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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Aktiengesellschaft ,,La SéquanaiseCapitalisation" in Paris, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 17. Februar 1911.)

D e r s c hV e i ze r i s c h e B u n d e s r a t

hat über die Beschwerde der Aktiengesellschaft ,,La SéquanaiseCapitalisation" in Paris, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluss g e f a s s t : A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Schreiben vom 29. Juni 1909 stellte der Verwaltungsrat der ,,Sequanaise-Capitalisationa in Paris bei der Justiz- und Polizeidirektion des Kantons Zürich das Gesuch, es möchte dieser Gesellschaft bewilligt werden, ihren Geschäftsbetrieb auch auf den Kanton Zürich auszudehnen. Mit Beschluss vom 9. April 1910 hat der Regierungsrat des Kantons Zürich dieses Gesuch unter Berufung auf die kantonale Verordnung betreffend das Lotteriewesen vom 27. Mai 1856 und mit der weitern Begründung, das Unternehmen sei wirtschaftlich ein derartiges, dass es höchst bedauerlich wäre, wenn es seinen Betrieb im Kanton Zürich eröffnen dürfte, abschlägig beschieden. Gegen diesen Entscheid

313 des Regierungsrates richtet sich die vorliegende Beschwerde an den ßundesrat.

II.

Über die Organisation, den Geschäftsbetrieb und die wirtschaftliche Bedeutung der Gesellschaft ergibt sich aus den Akten folgendes : a. Organisation. La Séquanaise-Capitalisation ist eine Aktiengesellschaft mit einem Gesellschaftskapital von 50,000 Franken, eingeteilt in 500 Aktien zu je 100 Franken, wovon V* einbezahlt ist. Das sogenannte Gründungskapital von 52,700 Franken ist vollständig zurückbezahlt worden ; den Gründern sind jedoch 527 Genusscheine ausgestellt worden, mit denen sie am Gewinn der Gesellschaft teilnehmen.

b. Geschäftsbetrieb. Die Séquanaise-Capitalisation nennt als Gesellschaftszweck die Entwicklung des Sparsinnes und der Spartätigkeit. Zu diesem Behufe schliesst die Gesellschaft sogenannte Sparverträge ab. Der Einleger erhält gegen eine einmalige Einlage oder gegen regelmässig zu leistende Einzahlungen ein bestimmtes, nach einer genau festgesetzten Zeit fälliges Kapital. Dieses Kapital wird dem Einleger schon früher ausbezahlt, wenn er von der später noch zu besprechenden Verlosung, die jährlich mit einem Teil der Überschüsse der Gesellschaft abgehalten wird, begünstigt wird. Es sind verschiedene Formen von Sparverträgen im Gebrauch. Ihre Dauer ist 10, 15, 20 oder 33 Jahre. Die periodisch einzuzahlenden Beträge sind monatlich zu, leisten. Am häufigsten werden Verträge nach Tarif C abgeschlossen.

Nach diesem Tarif zahlt der Einleger während 15 Jahren monatlich Fr. 5 (im ersten Monat Fr. 7). Dafür erhält er nach Ablauf von 15 Jahren ein Kapital von Fr. 1000. Wenn die Einleger nach zwölf Zahlungen die begonnenen monatlichen Einzahlungen sistieren, so wird ihnen auf ihr Begehren ein Teil des einbezahlten Kapitals, der sogenannte ,,Rückkaufswert der Polize" zurückerstattet. Dieser ,,Rückkaufswert" darf laut den Statuten nicht weniger als 1//t des einbezahlten Kapitals betragen.

