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Bericht der

Minderheit der ständeräthlichen Commission über den Entwurf eines Haftpflicht-Gesetzes.

(Vom 21. Februar 1881.)

Tit.

Die Minderheit der Commission des Ständerathes zur Berathung des bundesräthlichen Gesetzentwurfes betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb beantragt Ihnen, noch in gegenwärtiger Session der Bundesversammlung auf die Berathung des genannten Gesetzentwurfes einzutreten.

Nachdem Deutschland schon im Jahr 1871 durch Erlaß eines besondern Gesetzes über die Verbindlichkeit zum (Schadenersatze für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken. F a b r i k e n etc.

vorgekommenen Tödtuugen und Körperverletzungen begonnen, über diese Materie zu legiferiren, wurde es einige Jahre später bei Berathung eines schweizerischen Fabrikgesetzes von fast allen Seiten geradezu als selbstverständlich betrachtet, daß den Arbeiter schützende Bestimmungen betreff Haftpflicht des Fabrikanten in dieses Gesetz aufgenommen werden. Es war dies nicht nur ein einstimmiges Begehren der gesammten Arbeiterwelt, sondern auch die Industriellen in ihrer übergroßen Mehrheit billigten im Prinzip die Erlaßung eines besondern Haftpflichtgesetzes. Der erste Absatz des Haftbarkeitsartikels, welcher den Grundsatz und die Bedingungen der Haftbarkeit feststellt, wurde denn auch s. Z. vom Bundesrathe mit einer ganz unwesentlichen Veränderung in der Fassung vorgeschlagen, wie er von dem schweizerischen Handels- und Industrieverein und

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der damaligen speziellen Vorstellung von 272 industriellen empfohlen worden war. Im Schöße der eidgenößischen Räthe wurde einzig die Frage verschieden beurtheilt, iu welche gesetzliche Form die Haftpflicht zu kleiden sei und wie weit selbe ausgedehnt werden solle ; aber man war einig, daß eine besondere Haftpflicht der Fabrikanten zu statuiren sei.

Der Bundesrath schlug vor : ,,Wenn durch den Betrieb einer Fabrik die Körperverletzung oder der Tod eines Arbeiters herbeigeführt wird, so haftet der Fabrikbesitzer für den dadurch entstandenen Schaden, sofern er nicht den Beweis leisten kann, daß der Unfall durch eigenes Verschulden des Getödteten oder Verletzten erfolgt ist.

,,Ueber die Schadenersatzleistung entscheidet im Streitfalle das Gericht, wobei bis zur Erlassung allgemein eidgenößischer Bestimmungen über Schadenersatz die im Bundesgesetze über die Verbindlichkeit der Eisenbahnen und anderer vorn Bunde konzedirter Transportanstalten für die beim Bau und Betrieb herbeigeführten Tödtungen und Verletzungen aufgestellten Grundsätze zur Anwendung kommen.

,,Auf Verlangen muß der Kläger von der Bezahlung von Gerichtsgebühren befreit und demselben da, wo eine solche Vertretung zuläßig ist, ein Anwalt zur unentgeltlichen Geschäftsführung von dem Gerichte beigegebeu werden.a Dieser Vorschlag wurde durch die Berathung in den eidgenoßischen Rätheu wesentlich modifizirt, da demselben wohl mit Recht vorgeworfen wurde, daß dessen Bestimmungen gegenüber dem Fabrikanten als hart und unbillig erscheinen. Angenommen wurde der Haftbarkeitsartikel, Art. 5 des Fabrikgesetzes, schließlich von beiden Rätheu in derjenigen Fassung, wie er von der ständeräthlichen Fabrikgesetz - Commission e i n s t i m m i g beantragt worden war: ,,Ueber die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb wird ein Bundesgesetz das Erforderliche verfügen.

,,In der Zwischenzeit gelten immerhin für den urtheilendeu Richter nachfolgende Grundsätze: ,,a. Der Fabrikant haftet für den entstandenen Schaden, wenn ein Mandatar, Repräsentant, Leiter oder Aufseher der Fabrik durch ein Verschulden in Ausübung der Dienstverrichtung Verletzung oder Tod eines Angestellten oder Arbeiters herbeiführt.

485 ,,b. Der Fabrikant haftet gleichfalls, wenn, auch ohne ein solches spezielles Verschulden, durch den Betrieb der Fabrik Körperverletzung oder Tod eines Arbeiters oder Angestellten herbeigeführt wird, sofern er nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Verletzten oder Getödteten erfolgt ist. Fällt dem Verletzten oder Getödteten eine Mitschuld zur Last, so wird dadurch die Ersatzpflicht des Fabrikanten angemessen reduzirt.

,,c. Obige Ersatzansprüche verjähren in zwei Jahren von dem Tage an, an welchem die Verletzung oder Tödtung stattgefunden hat.

,,d. Der Bundesrath wird überdies diejenigen Industrien bezeichnen, die erwiesenermaßen und ausschließlich bestimmte gefährliche Krankheiten erzeugen, auf welche die Haftpflicht auszudehnen ist.

,,Im Uebrigen urtheilt, bis nach Erlaß des eingangs erwähnten Gesetzes, der kompetente Richter über die Schadenersatzfrage, unter Würdigung aller Verhältnisse, nach freiem Ermessen."

Es wurde also gegenüber dem Vorschlagt', des Bundesrathes festgestellt, daß der Fabrikant gegen Unfälle durch höhere Gewalt nicht aufzukommen habe, und es ward der Passus im bundesräthlichen Antrag, welcher dem Kläger jeweilen einen Anwalt zur unentgeltlichen Geschäftsführung vor Gericht beigeben wollte, gänzlich gestrichen.

