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Schweizerisches Bundesblatt.

33. Jahrgang. L

Nr. 2.

15. Januar

1881.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

per Zeile 15 Ep. -- Inaerate sind franko an die Expedition einzusenden.

Drnk und Expedition der Stämpflischen in Bern.

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.Bericht der

Minderheit der Kommission des Ständerathes, betreffend der Entwurf eines Bundesgesetzes über die Epidemien.

(Vom 1. Dezember 1880.)

Tit.

Der Ihnen vom Bundesrathe unterbreitete Gesetzentwurf ruft verschiedene Einwendungen hervor.

Zunächst tritt demselben diese erste Prinzipfrage entgegen : Wann ist die Absorbirung aller staatlichen Funktionen durch die Centralgewalt vom Guten? -- und sodann die weitere Frage: Welche Rolle soll, in einem Föderativstaate, der Bundesbehörde auf dem Gebiete der Polizeiverfügungen zugetheilt werden?

Man darf nicht, wie es allzu oft geschieht, die nützliche und nothwendige Unifikation mit der ungesunden Centralisation verwechseln, welche nur die Bureaucratie verstärkt, ohne als Kompensation irgend einen wirklichen Vortheil zu bieten.

Die Unifikation von Maß und Gewicht, des Post-, Telegraphen-, Zoll-, Eisenbahn:, des Rechtswesens, alles das drängt sich auf und erklärt sich von selbst; die Vernunft spricht für diese Dinge, das öffentliche Interesse erheischt sie gebieterisch. Sie können zur Geltung gelangen, ohne das Leben den Extremitäten zu entziehen und auf das Centrum zu häufen ; sie sind die einfachste und beste Methode für das Funktioniren dieser unserem Gesellschaftsstaate unentbehrlichen Triebwerke; sie lassen der kantonalen, lokalen und individuellen Initiative ein hinlänglich freies Feld offen.

Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. I.

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Ebenso verhält es sich mit den durch die Bundesverfassung aufgestellten allgemeinen Grundsätzen über Niederlassungsfreiheit.,, weltlichen Civilstand, das Recht zur Ehe, Religionsfreiheit und so viele andere Bestimmungen, welche die Grundrechte des Bürgers jm politischen und bürgerlichen Leben wahren.

Allein neben diesen wesentlichen Dingen, für die ein Foderati vstaat sorgen, die er regeln m u ß , gibt es dann andere, die für ihn weniger dringend sind, an die er nur mit vieler Umsicht herantreten darf, wenn er nicht Uber's Ziel schießen und den Vorwurf eines verfehlten Uebereifers sich zuziehen will.

Ist nun die direkte und beständige Dazwischenkunft der Bundesgewalt auf diesem Gebiete der Epidemien wirklich so nothwendig?

Die Schweiz ist, wir wiederholen es, ein Föderativstaat, d. h.

ein Staat, dessen Centralgewalt weniger dazu angelegt ist, eine überwiegende Rolle zu spielen und überall die Initiative zu ergreifen.

Werfen wir einen Blick über unsere Grenzen hinaus. Haben wir es hier etwa mit einer jener großen Maßnahmen von internationalem Interesse zu thun, bei derer Durchführung die Schweiz allein zurückbliebe? mit einer nothwendigen Vorkehrung, die von unsern Nachbarn bereits vollzogen wäre und nun auch uns zugemutbet würde, gestützt auf die Wahrnehmung, daß die Kantone ihrerseits in der Ohnmacht sind, sie selbst auszuführen, so daß nichts mehr übrig bliebe als die Dazwischenkunft eines Bundesgesetzes, das diese Materie bis in die geringfügigsten Details hinein normirt, und das permanente Einschreiten der Bundesbehörde, welcher den Kantonen gegenüber gleichsam die Rolle eines Korporals, der die Rekruten in der Handhabung des Gewehrs unterrichtet, zufiele?

