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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen betreffend die Editionspflicht der Amtsakten und die Zeugnispflicht der Mitglieder des Bundesrates und der Bundesbeamten über Vorgänge in der eidgenössischen Verwaltung.

(Vom 6. Oktober 1911.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Anlässlich eines konkreten Falles, in welchem ein Bundesbeamter wegen Zeugnisverweigerung vom kantonalen Richter bestraft worden ist, haben wir die Frage der Pflicht zur Edition von Akten der Bundesverwaltung und der Zeugnispflicht der Mitglieder des Bundesrates und der Bundesbeamten in kantonalen Zivil- und Strafprozessen einer eingehenden Untersuchung unterstellt.

Wir sind dabei zu dem Resultate gelangt, dass eine solche Pflicht nur im Rahmen der f r e i w i l l i g e n R e c h t s h ü l f e zu Recht besteht. Dies ergibt sich einerseits aus dem Grundsatz der Trennung der Gewalten und dem Verhältnis der gerichtlichen zur vollziehenden Gewalt, anderseits aus dem staatsrechtlichen Verhältnis zwischen Bundesgewalt und kantonaler Gewalt. Es geht auch, soweit die Zeugnispflicht der Bundesbeamten in Frage steht, aus Art. 53, lit. c des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853, und soweit die Mitglieder des Bundesrates in Betracht kommen, aus Art. l des Garantiengesetzes vom 23. Dezember 1851 hervor.

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Damit ist nun aber keineswegs gesagt, dass die Ablehnung der Rechtshülfe von der zuständigen Bundesbehörde nach freiem Belieben, oder nach Willkür vorgenommen werden dürfe. Auch die Bundesbehörde verschliesst sich keineswegs der Wichtigkeit, die in einem Rechtsstaate der möglichst ungehemmte Gang der Rechtspflege für sich beanspruchen muss. Sie ist sich dessen bewusst, dass in einem Bundesstaatsorganismus die Rechtspflege der Gliedstaaten der weitgehenden Rücksichtnahme und Förderung seitens des Gesamtstaates würdig und bedürftig ist, und dass Konflikte nach Möglichkeit zu vermeiden sind.

Der Bundesrat wird daher im gegebenen Falle die entgegenstehenden Interessen am ungestörten Gang der Justiz und an der Geheimhaltung der Vorgänge in der Verwaltung sorgfältig gegen einander abwägen. Er wird nur da die von ihm nachgesuchte Rechtshülfe verweigern, wo entweder die allgemeinen Landesintoressen es verlangen, oder wo das Interesse und der ungestörte Gang der Verwaltung durch Gewährung der Rechtshülfe in erheblichem Masse gefährdet oder benachteiligt würden.

Daraus ergibt sich auch, dass der Bundesrat, wenn die Rechtshülfe in einem einzelnen Falle nachgesucht wird, sich nicht in eine Untersuchung und Würdigung der Bedeutung und des innern Wertes des einzelnen Rechtshandels oder der kantonalen prozessrechtlichen Norm einlassen wird, auf Grund welcher die Rechtshülfe nachgesucht wird.

Auf dieser rechtlichen Grundlage hat der Bundesrat folgende grundsätzliche Beschlüsse gefasst: 1. Der Bundesrat wird die von ihm nachgesuchte Rechtshülfe nur da verweigern, wo entweder die allgemeinen Landesinteressen es verlangen, oder wo das Interesse und der ungestörte Gang der Verwaltung durch Gewährung der Rechtshülfe in erheblichem Masse gefährdet oder benachteiligt würden.

2. Dem Begehren um Edition von Akten wird in der Regel nur in der Form entsprochen, dass je nach dem Ermessen des zuständigen Departementschefs an Stelle der Aushingabe der Originalurkunden die Erstellung beglaubigter Abschriften, oder die Abgabe eines Amtsberichtes angeordnet, oder die direkte Einsichtnahme der Akten bewilligt wird.

3. Die Mitglieder des Bundesrates bedürfen für die Ablegung von Zeugnis über Wahrnehmungen, die sie in ihrer amt-

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liehen Tätigkeit gemacht haben, der Ermächtigung des Bundesrates.

4. Bundesbeamte, welche in einem Zivil- oder Strafprozesse als Zeugen vorgeladen werden, um über Wahrnehmungen auszusagen, die sie kraft ihres Amtes, oder im Amts- oder Dienstbetrieb gemacht haben, haben von dieser Vorladung dem zuständigen Departementsvorstande ohne Verzug Kenntnis zu geben und um die Bewilligung nachzusuchen, über diese Wahrnehmungen als Zeuge sich auszusprechen.

Indem wir Ihnen zuhanden Ihrer Gerichte von diesen Beschlüssen Kenntnis geben, laden wir Sie ein, den Gerichten die Wegleitung zu geben, in Fällen wo Bundesbeamte über Wahrnehmungen aussagen sollen, die sie kraft ihres Amtes, oder im Amts- oder Dienstbetrieb gemacht haben, in der Weise vorzugehen, dass allem vorgängig bei der Bundesbehörde um Entbindung der Beamten von der Pflicht zur Geheimhaltung dieser Wahrnehmungen nachgesucht würde. Dabei wären diejenigen Punkte, über welche der Beamte einvernommen werden soll, genau zu bezeichnen.

In analoger Weise sollte vorgegangen werden, wenn ein Mitglied des Bundesrates über Wahrnehmungen, die es in seiner amtlichen Tätigkeit gemacht hat, als Zeuge einvernommen werden soll.

Begehren um Edition von Akten werden am besten direkt an das zuständige Departement gerichtet.

Gerne benutzen wir diesen Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 6. Oktober

1911.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schat/mann.

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Dienstschreiben.

In der Frage der Zeugnispflicht der Bundesbeamten hat der Bundesrat unter anderm nachstehenden Beschluss gefasst: ,,Bundesbeamte, welche in einem Zivil- oder Strafprozesse als Zeugen vorgeladen werden, um über Wahrnehmungen auszusagen, die sie kraft ihres Amtes, oder im Amts- oder Dienstbetrieb gemacht haben, haben von dieser Vorladung dem zuständigen Departementsvorstande ohne Verzug Kenntnis zu geben und um die Bewilligung nachzusuchen, über diese Wahrnehmungen als Zeuge sich auszusprechen/Indem wir Ihnen im Auftrage des Bundesrates hiervon Kenntnis geben, bringen wir Ihnen in Erinnerung, dass der Bundesrat in bezug auf alle Wahrnehmungen, die der Einzelne kraft seines Amtes, oder im Amts- oder Dienstbetrieb gemacht hat, von , sämtlichen Beamten die strikte Geheimhaltung gegenüber jedermann verlangt.

B e r n , den 6. Oktober 1911.

Im Namen der Schweiz. Bnndeskanzlei, Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Scliatzmaun.

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18.10.1911

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