Während der Agitationsperiode gegen die Annahme des Fabrikgesetzes durch das Schweizervolk ward Art. 5 hie und da noch als zu weit gehend angegriffen, doch erblickten die Opponenten durchaus nicht in diesem Artikel die Hauptgebrechen des Fabrikgesetzes, da fast alle Gegner des Fabrikgesetzes erklärten, sie seien in dieser Materie am ehesten zu Conzessioueu bereit. Einzelne Fabrikantea protestirten sogar durch öffentliche Erklärungen gegen die Insinuation, als ob sie der Haftpflicht wegen gegen das Fabrikgesetz auftreten, da sie diese dem Begriff der Gerechtigkeit und einem Gefühl der Humanität entsprechend anerkennen.

Wenn .die nationalräthliche Fabrikgesetz-Commission den einschlägigen Artikel mit den Worten begründet : ,,Der gesetzgeberische Gedanke ist berechtigt, daß wer um eines Erwerbes willen N a t u r k r ä f t e in seinen Dienst nimmt, auch für den Schaden eintreten muß, den dieselben anrichten, daß dies insbt'Mondere dann gelte, wenn Menschenleben vernichtet oder die menschliche Gesundheit zerstört werde, vornehmlich aber gegenüber denen, die von ihrer Bundesblatt. 33. Jahrg. Bd. I.

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486 Hände Arbeit leben und deren Hinterbliebene durch den Unfall in das bitterste Elend gerathen" -- so waren diese Worte nicht etwa der Ausdruck der Meinung einer einzelnen Partei, sondern sie entsprachen der Ansicht der großen Mehrheit des Schweizervolkes aller Stände und Klassen. Durch die schweizerische Volksabstimmung über das Fabrikgesetz erhielt der Haftbarkeitsartikel Gesetzeskraft.

Es läßt sich nun aber nicht läugnen, daß sich bei Anwendung dieses Art. 5 des Fabrikgesetzes in der Praxis wirklich große Uebelstände gezeigt haben. Die Bestimmung, daß der competente Richter über die Schadenersatzfrage ganz nach freiem Ermessen zu urtheilen habe, führte in den verschiedenen Kantonen eine große Ungleichheit der Rechtsprechung zu Tage. Fabrikanten wie Arbeiter hatten gleich sehr unter dieser Ungleichheit und Unsicherheit zu leiden, und es ertönte immer lauter und dringender der Ruf nach ungesäumter Erlassung des in Alinea l von Art. 5 speziell in Aussicht genommenen Haftpflichtgesetzes. Wir brauchen Beispiele von vollständig ungleicher Rechtsprechung über ganz analoge Unglücksfälle in den verschiedenen Kantonen hier nicht einmal besonders zu erwähnen, es sind solche Jedermann zur Genüge bekannt. Dringend und wiederholt wird das Begehren auf schleunigen Erlaß eines Haftpflichtgesetzes namentlich vom schweizerischen Handels- und Industrieverein und dessen Sektionen gestellt, welche nebenbei auch hoffen, es werde durch ein spezielles Gesetz möglich werden, der Haftpflicht einen etwas beschränkteren Umfang zu geben, als dies durch gegenwärtigen Art. 5 dem Richter nahe gelegt wird. Von allen Seiten wird der gegenwärtige Zustand als unhaltbar erklärt, aber es ist uns keine Kundgebung von den direkt betheiligten Kreisen bekannt geworden, welche die besondere Haftpflicht des Fabrikanten in Frage stellt, sondern es wurde nur ein Gesetz verlangt, das billiges Maß halte und eine gleiche Handhabung in der ganzen Schweiz möglich mache. Die allerneueste Kundgebung von Herrn R a s c h l e - R i ttmey er in St. Gallen sagt in einer Zuschrift an den Bundesrath über die Vorlage, er sei mit Ausnahme von Art. 2 mit dem ganzen Gesetzentwürfe einverstanden. An diesem Art. 2 rügt er lediglich, daß der Fabrikbesitzer auch für Vergehen und Verbrechen seiner Angestellten haften soll, eine Bestimmung, die uns aber als
selbstredend erscheint und die sich auch im Obligationenrecht (Art. 69) vorfindet.

Es war von Seite der Arbeiter und der Industriellen bestimmt erwartet worden, es würden die eidg-euößischen Räthe dem genannten einstimmigen und dringlichen Wunsche schon in der letzten Dezembersession entsprechen und sie erhofften jedenfalls die definitive Erledigung dieses Frühjahr. Das Erstaunen war daher ein allge-

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meines, als der Beschluß der Mehrheit Ihrer Commission an die Oeffentlichkeit drang, es sei z. Z. auf den bundesräthliche Gesetzentwurf gar nicht einzutreten. Motivirt wird dieser Beschluß hauptsächlich damit, die Endberathung des Obligationenrechtes solle abgewartet werden, da dieses Gesetz, das 1883 in Kraft treten soll, einschlägige Bestimmungen enthalte. Schon in der vorberathenden Commission des Bundesrathes hat ein Mitglied, Herr Bundesrichter R o g u i n , dieselbe Frage aufgeworfen, ob es Angesichts des eidgenößischen Obligationen- und Handelsrechtes, das in Berathung bei den eidgenößischen Behörden liege, angezeigt sei. z. Z. ein Spezialgesetz über die Haftpflicht aufzustellen. Laut Protokollauszug beschloß die Commission (die Herren Ständerath Bieter, die Nationalräthe Künzle, Sulzer und Mooser-Näf, Fabrikinspektor Klein und Dr. Guillaume) nach gewalteter Diskussion am 4. August v. J.