Frankreich, das Land der Centralisation par excellence, dessen Verwaltung so centralistisch organisirt ist, daß man ohne Erlaubniß des Ministers keinen Kirchthurm reparirt in einem Dorfe des Departement des Doubs, und nicht das kleinste Sträßchen baut, -- Frankreich hat nichts Derartiges. Wenn in Marseille eine Epidemie ausbricht, so befaßt sich damit nicht die Regierung in Paris, sondern der Municipalrath von Marseille, wie der gesunde Verstand dies an die Hand gibt. Der Municipalrath, der an Ort und Stelle ist, weiß besser als das Ministerium, das fern ist, was die Ortsverhältnisse erfordern, was angemessen, was möglich und ausführbar
ist, welche Verfügungen getroffen werden dürfen, ohne die Gewohnheiten und Neigungen der Bevölkerung allzu lebhaft zu verlezen.

Das Gleiche ist der Fall in Italien und in Holland. Der Bundesrath muß dies selbst anerkennen. In seiner Botschaft, Seite 14.

79 liest man : ,,In Holland, in Frankreich und Italien sind die Vorkehrungen gegen Epidemien ebenfalls Sache der Ortspolizei ; allein immer sind es auch da Sanitätsbeamte, welche dieselben überwachen und jener Behörde zum mindesten berathend zur Seite stehen."

In England, dieser Wiege des modernen Sanitätswesens, wie der Bundesrath mit Recht sagt, ist, wie derselbe anerkennt, die Verwaltung dieses Zweiges voll und ganz der Ortsgesundheitsbehörde anheimgegeben. Dieselbe hat in ihrer Mitte den Beamten für öffentliche Gesundheit, der immer ein gesetzlich qualificirter und anerkannter Arzt ist, und dem die Pflicht obliegt, aus eigener Initiative gegen ansteckende Krankheiten einzuschreiten.

Allein der Unterschied ist groß zwischen dem lokalen Arzte, der nützliche Initiativschritte thut, oder dem Beamten öffentlicher Gesundheit, der Gutachten abgibt, -- und der Centralbehörde, die aus der Entfernung Maßnahmen anordnet, ohne Rücksichtnahme auf Umstände der Zeit, des Ortes, der Sitten und Gewohnheiten, Umstände, welche sie nicht kennt und über die sie sich hinwegsetzt.

Vielleicht gehen wir nicht fehl, wenn wir annehmen, daß dieses Werk auf einer deutschen Inspiration, auf einer krankhaften Einimpfung fußt, welche schweizerische Abgeordnete von irgend einem Kongresse mit sich heimgetragen haben. Wenn man in wissenschaftlichen Zusammenkünften sich in freien Ergüssen ergeht, so läßt man sich, um Komplimente zu empfangen, leicht hinreißen, das eigene Land als Experimentirfeld für irgend ein neues System darzubetien, welches von einem Aréopage von Theoretikern gutgeheißen worden ist. Allein Deutschland, welches mit seinen Ideen die Welt in Bewegung gesetzt und Großes geleistet hat, bietet uns ein hinlänglich weites Feld für Studien, ohne daß es nöthig wäre, der preußischen Büreaukratie die übertriebensten Maßregelungen zu entlehnen, welche höchstens in einem kasernenmäßig organisirten Lande angehen mögen, die aber in einem Lande der Freiheit ganz, undurchführbar sind. Man darf nicht vergessen, daß das Uebertriebene der in Deutschland getroffenen Vorkehrungen sich dadurch erklärt, daß sie unter dem Einflüsse der dringenden Befürchtung entstunden, welche das Auftreten der asiatischen Pest in der russischen Provinz Astrachan einflößte. Uebrigens hat man nie genau erfahren können, ob diese internen Maßnahmen
nicht eher deßhalb ausgedacht wurden, um den Schein zu wahren und es zu ermöglichen, an der Grenze einer rivalisirenden Macht noch strengere, vexatorischere und für deren Handel schädlichere Verfugungen zu treffen.

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Ich empfinde meinerseits ein instinktives Mißtrauen gegen die ,,Fachmänner*, mit denen sich der Bundesrath umgibt und die er zu seinen ständigen Mitarbeitern macht. Gleichwie nach gewissen Militärs Alles der Armee und den Befestigungen geopfert, das bürgerliche Leben eingestellt werden müßte, und das Volk nicht anders als auf Romando trinken, essen und schlafen dürfte, -- so sollte, nach gewissen Aerzten, die Welt in ein weites Spital verwandelt werden, in welchem das Individuum nur zwischen den zwei Rollen zu wählen hätte, entweder Kranker oder Krankenwärter zu sein.