Der vom Sparer einbezahlte Betrag wird auf folgende Weise verwendet : Zunächst wird diejenige Summe abgehoben, die nötig ist zur Bildung der sogenannten mathematischen Reserve, das heisst derjenigen Summe, die notwendig ist, um zu einem bestimmten Zinsfuss nach Ablauf der vertraglich festgesetzten Zeit das versprochene Kapital zu bilden. Was nach Abzug der mathematischen Reserve vom einbezahlten Kapital noch übrig

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bleibt, bildet das sogenannte prélèvement. Nach den Statuten der Séquanaise-Capitalisation beträgt dieses prélèvement im Maximum 35 °/o der Spareinlagen. Der Jahresgewinn setzt sich zusammen aus dem Betrag, der von diesen prélèvements nach Abzugsämtlicher Verwaltungskosten noch übrig bleibt, aus der Zinsdifferenz zwischen dem für die mathematische Reserve vorgesehenen und dem wirklich erzielten Zins und aus den infolge der Verlosung im betreffenden Betriebsjahr frei werdenden mathematischen Reserven.

Der nach Abzug der mathematischen Reserven und der Verwaltungskosten verbleibende Reingewinn wird wie folgt verwendet : In erster Linie wird ein wesentlicher Betrag Reserven (réserves supplémentaires, mobilières, immobilières etc.) zugewiesen, die von der Gesellschaft nach Belieben geäufnet werden können.

Sodann erhalten die Aktionäre 5 % des einbezahlten Kapitals.

Von dem alsdann noch verbleibenden Rest fallen : 10 °/o an die Gründer, 10 °/o an den Verwaltungsrat, 3 % an den Direktor, bis zu 2 °/o an die Beamten und Angestellten (wenn der Verwaltungsrat es für angemessen erachtet), 5 bis 7 °/o an die Aktionäre, 70 °/o an die mit Gewinnanteil abgeschlossenen Sparverträge.

Diese letztere Zuwendung erfolgt in der Weise, dass eine Verlosung angeordnet und die ausgelosten Titel voll zurückbezahlt werden. Werden Titel mit einmaliger (im Gegensatz zu den monatlich wiederkehrenden) Prämienzahlung ausgelost, so erhält der Inhaber dieses prämienfreien Titels ausser dem Nennwert seines Titels noch diec Differenz zwischen dem Betrage seiner mathematischen Reserve im Momente der Auslosung und dem Betrage der Reserve, die sich ergeben würde, wenn monatliche Prämien bezahlt worden wären. Die für die ausgelosten Titel vorhandenen mathematischen Reserven werden infolge dieser Amortisation frei.

Die Séquanaise bedient sich in ihrem Geschäftsbetrieb in irreführender Weise der Terminologie des Versicherungswesens, insbesondere der Lebensversicherung. Ihre Titel nennt sie Polizen, die Beiträge Prämien, die Abfindungswerte bei vorzeitiger Auflösung des Sparvertrages heisst sie Rückkaufswerte. Den Betrag, auf den die Polize lautet, nennt sie Versicherungssumme. Das in der Bilanz zurückgestellte Sparkapital heisst sie mathematische Reserve, Réserve mathématique, genau so wie die französischen Lebensversicherungsgesellschaften
ihr Deckungskapital heissen.

In Wirklichkeit hat der Geschäftsbetrieb der Séquanaise-Capitalisation mit dem Betrieb der Versicherungsgesellschaften nur das

315 gemein, dass ein eigentlicher Aquisitionsbetrieb mit organisierten Agenturen und bezahlten Vermittlern besteht.

c. Wirtschaftliche Bedeutung. Wenn der Sparer seine Beiträge auf eine Sparkasse legte, so hätte er bei 3 Va % Zinsen am Schlüsse der 15 Jahre ein Guthaben von Fr. 1182. 84. Die Séquanaise sichert ihm statt dessen ein Kapital von Fr. 1000 zu, falls er die monatlichen Einzahlungen 15 Jahre lang regelmässig und ununterbrochen leistet. Sistiert er seine Einzahlungen, nachdem er bereits 12 Beiträge geleistet hat, so erhält er einen Teil des einbezahlten Geldes, den sogenannten Rückkaufswert zurück. Dieser Rückkaufswert soll nach den Statuten nicht weniger als 25 °/o der geleisteten Kapitaleinzahlungen betragen.

