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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs des Heinrich Studer-Wettstein in Ennetaach, Kanton Thurgau, gegen den Bundesratsbeschluss vom 11. Mai 1911 betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 26. September 1911.)

Tit.

I.

Am 11. Mai 1911 haben wir in der Beschwerdesache des Heinrich S t u d e r - W e t t s t e i n in Ennetaach gegen eine Verfügung des Bezirksamtes Bischofszell, durch die dem Beschwerdeführer untersagt wurde, seinen Beruf als Wurstwarenhändler in bisheriger Weise weiter zu betreiben, den beigedruckten Beschluss gefasst. Mit Eingabe vom 26. Juni 1911 hat Advokat Alfred Labhart in Romanshorn Namens des Heinrich Studer unsern Entscheid an Sie weitergezogen und das Begehren gestellt, Sie wollen, unter Aufhebung der abweisenden Entscheidungen des Regierungsrates des Kantons Thurgau und des Bundesrates, seine Beschwerde gegen das Bezirksamt Bischofszell gutheissen. Zur Begründung seines Rekurses beruft er sich im wesentlichen auf die in unserem Entscheid vom 11. Mai 1911 unter II. der tatsächlichen Feststellungen wiedergegebenen Anbringen. Im weitern kritisiert er, dass wir in unserm Entscheid

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den Begriff des ,,Hausierens" nicht näher umschrieben hätten und behauptet, unsere Feststellung, er besuche am Freitag die Kunden an seinem Wohnort Ennetaach (I. der tatsächlichen Feststellungen) sei unzutreffend; in Ennetaach kämen vielmehr die Kunden zu ihm. Dagegen wird auch in der Eingabe an Ihre hohe Versammlung ausdrücklich zugegeben, dass der Haupthandel Studers darin bestehe, die Waren nach auswärts, d. h. ausserhalb seines Wohnortes, zu vertragen.

Der Regierungsrat des Kantons Thurgau beantragt Ihnen in seiner Eingabe vom 4. August 1911 die Abweisung der Beschwerde, indem er sich im wesentlichen auf die Erwägungen unseres Entscheides vom 11. Mai 1911 beruft.

II.

Die vom ßekurrenten beanstandete Feststellung, Studer besuche am Freitag die Kunden an seinem Wohnort Ennetaach, ist der an den Bundesrat gerichteten Beschwerde vom 24. Februar 1911 entnommen, in der es wörtlich heisst : ,,er (Studer) besucht nur diejenigen Eóinden, welche ihn verlangen : Dienstag Kradolf, Mittwoch Bürglen, Donnerstag Göttighofen-Riedt, Freitag E n n e t a a c h . " Wir bemerken übrigens, dass selbst wenn tatsächlich der Rekurrent, entgegen seiner eigenen Sachdarstellung, seine Kunden in E n n e t a a c h nicht besuchen, sondern letztere ihn aufsuchen würden, dieser Umstand ohne Einfluss auf die Entscheidung der Beschwerde wäre.

Auch dann nämlich wäre in unzweifelhafter Weise festgestellt, dass der Rekurrent die von ihm gekauften Wurstwaren wenigstens zum weitaus g r ö s s t e n T e i l im U m h e r z i e h e n verkauft. Er erstellt die Wurstwaren nicht selbst an seinem Wohnorte, er treibt vielmehr ausschliesslich Zwischenhandel ; seine Tätigkeit besteht darin, dass er die von ihm gekauften Waren weiterverkauft, und zwar auf dem Wege des Umherziehens von Haus zu Haus. Dass er dabei sich eine gewisse feste Kundschaft geschaffen und infolge dessen Aussicht hat, seine Warenvorräte regelmässig an den Mann zu bringen, ohne genötigt zu sein, jedes Haus abzusuchen, um neue Kunden zu gewinnen, nimmt dem ganzen Geschäftsbetriebe den Charakter des Hausierhandels keineswegs.

Unter den Begriff des Hausierens fällt offenbar nach allgemeinem Sprachgebrauch der Gewerbebetrieb im Umherziehen

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-- im Gegensatz zur gewerblichen Niederlassung in einer bestimmten Gemeinde. -- Diese Definition liegt denn auch dem Bundesgesetz betreffend die Patenttaxen der Handelsreisenden vom 24. Juni 1892 (vgl. Art. l und 9) zugrunde. Auf dem gleichen Boden steht die eidgenössische Verordnung betreffend das Schlachten etc. Sie unterscheidet zwischen dem Hausieryerkauf von Fleisch und Fleischwaren (Art. 23) und der Lieferung seitens etablierter Metzger an Kunden ausserhalb ihrer Gemeinde (Art. 30 und 44, Abs. 3). Der Hausierverkauf ist, vorbehaltlich ausnahmsweiser kantonaler Verfügungen, die im gegenwärtigen Falle ausser Frage stehen, v e r b o t e n ; die Lieferung nach auswärts seitens sesshafter Metzger dagegen ist unter gewissen Kautelen erlaubt und wird, durch Befreiung von den Erfordernissen der Alinea l und 2 des Art. 29, erleichtert.