Ich glaube nicht an die Wohlthat dieser Einmischung der Centralbehörde auf allen Gebieten. Das Sprichwort sagt : wer zu viel unternimmt, bemeistert es schlecht (qui trop embrasse mal étreint). Der Bundesrath, der mit so vielen Dingen beschäftigt ist, vermag dieselben nicht mehr mit eigenen Augen zu überblicken, indem die nöthige Zeit hiefür ihm fehlt, so daß er nothgedrungenerweise die Sache untergeordneten Agenten überlassen muß. So werden wir uns regiert sehen -- nicht durch die Bundesrathe selbst, was kein großes Uebel wäre, da, dies die Erwählten der gesetzgebenden Kammern und die Vertrauensmänner der Schweiz sind -- sondern durch die Bureaux, durch die permanenten Kommissionen, die wir nicht sehen, nicht kennen, die sich uns aufdrängen, die sich die weitesten Freiheiten zulegen, die sich permanent festsetzen, die sich von der öffentlichen Meinung fern halten, die uns schulmeistern und von denen wir nur Eines wissen werden : was sie uns jährlich im Budget kosten.

Die hier angedeutete Auffassung ist keine bloße Phantasie, sondern sie fußt auf jüngst vorgekommenen Thatsachen. Als im Jahr 1877 das Auftreten der Reblaus im Neuenburger Rebland konstatirt wurde, war es eine eidgenössische Kommission, welche über Alles Befehl gab, und die Kantonsregierung war nur ein passives Werkzeug der von jener ertheilten Weisungen. Diese Kommission verfügte, sobald sich in Colombier und Trois-Rods Ansteckung zeigte, daß außer der Maßregel, die kranken Rebstöcke auszureißen und zu verbrennen, noch erforderlich sei die Bezeichnung einer Sicherheitszone von hundert Meter, rings um die angesteckten Punkte, innerhalb welcher jede Rebe ausgerissen werden müsse. Trotz aller Protestationen gegen eine solche Uebertreibung mußte gehorcht werden, um nicht
jeden Anspruch auf einen Bundesbeitrag zu verwirken. Allein schon drei Wochen nachher reduzirte diese nämliche eidgenössische Kommission bei Anlaß eines neuen Phylloxerafalles die Sicherheitszone auf 50 Meter und später sogar auf 15 Meter. Heute muß nun der Kanton Neuenburg die Eigenthümer entschädigen und der ganze Bundesbeitrag wird nicht ausreichen, die Kosten der

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betreffenden Strecke Rebland zu decken, wo auf Anordnung der eidgenössischen Experten diese unnütze Ausreißung stattfand.

Um auf den Gesetzentwurf zurückzukommen, so rechtfertigt sich derselbe weder theoretisch, in Bezug auf die Rolle der Centralgewalt in einem Föderativstaate, noch im Vergleiche seiner Bestimmungen mit denjenigen benachbarter Staaten, deren Organisation weit mehr als die unsrige centralisirt ist.

Doch lassen wir die politische Verfassung der Schweiz bei Seite. Die Fragen des Unitarismus und des Föderalismus sind nicht das letzte Wort der politischen Wissenschaft. Diese Regierungsformen sind nicht Zweck, sondern nur Mittel, deren Anwendung eine sehr verschiedene ist, je nach den Umständen, Bedürfnissen und Erfordernissen des Augenblicks.

Ein höheres Prinzip ist die Wahrung der menschlichen Würde und der individuellen Freiheit. D a h i n müssen unsere Anstrengungen gerichtet sein.

Prüfen wir den Gesetzentwurf des Bundesrathes von diesem Gesichtspunkte aus.

Der Art. 7 sagt im ersten Alinea: ,,Der Kranke ist von den gesunden Gliedern der Familie getrennt in einem besondern, für Luft und Licht möglichst zugänglichen Räume unterzubringen, wo er nur mit denjenigen Personen in Berührung kommen darf, die zu seiner Pflege bestimmt sind."

Der Art. 11 lautet: ,,Der Eintritt in das Haus ist Jedermann untersagt, der nicht eine amtliche Ermächtigung hiezu hat.

