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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend, die auf den 6. März nächsthin im Kanton Tessin angeordneten Großrathswahlen.

(Vom 18. Februar 1881.)

Tit.

Am 27. Juni vorigen Jahres wurde dem am 25. Januar 1880 vom tessinischen Volk angenommenen Verfassungsgesez vom 8. Januar 1880, betreffend die Wahl des Großen Rathes, die Genehmigung der Bundesversammlung ertheilt.

Dieses Gesez lautet: ,,Einziger Artikel. -- Der Große Rath wird im Verhältaiß von einem Abgeordneten auf je 1200 Seelen der tessinischen Bevölkerung (anime della popolazione ticinese) und der Schweizer (confederati) , welche gemäß der Bundesverfassung niedergelassen (domiciliati) sind, gewählt. Der Bruchtheil nicht unter der Hälfte wird als ein Ganzes behandelt.

,,Die Tessiner, welche ihren vorherrschenden und bleibenden Wohnsiz (il loro domicilio principale e permanente) außerhalb des Kantons haben, und die Fremden sind von der Berechnung der Bevölkerung ausgeschlossen.

' ,,Das Gesez wird die Wahlkreise feststellen, deren jedoch nicht weniger als 17 sein dürfen.

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,,Die allgemeinen Wahlen in den Großen Rath finden am ersten 'Sonntag des März statt.

,,Uebergangsbestimmungen.

,,Art. 1. Die Abstimmung des Volkes über das gegenwärtige Verfassungsgesez wird am 25. Januar nächsthin stattfinden.

,,Art. 2. Der Staatsrath wird binnen acht Tagen nach der Volksabstimmung in öffentlicher Sizung das Resultat derselben proklamiren und, wenn das Dekret von der absoluten Mehrheit der an der Abstimmung theilnehmenden Bürger angenommen ist, sofort die eidgenössische Gewährleistung dafür nachsuchen.

,,Art. 3. Die gegenwärtige Revision, wenn sie von dem Volke angenommen ist, tritt für die allgemeinen periodischen Wahlen im März 1881 in Kraft, bis zu welchem Zeitpunkte die gegenwärtigen gesezgebenden Behörden im Amte bleiben. Inzwischen wird die gesezgebende Behörde diejenigen Verfügungen erlassen, welche ihr gemäß dieser Revision obliegen.

,,Art. 4. Die theilweise Revision der Verfassung vom 24. November 1876, Lemma 3 von Art. 14 der Verfassung vom 23. Juni 1830, soweit dasselbe die Wahl des Großen Rathes betrifft, und alle andern in Kraft stehenden, mit dem gegenwärtigen Verfassungsdekret im Widerspruche befindlichen und mit ihm unvereinbaren Vorschriften sind aufgehoben, unter Vorbehalt der Bestimmung im vorstehenden Artikel 3.tt Um die Vollziehung dieser Verfassungsbestimmungen zu ermöglichen und zunächst die Zahl derjenigen Tessiner und Schweizerbürger zu ermitteln, welche als Basis der Repräsentation im Großen Rathe zu dienen hat, ordnete der Staatsrath eine kantonale Volkszählung an, welche am 23. August vorigen Jahres vollzogen wurde.

Gestüzt auf das Resultat dieser Zählung erließ der Große Rath am 27. November 1880 ein Gesez, worin die neuen Wahlkreise und die Zahl der in denselben zu wählenden Mitglieder des Großen Rathes festgestellt wurden.

Sowohl gegen die Volkszählung als gegen das erwähnte Gesez wurde dem Bundesrath eine vom 22. Dezember vorigen Jahres datirte Rekursschrift eingegeben, welche von den Herren R. Simen und A. Mordasini im Namen des ,,Romite des tessinischen liberalen Vereins1*, sowie Namens der ,,liberalen Minderheit des Großen Rathes von Tessin'1, unterzeichnet ist.

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Dieses Aktenstük schließt mit den Begehren : 1) Die Bundesbehörden möchten die tessinische Volkszähluüg vom 23. August 1880, weil mit dem Riformino vom 8. Januar 1880 und mit den Art. 4 und 43 der Bundesverfassung im Widerspruche stehend, nicht genehmigen.

2) Es möchten von Bundes wegen eine Untersuchung der vorgekommenen Unregelmäßigkeiten, sowie eine vollständige Revision der Ergebnisse der Zählung angeordnet werden, behufs Sicherung des verfassungsmäßigen Rechtes aller Bürger auf Vertretung im Großen Rathe.

3) Demzufolge möchte erklärt werden, daß das Gesez betreffend die neuen Wahlkreise vom 27. November 1880, weil direkt und nothwendig aus der Volkszählung hervorgegangen , bis nach Beendigung dieser Revision nicht angewendet werden dürfe , und daß bis dahin das Riformino vom 24. November 1876 in Kraft bleibe.