e i n s t i m m i g , es sei auf den Entwurf s o f o r t einzutreten. Die Minderheit Ihrer Commission steht auf demselben Boden und begründet dies kurz : Nachdem der Bund für die Arbeit in den Fabriken ein eigenes Gesetz aufgestellt hat, so liegt es in der Natur der Sache, das Gebiet der Haftpflicht, welches eine Reihe Handlungen einer bestimmten , Gattung in Erwägung zu ziehen hat, ebenfalls durch ein Spezialgesetz zu regeln. Es sind, wenn man im Allgemeinen die Grundsätze bisheriger Gesetzesbestimmung (Artikel 5 (.es Fabrikgesetzes) beibehalten , aber in präziserer Form feststellen will, eine Reihe spezieller Bestimmungen nöthig, welche sicher besser durch ein Spezialgesetz als im eidgenössischen Obligationenrecht geregelt werden. Andere Staaten, die Ausnahmegesetzgebungen sonst kaum so viel kultiviren als die Schweiz, wie Deutschland und England, haben über diese Materie ebenfalls Spezialgesetze erlassen müssen -- wir verweisen diesfalls auf die detaillirten Ausführungen in der Botschaft des Bundesrathes -- und daß in der Schweiz bisanhin diese Ansicht als die richtige gegolten hat, beweist wohl das Alinea l des Art. 5 im Fabrikgesetze, welches bestimmt einem Haftpflichtgesetze ruft, und aus neuester Zeit Artikel 71 des Obligationenrechtes, welcher besagt: ,,Für die Haftbarkeit aus Fabrikbetrieb bleibt die besondere Gesetzgebung des Bundesdes vorbehalte""· Die Commissionsmehrheit möchte nun aber überhaupt
die Grundsätze, wie sie in Artikel 5 des Fabrikgesetzes niedergelegt wurden, aus der schweizerischen Gesetzgebung wieder eliminiren; sie tendirt die vollständige Streichung jenes Haftpflichtparagraphen, sie will diesfalls keine Ausnahmebestimmungen gegen die Fabrikanten , sondern auch das Gebiet der Unglücksfälle in Fabriken durch das gemeine Recht entscheiden, wozu das zweite Kapitel des

488 Obligationenrechts über die unerlaubten Handlungen die richtige und genügende Grundlage biete. Wir stehen also im Grunde vor der großen und hochwichtigen Frage: Soll die Errungenschaft der Haftpflicht im Fabrikgesetz wieder dahinfallen , ja oder nein ?

Man wendet uns in erster Linie ein, die Haftpflicht bestehe auch nach gemeinem Rechte; nach Artikel 69 hafte ein Geschäftsherr nicht nur für sich, sondern auch für den Schaden , welchen seine Arbeiter und Angestellten bei Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweise, daß er alle erforderliche Sorgfalt angewendet habe, um eine solche Schädigung zu verhüten; ja es werde die Entschädigung mitunter sogar größer als nach bundesräthlichem Vorschlage ausfallen, weil bei Selbstverschulden des -Fabrikanten nach gemeinem Rechte volle Entschädigung eintreten müsse, während jener Vorschlag ein Maximum von Fr. 8000 vorsehe.

An sich wäre der Vorschlag der Commissionsmehrheit, nach gemeinern Recht zu urtheilen und die Spezialgesetzgebung zu verhüten , gewiß zu begrüßen, wenn damit der humanitäre Zweck, den wir im Auge haben, ebenfalls erreicht werden könnte. Das ist nun nicht der Fall. Nach gemeinem Recht würde zukünftig der Arbeiter, wie vor Erlaß eines eidgenössischen Fabrikgesetzes in den Kantonen, den strikten Beweis zu erbringen haben, daß der Fabrikinhaber oder einer seiner Mandatare das Fabrikunglück im eigentlichen Sinne des Wortes v e r s c h u l d e t habe, welchen Beweis der Arbeiter fast nie erbringen kann und daher schütz- und rechtlos würde. Hören wir darüber in erster Linie den Mann , dem wohl in Sachen nach den seit zehn Jahren in Deutschland mit dem Schuldbeweis des Arbeiters gemachten Erfahrungen ein kompetentes Urtheil zusteht. Der Fürstkanzler sagt im Moüvenbericht zu dem vom Volkswirthschaftsrath bereits genehmigten Entwurf eines Gesetzes betreffend die Versicherung der in Bergwerken, Fabriken und andern Betrieben beschäftigten Arbeiter gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle : ,,Die Belastung des Verletzten mit dem Beweise eines Verschuldens des Unternehmers oder seiner Beauftragten macht die Wohlthat des Gesetzes für die Arbeiter in den meisten Fällen illusorisch. Dieser schon an sich schwierige Beweis wird nicht selten und gerade bei den durch elementare Kräfte herbeigeführten
folgenschwersten Unfällen, wie sie in Bergwerken, in Anlagen mit Dampfkesseln und in Fabriken zur Herstellung von Explosivstoffen vorkommen , dadurch unmöglich gemacht, daß der Zustand der Betriebsstätte und der Betriebseinrichtungen, auf dessen Feststellung es für den Schuldbeweis meistens ankommt, durch den Unfall selbst

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bis zur Unkenntlichkeit verändert ist, und daß diejenigen Personen durch deren Zeugniß häufig allein ein Verschulden nachgewiesen werden könnte, durch den Unfall selbst getödtei; oder verletzt und im letztern Falle, auch wenn sie nicht, was dis Regel ist, selbst Partei sind, durch die Katastrophe in einen Zustand versetzt sind, der sie zur Ablegung eines Zeugnisses unfähig macht.

,,Die Erfahrung hat bis auf die neueste Zeit gezeigt, daß das Gesetz in denjenigen Fällen , welche durch ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung vorzugsweise seinen Erlaß befördert haben und auf welche es nach den Motiven in erster Linie berechnet war, regelmäßig seinen Zweck nicht erreicht.

,,Aber auch abgesehen von solchen Fäller, ist die Lage des einzelnen Arbeiters , welcher einen Entschädigungsanspruch gegen seinen Arbeitgeber im Wege des Prozesses verfolgen muß, angesichts seines Vermögens- und Bildungsstandes, sowie ferner seiner sozialen Stellung, in der Regel eine ungünstige."