Die folgende Tabelle gibt an: 1. Die Höhe der einbezahlten Beträge (ohne Zins).

2. den Betrag des Sparguthabens, das der Einleger hätte, wenn er sein Geld bei 3J/2 u/o Zinsen auf einer Sparkasse anlegen würde.

3. Die von der Séquanaise nach Massgabe der Verträge, die sie gegenwärtig abschliesst, zu leistende Rückzahlung.

4. Die Differenz (den Verlust) des Einlegers.

Anzahl der Jahre

1

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Einbezahlte Beträge (ohne Zins)

Sparguthaben

Rückzahlung

Fr.

Fr.

Fr.

Fr.

62 122 182 242 302 362 422 482 542 602 662 722 782 842 902

63.2o

29.«

33.,7

126.54,

71.40

192.00 259.94 330.17 402.80 478.03 555.94 636.52

116.49

719.93

806.25 895.60 988.07 1083.78 1182.84

Betrag des Verlustes

55.14 75.60

165.15

94.79

217.74

112.43

273.93 334.53 399.90 469.85 544.05 623.07 709.23 800.19 897.60 lOOO.oo

128.92 143.55

156.04 167.17 175.88

183.18 186,37

187.88

186.,8 182.84

Verlust in °/o des Sparguthabens ausgedruckt

53 44 39 36 34 32 30 28 26 24 23 21 19 17 15

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Bei den am häufigsten abgeschlossenen Verträgen (nach Tarif C) erhält der Sparer, wenn er während 15 Jahren regelmässig monatlich Fr. 5 (im ersten Monat Fr. 7) einbezahlt hat, nach Ablauf der 15 Jahre ein Kapital von Fr. 1000. Es entspricht dies einer Verzinsung der Spareinlagen zu l,
Auch noch von einem ändern Gesichtspunkte aus ist die Kapitalanlage bei der Séquanaise eine äusserst unvorteilhafte. Sofern nämlich der Sparer schon während des ersten Jahres die monatlichen Einzahlungen aus irgend einem Grunde nicht mehr regelmässig leisten kann, so verfallen die geleisteten Einzahlungen der Gesellschaft. Hat der Sparer bereits 12 oder mehr Einzahlungen geleistet, so erhält er den sogenannten ^Rückkaufswert"' zurück, d. h. er verliert in den meisten Fällen nicht nur den Zins, sondern noch einen beträchtlichen Teil des einbezahlten Kapitals (vgl. die oben zusammengestellte Tabelle). Die Gesellschaft kann zudem beim Abschluss neuer Verträge in dieser Richtung, wie bereits bemerkt wurde, noch ungünstigere Bedingungen für den Sparer in den Vertrag aufnehmen.

Im Jahre 1908 nahm die Séquanaise-Capitalisation an Beiträgen (Encaissement sur titres) ein . . Fr. 10,905,927.50 Davon wurden den mathematischen Reserven zugewiesen ,, 6,861,962.36 Das prélèveìnent betfug somit im Jahre 1908 Fr. 4,043,965. 14 Den Sparern wurden als Anteil am Reingewinn des Jahres 1908 auf dem Wege der Verlosung vorzeitig zurückbezahlt Fr. 1,099,200 Die mathematischen Reserven, die infolge dieser vorzeitigen Kapitalrückzahlung (Amortisation) frei wurden, betragen laut den Angaben der Gesellschaft ,,_ 139,853 Die effektive Leistung der Gesellschaft für die vorzeitigen Kapitalrückzahlungen beträgt somit im Jahre 1908 Fr. 959,349