,,Die Hausthüre ist geschlossen zu halten. Es steht überdies der kompetenten Behörde zu, zu verfügen, daß an der Thüre eines solchen Hauses eine Tafel angebracht werde, auf welcher der Name der Krankheit bezeichnet ist und vor dem Eintritt unter Bußandrohung gewarnt wird, wie auch die nöthigen Vorkehrungen gegen böswillige Beseitigung der Warnungstafel zu treffen.11 Und im Art. 13 heißt es: ,, Die Isolirung des Kranken hat so lange fortzudauern, als nicht durch das Zeugniß eines Arztes die Genesung des Kranken festgestellt ist; in Todesfällen bis nach der Beerdigung."Daß man mir Geldopfer zumuthet im öffentlichen Interesse, ist etwas, das meine Vernunft zugibt. Daß man mir zumuthet, etwas

82 von meinen Geschmacksliebhabereien, von meinem Wohlsein, meinem Comforte in allgemeinerem Interesse zu opfern, auch damit kann ich mich leicht befreunden. Daß man vom Bürger verlangt, er solle sein Leben zur Verteidigung seines Landes in die Schanze schlagen, dies entspricht so sehr den geschichtlichen Traditionen des Menschengeschlechts, insbesondere denjenigen unseres Volkes, daß Jeder sich fügt, ohne daß hiezu weitläufige Auseinandersetzungen erforderlich wären. Appelliret an die edleren Gefühle des Menschen, an seine Opferwilligkeit, seine Hingebung, und ihr werdet fast immer bei ihm eine entsprechend anklingende Saite finden. A b e r -- sagt einem Familienvater, er müsse sein Weib oder eines seiner Kinder einer fremden, einer erkauften Fürsorge überlassen, und zwar in einem Augenblicke, wo der Kranke am meisten der aufmerksamsten, zartesten Behandlung bedürftig wäre, wie sie nur die Liebe geben kann (und man weiß wohl, wie mächtig in einem solchen Momente gerade moralische Eindrücke sind) ; -- sagt ihm, daß ein ihm liebes Wesen isolirt werden müsse wie ein Stück Vieh, daß die besten Gefühle unterdrückt werden müssen, um den ungereimten Anforderungen einer barbarischen Verordnung Genüge zu thun; -- sagt dies einer Mutter, -- und ihr werdet damit die intimsten Gewohnheiten unseres Volkes verletzen, ihr werdet alle eingewurzelten Begriffe umstoßen und die achtbarsten Empfindlichkeiten kränken.

Jean-Jacques Rousseau weist uns im Contrat social nach, daß die Familie v o r der Gesellschaft existirte und organisirt war. Diese übel angebrachte Nachahmung der spartanischen Strenge, diese kommunistische Tendenz, wie sie aus dem Gesetzentwurf hervorschimmert, die sich geberdet, als verachte sie die natürlichsten und heiligsten Gefühle, dieses System, das Individuum ganz dem allgemeinen Interesse zu opfern, -- all' das ist geradezu eine [Jmkehrung des modernen Rechtsbegriffes; es ist die Verleugnung des Grundsatzes der individuellen Freiheit, für dessen Sieg so viele Revolutionen nöthig waren und so viel Blut, so viele Thränen geflossen sind.

Der Bundesrath anerkennt dies selbst. Er sagt, Seite 4 seiner Botschaft : ,, Anders bei den Volksseuchen, wo wir den Träger des Giftes, den erkrankten Menschen zu schonen, zu erhalten berufen sind, wo wir durch Unterbrechung des Verkehrs, durch Isolirung und
Absperrung w e i t t i e f e r e i n g r e i f e n i n a l l e m ö g l i c h e n s o z i a l e n V e r h ä l t n i s s e , als d i e s d u r e h Jen e M aß r e g e l n bei V i e h s e u c h e n (sie) geschieht, wo wir überdieß bei den heutigen Verkehrsverhältnissen durch Sperr- oder Quarantainemaßregeln an der Grenze nur wenig oder nichts erreichen würden."

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Mit Verwunderung fragt man sich aber, welche Störung in âen sozialen Verhältnissen die Maßnahmen gegen Viehseuchen hervorrufen können, außer man habe von sozialen Verhältnissen des Viehes reden wollen !