Der Reichskanzler wiederholt dann auch an verschiedenen Stellen des Motivenberichts, daß in Folge der Buweislast auf Seite des Arbeiters Zustände herbeigeführt worden seien, welche weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer befriedigten, und daß kaum noch bestritten werde, daß sich deßhalb das Verhältniß zwischen beiden Klassen der Bevölkerung eher verschlimmert als verbessert habe.

Es verbittern eben nicht nur die großen Unglücksfälle, bei denen infolge Zerstörung die Beweismittel abbanden gekommen; zahlreich sind namentlich Reibereien in kleinern Fällen, wo der Mitarbeiter es oft nicht wagt, dem Mitarbeiter Zeuge zu sein gegen den Fabrikherrn , und der Arbeiter in der Ungewißheit des Prozeßausgangs, angesichts möglicher Folgen und Kosten auf se'.n Rechtsbegehren lieber ganz verzichtet.

Den Akten der Commission ist eine ziemlich reichhaltige Literatur beigegeben gewesen, und wir haben derselben die Daten entnehmen können , daß das Verschulden beim Fabrik betrieb in 75, in Bergwerken in 90% n i c h t festzustellen ist. Solche Zahlen sprechen mehr als Worte, wohin uns die Anträge der Commissionsmehrheit führen.

Es ist auch eine eigenthümliche Erscheinung, daß , während wir in der Schweiz auf diesem Gebiete einen mächtigen Schritt rückwärts thun sollen , rings um uns die humanitären Ideen auf demselben Gebiete an Boden gewinnen. An der Hand
thatsächlicher Verhältnisse kann der Bundesrath in seiner Botschaft vom 26. November 1880 es aussprechen, daß der daherige Grundsatz der Haftpflicht bereits in die Gesetze und die Rechtspraxis mehrerer

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Staaten übergegangen ist, und daß dies als einer der glücklichsten Fortschritte der Jurisprudenz in der neuern Zeit betrachtet werden kann. Wenn der deutsche Reichskanzler den Satz ausspricht, daß ein Stillstand oder gar ein Rückschritt auf diesem Gebiete den staatlichen Aufgaben der Gesetzgebung eben so wenig wie den I n t e r e s s e n der I n d u s t r i e entspreche, so stützt ersieh dabei auf die Ansichten und Gutachtenachten fast aller der Männer, Juristen wie Nichtjuristen , die sich im vergangenen Jahrzehnt mit der Materie beschäftigten.

Petersen schreibt in seiner Schrift über die Grundsätze des französischen Rechts über Haftpflicht: ,,Soweit es sich um die Verantwortlichkeit für solche Unfälle, welche durch den Betrieb eines Gewerbes verursacht wurden, handelt, müssen heute Gesichtspunkte in Betracht fallen , welche bei der Aufstellung des Code civil noch gar nicht oder doch nur in geringem Maße berücksichtigt werden konnten. Durch die größere Ausdehnung der Industrie und die besondern Gefahren, welche der Gebrauch von Maschinen, insbesondere die Benutzung der Dampfkraft , mit sich führt, haben sich die Unfälle sehr vermehrt und den Charakter der Regelmäßigkeit erlangt. In hervorragender Weise werden durch diese Gefahren die in den einzelnen Gewerben und Fabriken beschäftigten Arbeiter betroffen ; auch können dieselben durch einen höhern Lohn keineswegs, wie man oft behauptet hat, für die übernommene Gefahr entschädigt oder in die Lage gesetzt werden, den dem beschädigten Arbeiter oder der Familie des Getödteten entgangenen Erwerb zu ersetzen. Die Beschädigten, beziehungsweise deren Familien, einlach auf die öffentliche Armenpflege zu verweisen, kann offenbar nicht als eine befriedigende Lösung angesehen werden. Es liegt deßhalb nahe, daß man die Entschädigungspflicht für solche Unfälle als eine Last dos Geschäfts ansieht, welches, wie für Abnutzung des Maschinenmaterials, auch für das Material des menschlichen Arbeiters die dadurch möglicherweise entstehenden Ausgaben tragen soll."

Solche Ansichten sind im deutschen Reichstag von Männern der divergirendsten politischen Richtungen, von Dunker , Lasker, Windthorst und Bethusy-Huc, bei verschiedenen Anläßen verfochten worden.

Es sei uns nur noch gestattet, H e l d zu citiren , den wir in dieser Frage als Autorität anrufen dürfen. Held
weist nach , daß nur 7 1/2% von allen Unglücksfällen derart sind, daß der Arbeiter bei gewöhnlicher Sorgfalt, namentlich bei Befolgung der gegebeneu Vorschriften, sie hätte vermeiden können. 32Va % sind die Folge

491 von speziellen örtlichen Verhältnissen, Transmissionen etc., und nur in der starken Hälfte dieser Fälle, d. h. in zirka 17 °/o aller Fälle, hat der Arbeiter beim jetzigen deutschen Gesetze, d. h. bei Leistung des Schuldbeweises, wie ihn nun unsere Comnd.ssionsmehrheit auch für die Schweiz anstrebt, die M ö g l i c h k e i t , vom Fabrikanten Entschädigung zu erhalten. Der ganze Rest der Fälle, d. h. 60 °/o der bekannten, und wahrscheinlich ein größerer Theil aller Fälle ist derartig, daß sie als Folge von Z u f a l l betrachtet werden müssen.

Der Zufall aber, sagt die Commissionsmehrheif,, darf dem Fabrikanten nicht zur Last fallen. Nach dem von ihr gepriesenen System würden also jährlich 75 °/o verunglücken , oht.e daß sie Entschädigung bekommen und ohne daß man sich dabei beruhigen kann, daß sie selbst die Schuld daran tragen. Da verlangt doch unser sittliches Gefühl, daß die Industrie als solche, deren Einrichtung im Ganzen oder Einzelnen an den Unglücksfällen schuld ist, für die Suche aufkomme.