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Von dem der Gesellschaft nach Abzug der hohen Verwaltungskosten (unter denen nur für ausbezahlte Kommissionen Fr. 1,761,951. 35 figurieren) verbleibenden Reingewinn wurden zuerst Fr. 427,586 besondern, von den ,,mathematischen Reserven1' verschiedenen, Reserven (réserve spéciale, réserve immobilière, réserve mobilière, réserve hypothécaire, réserve supplémentaire) zugewiesen. Der Rest wurde wie folgt verteilt: an das Verwaltungspersonal . . Fr. 33,054 .,, den Direktor ., 49,581 ,, den Verwaltungsvat . . . ,, 165,517 ,, die Aktionäre ,, 83,260 ,, die Gründer ,, 165,270 Aus obigen Zahlen ist ersichtlich, dass die Gründer gemäss ihrer Genussscheine in einem einzigen Jahre einen Betrag erhalten haben, der das (zurückbezahlte) Gründungskapital um mehr als das dreifache übersteigt. Die Aktionäre erhielten für das einbezahlte Aktienkapital eine Dividende von mehr als 600 °/o. Berücksichtigt man aber, dass die den ,,Speziaireservena zugewiesenen Beträge.

ebenfalls den Aktionären zugute kommen, so ergibt sich, dass der von ihnen im Jahre 1908 gemachte Gewinn das einbezahlte Aktienkapital um das 40 fache übersteigt.

III.

In ihrer Rekurseingabe vom 6. Mai 1910 stellt die Aktiengesellschaft ,,La Sequanaise-Capitalisation"1 in Paris das Begehren.

,,es sei der Beschluss des Regierungsrates von Zürich vom 9. April 1910 aufzuheben als ein Verstoss gegen den in Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Grundsatz der Freiheit des Handels und der Gewerbe und als eine Verletzung des schweizerischfranzösischen Niederlassungsvertrages vom 23. Februar 1882, nach welchem die Handels- und Gewerbefreiheit den Franzosen in gleicherweise garantiert ist wie den Angehörigen der verschiedenen Kantone". Zur Begründung der Beschwerde wird im wesentlichen folgendes ausgeführt: Der Regierungsrat des^Kantons Zürich habe den Geschäftsbetrieb der Sequanaise-Capitalisation mit Unrecht dem zürcherischen Lotteriegesetz unterstellt. Dass das Unternehmen kein Lotteriegeschäft im eigentlichen Sinne, keine reine Lotterie sei, liege auf der Hand. Aber auch zu den sogenannten gemischten Lotterien könne das Unternehmen nicht gezählt werden. Der Bundesrat habe in seinem Entscheid vom 9. Juni 1892 in Sachen Bernhard

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gegen Schwyz (Bundesbl. 1892, III, 915 ff.) beim Lotterieanleihen, als der häufigsten Erscheinung der gemischten Lotterien, die Merkmale des Lotteriegeschäftes darin gefunden, dass der Unternehmer den Zins der empfangenen Summe ganz oder teilweise gewinnt und dafür den Käufern der Lose eine Hoffnung auf den planmassig zu ermittelnden Gewinn gewähre. Diese Merkmale träfen aber auf den vorliegenden Fall nicht zu.

Zunächst werde das Gewinnobjekt nicht, wie bei den Lotterieanleihen, aus dem gaozen oder teilweisen Zins der empfangenen Summen gebildet, da von vorneherein feststehe, zu welchem Zinsfuss die Einlagen verzinst werden. Ferner habe die Verlosung auf die Existenz der Verbindlichkeit des Unternehmers selbst keinen Einfluss ; nur der Zeitpunkt der Erfüllung der Verpflichtung sei dem Zufall unterworfen. Die vorzeitige Rückzahlung auf dem Wege der Verlosung bedeute für die Soquanaise eine Amortisation bezw. Tilgung der Darlehensschuld der Gesellschaft. Die Rückzahlung nach dem Ablauf der vertraglich bestimmten Zeit bilde die Regel; die vorzeitige Rückzahlung die Ausnahme. Durch die Verlosung würden die Rechte der übrigen Einzahler in keiner Weise geschmälert; dieselben würden im Gegenteil erhöht, da die Gesellschaft den Gewinnern gegenüber keine Verpflichtungen mehr habe und ausserdem die mathematischen Reserven der amortisierten Titel frei würden.