Wenn die Republik die ideale Regierungsform der menschlichen Freiheit sein, wenn sie sich bemühen soll, von den Bürgern nur solche Opfer zu verlangen, welche mit der Respektirung dieses höhern Grundsatzes vereinbar sind,, so muß man finden, daß -- mögen die Absichten des Bundesrathes, wie ich nicht zweifle, die besten gewesen sein -- der Gesetzentwurf, in welchem er dieselben formulirt hat, unserer Institutionen, unserer Civilisation und unseres Landes nicht würdig ist.

Unter der Bundesverfassung soll die Schweiz nicht in einen Polizeistaat ausarten, in welchem man keinen Schritt mehr thun, keinen noch so einfachen Lebensakt erfüllen darf, ohne sich vorher zu fragen, ob man nicht gegen irgend eine Bestimmung einer eidgenössischen oder kantonalen Verordnung verstoße. Das würde nach und nach selbst die besten Bürger abhold machen.

Und ist doch wenigstens -- wenn man nun einmal einen solchen Einbruch in alle Grundsätze, auf denen unsere politische und soziale Organisation beruht, machen will -- eine so dringende Gefahr vorhanden? befinden wir uns in einem jener ausnahmsweisen Augenblicke, wo das Wohl der Republik das höchste Gesetz sein muß ? Wo ist das unmittelbare Interesse, das cui bona dieses Gesetzentwurfs? Mit Ausnahme der Pocken sind die Krankheiten, die er hauptsächlich im Auge hat, fern vou uns. Mit Recht sagt die von einem sehr kompetenten Manne, meinem Kollegen im Staatsrathe, Hrn. Dr. Roulet, abgefaßte Eingabe der Regierung von Neuenburg: ,,Bei der Ungewißheit, die noch in der Wissenschaft über die Natur des Ansteckungsprinzips der verschiedenen Krankheiten, über den Modus der Uebertragung dieses Prinzips, welcher ohne Zweifel für jede der sogenannten epidemischen Krankheiten ein verschiedener ist, herrscht, scheint es uns illusorisch zu sein, allgemeine, für die Bevölkerung sehr lästige Maßregeln zu dekretiren, während wir sicher sein können, daß dieselben die Verbreitung mehrerer der vom Gesetze vorgesehenen Krankheiten doch nicht verhindern. Die meisten mögen gut sein gegen die Pocken, deren Verbreitungsmodus wohl bekannt ist; sie werden aber wirkungslos sein gegen die Cholera und
den Typhus und noch mehr gegen Masern, Scharlach und Diphtheritis.a Diese Wirkungslosigkeit der im Gesetzentwurf vorgeschriebenen vexatofischen Maßnahmen ist sodann in lichtvoller Weise auch ersichtlich aus einem von Hrn. Dr. Ladame, Direktor des kantonalen

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Waisenhauses in Dombresson, an den Staatsrath von Neuenburg gerichteten Schreiben, worin es heißt: ,,Wenn eine heftige Epidemie in dichten Bevölkerungskreisen ausgebrochen ist, und der Arzt unausgesetzt von einem Kranken zum andern, von einem angesteckten Hause zu einem andern, vielleicht noch nicht angesteckten, wandern muß, so wird er nothwendigerweise die Uebertragung der Keime der ansteckenden Krankheiten sehr befördern und es werden die an ihm selbst vorgenommenen Desinfektionsmaßnahmen durchaus ungenügend sein, um die Unschädlichkeit seiner Besuche zu sichern. Nun ist es aber unmöglich, einem Arzte, welcher Kontagiöse behandelt, zu verbieten, zur Zeit von Epidemien dem Rufe seiner Kunden zu folgen. Es werden also selbst die strengsten Isolirungsmaßnahmen illusorisch sein, da sie gerade einen der gewissesten Faktoren für die Verbreitung kontagiöser Krankheitszustände nicht zu erreichen vermögen, insofern diese Verbreitung durch Vermittlung der mit dem Kranken in Berührung Kommenden stattfindet.

/Nota. ,,Eine solche Verfügung erfolgt meines Wissens nur bei Fällen von Kindbettfieber. Aerzte, welche solche Fälle in direktem Kontakte behandeln, verzichten für eine Zeit lang auf die Praxis der Geburtshülfe.)