Es ist naturgemäß, daß die Fabrikanten als Herren der Industrie eine größere Verantwortung tragen müsset, als der dienende Arbeiter. Weithin hat der Gedanke Anerkennung gefunden, daß das Mögliche gethan werde, um die Unsicherheit der Existenz des Arbeiters und seiner Familie zu heben und dadurch eine der ' schlimmsten Seiten des Zustandes proletarischer Arbeiter zu entfernen. Und nirgends ist diese Hülfe notwendiger und dringender als im Unglücksfall, der wie der Blitz aus liciterai Himmel den unvorbereiteten, ahnungslosen Menschen mit einem Schlage ins bitterste Elend bringt. Tritt Hülfe von Seite dos Fabrikanten ein, so werden solche Lasten in der Regel durch größere Leistungsfähigkeit und Arbeitslust des menschlicher situirten Arbeiters reichlich aufgewogen.

In Deutschland ist man einig, daß der Zi.stand, wie ihn die Commissionsmehrheit wieder neu bei uns durch den Schuldbeweis des Arbeiters einführen will, ein absolut unhaltbarer, ungenügender geworden sei. Man nimmt nun dort in allerneuester Zeit zu einer großartigen Maßregel, der allgemeinen Zwangsversicherung der Arbeiter, Zuflucht, worauf wir an anderer Stelle unseres Berichtes näher zurückkommen. Für unsere kleinen si hweizerischen Verhältnisse erscheint diese Lösung der Frage, welche für die Arbeiter als die weitaus günstigste erscheint,
zur Zeit wenigstens als unausführbar. Ist es uns aber auch nicht möglich, in so ausreichendem Maße für alle verunglückten Arbeiter zu sorgen , so liegt es doch in unserer Pflicht, an den Grundsätzen unserer bisherigen Gesetzgebung festzuhalten, welche dem Arbeiter wenigstens in einem großen Theil aller Unglücksfälle Hülfe bringt, während nach dem

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gepriesenen gemeinen Rechte nur wenige Prozente zum Rechte kämen.

Das römische Recht stellt wohl die Regel auf, daß der Arbeitgeber nicht für den Zufall hafte, aber die mächtige Ausdehnung der Industrie und deren Folgen in unserer Zeit haben eben Verhältnisse mit sich gebracht, für die mit Grund in unserm Lande neues Recht geschaffen worden ist. Einem Doktrinarismus zu liebe sollte davon nicht abgegangen werden, nachdem die Großzahl der Betroffenen sich gar nicht ernstlich gegen das neue Prinzip aufgelehnt, sondern lediglich für eine maßvolle Anwendung jener Grundsätze petitionirt haben.

Allerdings bedingen die in Artikel 5 des Fabrikgesetzes niedergelegten Bedingungen gewissermaßen eine Ausnahmegesetzgebung.

Es ist dies aber wahrlich nicht die einzige in unserm Lande, haben Sie doch erst in einer Ihrer jüngsten Sitzungen die Ausnahmegesetzgebung betreffs Haftpflicht der Eisenbahnen neuerdings sanktionirt. Entscheidend für uns ist, daß diese Ausnahmegesetzgebung dem Lande zum Wohle und damit zur Ehre gereichen wird.

Was nun die von Seite der Fabrikanten vom Ausführungsgesetz mit Recht verlangte maßvolle Anwendung der in Art. 5 enthaltenen Grundsätze anbelangt, so fällt es uns nicht schwer, den Nachweis zu leisten, daß der bundesräthliche Gesetzentwurf die größten Härten des Art. 5 des Fabrikgesetzes ausmerzt und als eine wichtige Conzession an den Standpunkt der, Fabrikanten betrachtet werden kann.

Art. 5 des Fabrikgesetzes schließt nur ein vom Fabrikanten bewiesenes Selbstverschulden des Arbeiters von der Entschädigung aus, macht keinen Unterschied zwischen Verschulden und Nichtverschulden des Arbeitgebers, der Zufall fällt ganz zu seinen Lasten, und über das Maß der Entschädigung entscheidet der Richter ganz nach freiem Ermessen. Die neue Gesetzvorlage bestimmt dagegen, daß die Ersatzpflicht des Betriebsunternehmers reduzii-t werden muß in drei Fällen: a. wenn die Tödtung oder die Verletzung (die in Art. 3 erwähnten Fälle nicht inbegriffen) aus Zufall eingetreten ist; b. wenn dem Geschädigten ein Theil der Schuld an dem Unfall oder an der Krankheit im Sinne vou Art. 3 zufällt, insbesondere wenn der Geschädigte-als Angestellter oder Arbeiter einen Mangel an den Einrichtungen, durch welchen der Unfall (oder die Krankheit) herbeigeführt worden ist, entdeckt hat, ohne davon einem seiner Vorgesetzten oder dem Betriob.sunternehmer selbst Kenntniß gegeben zu haben;

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c. wenn des Geschädigten früher erlittene Verletzungen auf die letzte und deren Folgen Einfluß haben, oder wenn die Gesundheit des Erkrankten durch seine frühere Gewerbsausübung bereits geschwächt war.

Von größter praktischer Bedeutung ist namentlich die unter a angeführte Reduktion, diejenige für den Zufall, Die Commissionalberathung dürfte vielleicht zur Folge haben, diesem Gedanken noch eine bessere und präzisere Form im Gesetze zu geben.