Schliesslich sei noch zu bemerken, dass nur eine Quote des den Titelinhabern zukommenden Teiles des Reingewinnes auf dem Wege der Verlosung bezw. der Amortisation zur Auszahlung gelange. Der Rest werde in der Form einer Dividende unter sämtliche Titolinhaber verteilt. Der Verwaltungsrat sei befugt, die Verlosungen einzuschränken. Er könne sie sogar ganz aufheben, woraus deutlich hervorgehe, dass sie keinen wesentlichen Bestandteil des Geschäftsbetriebes bildeten.

Endlich beruft sich die Rekurrentin noch auf den Entscheid des Bundesrates vom 8. Oktober 1897 in Sachen des ^Crédit à l'Epargne" in Lyon gegen Waadt (Bundesbl. 1897, IV, 551 ff.).

IV.

In seiner Vernehmlassung vom 26. Mai 1910 beantragt der Regierungsrat des Kantons Zürich, unter Hinweisung auf die Erwägungen, die zum angefochtenen Beschlüsse geführt haben, die Abweisung der Beschwerde.

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B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Die Behauptung der Rekurrentin, es gelange nur eine Quote des den Titelinhabern zukommenden Teiles des Reingewinns auf dem Wege der Verlosung zur Auszahlung, der Rest werde in der Form einer Dividende unter sämtliche Titelinhaber verteilt, steht mit den ^allgemeinen Bedingungen", die auf der Rückseite jeder ,,Police11 aufgedruckt sind, im Widerspruch. Art. 3 der allgemeinen Bedingungen lautet : ,,La société ne pourra pas prélever pour frais de gestion plus de 35 °/o des versements effectués par ses adhérents. Toutefois, conformément à l'article 55 des statuts, 70°/o des bénéfices provenant de ce prélèvement sont attribués aux adhérents sous forme de remboursements anticipés par voie de tirage.a Auch in den Statuten der Gesellschaft ist nur von der Verlosung und nirgends von der Verteilung des Gewinnes in der Form der Ausrichtung einer Dividende an die Titelinhaber die Rede. Ob der Verwaltungsrat befugt wäre, die Verlosungen einzuschränken oder aufzuheben, braucht nicht untersucht zu ' werden, da der Entscheidung des Rekurses der Geschäftsbetrieb, wie er zur Zeit besteht, zugrunde zu legen ist.

II.

Die von der Séquanaise-Capitalisation abgeschlossenen Verträge sind eine Art der sogenannten ,,gemischten Lotteriena. Sie enthalten: a. ein Darlehensgeschäft. Der Titelinhaber verpflichtet sich zur Zahlung derjenigen Summe, die nötig ist, um zu einem bestimmten Zinsfuss nach Ablauf der vertraglich festgesetzten Zeit das versprochene Kapital zu bilden. Dieser Zinsfuss ist aber ein so niedriger und die Darleheusbedingungen sind für den Darleiher auch im übrigen derart ungünstige, d. h. seine Leistungen stehen in einem derartigen MissverhäUnis zu dem ihm nach Ablauf der vertraglich festgesetzten Zeit auszuzahlenden Kapital, dass der Darleiher dieses Darlehensgeschäft ganz offenkundig nur deswegen abschliesst, weil er damit noch einen ändern als den Darlehenszweck verfolgt. Er will mit seinen Leistungen ausser dem Darlehensgeschäft noch b. ein Lotteriegeschäft abschliessen. Er schliesst den Vertrag1 mit den für ihn so ausserordentlich ungünstigen Darlehensbedingungen nur ab, weil ihm daneben auch noch die Hoffnung ßundesblatt. 63. Jahrg. Bd. I.

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auf eine vorzeitige Zahlung der versprochenen Summe uud auf Entbindung der verabredeten weitorn Einzahlungen gewährt wird.