Der Bundesrath beschloß, über diese Beschwerde zunächst einen Bericht des Staatsrathes von Tessiti einzuholen, der dann auch am 21. Januar 1881 eintraf und das Begehren um Abweisung der Beschwerde enthält. Der Antwort der Regierung des Kantons Tessin war das sämmtliche Material der Zahlung vom 23. Angust 1880 beigelegt.

Nachdem der Bundesrath schon am 4. Januar 1881 seinem Departement des Innern den Auftrag ertheilt hatte, die Ergebnisse der e i d g e n ö s s i s c h e n Zählung vom l. Dezember mit Rüksicht auf die fragliche Beschwerde mit aller Beförderung durch dasstatistische Bureau revidiren zii lassen, wurde diese Amtsstelle unterm 26. Januar auch mit der Prüfung der kantonalen Zählungslisten vom 23. August vorigen Jahres betraut.

Unterdessen schritt der Staatsrath von Tessin zur Anordnung der Wahlen gemäß dem oben erwähnten Geseze vom 27. November vorigen Jahres und berief mit Dekret vom 6. dieses Monals die Wähler auf den 6. März nächsthin in die neugebildeten Kreise zur Vornahme der Großrathswahlen zusammen.

Diese Maßregel gab den beiden Rekurrenten Veranlaßung, in der beiliegenden Eingabe vom 8. d. Mts. im Namen ,,des liberalen Vereins" das Begehren an uns zu stellen : ,,das genannte Dekret vom 6. d. Mts. aufzuheben oder wenigstens bis zum Entscheid über den obigen Rekurs zu suspendiren."1

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Auf den Fall, daß der Bundesrath nicht entspreche, wird von vornherein der Rekurs an die Bundesversammlung angemeldet.

Der Bundesrath glaubte dieses Suspensionsbegehren sofort in Behandlung nehmen zu sollen. Es ist jedoch die Untersuchung über die Zählung vom 23. August, durch welche erhoben werden soll, ob bei der Zählung Diejenigen ausgeschieden worden seien, ,,die ihren vorherrschenden und bleibenden Wohnsiz außer dem Kanton haben11, ihrer Natur nach sehr weitläufig und schwierig und macht möglicherweise weitere Erhebungen an Ort und Stelle nöthig.

Sodann ist nicht aus den Augen zu verlieren, daß für den Fall, daß die Beschwerde begründet erklärt würde, vor dem 6. März unmöglich noch die entsprechenden Maßnahmen durch die Behörden des Kantons Tessin getroffen werden könnten.

Nachdem nun der Bundesrath durch seinen Beschluß von heute das Suspensionsbegehren abgewiesen, beehrt er sich, dem Begehren der Rekurrenten entsprechend, der hohen Bundesversammlung diese Vorfrage zum weitern Entscheide zu unterbreiten und sich über ·die Motive seiner Abweisung in Kürze auszusprechen.

Nach dem Schlußsaz des Verfassungsartikels vom 8. Januar 1880 haben die allgemeinen Wahlen in den Großen Rath am ersten Sonntag des kommenden Monats (6. März), stattzufinden, und nach Art. 3 der Uebergangsbesthnmungen bleiben die jezigen gesezgebenden Behörden bis zu jenem Momente im Amte.

Die Suspension der vom Staatsrath angeordneten Wahlen würde demnach die Folge haben, daß der jezige große Rath am 6. März von seinem Amte abträte, ohne einen Nachfolger zu erhalten. Es scheint uns nämlich außer Zweifel zu liegen, daß eine von den Bundesbehörden ausgesprochene Suspension der Wahlen nicht die Wirkung haben könnte, entgegen der vom Bunde garantirten Verfassung des Kantons Tessin die ausgelaufene Amtsdauer jener Behörde zu verlängern.

Mit dieser Auffassung sind übrigens die Rekurrenten ebenfalls .einverstanden. Sie erklären mit uns, daß die Verlängerung der Amtsdauer ein schwerer Eingriff in die Verfassung sein würde, und machen dagegen dee Vorschlag, die nächsten Wahlen statt nach der Verfassung vom 8. Januar 1880 nach dem sogenannten Riformino vom 24. November 1876 vorzunehmen.

Wir vermögen nicht einzusehen, daß dieser Ausweg vor dem andern irgend etwas voraus habe. Das Riformino, welches die faktische Bevölkerung nach den Ergebnissen der eidgenössischen

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Volkszählung als Basis für die Großrathswahlen aufstellte, ist durch das neue Verfassungsgesez thatsächlich und ausdrüklich (Art. 4 der Uebergangsbestimmungen des lezteren) aufgehoben, und es wäre die Verlezung der Verfassung, gegenüber der willkürlichen Verlängerung der Amtsdauer, wo möglich noch greller, wenn statt der unzweifelhaft geltenden Verfassung die durch dieselbe aufgehobenen Vorschriften der alten Verfassung zur Anwendung kommen sollten.