Art. 5 des Fabrikgesetzes kennt kein Maximum der Entschädigung, während der Bundesrath nach Vorschlag R i e t er und der Vertreter der Industrie ein solches festsetzen will. Das Maximum wird in dem Entwurfe auf Fr. 8000 oder den sechsfachen Jahresverdienst des Betreffenden norrriirt; dies aber nur in den allerschwersten Fällen und wenn ein eigentliches Selbstverschulden des^ Fabrikanten vorliegt, oder wenn ein ganz schwerer Fall sich iß einer derjenigen Industrien ereignen sollte, welche vom Bundesrathe vorher als eine solche bezeichnet worden wäre, welche ausschließlich und erwiesenermaßen bestimmte gefährliche Krankheiten erzeugen. In diesem Vorschlage der Feststellung eines Maximums der Entschädigung, welchen Vorschlag wir als gerechtfertigt erachten, liegt für den Fabrikanten auch ein nicht zu unterschätzender Vortheil gegenüber den Ansichten der Commissionsmehrheit, welche ber Selbstverschulden des Fabrikanten volle und unbegrenzte Entschädigung verlangt. Glaubt der Ständerath, das Maximum von Fr. 8000 sei zu hoch gegriffen, etwa in Vergleichung mit der bezüglichen englischen Gesetzbestimmung, so steht es ihm frei, dieses Maximum auf eine bescheidenere Summe anzusetzen. Es kann und darf das Quantitative diesfalls nicht den Ausschlag geben, auf die Sache gar nicht einzutreten.

Eine fernere ganz wesentliche Begünstigung der Haftpflicht des Fabrikanten, von der bis anhin kein gesetzlicher Gebrauch gemacht werden konnte, legt der Bundesrath in Artikel 8 nieder: ,,Wenn der Getödtete, Verletzte oder Erkrankte bei einer Unfallversicherung, Unterstützungskasse, Krankenkasse oder einer ähnlichen Anstalt versichert war, und wenn der Betriebsunternehmer durch Prämien oder andere Beiträge bei dieser Versicherung mitgewirkt hat, so sind die von jenen Anstalten dem Verletzten, Erkrankten oder den Rechtsnachfolgern des Getödtelen bezahlten Beträge von der Entschädigung ganz in Abzug zu bringen, sofern der Betriebsunternehmer nicht weniger als die Half'!,« an die bezahlten Prämien und andere Beiträge geleistet hat.

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,,Beträgt die Mitleistung des Betriebsuntemehmers dagegen weniger als die Hälfte, so wird von der Entschädigung nur jene Summe abgezogen, welche im Verhältniß zu den von ihm geleisteten Beiträgen steht."

Das sind nun alles sehr bedeutende Erleichterungen, und es geht daraus klar hervor, daß die Arbeiter durch diesen Gesetzentwurf, wenn derselbe auch nicht weiter abgeschwächt würde, gegenüber bisherigem Rechte verlieren, die Fabrikanten dagegen erheblich besser als bisanhin wegkommen.

Für ganz unstichhaltig halten wir den Einwand der Commissionsmehrheit, es könne das Gesetz jetzt nicht erlassen werden, weil dasselbe im Einklang mit dem Obligationenrecht stehen müsse.

Dieser Einklang kann jetzt sehr leicht bewerkstelligt werden, und er wird auch nicht gestört durch die Hülfsbestimmungen, welche Sie bei den letzter Berathung des Obligationenrechtes dem H. Kapitel über die unerlaubten Handlungen nachträglich noch zugefügt haben -- Hülfsbestimmungen, die selbstredend ein Haftpflichtgesetz nicht ersetzen, das den Arbeitern den bisher gewährten Schutz bieten soll.

Im Schöße der Commission ist von der Mehrheit sodann namentlich das Argument in's Feld geführt worden, ein solches Gesetz, wie die Minorität es wünsche, sei schon erträglich für die reichen und großen Fabrikanten, unerträglich dagegen für die viel zahlreichern kleinernGewerbtreibenden. Wir erwidern hiegegen : Seit Inkrafttreten des Fabrikgesetzes hat die Unfallversicherung in unserm Lande eine große Ausdehnung genommen, und wir wissen, welches materielle Opfer der Fabrikant für die Versicherung seiner Arbeiter leisten muß. Die Prämien variiren sehr bedeutend zwischen den einzelnen Industriezweigen; im Mittel wird sie für die unter das Fabrikgesetz fallenden Industrien3 /4 4 bis l % des Arbeitslohnes betragen. Dabei nehmen wir volle Versicherung, zum vierfachen Arbeitslohn, für alleUnglücksfälle an, während die bloße Haftpflichtversicherung, wobei Unglücksfälle bei Selbstverschulden des Arbeiters oder in Folge höherer Gewalt nicht entschädigt werden, etwas niedriger zu stehen käme. Der Prospekt der schweizerischen Unfallversicherungs-Gesellschaft i n Winterthur sagt: ,,Wer d i e klar, daß er mit derselben nur für einenverhältnißmäßigg sehr geringen Theil der in seinem Etablissent eu te vorkommenden Unfälle gedeckt ist." Zweifelsohne hat dieser
Passus mehr jene bisherigen deutschen Verhältnisse im Auge, die uns das gemeine Recht ebenfalls bringen soll. Würden sich die schweizerischen Industriellen, wie es in einem Vorschlag derHandelscommissionu des Kantons

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Glarus gelegen war, zu einer Versicherung ihrer Arbeiter auf Gegenseitigkeit zusammengethan haben, so dürfte die mittlere Prämie nach den bisanhin gemachten Erfahrungen nicht einmal Va °/o des Arbeitslohnes betragen haben. Wir fußen diese Berechnung auf die Angaben der Unglücksfälle, welche seit einiger Zeit vorschriftsgemäß an die Fabrikiuspektoren gemacht werden müssen. Rechnen wir aber auch das Doppelte, l °/o, so fragen wir, ist eine solche Leistung auch für den kleinsten Fabrikanten drückend und ist dieser Zweck nicht viel mehr werth?