Bei der prämienf'reien Police wird dem Titnlinhaber die Hoffnung auf vorzeitige Zahlung des Nennwertes der Police und zudem auf Auszahlung der Differenz zwischen dem Betrage seiner mathematischen Reserve im Momente der Auslosung uud dem Betrage der Reserve, die sich ergeben würde, wenn er monatlich Prämien bezahlt hätte, gewährt. Dieses Geschäft enthält alle wesentlichen Merkmale des Lotteriegeschäftes : die unbedingte Leistung des Spielers und die bedingte Leistung des Unternehmers, wobei über Leistung oder Nichtleistung der Zufall entscheidet. Dabei steht -- dadurch unterscheidet sich die Lotterie von ändern aleatorischen Geschäften, z. B. von den eigentlichen Versicherungsgeschäften -das Ungewisse Ereignis, dessen Eintritt oder Nichteintritt über die Leistung (bezw. Mehrleistung) des Unternehmers entscheidet, mit dem Interesse der Gegenpartei an dieser Gegenleistung in keinem vernünftigen Zusammenhang.

m.

Bei Beantwortung der Frage, ob die Kantone berechtigt sind, Geschäfte von der Art, wie sie die Rekurrentin betreibt, dem Lotterieverbot zu unterstellen, ist davon auszugehen, dass die Kantone grundsätzlich berechtigt sind, das Lotteriewesen zu regeln, so lange der Bund von 'der ihm in Art. 35 der Bundesverfassung eingeräumten Kompetenz nicht Gebrauch gemacht hat.

Sie können demnach Lotterieunternehmen dulden oder verbieten.

Verbotene Lotterieunternehmen stehen ausserhalb des Schutzes des Art. 31 der Bundesverfassung.

Dem Bunde steht es aber zu, festzustellen, welche Geschäfte unter den Begriff der Lotterie fallen und demgemäss von den Kantonen dem Lotterieverbot unterstellt werden können. Der Bundesrat hat in den erwähnten Entscheiden von 1892 und 1897 unterschieden zwischen reinen und gemischten Lotteriegeschäften, wobei er das Verbotrecht der Kantone als auf die Geschäfte ersterer Art beschränkt erklärte. Diese Beschränkung erweist sich bei näherer Prüfung als jedenfalls in dieser absoluten Fassung nicht gerechtfertigt. Sie würde zu von der Bundesverfassung offenbar nicht gewollten Konsequenzen führen. Die in Art. 35 der Bundesverfassung dem Bunde vorbehaltene Kompetenz zur Regelung des Lotteriewesens, sowie der Ausschluss der Lotteriegeschäfte vom Schütze des Art. 31 der Bundcsverfassung ist

321 offenbar in erster Linie aul' die Erwägung zurückzuführen, dass der Staat die Bürger gegen die Gefährdung ihres eigenen Vermögens, die die Neigung Vieler zum Glücksspiel mit sich bringt, zu schützen habe. Da nun aber manche Formen der sogenannten gemischten Lotterien für die Bürger eine ebenso grosse Gefährdung ihres Vermögens bedeuten, als die reinen Lotteriegeschäfte, so muss es den Kantonen für so lange gestattet sein, wenigstens dio offenkundig eine solche Gefährdung in sich schliessenden gemischten Lotteriegeschäfte zu verbieten, als der Bund das Lotteriewesen nicht einheitlich geregelt hat. (Vgl. auch Burckhardt, Kommentar zu Art. 35 der Bundesverfassung.)