Es würde nun offenbar der Absicht des Gesetzgebers direkt widersprechen, wenn in Fällen, wie der vorliegende, durch die rein formale Begründung eines sogenannten Warendepots oder Verkaufslokals der Fleisch- und Fleischwarenhandel im Umherziehen, der vom gesundheitspolizeilichen Standpunkte aus seine bedeutenden Gefahren darbietet und deshalb in der Regel verboten sein muss, nicht blos ermöglicht, sondern sogar noch begünstigt würde.

Wir beehren uns daher, Ihnen die Abweisung des Rekurses zu beantragen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 26. September 1911.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Ruehet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

l Beilage.

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Seilage.

ßundesratsfoeschluss über

die Beschwerde des Herrn Heinrich Studer-"Wettstein in " Ennetaach, Kanton Thurgau, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom

11. Mai 1911.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde des Herrn Heinrich S t u d e r - W e t t s t e i n in Ennetaach, Kanton Thurgau, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Der Rekurrent Heinrich Studer-Wettstein, wohnhaft in Ennetaach, Kanton Thurgau, betreibt seit 18 Jahren den Wurstwarenhandel in der Weise, dass er die von ihm aus St. Gallen bezogenen Wurstwaren durch Aufsuchen seiner Kunden in Ennetaach und ·den diesem Dorfe benachbarten Gemeinden Kradolf, Bürglen und Göttighofen-Riedt absetzt. Am Dienstag fährt er mit seinem ·Wagen nach Kradolf, am Mittwoch nach Bürglen und am Donnerstag nach Göttighofen-Riedt. Am Freitag besucht er die Kunden an seinem Wohnort Ennetaach. An diesem Orte besitzt er ein 4 m langes, l m breites und 2 m hohes Lokal zur Aufbewahrung der zum Verkauf bestimmten Wurstwaren. Nach den Angaben des Rekurrenten findet in diesem Lokal -- allerdings nur zum kleinsten Teil -- auch der Verkauf statt.

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Am 23. Dezember 1910 verfügte das Bezirksamt Bischofszell gestützt auf die eidgenössische Lebensmittelgesetzgebung : ,,Studer wird verhalten, diesen Hausierhandel mit 31. Dezember laufenden Jahres vollständig abzuschliessen. Nichtbeachtung musate durch Busse, eventuell Überweisung an den zuständigen Richter wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen geahndet werden."

Am 29. Januar 1911 hat der Regierungsrat des Kantons Thurgau die gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerde des Heinrich Studer abgewiesen. Indessen hat das Bezirksamt Bischofszell, im Einverständnis mit dem Regierungsrat, dem Rekurrenten den Weiterbetrieb seines Geschäftes bis zur definitiven Erledigung des vorliegenden Rekurses bewilligt.

n.

Mit Eingabe vom 24. Februar 1911 beschwert sich Heinrich Studer beim Bundesrat. Er stellt das Begehren, es sei der angefochtene Entscheid des Bezirksamtes Bischofszell als mit dem Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit im Widerspruch stehend aufzuheben. Eventuell wolle der Bundesrat feststellen, welchen Bedingungen der Rekurrent hinsichtlich Lokalitäten oder Kundenkreis genügen müsse, um sein Gewerbe weiterhin betreiben zu dürfen. Zur Begründung der Beschwerde wird im wesentlichen geltend gemacht: Laut Art. 30 der eidg. Verordnung betreffend das Schlachten, die Fleischschau und den Verkehr mit Fleisch und Fleischwaren vom 29. Januar 1909 sei es den etablierten Metzgern gestattet, Kunden ausserhalb ihrer Gemeinde Fleisch zum privaten Gebrauch zu liefern. In einer Publikation vom 18. Februar 1910 (vgl. Amtsblatt des Kantons Thurgau 1910, S. 229 ff.) erkläre der thurgauische Regierungsrat ausdrücklich, dass dieser Grundsatz auch auf den Handel mit Wurstwaren Anwendung finde. Der Rekurrent beanspruche daher dieses Recht auch für sich. Er sei ein in Eunetaach etablierter Wurstwarenhändler, der den Kunden ausserhalb seiner Gemeinde Wurstwaren zum privaten Gebrauch liefere.

Der Regierungsrat des Kantons Thurgau habe den Geschäftsbetrieb des Rekurrenten mit Unrecht als Hausierhandel qualifiziert.

Hausierhandel treibe, wer Haus um Haus ohne Einladung -- ja vielleicht wider den Willen der Hausbewohner -- absuche und seine Ware anbiete, was bei Studer nicht der Fall sei. Der Beschwerdeführer besuche nur bestimmte Familien, die er seit Jahren zu seinen Kunden zähle und von denen er jeweilen wisse, was sie abkaufen werden.