Ein Fabrikant, der jährlich Fr. 30,000 an Arbeitslöhnen ausgibt, zählt schon nicht mehr zu den ganz kleinen ; -- die Leistung von Fr. 300 ist aber wahrlich nicht groß zu L.enuen, wenn damit eine vollständige Versicherung der Arbeiter erreicht wird. Will sich ein Fabrikant nur für Tödtungen und bleibende Verletzungen seiner Arbeiter versichern, die Folgen kleinerer vorübergehender Verletzungen dagegen selbst tragen, also immerhin keine sehr große Gefahr laufen, so reduzirt sich die Prämie um volle 50 °/o und betrüge "ö1- im vorhin zitirteu Falle also noch Fr. 150.

Schaffen Sie aber Art. 5 des Fabrikgesetzes ab und begnügen Sie sich mit den einschlägigen Bestimmungen de;- Obligationenrechts, welche nur in ganz seltenen Unglücksfällen zutreffen, so dürfte bei einem Theile der Fabrikanten auch dieses kleine Opfer nicht mehr geleistet werden. Und was vielleicht ebenso schlimm ist, der Fabrikant wird auch wieder nachläßiger werden in Erstellung von Schutzvorrichtungen, mehr Arbeiterleben als seit Inkrafttreten des Fabrikgesetzes würden auf dem Schlachtfeld der Arbeit zu Grunde gehen.

Eine Industrie wird nicht wegen der Prämie für die ArbeiterVersicherung zu Grunde gehen. Zur Ehre unserer schweizerischen Industriellen sei erwähnt, daß sie sich mit seltenen Ausnahmen bei Unglücksfällen ihrer Arbeiter hochherzig gezeigt haben, und es sind die Prämien für die Arbeiterversicheruiitr auch großentheils willig bezahlt worden. Glücklicherweise hernicht in den meisten Theilen der Schweiz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch ein Verhältniß, welches den erstern eine Lust: zu Gunsten seiner Arbeiter willig tragen läßt und bei letzter a die verdiente Anerkennung findet. Daß das Maß, welches verlangt wird, kein ungebührlich hohes ist, glauben wir im Vorstehenden bewiesen
zu haben.

Vergleichen wir damit den ueuen deutschem Gesetzentwurf der staatlichen Zwangsarbeiterversicherung, so begegnen wir ganz andern Anforderungen an die Fabrikanten. Der Entwurf bestimmt für alle

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Fälle, also auch bei Unfällen durch höhere Gewalt und bei Selbstverschulden des Arbeiters, neben Beerdigungskosten, versuchte Heilungskosten etc. für den Fall der T ö d t u n g eines Arbeiters beim Fabrik betrieb folgende Renten : a. Für die Wittwe des Getödteten bis zu ihrem Tode oder bis zur Wiederverheirathung 20 % des Verdienstes. Für jedes aus der Ehe mit dem Verstorbenen hinterbliebene Kind erhöht sich die Rente für die Zeit bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres um 10 °/o des Verdienstes, jedoch darf die Rente 50 % des Verdienstes nicht übersteigen.

b. Für jede mutterlose Waise, sowie für jede Waise, deren Mutter sich wieder verheirathet hat, für die Zeit bis zum vollendeten 15. Lebensjahre 10 °/o, jedoch für mehrere Kinder zusammen nicht über 50 °/o des Verdienstes.

o. Für Ascendenten des Verstorbenen, wenn dieser ihr einziger Ernährer war, für die Zeit bis zu ihrem Tode oder bis zum Wegfall der Bedürftigkeit 20 °/o des Arbeitsverdienstes.

Für den Fall der V e r l e t z u n g bestimmt der genannte Gesetzentwurf : 1) In den Kosten des Heilverfahrens, welche vom Beginn der fünften Woche nach Eintritt des Zufalls an entstehen.

2} In einer dem Verletzten vom Beginn der fünften Woche nach Eintritt des Unfalls an für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Rente. Dieselbe ist nach Maßgabe desjenigen Arbeitsverdienstes zu berechnen, welchen der Verletzte während der Zeit seiner Beschäftigung in dem Betriebe, wo der Unfall sich ereignete, an Gehalt oder Lohn durchschnittlich bezogen hat. Hat die Beschäftigung länger als ein Jahr gedauert, so ist der durchschnittliche Arbeitsverdienst des loteten Jahres zu Grunde zu legen. Die Rente beträgt: a. im Falle völliger Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben 662/s % des Arbeitsverdienstes ; b. im Falle der theilweisen Erwerbsunfähigkeit und für dieDauer derselben einen Bruchtheil der Rente unter ar welcher nach dem Maße der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu bemessen ist, jedoch nicht unter 25 % und nicht über 50 % des Arbeitsverdienstes betragen darf.

An die Versicherungsprämie bezahlt bei einem Jahresverdienste bis Fr. 1000 der Arbeiter nichts, zwei Drittel der Fabrikant und

497 -einen Drittel der Landarmenverband. Für diejenigen Versicherten, deren Jahresarbeitsverdienst über Fr. 1000 beträgt, zur Hälfte von demjenigen, für dessen Rechnung der Betrieb erfolgt, zur Hälfte von dem Versicherten.

In einer höchst interessanten Arbeit, auf die wir indeß in diesem Berichte nicht näher eintreten können, hat Dr. K e y m in einer Beilage zum Motivenbericht des Reichskanzlers die muthmaßliche Höhe der Prämie ausgerechnet. Er berechnet medio 3 °/o vom Arbeitslohn. Da für Verdienst bis Fr. 1000 der Landarmenverband einen Drittel zu übernehmen hat, so trifft es dem Industriellen noch 2 °/o , während sich derselbe bisanhin in Deutschland gegen Haftpflicht mit einem viermal geringern Betrage versichern konnte. So gedenkt man in Deutschland vorwärts zu gehen; ähnliche Stimmen ertönen aus maßgebenden Parlamentskreisen von Frankreich, wo man sich ebenfalls anschickt, mehr als bisanhin für die arbeitende Bevölkerung zu thun. Und diesen Moment will unsere Commissionsmehrheit zum Rückzug wählen!