Im vorliegenden Fall hat der Regieruugsrat des Kantons Zürich mit Recht angenommen, dass die von der Rekurrentiu betriebenen Geschäfte für das Publikum eine wirtschaftliche Gefahr bedeuten. Es ist klar, dass die ,,Sparer1' ihre Ersparnisse mir deshalb bei der Rekurrentin unter Eingehung äusserst ungünstiger Darlehensbedingungen anlegen, weil sie hoffen, bei der Verlosuug vom Zufall begünstigt zu werden. Die Gefahr wird dadurch noch wesentlich erhöht, dass die Séquanaise, der Natur des von ihr betriebenen Geschäftes entsprechend, ihre Kunden hauptsächlich im Kreise der kleinen Gewerbsleute, der Bauern und Arbeiter, kurz derjenigen Leute sucht, die in Geldgeschäften nicht erfahren und nicht in der Lage sind, die von der Gesellschaft offerierten Bedingungen auf ihren wahren Wert zu prüfen. Dieser ,,kleine Mann1', dem sehr oft eine gewisse Neigung zum Glücksspiel inuewohnt, wird in der Hoffnung, von der vorzeitigen Auslosung, d. h. vom Zufall begünstigt zu werden, durch die Agenten der Rekurrentin leicht zu bestimmen sein,i seine ö Ersparnisse bei ihr anzulegen. Die Gefahr ist für ihn um so grösser, weil die Rekurrentin erstens sich in irreführender Weise der Terminologie der Lebensversicherungsgesellschaften bedient (was geeignet ist, bei dem geschäftlieh nicht versierten Publikum Täuschungen hervorzurufen), und weil bei ihr ferner ein eigentlicher Aquisitionsbetrieb mit organisierten Agenturen und bezahlten Vermittlern besteht. (Die Gesellschaft richtet für die Aquisition hohe Provisionen aus, sind doch im Jahre 1908 Fr. 1,761,951, d. h. volle 16 °/o der einkassierten Beiträge für Kommissionen ausbezahlt worden.) Der Aquisitionsbetrieb
eines Geschäftes der vorliegenden Natur durch Agenten, denen für jeden Vertragsabschluss eine hohe Provision in Aussicht steht, ist ganz besonders geeignet, demselben sehr oft den Charakter einer eigentlichen Prellerei zu verleihen.

322 IV.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Kanton Zürich, wenn er den Geschäftsbetrieb der Rekurrentin als eine Form der gemischten Lotterie dem Lotterieverbot unterstellte, die ihm durch das Bundesrecht gezogenen Grenzen seiner Kompetenz nicht überschritten hat. Aber der Kanton Zürich wäre auch ohne die Anwendung des Lotterieverbots vorn Standpunkte der Gewerbepolizei aus berechtigt gewesen, der Rekurrentin die Ausübung ihres Gewerbes zu untersagen. Wie der Bundesrat wiederholt festgestellt hat, sind Beschränkungen der freien Ausübung von Handel und Gewerbe zulässig, wenn sie auf gewerbepolizeilichen Gründen beruhen und nicht unnötigerweise die redliche Ausübung von Handel und Gewerbe erschweren. Die Kantone sind auch befugt, bestimmte Formen der Geschäftsführung, sofern sie für das Publikum eine ernste wirtschaftliche Gefahr bilden -- was im vorliegenden Falle zutrifft -- aus gewerbepolizeilichen Gründen ganz zu verbieten. (Vgl. den Entscheid des Bundesrates i. S. der Gesellschaft ,,Crédit à L'Epargne" in Lyon gegen Waadt, Bundesbl. 1897, I, 555 ff.)

V.

Wäre somit die Beschwerde abzuweisen, wenn es sich um eine schweizerische Gesellschaft handeln würde, so ist sie es auch im vorliegenden Fall. Denn der schweizerisch-französische Niederlassungsvertrag gewährt den Franzosen nur diejenigen Rechte, die den Schweizern zustehen. Er gewährt ihnen nicht das weitergehende Recht auf unbeschränkte Freiheit in der Ausübung des Handels und der Gewerbe.

D e m g e m ä s s wird, e r k a n n t : Die Beschwerde wird abgewiesen.

B e r n , den 17. Februar

1911.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzinann.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Aktiengesellschaft ,,La SéquanaiseCapitalisation" in Paris, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 17. Februar 1911.)

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22.02.1911

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