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m.

Der Regierungsrat des Kantons Thurgau beantragt in seiner Vernehmlassung vom 17. März 1911 mit folgender Begründung Abweisung der Beschwerde: Entscheidend für die Frage, ob der Geschäftsbetrieb des Rekurrenten als Hausierhandel zu qualifizieren sei, sei die offenbare Tatsache, dass derselbe seinen Erwerb fast ausschliesslich in dem Absuchen seiner Kunden in stundenweitem Umkreise finde. Dass dieser Kundenkreis ein ziemlich stabiler und der Absatz ein regelmässiger ist, sei das natürliche Ergebnis des jahrzehntelangen Betriebes. Der Betrieb sei aber trotzdem ein Hausieren, ein Verkauf im Umherziehen. Das Vertragen a u c h der b e s t e l l t e n W a r e an auswärtige Kunden könne zum Hausierhandel werden, wenn sich der Geschäftsbetrieb zur Hauptsache in dieser Weise abspiele, die Bestellungen sozusagen ausschliesslich beim Umherziehen entgegengenommen werden und der angeblichen Geschäftsniederlassung tatsächliche Bedeutung nicht zukomme.

Als das Hausieren mit Fleisch und Fleischwaren durch die eidg. Lebensmittelgesetzgebung verboten wurde, hatten vsrschiedene bisherige Hausierer das Verbot dadurch zu umgehen versucht, dass sie irgend ein Lokal als Verkaufslokal einrichteten und dann behaupteten, sie seien ,,etablierte FJeischwarenhändlera. So auch der Rekurrent, der ein Lokal von l m Breite und 2 m Höhe als Verkaufslokal erkläre. Tatsächlich handle es sich um ein blosses · Aufbewahrungslokal, aus dem der Rekurrent allerdings hin und wieder Würste direkt an Bewohner des kleinen Dorfes Enneta^ch verkaufen möge.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Gemäss Art. 23 der eidg. Verordnung betreffend das Schlachten, die Fleischschau und den Verkehr mit Fleisch und Fleischwaren vom 29. Januar 1909 ist das Hausieren mit Fleisch und Fleischwaren verboten. Es steht jedoch den Kantonen frei, diejenigen Ausnahmen zu gestatten, die durch die örtlichen Verhältnisse geboten sind. Im vorliegenden Fall erachtet der Regierungsrat des Kantons Thurgau eine ausnahmsweise Gestattung des Hausierens zufolge der örtlichen Verhältnisse als nicht geboten.

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Es ist somit die Frage zu untersuchen, ob der Geschäftsbetrieb des Rekurrenten wirklich -- wie die kantonalen Behörden behaupten -- ein Hausieren ist, oder aber, ob der Rekurrent als ein in Ennetaach etablierter Fleischwarenhändler zu betrachten ist, der gemäss Art. 30 und 44, Abs. 3, der eidg. Verordnung betreffend das Schlachten etc. berechtigt ist, den Kunden ausserhalb seiner Gemeinde Fleischwaren zum privaten Gebrauche zu liefern.

Die Bundesgesetzgebung über den Verkehr mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen hat es unterlassen, den Begriff des ,,Hausierens" zu bestimmen. Es ist heute nicht notwendig, diesen Ausdruck erschöpfend zu interpretieren; die Untersuchung kann sich auf die Beantwortung der Frage beschränken, ob der Geschäftsbetrieb des Rekurrenten als Hausierhandel im Sinne des Art. 23 der Verordnung betreffend das Schlachten etc. zu qualifizieren ist. Diese Frage ist aber sowohl im Hinblick auf den allgemeinen Sprachgebrauch, als speziell auch im Hinblick auf die ratio legis, die dem in Art. 23 aufgestellten Verbot zu Grunde liegt, zu bejahen. Es unterliegt nämlich nach den tatsächlichen Feststellungen keinem Zweifel, dass dem angeblichen Verkaufslokal in Wirklichkeit keine Bedeutung zukommt, sondern dass der Rekurrent die von ihm nicht etwa an seinem Wohnort selbst verarbeiteten, sondern von auswärts bezogenen Wurstwaren in der Weise weiterverkauft, dass er die Leute in ihren Häusern aufsucht und ihnen die Waren dort verkauft, sowie Bestellungen entgegennimmt. Er betreibt also nicht den sesshaften Handel, sondern den Handel im Umherziehen, und zwar im Umherziehen von Haus zu Haus. Diese Form des Handels wollte die eidg.

Lebensmittelgesetzgebung aus sanitätspolizeilichen Gründen verbieten.

Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird abgewiesen.

B e r n , den 11. Mai 1911.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident:

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs des Heinrich StuderWettstein in Ennetaach, Kanton Thurgau, gegen den Bundesratsbeschluss vom 11. Mai 1911 betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 26. September 191...

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