Der Referent der Minorität hätte persönlich einer Arbeiterversicherung , ähnlich dem deutschen Vorschlage , den Vorzug gegeben vor dem Erlasse eines Haftpflichtgesetzes, da. die Versicherung eine ganz vollständige ist und der Staat mit einem Drittiheil an der Leistung der Prämie partizipirt. Allein er ist sich klar, daß z. Z. bei uns keine Rede davon sein kann; da« Opfer für die Industriellen wäre zu groß; klar aber auch, daß wir uns diesem System auf die Dauer nicht verschließen werden können, wenn sich dasselbe in Deutschland bewährt haben wird. Für heute gilt es für uns, die Errungenschaft des Jahres 1877 uicht preiszugeben.

Es bleibt noch ein wichtiges Moment zu berühren übrig.

Sämmtliche Kantone sind unlängst angefragt worden , ob sie eine Revision des Fabrikgesetzes begehren. 22 Kantonsregierungen haben mit Nein geantwortet, 3 mit Ja, aber auch von diesen 3 Ja keines wegen der Haftpflicht. Dagegen verlangten fast alle Kantone den schleunigen Erlaß eines Haftpflichtgesetzes. Man hat die gleiche Frage an die industriellen Vereine gestellt; keiner hat die einfache Streichung des Artikels 5 des Fabrikgesetzes begehrt ; sie alle verlangten nur ein mildes Ausführungsgesetz.

Wir glauben daher auch nicht, daß der Vorschlag der Commissionsmehrheit von Erfolg begleitet sein werde, wenn sich auch
heute eine Mehrheit in diesem Saale dafür ausspn chen sollte. Schon im Nationalrath, der das Fabrikgesetz mit großer Mehrheit beschlossen hat, dürfte ein Halt geboten werden. Unserer Ansicht .nach ganz unzweifelhaft dürfte dieses Halt aber von der Ungeheuern

498 Mehrheit des Schweizervolkes ertönen, wenn das Gesetz zur Abstimmung kommt, das den genannten Haftpflichtartikel eliminiren soll. Jeder andere Artikel des Fabrikgesetzes dürfte leichter als dieser zu beseitigen sein, denn dieser ist vom schweizerischen Volke von Anfang an am lebhaftesten begrüßt worden. Was hat die Commissionsmehrheit dann gewonnen und wer, Mehrheit oder Minderheit, der Industrie einen größern Dienst erwiesen ? Die Minderheit, welche dem gegenwärtigen Zustande, den Alles beklagt, ein rasches Ende bereiten will durch Erlaß eines unsern schweizerischen Ver hältnisseu entsprechenden Haftpflichtgesetzes, oder die Mehrheit, welche unnötigerweise den gegenwärtigen Zustand verlängert und welche, eine schweizerische Volksabstimmung provozirend, die sich mit den bezüglichen Bestimmungen des Obligationenrechts nicht begnügen wird , unwillkürlich dazu beitrüge, daß das zukünftige Gesetz strenger gegen die Fabrikanten ausfallen würde?

Und hat die Commissionsmehrheit auch reiflich überdacht, daß schon jetzt in einem Theile der schweizerischen Bevölkerung das Mißtrauen gegen das eidgenössische Obligationen- und Handelsrecht erwacht ist, weil man darin auf ganz ungenügende Weise die Haftpflicht regeln wolle. Bekennen sich die eidgenössischen Räthe zu der Ansicht, das ObligKtioneurecht regle diese Materie wirklich abschließlich, so dürfte der Referendumssturm auch gegen dieses Gesetz rasch ergehen, denn diese Frage berührt die wichtigsten und berechtigtesten Interessen des Arbeiterstandes.

Wir hielten es für unsere Pflicht, Sie, Tit., hierauf aufmerksam zu machen, auf Folgen, die sicher nicht ausbleiben würden. Ohne alle Noth wird durch den Mehrheitsantrag Mißtrauen in den arbeitenden Klassen geweckt. Wir wünschen dagegen mit dem Bundesrathe, daß durch ein Haftpflichtgesetz ein Stück der sozialen Frage in der Schweiz auf friedlichem Wege bleibend und gerecht gelöst werde , und appelliren an den Geist der Humanität, der in deii Jahren 1875 und 1876 die eidgenössischen Räthe bewegen, gesetzgeberisch in diese Materie einzugreifen.

Die Einführung des Fabrikgesetzes war leider begleitet von einer schweren und allgemeinen Geschäftskrisis, und es mochten in dieser Zeit die den Fabrikanten treffenden Nachtheile doppelt drückend erscheinen. Aber nach und nach, und da die Krisis für eine Reihe von
Industrien wieder einem bessern Geschäftsgang Platz gemacht, hat doch eine gerechtere Beurtheilung jener Gesetzgebung Platz gegriffen, und es hat speziell die Haftpflicht diejenige Würdigung erfahren, welche sie verdient. Der Staat hat wohl die Pflicht, unsere leidende Industrie zu schützen; dazu gibt es aber

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glücklicherweise andere , bessere, größere und schönere Mittel als es das vorgeschlagene auf Kosten von Leben und Gesundheit der Arbeiter wäre.

Treten Sie auf den Entwurf ein, so erfüllen Sie ein längst ausgesprochenes gemeinsames Begehren der Arbeiter und Arbeitgeber , und eine schwierige Frage wird zum Wohle des Ganzen erledigt. Treten Sie ein in den Entwurf, ändern Sie ihn, mildern Sie ihn nach Belieben, aber weisen Sie ihn nicht auf unbestimmte Zeit zum Nachtheil a l l e r Betheiligten zurück.

B e r n , den 21. Februar

1881.

Der Berichterstatter der Minderheit der ständeräthlichen Commission:

E. Blumer.

Mitglieder der Minderheit: Hr. Hohl.

,, Blumer.

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Bericht der Minderheit der ständeräthlichen Commission über den Entwurf eines Haftpflicht-Gesetzes. (Vom 21. Februar 1881.)

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