzstimme darf (zu wessen Lasten auch immer) neutralisiert werden.

433 Die Anpassung des Listennamens hat hingegen gerade nicht eventuelle Listenverbindungen zu ermöglichen; Artikel 29 Absatz 4 BPR lässt Anpassungen nur zu, soweit sie vom Kanton angeordnet werden.

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Zu Art. 40 Abs. 1 BPR: Korrekte Ermittlung der Verteilungszahl

51 Sachverhalt In den Amtsblättern einzelner Kantone wurde die Verteilungszahl für die Verteilung der Mandate innerhalb einer Listenverbindung nicht korrekt berechnet publiziert: Nachdem die Division der Gesamtstimmenzahl aller beteiligten Listen durch die um eins vermehrte Zahl der zu verteilenden Mandate eine ganze Zahl ergeben hatte, wurde unzutreffenderweise nicht die nächsthöhere ganze Zahl als Verteilungszahl bestimmt.

52 Problem Dass fälschlicherweise nicht die nächsthöhere ganze Zahl zur Verteilungszahl bestimmt wurde, hätte in einer weniger günstigen Konstellation dazu führen können, dass mehr Mandate zu verteilen gewesen wären, als überhaupt zur Verfügung standen (vgl. BBl 1993 III 486). Aus diesem Grund darf das Versehen sich nirgends wiederholen.

Der korrekt redigierte Artikel 17 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 14. Februar 1919 über die Wahl des Nationalrats (AS 35 359; BS 1 180) wurde 1976 vermeintlich im Sinne einer "Neuredaktion ohne materielle Aenderung" (BBl 1975 I 1340) in Artikel 40 Absatz 1 BPR so umformuliert, dass der Quotient "Gesamtstimmenzahl : (Mandatszahl + 1)" auf die nächste ganze Zahl "aufzurunden" sei. Eine ganze Zahl kann jedoch nicht aufgerundet werden. Nachdem das gesetzgeberische Versehen im Bund entdeckt worden war, wurde dem Eintreten eines verfassungswidrigen Zustandes 1994 durch 2365

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Korrektur des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vorgebeugt. Die extra vorgenommene Korrektur wurde jedoch trotz ausführlicher Begründung in der Botschaft (BBl 1993 III 486f) im italienischen Gesetzestext (und ausschliesslich in diesem) in der Novelle vom 18. März 1994 versehentlich nicht übernommen.

53 Anordnungen 531 Wir ersuchen Sie im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, Artikel 40 Absatz 1 BPR präzis zu beachten und die Verteilungszahl auch und namentlich auch bei der EDV-Programmierung sowie auch für die Verteilung von Mandaten unter verbundene Listen korrekt und präzis nach dem gesetzlichen Wortlaut zu berechnen.

532 Der Bundesrat wird seinerseits den eidg. Räten mit der nächsten Botschaft zur Aenderung der einschlägigen Bundesgesetzgebung auch in der italienischen Fassung von Artikel 40 Absatz 1 BPR Antrag für eine sprachlich wie mathematisch korrekte Fassung unterbreiten.

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Zu Art. 78 und Art. 86 BPR sowie zur Ueberweisungspflicht: Grundsätze für die Instruktion von Beschwerden zu den politischen Rechten

61 Sachverhalt In einer Gemeinde erhob ein Stimmberechtigter per Fax eine teilweise unklar formulierte und ununterschriebene Wahlbeschwerde und bat um ein Gespräch mit dem zuständigen Departementschef, um die Rügen zu substantiieren. Der Regierungsrat trat auf die Beschwerde richtigerweise nicht ein.

62 Problem Dass die Beschwerde nicht unterzeichnet, verspätet und allein per Fax (dazu BGE 121 II 252) eingereicht wurde, lässt sie an entscheidenden Formfehlern leiden, die den Nichteintretensentscheid längst rechtfertigten. Begründung, Rechtsmittelbelehrung und Kostenspruch des Entscheids enthalten neben zutreffenden aber mehrere rechtsstaatlich problematische Elemente.

63 Anordnungen Wir ersuchen Sie im Hinblick auf künftige Nationalratswahlen, strikte Artikel 78 und Artikel 86 BPR sowie die Pflicht zur Ueberweisung an die zuständige Behörde zu beachten und für die Instruktion von Beschwerden folgendes anzuordnen: 631 Die Einreichung beim instruierenden Departement statt beim Regierungsrat kann in der Regel kein Nichteintretens- oder Abweisungsgrund sein. Die bei einer unzuständigen kantonalen Behörde eingereichte Wahlbeschwerde muss vielmehr ohne Verzug an die Kantonsregierung weitergeleitet werden.

Von dieser Ueberweisungspflicht darf höchstens im Falle einer klar anderslautenden kantonalen Regelung abgewichen werden (BGE 118 Ia 243f).

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632 Für Wahlbeschwerden an die Kantonsregierung begnügt sich der Bundesgesetzgeber in Artikel 78 BPR damit, vom Beschwerdeführer "zur Begründung eine kurze Darstellung des Sachverhalts" zu verlangen. Der Beschwerdeführer hat also einzig örtlich und zeitlich hinreichend bestimmt anzugeben, was er beanstandet. Die Beschwerdeinstanz hat jedoch den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären und bei der Beurteilung das Recht von Amtes wegen anzuwenden.

633 Wenn die Rechtsmittelbelehrung einer Kantonsregierung in einem Beschwerdeentscheid verlangt, ein Rekurs sei in so vielen Doppeln einzureichen, als Interessierte vorhanden seien, so erscheint eine solche Formulierung nicht nur als wenig bürgerfreundlich und als im Widerspruch zum ausdrücklichen Wunsch des Bundesrates vom 13. Januar 1999, sondern als geradezu prohibitiv unklar und schikanös. Für eine Bundeswahl hat sich der Regierungsrat an die bundesgesetzlichen Vorgaben zu halten. Zusätzlich erschwerende Anordnungen halten vor der Bundesverfassung nicht stand.

634 Sämtliche Entscheide zu nicht offensichtlich trölerisch oder treuwidrig erhobenen Beschwerden sind kostenfrei (Art. 86 BPR; VPB 60.72 Ziff. 4.1 und 4.2).

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Statistischer Datentransfer Im Vergleich zu früheren Nationalratswahlen ergaben sich 1999 grössere Probleme bei der Datenübergabe ans Bundesamt für Statistik und bei den erfassten Daten. Dieses Bundesamt wird mit den betroffenen Kantonen zu gegebener Zeit direkt Kontakt aufnehmen.

Mit freundlichen Grüssen 29. März 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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