Nicht weniger unzuläßig ist der Zustand, der sich ergeben würde, wenn weder die Wahl vorgenommen, noch die Amtsdauer des Großen Käthes verlängert werden wollte. Der Kanton Tessin käme dadurch in die Lage, auf eine vielleicht längere Dauer ohne Großen Rath und somit ohne konstitutionelle Organisation zu sein.

Es scheint uns geradezu unmöglich, durch die Verfügung der Bundesbehörden die Vollziehung der Verfassung eines Kantons au hemmen, weil von einzelnen Bürgern desselben die zur Zeit noch unerwiesene Behauptung aufgestellt wird, es sei diese Verfassung vom Staatsrathe bei Anlaß der leztjährigen kantonalen Volkszählung außer Acht gesezt worden.

Dabei wollen wir immerhin nicht verschweigen, daß wir bereits vor dem Eingange des Rekurses der liberalen Tessiner uns im Falle sahen, den Staatsrath von Tessin auf die Mängel des Gesezes vom 15. Juli 1880, betreffend die kantonale Volkszählung, aufmerksam zu machen. Die Unregelmäßigkeiten, die wir von einer solchen Zählung bei Prüfung jenes Gesezes voraussahen, sind denn auch wirklich eingetroffen. Die Revision der Resultate des kantonalen Census im Vergleiche mit denjenigen des eidgenössischen vom 1. Dezember 1880, welche vom eidgenössischen statistischen Bureau vorgenommen und deren Ergebniß uns soeben vorgelegt wurde, weist so bedeutende Differenzen auf, daß sich schon jezt nicht daran zweifeln läßt, daß die Resultate der kantonalen Zählung wesentlich modifizirt werden müssen. In welchem Umfange dies zu geschehen habe, läßt sich ohne eine ganz eingehende Prüfung nicht bestimmen. Es gilt zunächst für diese leztere eine Grundlage zu schaffen, welche den Vorschriften des Riformino entspricht, und dies nicht bloß mit Bezug auf die zu befolgenden Kriterien, sondern auch bezüglich deren Anwendung im Einzelnen. Die für die eidgenössische Volkszählung geltenden Normen sind eben nicht in allen Punkten die nämlichen
wie diejenigen, welche für den kantonalen Census anzuwenden sind. So beförderlich aber auch diese Prüfung vorgenommen werden mag, so kann sie nicht so zeitig zum Abschlüsse gelangen, daß uns ein Entscheid über den Rekurs in der Hauptsache vor dem 6. März nächsthin möglich sein wird.

391 Wir haben den Staatsrath von Tessin auf diese fatale Situation, die nicht durch uns veranlaßt ist, und auf deren wahrscheinlichen Konsequenzen aufmerksam gemacht. Sie werden bei den Akten die diesfalls gewechselte Korrespondenz finden.

Den Beschwerdeführern soll ihr Recht so bald und so weit werden, als sich die Thatsacheri, auf welche sie sich berufen, beweisen lassen; sie können aber nicht beanspruchen, daß die Verfassung ihres Kantons suspendirt werde, weil sie eine Beschwerde eingereicht haben.

Erweisen sich ihre Behauptungen als begründet -- was in lezter Instanz von Ihnen zu entscheiden sein wird -- so folgt daraus die Kassation derjenigen Wahlen, die auf Grund einer unrichtigen Zählung angeordnet worden sind, gleichviel ob dadurch eine geringere oder größere Zahl der Gewählten betroffen werde.

Das Verfahren, welches wir Ihnen vorschlagen, ist das nämliche, welches von den Bundesbehörden stets eingehalten wurde, wenn die Gültigkeit von Stimmregistern oder andern Verhältnissen von kantonalen Wahlen bestritten worden ist, und von dem auch nicht abgewichen werden darf, wenn nicht die Continuität der Behörden unterbrochen werden soll.

Wir beantragen: Es sei das Gesuch der Herren Simen und Mordasini vom 8. Februar, betreffend die Suspension der tessinischen Großratfaswahlen, auch von der Bundesversammlung abzuweisen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 18. Februar 1881.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der V i z e p r ä s i d e n t : Droz.

Der Kanzler der Eidgenoßenschaft :.

Schieß.

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Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend, die auf den 6.

März nächsthin im Kanton Tessin angeordneten Großrathswahlen. (Vom 18. Februar 1881.)

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26.02.1881

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