,,Die Isolirung des Kranken ist in der Praxis eine Utopie und bietet die Garantien, die man sich von ihr verspricht, keineswegs, selbst nicht um den Preis der ärgsten Plackereien der Bürger."1 Unter solchen Umständen muß man sich fragen : warum und wozu diese unnütze Parade des Gesetzentwurfs? Wozu soll es gut sein, die Bevölkerung zu erschrecken und die Gemüther zu beunruhigen? Warum eine so düstere Inscenesetzung, warum dieser Todtentanz, den im bundesräthlichen Entwurf die Cholera, der Fleck-Typhus und die Pest auffuhren?

Ich gelange also zu den nämlichen Schlüssen wie die Eingabe der Aerzte von Genf und diejenige der Regierung von Neuenburg.

Ich beantrage nicht, auf die Materie nicht einzutreten, da ein Verfassungsartikel den Bund ermächtigt, auf diesem Gebiete ein Gesetz zu erlassen; dagegen spreche ich mich für Rückweisung an den Bundesrath zur Ausarbeitung eines neuen Entwurfes aus.

Ich für meinen Theil kann nur wünschen, daß für das öffentliche Gesundheitswesen recht viel geschehe. In dieser Beziehung können die Präventivmaßnahmen und die gesetzlichen Bestimmungen gar nicht zu weit
gehen, weil die Durchführung immer noch zurückbleiben wird im Vergleiche zu den Anforderungen des Gesetzes, und weil solche Maßnahmen nicht unvereinbar sind mit der individuellen Freiheit, wie diese vernünftigerweise aufzufassen ist.

85 Ich glaube an die unbestreitbare Schutzkraft der Impfung und der Wiederimpfung und finde, daß die Eidgenossenschaft den Kantonen einen großen Dienst erweisen wird durch Subventionirung von Anstalten für Gewinnung und Aufbewahrung thierischen Impfstoffes. Hierin erblicke ich eine große Wohlthat für die ganze Schweiz.

Die Abgeordneten anderer Kantone mögen sich darüber erklären, ob sie diese Auffassung nicht theilen.

Wenn der Bundesrath einmal zweifellos die Intentionen der Käthe kennt, so hat er dann genug Fachmänner bei der Hand, denen er für die neue Arbeit die Grundzüge oder den Rahmen vorschreiben kann.

In die Details des Entwurfs trete ich zunächst nicht ein; ich werde es nur thun, wenn man zu artikelweiser Diskussion schreitet.

Einstweilen wäre es unnütz.

Endlich muß ich sagen, daß ich zwar den robusten Glauben bewundere, den die Mehrheit der Kommission an den Tag legte, jedoch denselben nicht zu theilen wage. Die traurige Erfahrung mit dem Geheimmittelgesetz hätte vorsichtiger machen dürfen. Und während man mit letzterm Gesetze doch wenigstens nur die Verkäufer und Käufer von Droguerien getroffen hätte, würde dagegen mit dem Gesetzentwurf über Epidemien Jedermann getroffen und verletzt. Die logische Folge davon scheint mir ein sicher nicht ausbleibender Mißerfolg zu sein.

Ich stelle daher an den Ständerath folgenden Hauptantrag: Rückweisung der ganzen Materie an den Bundesrath zur Ausarbeitung eines andern Entwurfs auf folgenden Grundlagen: a. Beschränkung des Gesetzes auf allgemeine Bestimmungen und Anheimstellung der Vollziehungsmaßnahmen an die Kantone, unter Oberaufsicht des Bundesrathe.

b. Streichung alles dessen aus dem Entwurfe, was sich auf die Krankheiten bezieht, welche das zweite Alinea des Art. l im Auge hat (Masern, Scharlach, Bräune).

c. Vor Allem Streichung aller Vorschriften des vorliegenden Entwurfs, welche allzu augenscheinlich sich gegen die Gewohnheiten und Gefühle unseres Volkes verstoßen (Art. 7 und folgende).

B e r n , 1. Dezember 1880.

Die Minderheit der Kommission des Ständeraths: Cornaz.

-jEiOiet-

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Bericht der Minderheit der Kommission des Ständerathes, betreffend der Entwurf eines Bundesgesetzes über die Epidemien. (Vom 1. Dezember 1880.)

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